Scharfschuss - Michael Connelly - E-Book + Hörbuch

Scharfschuss Hörbuch

Michael Connelly

4,6

Beschreibung

Der neue, packende Thriller um den legendären Ermittler Harry Bosch von Bestsellerautor Michael Connelly, dem erfolgreichsten Thrillerautor der USA. In seinem 19. Fall ermittelt Harry Bosch zusammen mit seiner neuen Partnerin Lucia Soto vom Los Angeles Police Department in einem rätselhaften Mordfall, der weit in die Vergangenheit zurückreicht.. Vor zehn Jahren wurde der mexikanische Mariachi-Musiker Orlando Merced bei einem Live-Auftritt von einer angeblich verirrten Kugel schwer verletzt. Doch Harry Bosch glaubt nicht an diese offizielle Version. Wem galt die Kugel, die schließlich zu Merceds Tod führte, in Wirklichkeit? Und wer war der Schütze? Eine aufregende Spurensuche vor der Kulisse der US-Metropole Los Angeles nimmt ihren Lauf ... "Best All-Around Hard-Boiled Detective" Stephen King über Harry Bosch

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Zeit:7 Std. 14 min

Sprecher:Herbert Schäfer
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Michael Connelly

Scharfschuss

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb

Knaur e-books

Über dieses Buch

Orlando Mercer, ein mexikanischer Musiker, ist vor zehn Jahren bei einem Open-Air-Auftritt angeschossen worden; angeblich versehentlich. Jetzt ist Mercer tot – von der Kugel in seinem Körper über die Jahre schleichend zu Tode gebracht. Harry Bosch und seine neue Partnerin Lucia Soto vom LAPD glauben nicht, dass es nur ein dummer Zufall war. Da sich alles auf einem großen Platz direkt vor einem Hotel abspielte, gibt es genügend Aufnahmen von Überwachungskameras. Eine Auswertung zeigt, dass die Kugel aus einem Hotelfenster abgefeuert wurde und eigentlich dem Trompetenspieler aus Mercers Mariachi-Band galt. Dieser war in direkter Schusslinie, bewegte sich aber Sekundenbruchteile vorher weg, so dass es Mercer traf. Bosch ist vollkommen klar, dass es ein gezielter Mordversuch war. Aber wer tötet einen einfachen Musiker?

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. KapitelDank
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Für Detective Rick Jackson,

mit einem Dankeschön für deine Dienste

an der Stadt der Engel

und in der Hoffnung, dass es diesmal

mit der Pensionierung klappt.

Und immer schön gerade halten!

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1

Es erschien Bosch wie eine Form von Folter, bei der noch eins draufgesetzt wurde. Die blutigen, von Handschuhen geschützten Hände tief in den ausgeweideten Torso gesteckt, stand Corazon über den Edelstahltisch gebeugt und hantierte mit einer Pinzette und einem langen Skalpell, das sie das »Buttermesser« nannte. Corazon war nicht groß, und um mit ihrem Operationsbesteck in der Bauchhöhle arbeiten zu können, hatte sie sich auf die Zehenspitzen gestellt und um des besseren Halts willen mit der Hüfte am Obduktionstisch abgestützt.

Besonders bedrückend fand Bosch an dem grausigen Tableau, dass der Körper über einen so langen Zeitraum so übel zugerichtet worden war. Beide Beine weg, ein Arm an der Schulter abgetrennt, die Operationsnarben alt, aber trotzdem wund und rot. Der Mund des Mannes war zu einem stummen Schrei aufgerissen. Seine Augen waren nach oben gerichtet, als bäten sie seinen Gott um Gnade. In seinem tiefsten Innern wusste Bosch, dass die Toten tot waren und nicht mehr an den Grausamkeiten des Lebens litten. Trotzdem hätte er am liebsten gesagt: Genug ist genug. Und gefragt: Wann ist endlich Schluss? Sollte der Tod nicht die Erlösung von den Foltern des Lebens sein?

Aber er sagte nichts. Er stand nur stumm da und schaute zu, wie er es schon Hunderte Male zuvor getan hatte. Wichtiger als seine Entrüstung und sein Wunsch, gegen Orlando Merceds weitere Misshandlung zu protestieren, war die Notwendigkeit, die Kugel zu bekommen, die Corazon gerade aus der Wirbelsäule des Toten zu lösen versuchte.

Um sich auszuruhen, ließ sich die Rechtsmedizinerin auf die Fersen zurücksinken und atmete pustend aus. Davon beschlug kurz ihr Schutzvisier, und sie sah Bosch durch die trübe Plastikscheibe an.

»Gleich hab ich’s. Und es war übrigens richtig, dass sie damals nicht versucht haben, das Projektil zu entfernen. Die hätten den Th 12 vollständig durchsägen müssen.«

Bosch nickte nur. Er wusste, dass damit der zwölfte Brustwirbel gemeint war.

Corazon wandte sich dem Tisch zu, auf dem ihr Operationsbesteck ausgebreitet war.

»Jetzt brauche ich was anderes …«

Sie legte das Buttermesser in eine Edelstahlspüle, in der ein laufender Hahn den Wasserspiegel konstant auf Höhe des Ablaufs hielt. Dann führte sie die Hand über das sterilisierte Operationsbesteck, das links neben der Spüle aufgereiht lag, griff nach einer langen, spitzen Picke und machte sich damit wieder in der leeren Bauchhöhle des Opfers zu schaffen. Alle Organe und Eingeweide waren herausgenommen, gewogen und in Beutel verpackt, so dass nur die von den Rippen umspannte Höhlung übrig war.

Corazon stellte sich wieder auf die Zehenspitzen und entfernte die Kugel mit Hilfe des spitzen Instruments endgültig aus der Wirbelsäule. Bosch hörte ein Klimpern in der Bauchhöhle.

»Na endlich!«

Corazon zog die Arme aus dem Torso und legte die Picke beiseite. Dann reinigte sie die Pinzette mit dem am Tisch angebrachten Wasserschlauch und hielt sie hoch, um ihren Fund zu begutachten. Sie trat mit dem Fuß auf den am Boden angebrachten Einschaltknopf des Diktiergeräts und begann zu sprechen: »Aus dem vorderen Th-12-Wirbel wurde ein Projektil entfernt. Es ist in beschädigtem Zustand und hat starke Abplattungen. Ich werde es fotografieren und mit meinen Initialen versehen, bevor ich es Detective Hieronymus Bosch von der Einheit Offen-Ungelöst des Los Angeles Police Department aushändige.«

Sie trat erneut auf den Knopf des Diktiergeräts, und die Aufnahme wurde beendet. Sie lächelte Bosch durch das Plastikvisier an.

»Sorry, Harry, du kennst mich ja. Was den formalen Kram angeht, nehme ich es sehr genau.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass du das noch weißt.«

Er und Corazon hatten einmal eine kurze Affäre gehabt, aber das war lange her, und nur wenige kannten seinen richtigen Namen.

»Also hör mal«, sagte sie mit gespielter Entrüstung.

Teresa Corazon umgab fast so etwas wie eine Aura von Bescheidenheit, die sie früher nicht gehabt hatte. Sie hatte Karriere gemacht und schließlich erreicht, was sie gewollt hatte – die Leitung der Rechtsmedizin mit allem, was dazugehörte, einschließlich einer Reality-TV-Sendung. Aber wenn man es an die Spitze einer Behörde schafft, wird man Politiker, und Politiker fallen in Ungnade. Teresa landete irgendwann ziemlich unsanft, und jetzt war sie wieder da, wo sie angefangen hatte, eine stinknormale Rechtsmedizinerin mit dem gleichen Arbeitspensum wie alle anderen. Wenigstens ihren eigenen Obduktionsraum hatten sie ihr gelassen. Vorerst.

Sie ging mit dem Projektil zur Arbeitstheke, wo sie es fotografierte und mit einem schwarzen Kopierstift kennzeichnete. Bosch hielt ihr einen kleinen Beweismittelbeutel hin, und sie ließ es hineinfallen. Dann schrieb er, wie zur Dokumentierung der Überwachungskette üblich, ihre und seine Initialen auf die Tüte. Er betrachtete das verformte Projektil durch das Plastik. Trotz der Beschädigung glaubte er erkennen zu können, dass es ein Geschoss vom Kaliber .308 war. Demzufolge wäre es mit einem Gewehr abgefeuert worden. Wenn das zutraf, war es eine wichtige neue Erkenntnis in dem Fall.

»Bleibst du, bis ich fertig bin, oder war das alles, was du wolltest?«

Sie stellte die Frage so, als liefe noch etwas anderes zwischen ihnen. Er hielt die Beweismitteltüte hoch.

»Besser, ich mache mich schon mal an die Arbeit. Wir stehen bei diesem Fall von allen Seiten unter Beobachtung.«

»Na schön. Dann bringe ich das hier eben allein zu Ende. Wo ist übrigens deine Partnerin? Vorhin war sie doch noch draußen im Flur mit dir?«

»Sie musste telefonieren.«

»Ach so, ich dachte, sie wollte uns vielleicht eine Weile allein lassen. Hast du ihr von uns erzählt?«

Sie klimperte lächelnd mit den Wimpern, und Bosch schaute verlegen weg.

»Nein, Teresa. Du weißt doch, über solche Dinge rede ich nicht.«

Sie lächelte.

»Hast du noch nie. Du bist jemand, der seine Geheimnisse für sich behält.«

Er schaute sie wieder an.

»Das versuche ich zumindest. Außerdem ist das schon lange her.«

»Und die Flamme ist erloschen, hm?«

Er versuchte, wieder zum Thema zu kommen.

»Zur Todesursache. Du hast nichts entdeckt, was vom Befund der Klinik abweicht?«

Corazon schüttelte den Kopf. Auch sie kehrte rasch wieder auf die sachliche Ebene zurück.

»Nein, keine Abweichungen. Eine Sepsis. Oder – allgemeinverständlicher – eine Blutvergiftung. Setz das in die Presseerklärung.«

»Und du hast kein Problem damit, das Ganze auf den Schuss zurückzuführen? Würdest du das auch in einem Gutachten bestätigen?«

Sie begann schon zu nicken, bevor Bosch zu sprechen aufgehört hatte.

»Gestorben ist Mr. Merced zwar an einer Blutvergiftung, aber als Todesursache gebe ich Mord an. Es ist ein Zehnjahremord, Harry, und so werde ich das auch in meinem Gutachten schreiben. Ich hoffe, die Kugel hilft dir, den Mörder zu finden.«

Bosch nickte und schloss die Hand um die Plastiktüte mit dem Projektil.

»Das hoffe ich auch.«

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2

Bosch fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss hoch. In den letzten Jahren hatte die Bezirksverwaltung dreißig Millionen für die Renovierung der Rechtsmedizin ausgegeben, aber die Aufzüge waren noch genauso langsam wie früher. Er fand Lucia Soto an der Laderampe. Sie lehnte an einer leeren Fahrtrage und schaute auf ihr Handy. Boschs Partnerin war klein und gut proportioniert und wog höchstens fünfzig Kilo. Sie trug einen dieser modischen Hosenanzüge, die bei den weiblichen Detectives gerade in waren. Er ermöglichte ihr, die Dienstwaffe an der Hüfte griffbereit zu haben statt in einer Handtasche. Außerdem vermittelte der Anzug Durchsetzungsvermögen und Autorität, wie es ein Kleid nie vermocht hätte. Er war dunkelbraun, und sie trug dazu eine cremefarbene Bluse. Das passte gut zu ihrer glatten braunen Haut.

Als Bosch sich ihr näherte, hob sie den Kopf und richtete sich überstürzt auf wie ein Kind, das bei etwas Verbotenem ertappt worden war.

»Ich hab sie«, sagte Bosch.

Er hielt die Beweismitteltüte mit der Kugel hoch. Soto griff danach und betrachtete das Projektil durch das Plastik. Hinter ihnen näherten sich zwei Leichenträger, die eine leere Bahre auf den Eingang der sogenannten Großen Gruft zuschoben. In dem neuen Anbau, einer Kühlhalle von der Größe eines Supermarkts, wurden alle eingelieferten Leichen gelagert, bis sie zur Obduktion an die Reihe kamen.

»Ganz schön fett«, bemerkte Soto.

Bosch nickte.

»Und lang. Ich glaube, wir müssen nach einem Gewehr suchen.«

»In bestem Zustand ist sie auch nicht mehr gerade«, sagte Soto. »Ziemlich verknautscht.«

Sie gab Bosch die Tüte zurück, und er steckte sie in seine Jackentasche.

»Für einen Vergleich müsste es trotzdem reichen«, sagte er. »Vielleicht haben wir ja Glück.«

Die Männer hinter Soto öffneten das Tor der Großen Gruft, um die Bahre hineinzuschieben. Der kalte Luftzug, der über die Laderampe streifte, war von einem unangenehmen Geruch durchsetzt. Soto drehte sich um und erhaschte noch einen Blick ins Innere der riesigen Kühlhalle. Endlose Regalreihen mit Leichen, jeweils vier übereinander, alle in Planen aus mattem Plastik gehüllt. Nur ihre Füße standen heraus, und die Etiketten an ihren Zehen flatterten im Luftzug der Kühlschächte.

Soto drehte sich rasch weg, und ihr Gesicht wurde weiß.

»Ist was?«, fragte Bosch.

»Nein, nein«, antwortete sie rasch. »Nur ganz schön krass, findest du nicht?«

»Eigentlich ist es ein enormer Fortschritt. Früher lagen die Leichen in den Gängen rum. Manchmal, wenn am Wochenende viel los war, sogar übereinandergestapelt. Und gestunken hat es hier.«

Um ihn von weiteren Schilderungen abzuhalten, hob Soto die Hand.

»Schon verstanden. Sind wir hier jetzt fertig?«

»Ja, wir sind fertig.«

Er ging los, und Soto folgte ihm in einem Meter Abstand. Sie ging immer hinter Bosch. Er wusste nicht, ob das Ausdruck ihres Respekts vor seinem Alter und Dienstgrad war oder irgendetwas anderes, Unsicherheit zum Beispiel. Er steuerte auf die Treppe am Ende der Rampe zu. Es war eine Abkürzung zum Besucherparkplatz.

»Wohin fahren wir jetzt?«, fragte sie.

»Wir bringen die Kugel zu den Schusswaffen rüber«, sagte Bosch. »Apropos Glück – mittwochs kommt man auch ohne Voranmeldung dran. Anschließend holen wir in der Hollenbeck das Mordbuch und die Beweise ab. Dann sehen wir weiter.«

»Okay.«

Sie stiegen die Treppe hinunter und gingen über den Angestelltenparkplatz zum Besucherparkplatz an der Seite des Gebäudes.

»Hast du deinen Anruf gemacht?«, fragte Bosch.

»Was?«, fragte Soto verständnislos.

»Hast du nicht gesagt, du müsstest telefonieren?«

»Ach so, klar. Sorry auch.«

»Kein Problem. Und? Was dabei herausgekommen?«

»Ja, schon.«

Bosch vermutete, dass sie gar nicht telefoniert hatte. Er glaubte, sie hatte sich vor der Obduktion drücken wollen, weil sie noch nie einen ausgeweideten menschlichen Körper gesehen hatte. Soto war nicht nur in der Einheit Offen-Ungelöst neu, sondern auch im Morddezernat. Dies war erst der dritte Fall, den sie zusammen mit Bosch bearbeitete, und der einzige mit einer Leiche, die frisch genug war für eine Autopsie. Als sich Soto dafür entschieden hatte, kalte Fälle zu bearbeiten, hatte sie wahrscheinlich nicht mit Live-Obduktionen gerechnet. Was man dabei zu sehen und zu riechen bekam, war in der Regel das, woran man sich als Mordermittler am schwersten gewöhnte. Bei kalten Fällen blieb einem in der Regel beides erspart.

In jüngster Vergangenheit war die Kriminalitätsrate in Los Angeles deutlich zurückgegangen, am stärksten die Zahl der Morde. Das hatte beim LAPD zu einer neuen Gewichtung der Ermittlungsbemühungen geführt. Die Polizei konzentrierte sich nun verstärkt auf die Aufklärung sogenannter kalter Fälle. Und bei über zehntausend ungelösten Morden aus den letzten fünfzig Jahren gab es noch jede Menge zu tun. Die Einheit Offen-Ungelöst hatte sich im Laufe des vergangenen Jahres beinahe auf das Dreifache vergrößert und verfügte inzwischen über einen eigenen Führungsstab mit einem Captain und zwei Lieutenants. Neben vielen alten Hasen aus der Homicide Special und anderen Eliteeinheiten der Robbery-Homicide Division waren auch einige junge Detectives mit wenig, wenn nicht sogar keinerlei Erfahrung als Ermittler zu Offen-Ungelöst versetzt worden. Die neue Philosophie, die das OCP, das Büro des Polizeichefs im zehnten Stock, ausgegeben hatte, lautete: Es ist eine neue Welt da draußen, mit neuen Technologien und neuen Sichtweisen, und selbst wenn nichts über ermittlerische Erfahrung geht, kann es nicht schaden, sie mit neuen Ansichten und unterschiedlichen Lebenserfahrungen zu kombinieren.

Die neuen Ermittler – die »Mod Squad«, wie sie von manchen geringschätzig genannt wurden – erhielten die begehrten Stellen bei der Einheit Offen-Ungelöst aus einer Vielzahl von Gründen, die von politischen Beziehungen über besondere Motivation und Aussicht auf Auszeichnungen für aufopferungsvollen Einsatz im Dienst reichten. Einer der neuen Detectives hatte in der IT-Abteilung einer Krankenhauskette gearbeitet, bevor er zur Polizei gegangen war, und maßgeblich zur Aufklärung eines Mordes an einem Patienten beigetragen, der mittels eines computergesteuerten Medikamentenzuteilungssystems verübt worden war. Ein anderer hatte als Rhodes-Stipendiat Chemie studiert. Es gab sogar einen Detective, der Ermittler bei der Police Nationale d’Haïti gewesen war.

Soto war erst achtundzwanzig Jahre alt und noch keine fünf Jahre bei der Polizei. Sie war ein sogenannter »Nacktärmel« – ohne einen Streifen an ihrer Uniform – und hatte den Sprung von einer normalen Streifenpolizistin zum Detective geschafft, weil sie zwei wichtige Eigenschaften in sich vereinte. Sie war eine mexikanischstämmige Amerikanerin und sprach fließend Englisch und Spanisch. Aber sie hatte auch ein traditionelleres Argument für ihre Beförderung vorzuweisen gehabt: Sie hatte für Schlagzeilen gesorgt wegen eines Einsatzes bei einem Überfall auf einen Getränkemarkt in Pico-Union, bei dem sie und ihr Partner es mit vier bewaffneten Männern aufgenommen hatten. Sotos Partner war bei dem Schusswechsel ums Leben gekommen, aber sie hatte zwei der Räuber erschossen und die restlichen zwei so lange in Schach gehalten, bis ein SWAT-Team eingetroffen war und die Männer festgenommen hatte. Die Angreifer gehörten zur 13th Street, einer der brutalsten Gangs der Stadt, und entsprechend ausgiebig berichteten Zeitungen, Internet und Fernsehen über Sotos Heldentat. Später verlieh ihr Polizeichef Gregory Malins die Tapferkeitsmedaille des LAPD. Ihr Partner erhielt sie ebenfalls, posthum.

Captain George Crowder, der neue Leiter der Einheit Offen-Ungelöst, glaubte die Neuzugänge am besten integrieren zu können, indem er alle bestehenden Zweierteams auflöste und jedem Detective, der OU-Erfahrung hatte, einen »Neuen« zuteilte, der keine hatte. Bosch war der Älteste der Einheit und hatte die meisten Dienstjahre vorzuweisen. Infolgedessen bekam er den jüngsten Neuzugang – Soto.

»Harry«, hatte ihm Crowder erklärt, »ich möchte, dass Sie als alter Hase die Anfängerin unter Ihre Fittiche nehmen.«

Bosch ließ sich nur ungern an sein Alter und seinen Status erinnern, war aber trotzdem froh über die Zuteilung. Er stand kurz vor seinem letzten Dienstjahr, und sein DROP-Vertrag lief unaufhaltsam aus. Die Tage, die ihm noch im Polizeidienst blieben, waren unbezahlbar. Jede Stunde war wie ein Diamant – so kostbar wie nur irgendetwas auf der Welt. Er hielt das nicht für die schlechteste Art, seine Zeit bei der Polizei zu Ende zu bringen: einen unerfahrenen Detective auszubilden und an ihn weiterzugeben, was er weiterzugeben hatte. Als ihm Crowder mitteilte, sein neuer Partner sei Lucia Soto, freute sich Bosch. Wie jeder andere beim LAPD hatte er von Sotos Bravourtat bei dem Schusswechsel gehört. Er wusste, wie es war, bei einem Einsatz jemanden zu töten oder einen Partner zu verlieren. Er kannte die Mischung aus Trauer und Schuldgefühlen, die Soto vermutlich plagte. Er war zuversichtlich, gut mit ihr zusammenzuarbeiten und sie vielleicht zu einer guten Ermittlerin auszubilden.

Außerdem brachte die Partnerschaft mit ihr einen Vorteil mit sich. Weil sie eine Frau war, brauchte er kein Hotelzimmer mit ihr zu teilen, wenn sie wegen eines Falls verreisen mussten. Jeder bekam ein eigenes Zimmer. Das war ein großes Plus. Die Aufklärung kalter Fälle ist mit zahlreichen Reisen verbunden. Oft lassen sich diejenigen, die mit einem Mord davongekommen zu sein glauben, woanders nieder, weil sie sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen hoffen, wenn sie möglichst großen räumlichen Abstand zwischen sich und ihre Taten bringen.

Jetzt freute sich Bosch darauf, seine letzten Ermittlungen bei der Polizei führen zu können, ohne mit jemandem das Bad teilen oder sich in einem engen Holiday-Inn-Doppelzimmer dem Geschnarche und sonstigen Emissionen eines Partners aussetzen zu müssen.

Soto mochte vielleicht nicht zimperlich gewesen sein, als sie im Barrio trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit von ihrer Pistole Gebrauch gemacht hatte, aber beim Sezieren einer Leiche zuzusehen war eine andere Sache. Soto hatte nicht gerade begeistert gewirkt, als ihr Bosch am Morgen erzählt hatte, sie müssten zu einer Obduktion in die Rechtsmedizin fahren.

Sotos erste Frage war gewesen, ob bei einer Autopsie beide Partner eines Ermittlerteams anwesend sein mussten. In den meisten kalten Fällen befindet sich die Leiche längst unter der Erde, und die Untersuchungen, die durchgeführt werden müssen, beschränken sich auf die Auswertung alter Unterlagen und Beweise. Deshalb war es Soto bei Offen-Ungelöst möglich, die wichtigsten Fälle – die Morde – zu bearbeiten, ohne an einer Obduktion teilnehmen oder sich den Tatort eines Mords ansehen zu müssen.

So hatte es zumindest bis zu dem Morgen ausgesehen, an dem Crowder Bosch zu Hause angerufen hatte.

Der Captain hatte Bosch gefragt, ob er diesen Morgen schon die Los Angeles Times gelesen hätte, und Bosch hatte geantwortet, er hätte die Zeitung nicht abonniert, ganz im Sinne der traditionellen gegenseitigen Abneigung der beiden Institutionen Polizei und Presse.

Darauf erzählte ihm der Captain von der Meldung auf der ersten Seite, die der Anlass für Boschs und Sotos neuen Auftrag war. Während Bosch zuhörte, öffnete er seinen Laptop und ging auf die Homepage der Zeitung, wo der Meldung von Orlando Merceds Tod ebenfalls viel Platz eingeräumt wurde.

Berühmt geworden war Merced in Los Angeles zehn Jahre zuvor als Opfer eines Verbrechens, als er bei einer Schießerei auf der Mariachi Plaza in Boyle Heights versehentlich in den Bauch getroffen wurde. Die Kugel kam von der Boyle Avenue über die Plaza und wurde auf einen verirrten Schuss bei einem Bandenkrieg zurückgeführt.

Der Zwischenfall ereignete sich an einem Samstagnachmittag um sechzehn Uhr. Merced war damals einunddreißig Jahre alt und Mitglied einer Mariachi-Gruppe, in der er die vihuela spielte, eine fünfsaitige Gitarre, deren Klang für die traditionelle mexikanische Volksmusik charakteristisch ist. Zusammen mit seinen drei Mitmusikern hatte er auf der Plaza neben mehreren anderen Mariachis auf ein Engagement gewartet – einen Auftritt in einem Restaurant, eine quinceañera-Feier oder eine Blitzhochzeit. Merced war ein großer Mann mit einem mächtigen Bauch; die wie aus dem Nichts kommende Kugel durchschlug den Korpus seiner Gitarre, drang in seinen Bauch ein und blieb in seiner Wirbelsäule stecken.

Unter normalen Umständen wäre Merced nur ein weiteres von vielen Verbrechensopfern in einer Stadt geblieben, in der die Aufmerksamkeitsspanne der Medien sehr kurz ist – eine Dreißig-Sekunden-Meldung in den englischsprachigen Nachrichtensendern, ein vier Absätze langer Bericht in der Times, eine geringfügig längere Lebensdauer in den spanischsprachigen Medien.

Aber das sollte eine simple Wendung des Schicksals ändern. Drei Monate vor dem Zwischenfall hatten Merced und seine Gruppe, Los Reyes Jalisco, bei der Hochzeitsfeier des Stadtrats Armando Zeyas gespielt, der inzwischen für das Amt des Bürgermeisters kandidierte.

Merced überlebte. Die Kugel beschädigte seine Wirbelsäule und machte ihn nicht nur zum Querschnittsgelähmten, sondern auch zum Aushängeschild einer politischen Kampagne. Als der Wahlkampf begann, schob ihn Zeyas bei allen Wahlveranstaltungen in seinem Rollstuhl aufs Podest. Er benutzte Merced als Symbol der Vernachlässigung, unter der East Los Angeles litt. Die Kriminalität war hoch, das polizeiliche Engagement gering – der Mann, der auf Merced geschossen hatte, musste erst noch gefasst werden. Die Gangs trieben ungehindert ihr Unwesen, elementare städtische Dienstleistungen sowie seit langem geplante Projekte wie die Erweiterung der Metro Gold Line waren auf Eis gelegt. Zeyas präsentierte sich als der Bürgermeister, der das ändern würde, und benutzte Merced und East L.A. dazu, sich eine Basis zu schaffen und eine Strategie zu schmieden, die ihn aus dem dicht gedrängten Feld der Mitbewerber heraushob. Er schaffte es in die Stichwahl, die er dann mühelos gewann. Und Merced war die ganze Zeit an seiner Seite, saß in seinem Rollstuhl und trug seinen charro-Anzug, manchmal sogar mit dem blutigen Hemd, das er während des Schusses angehabt hatte.

Zeyas regierte zwei Amtszeiten. East L.A. wurde vonseiten der Stadt und der Polizei neue Aufmerksamkeit zuteil. Die Gold Line wurde erweitert – einschließlich einer unterirdischen Station an der Mariachi Plaza –, und der Bürgermeister sonnte sich im Glanz seiner Erfolge. Die Person, die auf Orlando Merced geschossen hatte, wurde jedoch nie gefasst, und die Kugel in seinem Körper zehrte mehr und mehr an seiner Gesundheit. Infektionen zogen zahlreiche Krankenhausaufenthalte und Operationen nach sich. Zuerst verlor er das erste Bein, dann das zweite. Um das Maß voll zu machen, wurde ihm auch noch der Arm abgenommen, der einst im Takt der mexikanischen Volksmusik die Saiten angeschlagen hatte.

Und schließlich war Orlando Merced gestorben.

»Jetzt sind wir gefragt«, hatte Crowder zu Bosch gesagt. »Soll doch die Scheißzeitung schreiben, was sie will. Die Entscheidung, ob es sich hier um einen Mord handelt, treffen wir. Wenn sein Tod medizinisch auf diesen Schuss vor zehn Jahren zurückgeführt werden kann, eröffnen wir ein Verfahren gegen Unbekannt, und Sie und Lucky Lucy rollen den Fall wieder auf.«

»Alles klar.«

»Die Obduktion muss auf einen Mord hinauslaufen, sonst ist die Sache zusammen mit Merced gestorben.«

»Alles klar.«

Bosch lehnte nie einen Fall ab, denn er wusste, dass ihm die Fälle ausgingen. Allerdings fragte er sich, warum Crowder die Merced-Ermittlungen ihm und Soto zuteilte. Er wusste, man hatte von Anfang an vermutet, dass die Kugel, die Merced getroffen hatte, von einem Mitglied einer Gang abgefeuert worden war. Das hieß, das neue Ermittlungsverfahren würde sich fast ganz auf White Fence und die anderen Gangs von East L.A. konzentrieren, die Boyle Heights unsicher machten. Es würde vorwiegend ein Spanisch-Fall werden, und während Soto die Sprache fließend beherrschte, verfügte Bosch nur über begrenzte Spanischkenntnisse. Er konnte sich an einem Taco-Truck etwas bestellen und einen Verdächtigen auffordern, niederzuknien und die Hände an den Hinterkopf zu legen. Aber ausführliche Befragungen oder gar Verhöre auf Spanisch überstiegen seine Fähigkeiten bei weitem. Das müsste Soto übernehmen, aber er glaubte, sie hatte noch nicht das Zeug dazu. In der Einheit gab es mindestens zwei andere Teams mit Spanisch sprechenden Ermittlern, die mehr Erfahrung hatten. Crowder hätte auf eins von ihnen zurückgreifen sollen.

Der Umstand, dass Crowder nicht die naheliegende und korrekte Wahl getroffen hatte, wunderte Bosch. Allerdings könnte die Anweisung, ihn und Soto auf den Fall anzusetzen, aus dem OCP gekommen sein. Bestimmt wurden die Ermittlungen von den Medien aufmerksam verfolgt, und dass eine verdiente Polizistin wie Soto an ihnen beteiligt war, zog möglicherweise ein positiveres Medienecho nach sich. Eine weniger schöne Erklärungsmöglichkeit war, dass Crowder wollte, dass Bosch und Soto scheiterten und sehr öffentlichkeitswirksam die Entscheidung des Polizeichefs untergruben, beim Umbau der Einheit Offen-Ungelöst mit Tradition und Erfahrung zu brechen. Die Maßnahme des Polizeichefs, junge und unerfahrene Polizisten altgedienten Ermittlern vorzuziehen, die auf frei werdende Stellen in RHD-Einheiten warteten, kam bei der Polizeibasis nicht gut an. Vielleicht hatte es Crowder darauf angelegt, den Chief zu blamieren.

Bosch bog um die Ecke zum Besucherparkplatz und beschloss, sich nicht weiter mit solchen Spekulationen aufzuhalten. Stattdessen überlegte er, wie sie im Weiteren vorgehen sollten. Dabei wurde ihm bewusst, dass sie wahrscheinlich nur etwa einen Kilometer von der Hollenbeck Station entfernt waren. Die Mariachi Plaza lag sogar noch näher. Sie konnten die Mission zur First Street hinunter nehmen und dann unter dem Freeway 101 durchfahren. Höchstens zehn Minuten. Er beschloss, die mit Soto besprochene Reihenfolge ihrer Fahrtziele umzukehren.

Auf halbem Weg zu ihrem Auto hörte Bosch hinter ihnen jemanden Sotos Namen rufen. Er drehte sich um und sah eine Frau mit einem Funkmikrophon über den Angestelltenparkplatz kommen. Hinter ihr mühte sich ein Kameramann damit ab, seine Kamera hochzuhalten, während er sich zwischen den geparkten Autos hindurchschlängelte.

»Scheiße«, zischte Bosch.

Er blickte sich um, ob noch andere da waren. Irgendjemand – Corazon vielleicht – hatte die Medien benachrichtigt.

Die Reporterin kam Bosch bekannt vor, aber er konnte sich nicht erinnern, von welcher Nachrichtensendung oder Pressekonferenz. Jedenfalls kannte er sie nicht und sie ihn nicht. Sie steuerte mit dem Mikrophon direkt auf Soto zu. In Medienkreisen war Sotos Bekanntheitsgrad höher. Zumindest in letzter Zeit.

»Detective Soto, Katie Ashton von Channel Five, erinnern Sie sich noch an mich?«

»Äh, ich glaube …«

»Wird Orlando Merceds Tod offiziell als Mord eingestuft?«

»Noch nicht«, sagte Bosch rasch, obwohl die Kamera nicht auf ihn gerichtet war.

Kamera und Reporterin wandten sich ihm zu. Das war nicht, was er wollte: in die Nachrichten kommen. Aber er wollte den Medien in diesem Ermittlungsverfahren ein paar Schritte voraus sein.

»In der Rechtsmedizin ist man noch dabei, Mr. Merceds medizinische Befunde auszuwerten. Erst danach wird man zu einer entsprechenden Entscheidung kommen. Wir hoffen, Ihnen schon bald Genaueres sagen zu können.«

»Werden die Ermittlungen zu dem Schuss auf Mr. Merced wiederaufgenommen?«

»Der Fall ist noch nicht zu den Akten gelegt, aber das ist alles, was wir Ihnen im Moment dazu sagen können.«

Ohne ein weiteres Wort drehte sich Ashton um neunzig Grad nach rechts und hielt das Mikrophon unter Sotos Kinn.

»Detective Soto, Sie haben für den Pico-Union-Überfall die Tapferkeitsmedaille des LAPD verliehen bekommen. Setzen Sie jetzt den Mörder von Orlando Merced auf Ihre Abschussliste?«

Einen Augenblick lang schienen Soto die Worte zu fehlen, dann antwortete sie: »Ich führe keine Abschussliste.«

Bosch schob sich am Kameramann vorbei, der inzwischen über Ashtons linke Schulter filmte, und drehte Soto zu ihrem Wagen.

»Das war alles«, sagte er. »Keine weiteren Kommentare. Wenn Sie mehr wissen wollen, rufen Sie in der Presseabteilung an.«

Damit ließen sie die Reporterin und den Kameramann stehen und gingen rasch zu ihrem Auto. Bosch setzte sich ans Steuer.

»Gute Antwort«, sagte er, als er den Zündschlüssel drehte.

»Welche?«, fragte Soto.

»Na, die auf den Spruch mit der Abschussliste.«

»Ach so.«

Sie fuhren auf die Mission Street und dann nach Süden. Sobald sie ein Stück von der Rechtsmedizin entfernt waren, hielt Bosch am Straßenrand und streckte Soto die Hand entgegen.

»Lass mich kurz dein Handy sehen.«

»Wieso?«, fragte Soto.

»Lass mich einfach dein Handy sehen. Als ich zur Obduktion reingegangen bin, hast du gesagt, du müsstest telefonieren. Ich möchte sehen, ob du die Reporterin angerufen hast. Auf einen Partner, der mit den Medien zusammenarbeitet, kann ich nämlich verzichten.«

»Ich habe sie nicht angerufen, Harry.«

»Gut, lass mich dein Handy trotzdem sehen.«

Ungehalten reichte ihm Soto ihr Telefon. Es war ein iPhone, das gleiche Modell, das Bosch hatte. Er rief die Anrufliste auf. Seit dem vorigen Abend hatte Soto niemanden mehr angerufen. Und der letzte Anruf, den sie bekommen hatte, war der von Bosch gewesen, als er ihr am Morgen von dem Fall erzählt hatte, der ihnen zugeteilt worden war.

»Hast du ihr eine SMS geschickt?«

Er öffnete die App und sah, dass die letzte SMS an eine Adriana gegangen war. Sie war auf Spanisch. Er hielt das Handy hoch, so dass seine Partnerin auf das Display schauen konnte.

»Wer ist das? Was steht da?«

»Eine SMS an meine Freundin. Also schön, ich wollte einfach nicht da mit reingehen, zufrieden jetzt?«

Bosch sah sie an. »Wo rein? Das verstehe ich …«

»Zu der Obduktion. Ich wollte nicht dabei zusehen.«

»Du hast mich also belogen?«

»Tut mir leid, Harry. Es ist mir echt peinlich. Aber ich glaube, das hätte ich nicht gepackt.«

Bosch gab ihr das Handy zurück.

»Lüg mich auf keinen Fall an, Lucia.«

Er schaute in den Außenspiegel und fuhr vom Straßenrand los. Sie schwiegen, bis sie zur First Street kamen und Bosch sich auf die Linksabbiegerspur einordnete. Soto merkte, dass sie nicht zum forensischen Labor fuhren.

»Wo willst du hin?«

»Weil wir gerade in der Gegend sind, dachte ich, sehen wir uns kurz auf der Mariachi Plaza um. Anschließend fahren wir in die Hollenbeck, das Mordbuch holen.«

»Okay. Und was ist mit Schusswaffen?«

»Bei denen schauen wir später vorbei. Hat das was mit der Schießerei damals zu tun – dass du nicht zu der Obduktion mitkommen wolltest?«

»Nein. Das heißt, keine Ahnung. Ich will mir so was einfach nicht ansehen.«

Dabei beließ es Bosch fürs Erste. Zwei Minuten später erreichten sie die Mariachi Plaza, und Bosch sah zwei Übertragungswagen am Straßenrand stehen, die für eine Live-Schaltung ihre Satellitenschüsseln ausgefahren hatten.

»Die stürzen sich ja regelrecht auf diese Geschichte«, sagte er. »Wir kommen später noch mal her.«

Er fuhr an den Fernsehteams vorbei. Einen knappen Kilometer weiter kamen sie zum Revier Hollenbeck. Der Bau war nagelneu und modern, mit einer Fassade aus versetzt angeordneten Glasflächen, die die Sonne in den unterschiedlichsten Winkeln reflektierten. Er sah mehr wie eine Firmenzentrale aus als wie eine Polizeiwache. Bosch fuhr auf den Besucherparkplatz und stellte den Motor ab.

»Jetzt mach dich auf was gefasst«, sagte er.

»Wieso?«, fragte Soto.

»Das wirst du gleich sehen.«

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3

Bosch war grundsätzlich nicht gern an einem Ermittlungsverfahren beteiligt, das von einem Team auf ein anderes übertragen wurde, egal, auf welcher Seite er dabei war. Als er noch bei Hollywood Homicide gearbeitet hatte, hatte ihnen oft die Elitetruppe der Robbery-Homicide Division einen Fall weggeschnappt. Als er dann selbst zur RHD kam, lief es andersherum, und häufig war er es, der einem kleineren Dezernat einen Fall weggenommen hatte. Bei Offen-Ungelöst kam so etwas selten vor, denn die Fälle waren alt und eingestaubt. Die Merced-Akte, obwohl schon zehn Jahre alt, war jedoch nicht im Archiv seiner Dienststelle gelagert. Sie befand sich immer noch im Besitz der zwei Ermittler, die den Fall am Tag des verhängnisvollen Schusses zugeteilt bekommen hatten. Bis jetzt.

Bosch und Soto betraten die Wache durch die Arbeitstür, wie der Eingang vom Streifenwagenparkplatz hieß. Sie gingen einen Gang entlang, der zum Bereitschaftsraum der Ermittler führte, und Bosch klopfte an die offene Tür des Büros des Lieutenant.

»Lieutenant Garcia?«

»Ja, der bin ich.«

Bosch betrat das winzige Büro, und Soto folgte ihm.

»Ich bin Bosch, und das ist Soto. Wir sind von Offen-Ungelöst und möchten die Merced-Akte abholen. Wir würden gern Rodriguez und Rojas sprechen.«

Garcia nickte. Er sah aus wie ein typischer LAPD-Bürohengst. Weißes Hemd, unauffällige Krawatte, das Sakko über die Stuhllehne gehängt. Seine Manschettenknöpfe hatten die Form winziger Dienstmarken. Kein Cop im Außeneinsatz trug Manschettenknöpfe. Zu protzig, und bei einem Handgemenge konnte man sie leicht verlieren.

»Ja, die Zentrale hat uns Bescheid gesagt. Sie wissen, dass Sie kommen. Der CAP-Raum ist gleich um die Ecke, hinter dem Melkzimmer.«

»Danke, Lieutenant.«

Bosch wandte sich zum Gehen und stieß fast mit Soto zusammen, die nicht gemerkt hatte, dass sie mit dem Lieutenant fertig waren. Verlegen machte sie einen Schritt zur Seite.

»Noch eines, Detectives«, sagte Garcia.

Bosch drehte sich zu ihm um.

»Seien Sie so nett und vergessen Sie meine Jungs nicht, wenn Sie den Fall gelöst haben.«

Damit meinte er die Lorbeeren, die man mit der Aufklärung eines aufsehenerregenden Falls ernten konnte. Das Problem mit entzogenen Fällen war, dass die Bezirksermittler den größten Teil der Vorarbeit leisteten, und dann kamen die tollen Hechte aus Downtown und rissen sich den Fall und mit ihm auch den mit einer Festnahme einhergehenden Ruhm unter den Nagel. Bosch hatte so etwas auf beiden Seiten erlebt und konnte Garcias Bitte deshalb gut verstehen.

»Keine Angst«, sagte er. »Wir werden sie sogar brauchen, wenn es so weit ist – falls Sie auf sie verzichten können.«

Damit spielte Bosch auf eine Festnahme an. Falls sie an den Punkt kamen, dass sie einen Verdächtigen hatten und Bosch einen Haftbefehl beantragte sowie ein Team für die Festnahme zusammenstellte, würde er auf Rodriguez und Rojas zurückkommen.

»Das lässt sich hören«, sagte Garcia.

Sie verließen das Büro und fanden den CAP-Bereich hinter dem Stillzimmer der Wache, dem sogenannten Melkraum. Die Stadt hatte vor kurzem verordnet, dass alle öffentlichen Einrichtungen ein »Familienzimmer« einzurichten hatten, in das sich Mitarbeiterinnen oder Besucherinnen aus der Bevölkerung zurückziehen konnten, um ungestört ihre Babys zu stillen. Da in keiner der neunzehn Polizeiwachen der Stadt ein solches Stillzimmer eingeplant war, wurde in jeder Station ein Vernehmungsraum so umgewandelt, dass er den Anforderungen entsprach. Die Zimmer wurden in freundlichen Pastelltönen gestrichen und mit Cartoon-Aufklebern aufgeheitert. Bei Engpässen wurden diese Zimmer jedoch weiterhin für Ermittlungen verwendet, so dass sich nichtsahnende Verdächtige im Beisein von SpongeBob und Kermit dem Frosch verhören lassen mussten.

Der CAP-Bereich der Hollenbeck Station bestand aus fünf Schreibtischen, die so aneinandergeschoben waren, dass jeweils zwei Ermittler einander gegenübersaßen, während der Platz des Leiters am oberen Ende war. Unter dem Schild mit der Aufschrift »Crime Against Persons«, personenbezogene Straftaten, saßen nur zwei Männer. Bosch nahm an, dass es sich um Oscar Rodriguez und Benito Rojas handelte.

Auf dem Schreibtisch eines der Männer lagen drei blaue Ordner gestapelt. Auf den Rücken von zweien konnte Bosch den Namen MERCED lesen. Auf dem dritten stand nur HINWEISE. Außerdem lag dort eine mit rotem Beweismitteltape verschlossene Schachtel. Daneben lehnte ein schwarzer Gitarrenkoffer, in dem sich, wie Bosch vermutete, Orlando Merceds Instrument befand. Der Koffer war übersät von Autoaufklebern, die von Merceds Reisen durch zahlreiche Städte und Regionen des Südwestens der USA und Mexikos zeugten.

»Tag, Leute«, sagte Bosch. »Wir sind von Offen-Ungelöst.«

»Was Sie nicht sagen«, murrte einer der beiden Männer. »Die Profis sind da.«

Bosch nickte. Er war früher genauso gewesen, wenn ihm ein Fall entzogen wurde. Er reichte dem verärgerten Mann die Hand.

»Harry Bosch. Und das ist Lucia Soto. Sind Sie Oscar oder Benito?«

Widerwillig schüttelte der Mann Bosch die Hand.

»Ben.«

»Freut mich. Tut mir wirklich leid wegen dieser Geschichte. Uns beiden. So etwas ist für keine Seite erfreulich – wenn einem ein Fall entzogen wird. Ich weiß, Sie haben viel Zeit und Arbeit in die Sache investiert, und das ist nicht fair. Aber so ist es nun mal. Wir alle tun nur, was uns die Geistesgrößen in der Chefetage sagen.«

Die kurze Ansprache schien Rojas zu besänftigen. Rodriguez machte einen neutralen Eindruck.

»Nehmen Sie den ganzen Kram einfach mit«, sagte Rodriguez. »Und viel Glück, Mann.«

»Eigentlich will ich nicht bloß den ganzen Kram mitnehmen«, sagte Bosch. »Wir bräuchten auch Ihre Hilfe. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen zu dem Fall stellen. Jetzt gleich und auch später, wenn wir uns eingearbeitet haben. Sie beide sind die Denkfabrik. Seit dem ersten Tag. Ich müsste schön blöd sein, Sie nicht um Hilfe zu bitten.«

»Hat man die Kugel inzwischen rausgeholt?«, fragte Rodriguez.

»Ja«, antwortete Bosch. »Wir kommen gerade von der Obduktion.«

Bosch fasste in seine Tasche und holte die Kugel heraus. Er reichte Rodriguez die Tüte und achtete sehr genau auf seine Reaktion. Rodriguez drehte sich zur Seite und reichte sie seinem Partner.

»Wer hätte das gedacht?«, sagte Rojas. »Sieht nach einer 308er aus.«

Bosch nickte, als er die Tüte wieder an sich nahm.

»Das glaube ich auch. Wir werden gleich ins Bezirkslabor damit fahren. An ein Gewehr haben Sie doch sicher nie gedacht, oder?«

»Wie auch?«, sagte Rodriguez. »Wir hatten ja die blöde Kugel nicht.«

»Haben Sie sich die Röntgenbilder aus dem Krankenhaus angesehen?«, fragte Soto.

Die zwei Hollenbeck-Ermittler sahen sie an, als stünde es ihr nicht zu, ihr Vorgehen in Frage zu stellen. Bosch durfte nachhaken, weil er Erfahrung hatte. Sie nicht.

»Ja, wir haben uns die Röntgenaufnahmen angesehen«, sagte Rodriguez hörbar verärgert. »Der Blickwinkel war ungünstig. Zu sehen war nur, dass sie stark gestaucht war. Aber mehr war nicht zu erkennen.«

Soto nickte. Bosch versuchte, sie aus dem Schussfeld zu nehmen. »Leute, was haltet ihr davon, wenn wir euch einen Kaffee spendieren – falls ihr gerade nicht zu stark beschäftigt seid? Dann unterhalten wir uns über das, was in diesen Akten steht.«

Rodriguez’ Gesichtsausdruck verriet Bosch, dass sein Vorschlag nicht gut ankam.

»Da sitzen wir zehn Jahre an einem Fall und bekommen was dafür?«, knurrte er. »Eine poplige Tasse Kaffee. Nein danke, Mann, die können Sie sich sonstwo hinkippen.«

Rodriguez deutete mit dem Kinn auf Soto.

»Außerdem haben Sie doch die heroina con la pistola. Lucky Lucy. Was brauchen Sie da uns?«

Bosch merkte, dass es Rodriguez nicht nur wurmte, den Fall entzogen zu bekommen. Ihn ärgerte auch, dass er immer noch in einem Bezirksdezernat arbeitete, während Soto ohne jede Erfahrung zu Offen-Ungelöst befördert worden war. Im Moment ließ sich an der verfahrenen Situation nichts ändern, deshalb beschloss Bosch, zu verschwinden, bevor alles noch schlimmer wurde. Ihm entging nicht, dass Rojas nicht ins gleiche Horn geblasen hatte, als sein Partner Soto heruntergemacht und sich über den entzogenen Fall beklagt hatte. Wenn es so weit war, würde sich Bosch an ihn wenden.

»Na schön, dann nehmen wir nur den Kram mit.«

Bosch legte die drei Ordner auf die Beweismittelbox und hob alles hoch.

»Kannst du den Gitarrenkoffer nehmen, Lucia?«

»Das ist eine vihuela, Kollege«, sagte Rodriguez. »Merken Sie sich das für die Pressekonferenz.«

»Werde ich«, sagte Bosch. »Danke.«

Er richtete sich auf mit seiner Last und blickte sich auf den Schreibtischen um, ob er auch nichts übersehen hatte.

»Also dann, Leute, vielen Dank für die Hilfe. Ihr hört von uns.«

Damit verließ er, gefolgt von Soto, den CAP-Bereich.

»Wir können’s kaum erwarten«, brummte Rodriguez ihren Rückansichten hinterher. »Und vergesst den Kaffee nicht.«

Schweigend verließen Bosch und Soto die Polizeistation. Erst draußen auf dem Parkplatz sagte Soto: »Es tut mir wirklich leid, Harry. Ich habe bei diesem Fall nichts verloren. Und in dieser Einheit auch nicht.«

»Lass sie doch reden, Lucia. Du machst dich richtig gut, und ich bin in diesem Fall auf dich angewiesen. Du wirst sehr wichtig werden.«

»Als was, als Dolmetscherin? Als Ermittlerin jedenfalls sicher nicht. Ich habe das Gefühl, etwas bekommen zu haben, was ich nicht verdiene. So ist es mir schon gegangen, als ich unter den verschiedenen Dezernaten auswählen durfte. Ich hätte zu Einbrüche gehen sollen.«

Um die Schlüssel herausholen zu können, stellte Bosch die Schachtel und die Ordner auf die Motorhaube des Autos. Er drückte den Entriegelungsknopf des Kofferraums, und sie gingen zum Heck des Wagens. Der Gitarrenkoffer, die Schachtel und die Ordner passten gerade so hinein. Sobald alles verstaut war, öffnete Bosch die Verschlüsse des Gitarrenkoffers und klappte den Deckel hoch. Er betrachtete die vihuela, ohne sie herauszunehmen. Das Projektil hatte den lackierten Korpus des Instruments zersplittert. Er schloss den Koffer wieder. Erst dann drehte er sich um und antwortete seiner Partnerin.

»Jetzt hör mal gut zu, Lucia. Bei Einbrüche hättest du nur deine Zeit vergeudet. Ich arbeite zwar erst ein paar Wochen mit dir zusammen, aber ich weiß, du bist eine gute Polizistin, und du wirst eine richtig gute Ermittlerin werden. Hör also auf, dich selbst runterzumachen. Wie du gerade gesehen hast, gibt es genügend Leute, die das für dich erledigen. Am besten, du stellst die Ohren einfach auf Durchzug. Sie wollen haben, was du hast, aber dafür kannst du nichts.«

Soto nickte.

»Danke. Und sag bitte Lucy zu mir. Wenn du mich weiter Lucia nennst, habe ich das Gefühl, wir werden nie richtige Partner.«

»Okay, dann also Lucy. Und vergiss vor allem eins nicht. Das ist ein entzogener Fall. Er wird den bisherigen Ermittlern einfach weggenommen. Niemand sieht es gern, wenn die RHD anrückt und sich einen Fall unter den Nagel reißt. Da fällt schon mal das eine oder andere böse Wort, aber sie werden drüber wegkommen. Diese zwei Typen? Sie werden uns noch sehr nützlich werden. Warte nur ab.«

Soto schien nicht überzeugt.

»Bei Rodriguez wäre ich mir da nicht so sicher«, sagte sie. »Er war ganz schön angefressen.«

»Aber letztlich ist er eben doch Ermittler und wird sich deshalb auch richtig verhalten. Aber jetzt lass uns fahren.«

»Okay.«

Sie stiegen ein und fuhren auf die First, vorbei am Chinese Cemetry und rüber zum Freeway 10. Von dort waren es zwei Minuten zur Ausfahrt zur Cal State, wo sich das Regional Crime Laboratory befand.

Das forensische Labor war ein fünfgeschossiger Bau, der in der Mitte des Campus stand. Es war von LAPD und L.A. County Sheriff’s Department gemeinsam gebaut worden, was nur logisch war, weil diese beiden Polizeibehörden zusammen über ein Drittel der Straftaten bearbeiteten, die im Bundesstaat Kalifornien begangen wurden, und weil viele dieser Straftaten unter beider Zuständigkeit fielen.

Allerdings unterhielten diese zwei Behörden im Crime Lab auch zahlreiche separate eigene Abteilungen. Eine davon war die Firearms Analysis Unit des LAPD, zu der auch das sogenannte Kugellabor gehörte. In ihm versuchten Techniker in einer Dunkelkammer mit Hilfe von Lasern und Computern, Projektile aus einem bestimmten Verfahren mit solchen von anderen Fällen in Verbindung zu bringen.

Darauf ruhten auch ihre Hoffnungen im Fall Merced. Vor zehn Jahren mochten Rodriguez’ und Rojas’ Ermittlungen durchaus gründlich gewesen sein, aber sie hatten die zu dem Geschoss gehörende Patronenhülse nicht gefunden, und die Kugel selbst hatte bis vor kurzem in Merceds Körper gesteckt. Die Chancen waren zwar nicht hoch, aber wenn das Geschoss aus der Wirbelsäule des Opfers mit einer anderen Straftat in Verbindung gebracht werden konnte, eröffneten sich Bosch und Soto bei ihren Ermittlungen völlig neue Perspektiven.

Der normale Ablauf im Labor war, dass man ein Projektil oder eine Patronenhülse zur Untersuchung einreichte, um dann wegen des Arbeitsüberhangs manchmal wochenlang zu warten, bis man eine Antwort und einen Befund bekam. Mittwochs konnte man jedoch seine Kugeln einfach so vorbeibringen, und man wurde nach dem Prinzip »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst« abgefertigt.

Bosch meldete sich beim Leiter des Kugellabors und wurde einem Techniker mit dem treffenden Namen Gun Chung zugeteilt. Bosch hatte schon öfter mit Chung zusammengearbeitet und wusste, dass Gun kein Spitzname war, sondern der Name, der in seiner Geburtsurkunde stand.

»Wie geht’s, wie steht’s, Gun?«

»Ich kann nicht klagen, Harry. Was hast du heute Schönes für mich?«

»Zuallererst, das ist meine neue Partnerin, Lucy Soto. Und zweitens habe ich dir heute eine richtig harte Nuss mitgebracht.«

Chung schüttelte Soto die Hand, und Bosch reichte ihm die Beweismitteltüte mit der Kugel. Chung öffnete die Tüte mit einer Schere und nahm das Projektil heraus. Er wog es in seiner Hand und hielt es unter eine Leuchtlupe, die er an einem Schwenkarm zu sich herangezogen hatte.

»Das ist eine 308er Remington. Ein Soft-Point-Geschoss – deshalb die starke Verformung. So eine Munition wird hauptsächlich verwendet, wenn man bei großen Entfernungen hohe Zielgenauigkeit haben will.«

»Zum Beispiel für ein Scharfschützengewehr?«

»Eher für Jagdgewehre.«

Bosch nickte.

»Kannst du was damit anfangen?«

Damit meinte Bosch, ob der Zustand der Kugel einen Vergleich mit anderen Geschossen zuließ. Das Projektil hatte den Korpus von Orlando Merceds vihuela durchschlagen und war in seinen Bauch eingedrungen, bevor sie im zwölften Brustwirbel steckengeblieben war. Bei diesen Kontakten war die Kugel stark gestaucht worden, so dass nur wenig von ihrem Schaft intakt geblieben war. Doch es war der Schaft, auf dem die Riefen des Laufs der Schusswaffe, mit der eine Kugel abgefeuert wurde, ein unverkennbares Muster hinterließen, das es ermöglichte, sie mit anderen Projektilen in der BulletTrax-Datenbank zu vergleichen.

Auf der Kugel, die Bosch Chung gerade gegeben hatte, waren höchstens fünf Millimeter unbeschädigt. Chung untersuchte das Projektil mit der Lupe sorgfältig und ließ sich Zeit mit der Entscheidung, ob es für eine ballistische Analyse in Frage kam. Bosch tat sein Bestes, Chung die Sache schmackhaft zu machen, während dieser die Kugel in Augenschein nahm.

»Ein zehn Jahre alter Fall«, sagte er. »Die Kugel wurde in der Rechtsmedizin eben erst aus der Wirbelsäule des Opfers entfernt. Wahrscheinlich ist sie unsere einzige Chance, bei den Ermittlungen weiterzukommen.«

Chung nickte.

»Das Ganze läuft in zwei Schritten ab, Harry. Zuerst muss ich feststellen, ob es überhaupt genügend gibt, womit ich arbeiten kann. Und selbst wenn wir dann etwas in die Datenbank eingeben können, ist nicht gesagt, dass dort die dazu passende Waffe gespeichert ist. Die Datenbank für Gewehrkugeln ist nicht sehr umfangreich. Die meisten unserer Schusswaffenstraftaten werden mit Handfeuerwaffen begangen.«

»Schon klar«, sagte Bosch. »Und was meinst du? Ist genügend da?«

Chung zog den Kopf von der Lupe zurück und schaute auf.

»Es müsste eigentlich reichen.«

»Na, wunderbar«, sagte Bosch. »Wie lang wird das etwa dauern?«

»Heute ist nicht viel los. Ich mache mich gleich an die Arbeit, und dann sehen wir, was dabei herauskommt.«

»Danke, Gun. Sollen wir dich dabei allein lassen oder hier bleiben?«

»Was euch lieber ist. Wenn ihr Lust auf einen Kaffee habt – im Erdgeschoss ist eine Cafeteria.«

»Hört sich schon mal ganz gut an.«

Bosch und Soto hatten kaum in der Cafeteria Platz genommen, Bosch mit einem schwarzen Kaffee, Soto mit einer Cola Light, als Boschs Handy zu summen begann. Es war Crowder aus dem PAB.

»Harry, wo sind Sie gerade?«

»Im Crime Lab, mit der Kugel.«

»Irgendwas Brauchbares?«

»Bisher nicht. Sie lassen sie gerade durch die Datenbank laufen.«

»Aha. Sie müssen jedenfalls sofort herkommen.«

»Wieso, was ist?«

»Merceds Familie und die Medien sind hier. In fünfundzwanzig Minuten beginnt die Pressekonferenz.«

»Welche Pressekonferenz? Wir haben keine …«

»Das spielt jetzt keine Rolle, Harry. Die Zahl der Reporter hat einen kritischen Punkt erreicht, und der Chief hat eine Pressekonferenz einberufen. Die Rechtsmedizin hat bereits bekanntgegeben, dass sie es als Mord einstuft.«

Fast hätte Bosch laut Corazons Namen hinausgeflucht.

»Der Chief möchte Sie und Soto dabeihaben«, fuhr Crowder fort. »Kommen Sie also schnell her. Auf der Stelle.«

Bosch antwortete nicht sofort.

»Haben Sie gehört, Harry?«, fragte Crowder.

»Ja«, sagte Bosch. »Wir kommen.«

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4

Hinter der Presseabteilung im ersten Stock war ein Saal für Pressekonferenzen. Bosch und Soto wurden in ein kleines Zimmer daneben geschickt, wo ihnen ein Lieutenant DeSimone von der PR-Abteilung den Ablauf der Pressekonferenz erklärte. Zuerst würde Chief Malins ein paar einleitende Worte sagen und Orlando Merceds Angehörige vorstellen. Danach sollten Bosch und Soto ans Mikrophon treten. Weil die meisten anwesenden Journalisten für spanischsprachige Medien arbeiteten, sollte sich Soto nach der Pressekonferenz für Interviews auf Spanisch zur Verfügung stellen. Bosch unterbrach DeSimone mitten in seinen Ausführungen, um ihn zu fragen, was genau bei der Pressekonferenz bekanntgegeben würde.

»Wir werden über den Fall sprechen und wie Mr. Merceds Tod gestern die Ermittlungen wieder hochgefahren hat«, sagte DeSimone.

Bosch hasste Wörter wie hochgefahren.

»Das dauert vielleicht fünf Sekunden«, führte er an. »Muss man dafür wirklich eine Pressekonfer…«

»Detective«, schnitt ihm DeSimone das Wort ab, »bis heute Vormittag zehn Uhr lagen meiner Abteilung bereits achtzehn Anfragen zu dem Fall vor. Das mag daran liegen, dass es für die Medien gerade sonst nicht viel zu berichten gibt. Sie haben sich nun mal auf diese Sache eingeschossen. Und zwar in einem Maß, dass es uns angebracht schien, eine Pressekonferenz abzuhalten. Sie fassen den gegenwärtigen Kenntnisstand zusammen, schildern die Ergebnisse der Obduktion – dass es als Mord eingestuft wird, wissen sie bereits – und machen entsprechend weiter. Sie sagen, die Kugel, die zehn Jahre im Körper des Opfers gesteckt hat, wird jetzt in den nationalen Datenbanken mit Tausenden anderen verglichen. Dann beantworten Sie ein paar Fragen. In fünfzehn Minuten ist alles vorbei, und Sie können sich wieder Ihren Ermittlungen zuwenden.«

»Ich mag keine Pressekonferenzen«, sagte Bosch. »Wenn Sie mich fragen, bringen sie nichts. Sie machen alles nur komplizierter.«

DeSimone sah ihn an und lächelte.

»Soll ich Ihnen was sagen? Ich frage Sie aber nicht. Ich sage Ihnen, wir machen eine Pressekonferenz.«

Bosch sah Soto an. Er hoffte, sie lernte etwas.

»Und wann geht es los?«

»Die Medien sind bereits hier und warten. Wir gehen zusammen mit dem Chief rein. Sobald er runterkommt, kann es losgehen.«

Bosch spürte, wie das Handy in seiner Tasche zu vibrieren begann. Er machte ein paar Schritte weg von DeSimone und ging dran. Es war Gun Chung.

»Ich hoffe, du hast gute Nachrichten, Gun«, sagte er.

»Sorry, Harry, da muss ich dich leider enttäuschen. Keine Übereinstimmung im BulletTrax.«

Bosch suchte noch einmal Sotos Blick und schüttelte den Kopf.

»Bist du noch dran, Harry?«

»Ja, Gun, ich bin noch dran. Sonst irgendwas?«

»Ja, ich glaube, ich habe das Modell deiner Waffe identifiziert.«

Das milderte Boschs Enttäuschung ein wenig.

»Ich höre.«

»Sechs Rillen, Rechtsdrehung bei zwölf eins – wenn mich nicht alles täuscht, haben wir es hier mit einem Kimber Model 84 zu tun. Im Katalog war es als Montana aufgeführt – ein Jagdgewehr.«

Die Rillen und die Drehung waren charakteristische Merkmale der Innenseite eines Gewehrlaufs. Sie ermöglichten Chung, das Modell zu identifizieren, mit dem die Kugel abgefeuert worden war. Aber einem bestimmten Gewehr ließ sie sich damit nicht zuordnen. Trotzdem war es besser als nichts, und Bosch war froh, dass die Obduktion zu neuen Erkenntnissen geführt hatte.

»Hilft dir das?«, fragte Chung.

»Jede Info ist hilfreich«, sagte Bosch. »Ist es ein teures Gewehr?«

»Nicht gerade billig. Aber sie sind auch gebraucht zu haben.«

Bosch nickte.

»Danke, Gun.«

»Gern geschehen. Willst du die Kugel wieder abholen, oder soll ich sie hierbehalten?«

»Ich muss sie abholen und in die Asservatenkammer bringen.«

»Alles klar. Und vergiss nicht, Harry, wenn du mir eine Patronenhülse bringst, sieht die Sache gleich ganz anders aus. In der Datenbank sind mehr Hülsen als Kugeln. Wenn du mir eine Hülse bringst, könnten wir ins Geschäft kommen.«

Bosch wusste, dass daraus nichts werden würde. Es war nicht damit zu rechnen, dass die Hülse von einer zehn Jahre zurückliegenden Schießerei auftauchte.

»Alles klar, Gun, danke.«

Bosch steckte das Handy ein und ging zu DeSimone zurück.

»Das war gerade das Kugellabor«, sagte er. »Für die Kugel, die wir aus Merceds Wirbelsäule geholt haben, gibt es im Computer keine Entsprechung. Wir sind also genauso weit wie zuvor. Sagen Sie die Pressekonferenz ab – es gibt nichts zu erzählen.«

DeSimone schüttelte den Kopf.

»Nein, wir sagen sie nicht ab. Sie erwähnen die Kugel einfach nicht. Bitten Sie die Öffentlichkeit um ihre Mitwirkung bei dem Fall. Vor zehn Jahren haben wir enorm viel Unterstützung erhalten, und die brauchen wir auch jetzt wieder. Sie bekommen das schon hin, Bosch. Außerdem möchten Sie doch sicher nicht bekanntgeben, dass Sie die Kugel nicht weiterbringt. Sie möchten, dass der Täter glaubt, Sie hätten eine Spur.«

Es gefiel Bosch nicht, dass ihm der PR-Typ des LAPD erzählte, was er zu tun hatte – aus diesem Grund hatte er auch nicht erwähnt, dass Gun Chung festgestellt hatte, mit welchem Gewehrmodell der Schuss auf Merced abgegeben worden war. Am liebsten wäre er einfach gegangen, statt für diese Farce von einer Pressekonferenz herhalten zu müssen. Aber damit hätte er Soto sich selbst überlassen und in etwas hineingedrängt, was sie wahrscheinlich nicht durchblickte. Und es hätte vermutlich dazu geführt, dass ihm der Fall entzogen würde.

In diesem Moment krächzte DeSimones Funkgerät los, und er bekam mitgeteilt, dass der Chief im Lift nach unten kam.

»Okay, dann wollen wir mal.«

Sie gingen auf den Flur hinaus und warteten auf den vom zehnten Stock herunterkommenden Lift. Als die Tür aufging, trat der Polizeichef heraus. In dem Mann, der ihm folgte, erkannte Bosch sofort Armando Zeyas, den ehemaligen Bürgermeister, der sich vor zehn Jahren für Orlando Merced eingesetzt hatte. Der Chief hatte ihn für die Pressekonferenz zurückgeholt. Oder Zeyas hatte sich dafür angedient. Es hieß, dass er für das Amt des Gouverneurs kandidieren wollte. Merceds Fall hatte ihm politisch schon einmal geholfen. Warum nicht auch ein zweites Mal?

Bosch kamen solche zynischen Gedanken schnell. Er war schon lange in diesem Geschäft. Aber er merkte, dass Sotos Augen aufleuchteten, als sie Zeyas sah. Für die Latinos war er ein Held. Ein Pionier.

Zeyas und der Polizeichef wurden von einem Mann begleitet, den Bosch ebenfalls kannte. Connor Spivak, der politische Chefstratege des ehemaligen Bürgermeisters. Wie es aussah, war er Teil von Zeyas’ nicht allzu geheimem Plan, nach den nächsten Wahlen in die Residenz des Gouverneurs einzuziehen.

DeSimone ging zum Chief und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Malins nickte einmal und kam auf Bosch zu. Die beiden kannten sich schon mehrere Jahrzehnte. Ungefähr gleich alt, hatten sie beim LAPD eine ähnliche Karriere durchlaufen: Streifendienst, Ermittler bei der Hollywood Division, Robbery-Homicide Division. Während Bosch seine Heimat bei der RHD fand, verfolgte Malins ehrgeizigere Pläne, als Morde aufzuklären. Er ging in die Verwaltung und stieg dort rasch auf, bis er schließlich von der Police Commission zum Polizeichef ernannt wurde. Er näherte sich dem Ende seiner ersten fünfjährigen Amtszeit und stand kurz vor seiner Neuberufung. Die gängige Meinung war, dass seine zweite Amtszeit bereits beschlossene Sache war.

»Harry Bosch«, sagte er freundlich. »Ich höre, die Pressekonferenz bereitet dir Magenschmerzen.«

Bosch nickte leicht verlegen. Die Gruppe stand eng beisammen, und die anderen konnten die Unterhaltung hören. Trotzdem äußerte er noch einmal seine Bedenken, im Beisein der Medien über den Fall zu sprechen.

»Der einzige Anhaltspunkt, den wir hatten – die Kugel –, bringt uns nicht weiter, Chief«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich denen erzählen soll.«

Malins nickte, ohne jedoch Boschs Einschätzung zu teilen.

»Es gibt jede Menge zu sagen. Wir müssen den Bewohnern dieser Stadt klarmachen, dass Orlando Merced nicht in Vergessenheit geraten ist. Dass wir noch immer nach dem oder den Tätern suchen und dass wir sie finden werden. Diese Botschaft ist wichtiger als alles andere, ein Stück Blei nicht ausgenommen.«

Was er wirklich dachte, behielt Bosch für sich und sagte nur: »Wenn du meinst.«

Der Chief nickte.

»Ja, das meine ich. Entweder zählt jeder oder keiner – hast du doch selbst mal gesagt, oder nicht?«

Bosch nickte.

»Klasse Spruch!«, sagte Zeyas. »Entweder zählt jeder oder keiner. Gefällt mir.«

Bosch konnte seine Bestürzung nicht verbergen. Aus Zeyas’ Mund hörte es sich an wie ein Wahlkampfslogan.

Der Polizeichef sah Soto an, die wie üblich zwei Schritte hinter Bosch stand. Er reichte ihr an Bosch vorbei die Hand.

»Detective Soto, wie gefällt es Ihnen bei Robbery-Homicide?«

Soto schüttelte dem Chief die Hand.

»Sehr gut, Sir. Ich lerne von den Besten.«

Sie nickte in Richtung Bosch. Der Chief lächelte. Sie hatte ihm einen Anknüpfungspunkt geliefert.

»Dieser alte Silberrücken da, Soto?«, sagte er. »Sehen Sie zu, dass Sie von ihm so viel wie möglich mitnehmen, solange er noch da ist.«

»Ja, Sir«, sagte Soto beflissen. »Ich lerne jeden Tag etwas Neues.«

Sie strahlte. Der Chief strahlte. Alle waren glücklich. Und Bosch wurde klar, dass er Soto auf Anordnung des Chief als Partnerin zugeteilt bekommen hatte. Crowder hatte nur seine Anweisungen befolgt.

»Okay«, sagte DeSimone. »Dann wollen wir mal. Merceds Angehörige sind bereits im Saal. Sie sitzen in der ersten Reihe. Als Erster wird Chief Malins ans Pult treten und sie vorstellen. Dann wird der ehemalige Bürgermeister ein paar Worte sagen, und nach ihm wird Detective Bosch …«

»Das kann doch Detective Soto übernehmen«, sagte der Polizeichef. »Sie weiß alles, was Detective Bosch über den Fall weiß, oder nicht? Genauso machen wir es. Du hast doch sicher nichts dagegen, Harry, oder?«

Der Chief sah Bosch an. Der schüttelte den Kopf.

»Natürlich nicht. Ist schließlich deine Show.«

Die Gruppe ging den Flur hinunter. Einer von DeSimones Leuten stand vor der offenen Tür des Mediensaals. Er ging nach drinnen, um den Wartenden zu signalisieren, dass es losgehen konnte. Scheinwerfer, Kameras und Aufnahmegeräte wurden eingeschaltet.

Soto kam an Boschs Seite und flüsterte. »So was habe ich noch nie gemacht, Harry. Was soll ich denen erzählen?«

»Du hast doch gehört, was DeSimone gesagt hat. Fass dich kurz und sag, dass wir den Fall wieder aufrollen und auf die Unterstützung der Allgemeinheit angewiesen sind. Jeder, der sich an irgendetwas erinnert oder etwas über den Fall weiß, soll unter der Nummer für Hinweise oder bei Offen-Ungelöst direkt anrufen. Das Gewehr erwähnst du nicht. Das behalten wir für uns.«

»Okay.«

»Und denk dran, fass dich kurz. Die Politiker werden lang genug reden. Sei nicht wie sie.«

»Alles klar.«

Die Gruppe betrat den Saal. Dort gab es ein Podest mit einem Rednerpult in der Mitte, und davor waren drei Tischreihen für die Reporter aufgestellt. Dahinter befand sich ein weiteres Podest, auf dem Videokameras aufgebaut waren, um über die Köpfe der Journalisten hinweg filmen zu können. Bosch und Soto folgten dem Polizeichef und dem ehemaligen Bürgermeister auf das vordere Podest und stellten sich in den Hintergrund. Bosch schaute zur ersten Reihe, wo vor den Reportern vier Personen saßen, drei Frauen und ein Mann. Er wusste nicht, wie sie mit Orlando Merced verwandt waren. Der Fall war so frisch für ihn, dass er noch keine Angehörigen des Opfers kennengelernt hatte. Das war ein weiterer Punkt, der ihn an der ganzen Sache störte.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte DeSimone in das Mikrophon auf dem Rednerpult. »Als Erstes möchte ich Ihnen Polizeichef Gregory Malins vorstellen. Anschließend wird Ex-Bürgermeister Armando Zeyas zu Ihnen sprechen und dann Detective Lucia Soto. Chief?«

Der Polizeichef nahm den Platz vor dem Mikrophon ein und begann frei zu sprechen. Er war es gewohnt, vor Reportern und Kameras aufzutreten.

»Orlando Merced wurde vor zehn Jahren auf der Mariachi Plaza von einer verirrten Kugel getroffen. Seitdem war Mr. Merced gelähmt und hatte schwer zu kämpfen, um wieder auf die Beine zu kommen und ein normales Leben führen zu können. Gestern Vormittag hat er diesen Kampf jedoch verloren, und wir sind heute hier, um klarzustellen, dass wir ihn nicht vergessen werden. Von heute an wird die Einheit Offen-Ungelöst des LAPD den Fall übernehmen und die Ermittlungen so lange mit allem Nachdruck vorantreiben, bis wir wissen, wer Orlando Merced erschossen hat. Wie Sie wissen, wird sein Tod als Mord eingestuft, und wir werden dieses Ermittlungsverfahren nicht eher beenden, als die hierfür verantwortliche Person festgenommen und wegen Mordes angeklagt wird.«

An dieser Stelle machte er eine kurze Pause, vielleicht um den fieberhaft mitschreibenden Vertretern der Printmedien Zeit zu lassen, Schritt zu halten.

»Mit uns sind heute auch Angehörige Orlando Merceds hier. Sein Vater Hector und seine Mutter Irma. Seine Schwester Adelita und seine Frau Candelaria. Wir versichern ihnen, dass wir Orlando nicht vergessen werden und dass unsere Ermittlungen gründlich und mit Nachdruck erfolgen werden. Und jetzt wird Ex-Bürgermeister Armando Zeyas, ein Freund Mr. Merceds und seiner Familie, ein paar Worte sagen.«

Der Polizeichef trat zurück, und Zeyas nahm seinen Platz ein.

»Es war Orlando Merced, durch den ich ganz konkret erfahren habe, welches Leid Kriminalität und Gewalt über unsere Stadt bringen«, begann er. »Aber ich habe noch viel mehr gelernt von diesem Mann, der mir ein Freund wurde. Ich habe gelernt, was Beharrlichkeit ist. Ich habe gelernt, was Mitgefühl ist. Ich habe gelernt, was es heißt, sich mit dem abzufinden, was einem vom Schicksal zugeteilt worden ist. Ich konnte mir aus erster Hand ein Bild von der Anpassungsfähigkeit des menschlichen Geistes machen. Orlando hat nie gefragt: ›Warum ausgerechnet ich?‹ Er hat nur gefragt: ›Wie geht es weiter?‹ Er war ein Held für mich, denn er hat angenommen, was ihm das Leben gegeben hat, und das Beste daraus gemacht. Das war in vieler Hinsicht schöner als die Musik, die er früher mit seinem Instrument gemacht hat. Ich verpflichte mich, bei diesem Ermittlungsverfahren in jeder mir möglichen Weise behilflich zu sein. Ich mag vielleicht nicht mehr Bürgermeister sein, aber ich liebe diese Stadt und ihre Bewohner. Es sind Gelegenheiten wie diese, bei denen wir uns zusammentun und wirklich eine Stadt der Engel werden können. Es sind Gelegenheiten wie diese, bei denen wir begreifen, dass in unserer Stadt und in unserer Gesellschaft entweder jeder zählt oder keiner. Ich danke Ihnen.«

DeSimone kehrte ans Mikrophon zurück und teilte den Anwesenden mit, dass der Fall nun in den Händen von Bosch und Soto lag. Er kündigte an, Soto werde sie über den neuesten Stand der Ermittlungen in Kenntnis setzen und anschließend alles auf Spanisch wiederholen. Zaghaft trat Soto ans Mikrophon und bog es auf Höhe ihres Mundes herab.

»Ähm, wir ermitteln gegenwärtig in allen Richtungen und bitten die Bevölkerung um ihre Unterstützung. Vor zehn Jahren ist es seitens der Öffentlichkeit zu einer Welle der Hilfsbereitschaft gekommen. Viele Menschen haben angerufen, um uns ihre Hilfe anzubieten oder mit Hinweisen zu unterstützen. Wir bitten jeden, der etwas über den Schuss auf Mr. Merced weiß, mit uns Kontakt aufzunehmen. Sie können anonym unter der LAPD-Hotline für Hinweise aus der Bevölkerung anrufen oder sich direkt an die Einheit Offen-Ungelöst wenden. Selbst wenn Sie Informationen haben, von denen Sie glauben, dass sie uns bereits vorliegen, rufen Sie uns bitte trotzdem an.«