Schattenherz - James Barclay - E-Book

Schattenherz E-Book

James Barclay

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Beschreibung

Nach „Elfenjagt“ der dritte Roman in James Barclays „Legenden des Raben“

Ein neues actionreiches Abenteuer um die Gefährten eines magischen Bundes, die selbst in aussichtsloser Lage den Kampf gegen das Böse aufnehmen: Der uralte Konflikt zwischen den magischen Kollegien erreicht seinen Höhepunkt. Eine brüchige Allianz soll nun verhindern, dass Xetesk die absolute Macht über die Magie an sich reißt. Als ein Krieg ausbricht, gerät der Rabe zwischen die Fronten …

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Titel der englischen Originalausgabe SHADOWHEART (Part 1)

Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2003 by James Barclay

Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Titelillustration: Jakob Werth

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München Karte: Franz Vohwinkel

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-08705-0V002

www.heyne.de

DIE CHRONIKEN DES RABEN

Erstes Buch:ZauberbannZweites Buch:DrachenschwurDrittes Buch:SchattenpfadViertes Buch:HimmelsrissFünftes Buch:NachtkindSechstes Buch:Elfenmagier

DIE LEGENDEN DES RABEN

Erstes Buch:SchicksalswegeZweites Buch:ElfenjagdDrittes Buch:SchattenherzViertes Buch:ZauberkriegFünftes Buch:DrachenlordSechstes Buch:Heldensturz

Inhaltsverzeichnis

WidmungPersonenverzeichnisErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelCopyright

Für meine beiden ältesten FreundePeter Robinson und John »George« Cross.Mehr als drei Jahrzehnte,und es geht weiter …

Hier sind wohl keine Überraschungen zu erwarten. Ich danke meinem unermüdlichen Redakteur und Freund Simon Spanton, der immer bereit war, zu diskutieren und mit Ratschlägen auszuhelfen, gelegentlich auch mal mit einem Bier. Die hervorragende Herausgeberin Nicola Sinclair konnte wider Erwarten bei der Presse großes Interesse wecken; und nicht zu vergessen mein Agent Robert Kirby, der nie den Mut verlor. Ich danke euch für alles, was ihr für mich getan habt.

 

Auch dieses Mal unterstützten mich Dick Whichelow und Dave Mutton mit produktiver Kritik. David Gemmell und Peter Hamilton steuerten wertvolle Ratschläge für die geschäftliche Seite des Schriftstellerlebens bei. Ariel leistete ausgezeichnete Arbeit an meiner Website (vor allem an theravengazetteer.com). Rob Bedford, Gabe Chouinard und Sammie von sffworld.com haben sich für mich eingesetzt. Und nicht zuletzt möchte ich auch allen danken, die sich die Zeit genommen haben, mir in Zusammenhang mit dem Raben eine E-Mail zu schreiben.

Personenverzeichnis

DER RABEHirad Coldheart, BarbarenkriegerDer Unbekannte Krieger/SolThraun, GestaltwandlerRy Darrick, Kavallerist und SchwertkämpferDenser, Magier aus XeteskErienne, Magierin aus DordoverDIE KOLLEGIENDystran, Herr vom Berge, XeteskRanyl, Meistermagier im Kreis der Sieben, XeteskMyx, ein ProtektorSuarav, Hauptmann der xeteskianischen KollegwacheChandyr, Kommandant der xeteskianischen TruppenNyam, xeteskianischer SeniormagierVuldaroq, Erzmagier, DordoverHeryst, Lordältester Magier, LysternIzack, Kommandant der lysternischen KavalleriePheone, Hohe Magierin, JulatsaDIE ELFENMyriell, Al-DrecharCleress, Al-DrecharRebraal, Anführer der Al-ArynaarAuum, Anführer der TaiGethenEvunn, Kämpfer in Auums Tai-ZelleDuele, Kämpfer in Auums Tai-ZelleDila’heth, ElfenmagierinDie KrallenjägerBALAIANER, WESMEN UND EIN DRACHEBlackthorne, BaronDevun, Anführer der Schwarzen SchwingenDiera, Frau des Unbekannten KriegersTessaya, Lord der Paleon-StämmeRiasu, Lordhüter am Understone-PassSha-Kaan, der Große Kaan

Erstes Kapitel

Die Kavallerieabteilung aus der Magierstadt Lystern griff nach einem Schwenk sofort wieder an und setzte den Verteidigern, die vor dem Osttor von Xetesk die Stellung zu halten suchten, schwer zu. Die Reiter zielten auf die geschwächte linke Flanke der Gegner und stürmten vor, Hufe wühlten den Schlamm auf, die Spitzen von Schwertern und Speeren blitzten im Licht der warmen Nachmittagssonne. Dreißig Pferde, unter deren Sätteln der Schweiß hervorquoll, galoppierten heran, gelenkt von erfahrenen lysternischen Reitern unter Befehl des Kommandanten Izack.

»Nun macht schon«, flüsterte Dila’heth, die von einer Anhöhe über dem blutigen Schlachtfeld aus den Angriff beobachtete.

Dort unten im Zentrum der Schlachtreihen versuchten die noch lebenden Elfen der Al-Arynaar und TaiGethen, die sturen Xeteskianer mit einem Katz-und-Maus-Spiel aus ihren Stellungen zu locken. Bisher waren ihre Bemühungen erfolglos geblieben. Die tödlichen Protektoren im Zentrum der feindlichen Reihen waren viel zu diszipliniert, um auf so ein Manöver hereinzufallen.

Ein Sperrfeuer von Sprüchen ging von den xeteskianischen Magiern aus, die sich hinter ihren Kriegern verschanzt hatten. Feuerkugeln, Heißer Regen und Todeshagel prasselten auf die angreifende Kavallerie herab. Lysternische Schilde glühten und blitzten unter dem Feuer der dunkelblauen feindlichen Sprüche, bis das dunkelgrüne Mana-Gitter hervortrat, das die Sperren stabilisierte.

Dila’heth spürte im Mana-Spektrum, unter welchem Druck die Schilde standen, und empfand Achtung vor den Kräften und Fähigkeiten der Magier, die sogar im Reiten Schutzsprüche wirken konnten.

Sofort kam die Gegenreaktion der Elfenmagier und jener aus Lystern, die sich hinter den eigenen Schlachtreihen aufgestellt hatten. Gelbe und grüne Feuerkugeln, aus denen dunkelrote und orangefarbene Flammen züngelten, flogen über die Kämpfer hinweg. Zwei Dutzend Kugeln, jede so groß wie ein Wagenrad, gingen über den xeteskianischen Verstärkungen nieder. Schilde knisterten, fahles blaues Licht zuckte über den Himmel wie bei einem Gewitter, doch die Schilde hielten. So ging es nun schon seit zwanzig Tagen. Vorstoßen, beobachten, täuschen, angreifen. Die Schlachtreihen hatten sich kaum bewegt.

»Setzt sie weiter unter Druck!«, rief Dila’heth. Läufer überbrachten ihre Anweisung dem Feldkommandanten. »Verschafft der Kavallerie etwas Zeit.«

Izacks Männer stießen vor, und sogar Dila’heth zuckte angesichts dieses heftigen Angriffs zusammen. Pferde schnaubten, Männer ließen Schwerter und Streitkolben herabdonnern und drangen tief in die Reihen der Verteidiger ein, ehe sie aufgehalten wurden. Selbst aus hundert oder mehr Schritten Entfernung konnte Dila mit ihren scharfen Augen in allen grausamen Einzelheiten beobachten, wie die Menschen litten.

Izack, den Mund zu einem Kampfschrei geöffnet, der im Tumult unterging, führte seine Männer an und schlug einem Feind die Klinge auf den Kopf. Metall schürfte kreischend über Metall. Der Fußsoldat brach bewusstlos zusammen, und die Hufe des nächsten Pferds trampelten ihn in den Schlamm. Weiter rechts durchbohrte ein einsamer xeteskianischer Pikenier die Brust eines Pferdes. Der Ruck ließ den Reiter über den Pferdekopf hinweg aus dem Sattel fliegen, und das gequälte, sterbende Tier kreischte und keilte panisch aus. Als es strauchelte, traf ein beschlagener Huf die Brust des Xeteskianers, der über dem Reiter zusammenbrach. Gleich daneben wurde ein weiterer Feind von dem stürzenden Pferd umgerissen. Er drehte sich um, taumelte und vergaß seine Verteidigung. Ein Streitkolben zermalmte sein Gesicht.

Schwerter blitzten, Pferde stiegen hoch, Männer brüllten. Inmitten des Durcheinanders schien der Kommandant der Kavallerie viel mehr Muße zu haben als alle anderen ringsum. Er lenkte sein Pferd durchs Gedränge und wehrte die auf ihn und sein Pferd gezielten Schläge scheinbar mühelos ab. Dila sah, wie sich sein Mund bewegte, als er seine Reiter zu der Stelle in den gegnerischen Reihen dirigierte, die er für die schwächste hielt.

Sein Pferd trat aus und traf den Schritt eines Mannes. Izack hielt sich nicht weiter mit diesem Gegner auf, sondern wehrte einen Streich ab, der sein Bein hatte treffen sollen, und trieb dem Angreifer mit der Rückhand das Schwert in den Rumpf. Sie würden durchbrechen, denn er und seine Leute, soweit sie noch im Sattel saßen, waren klar im Vorteil. Aus dem Zentrum der Schlachtlinie lösten sich Protektoren, die jedoch zu spät kommen würden. Hinter Izack wartete eine hundert Mann starke Reserve aus Kavalleristen, lysternischen Schwertkämpfern und Al-Arynaar. Die Abteilung war stark genug, um eine weite Bresche in die feindlichen Reihen zu schlagen und einen Angriff auf die xeteskianischen Magier einzuleiten. Dilas einzige Sorge war jetzt das Zentrum ihrer eigenen Reihen. Dort mussten sie unbedingt die Stellung halten.

Da sie sicher war, dass sich das Schlachtenglück nun wenden würde, drehte sie sich um und wollte alle waffenfähigen Männer zum Kampf rufen.

Im ersten Moment glaubte sie, die Benommenheit und Übelkeit, die sie überkam, sei nur darauf zurückzuführen, dass sie sich zu schnell gedreht hatte. Doch dann sah sie den Gesichtsausdruck der in Julatsa ausgebildeten Al-Arynaar-Magier, die sie umringten, und erkannte, dass es etwas viel Schlimmeres war.

»Oh, nein.«

Die Kette der Elfenmagier, die harte Schilde und Spruchschilde aufgebaut hatten, zerbrach. Es war eine abrupte, heftige Erschütterung im Mana-Strom, als hätten alle aktiven Magier im gleichen Augenblick die Fähigkeit verloren, die einfache Mana-Gestalt zu halten. Es war kein Irrtum möglich, auch Dila’heth hatte es gespürt. Alle Magier, die an der gemeinsamen julatsanischen Struktur beteiligt gewesen waren, standen hilflos da, während sich die Kraft des Spruchs zerstreute und auflöste.

Dila fuhr zusammen, als die Energie von drei Dutzend versagenden Sprüchen auf sie einstürmte. Auch draußen auf dem Schlachtfeld wurden einzelne Magier von den Ausläufern des Mana-Ausbruchs getroffen, pressten sich die Hände an die Köpfe und stürzten kreischend zu Boden oder fielen lautlos und starr vor Schock einfach um. Zweihundert Schwertträger und ebenso viele Kämpfer der Reserve waren schutzlos allem ausgeliefert, was Xetesk ihnen entgegenschleudern mochte. Es waren bei weitem nicht genügend lysternische Magier im Einsatz, um alle Kämpfer zu decken.

Aus heiterem Himmel hatte es die julatsanischen Magier getroffen. Die Frage, was dieser kurze Ausbruch zu bedeuten hatte, musste warten. Jetzt war nur wichtig, dass hunderte von Elfen und menschlichen Kämpfern völlig ungeschützt waren. Dila’heth rannte den Hang zum Schlachtfeld hinunter und rief die Magier zu sich, die noch einsatzfähig waren.

»Schilde! Wir brauchen Schilde!«

Doch vor ihr fiel der Angriff bereits in sich zusammen. Nervosität griff unter den Kämpfern um sich wie Risse in dünnem Eis. Links war Izack nicht schnell genug durchgebrochen. Er stellte keine Gefahr für die feindlichen Magier dar, und die Xeteskianer hatten bereits Wind von dem Schlag bekommen, der ihre Gegner getroffen hatte. Ihre Krieger griffen mit erneuerter Kampfeswut an, die Pfeile wurden in schnellerem Takt abgeschossen, und die Magier … bei Tuals Zähnen, ihre Magier wirkten alle Sprüche, die sie nur zur Verfügung hatten.

Dila’heth formte im Rennen hektisch einen Spruchschild, doch die Mana-Gestalt entglitt ihr wieder. Das Mana wollte sich einfach nicht verdichten, der Spruch wollte seine Form nicht finden, blieb immer knapp außerhalb ihrer Reichweite wie ein Schmetterling im Wind. Stärker beunruhigt, als sie es sich selbst eingestehen mochte, bremste sie ab, blieb stehen und zog sich wieder zurück. Auch Izack brach den Angriff ab, als die ersten xeteskianischen Sprüche über sie hereinbrachen.

»Räumt das Feld, räumt das Feld!«, rief Dila’heth. Sie hatte sich umgedreht und rannte um ihr Leben.

Einige Magier hatten sich gesammelt und versuchten, Sprüche zu wirken. Andere halfen den verwirrten und bewusstlosen Opfern. Wieder andere schienen so ängstlich wie sie selbst und wussten nicht, was sie nun tun sollten. Die ersten Einschläge der xeteskianischen Sprüche nahmen ihnen die Entscheidung ab.

Mehr Feuerkugeln, als Dila zählen konnte, gingen hinter den Reihen der Verbündeten nieder, explodierten im Schlamm und verspritzten magisches Feuer über wehrlose Menschen und Elfen. Wo die Glut einen xeteskianischen Spruchschild traf, löste sie sich unter kobaltblauem Flackern wirkungslos auf. So konnten die Feinde hinter ihrer Verteidigung sicher abwarten.

Eine Feuerwand baute sich vor der Front auf, und die verbündeten Truppen gerieten in Panik. Brennend, eingekesselt und verschreckt verließen sie die Schlachtreihen und brachten sich in Sicherheit – dorthin, wo die Flammen nicht mehr ganz so heftig loderten. Hier und dort boten einzelne lysternische Schilde noch einigen Kämpfern Schutz, die das Glück gehabt hatten, sie früh genug zu erreichen, doch da sich die Angreifer vor allem auf die Konstruktion der julatsanischen Elfen verlassen hatten, fanden viel zu viele Kämpfer keine Zuflucht mehr.

Wohin sie auch schaute, überall sah Dila’heth brennende Schwertkämpfer, die davonliefen, um das Lager und die Hilfe zu erreichen, die für viele dennoch zu spät kommen würde. Verschmorte Leichen lagen auf dem Schlachtfeld, und die Luft war erfüllt von den Schreien der Sterbenden, die um Beistand und Erlösung von ihren Leiden flehten. Hier und dort riefen die Unteroffiziere ihre Männer und Elfen herbei und versuchten, die Ordnung wiederherzustellen. Dila schüttelte sich.

»Kommt, wir müssen ihnen helfen!« Sie brüllte, um das Tosen der Flammen und die Schmerzensschreie zu übertönen. Dann rannte sie zum nächsten Opfer und versuchte, den einfachsten Heilungsspruch vorzubereiten, der ihr einfallen wollte. Irgendetwas, mit dem das magische Feuer erstickt werden konnte, das seine Kleider und die nackten Arme verbrannte und das Fleisch zerfraß.

Die Mana-Gestalt formte sich quälend langsam, doch endlich gelang es ihr. Gleichzeitig aber ließen die Feinde das Höllenfeuer los. Säulen von überhitzter blauer Energie rasten aus dem mit Rauch erfüllten Himmel herab. Nur wenige Schritte entfernt wurde ein Mann im Mittelpunkt einer Gruppe von Magiern getroffen. Die Energie verzehrte auf der Stelle seinen Körper, das Feuer griff auf die anderen fünf über und erfasste auch sie. Die Detonation warf Dila von den Beinen.

Das bisschen Ordnung, das unter den Fliehenden entstanden war, löste sich sofort wieder auf. Unablässig schlugen Feuerkugeln ein. Heißer Regen fiel in faustgroßen Tropfen. Die Angreifer konnten nur noch Hals über Kopf fliehen.

Aus einer Schnittwunde auf der Stirn blutend, blieb Dila’heth dort liegen, wo sie gefallen war. Der Schwertkämpfer neben ihr war gestorben, seine Schreie waren rasch verklungen. Sie hob den Kopf und sah Todeshagel über das Schlachtfeld fegen. Es wäre ein Wunder, wenn jemand lebend entkam.

Nur Izack verlor nicht die Fassung. Er führte seine Kavallerie quer vor der xeteskianischen Front entlang und erstickte jeden Vorstoß im Keim. Die Schilde, die seine Männer schützten, flackerten dunkelgrün, während immer wieder Sprüche auf sie niedergingen. Doch die Feinde machten überhaupt keine Anstalten, einen Vorstoß zu wagen. Möge Shorth sie alle holen, es war auch nicht nötig. Sie hatten den Kampf bereits gewonnen, und vielleicht die ganze Schlacht.

Dila ließ den Kopf sinken und weinte mit brennenden Augen bittere, frustrierte Tränen. Rauchwolken wallten über dem Schlachtfeld und dämpften die Geräusche der Niederlage und des Triumphs. Irgendwie mussten sie sich neu formieren, aber zuerst mussten sie herausfinden, warum ihre Magie auf so katastrophale Weise versagt hatte.

Erschöpft und unter Schmerzen, blutend und niedergeschlagen stemmte Dila sich auf die Knie hoch und entfernte sich kriechend vom Schlachtfeld. Sie wartete darauf, dass der Todeshagel etwas nachließ, damit sie sich rennend in Sicherheit bringen konnte. Vor ihr lagen wahre Berge von Gefallenen auf dem Boden. Einige bewegten sich noch, die meisten nicht. Links von ihr kam eine weitere Kavallerieabteilung im Galopp herbei, um Izack zu unterstützen. Auf der Anhöhe vor dem Lager sah sie Männer und Elfen in einer Reihe stehen und ungläubig auf die Katastrophe starren, die über sie hereingebrochen war.

Jetzt konnte sich das Blatt nur noch wenden, wenn Yniss sehr freundlich auf sie herablächelte.

 

Im großen Saal, ganz oben im gedrungenen, breiten Turm des Kollegs von Lystern, war es auch an diesem warmen Tag trotz des Sonnenlichts, das durch die wundervollen Blutglasfenster auf den riesigen runden Tisch fiel, empfindlich kühl.

Heryst, der Lordälteste Magier, saß mit vier anderen Magiern zu Gericht. Sie alle waren alte Männer und bewährte Ratgeber des relativ jungen Herrschers von Kolleg und Stadt. Ihrem Halbkreis gegenüber hatte der Rabe Darrick in die Mitte genommen, der als Einziger stand, während seine Freunde saßen, um anzuhören, welche Anklagen gegen ihn vorgebracht wurden. Ansonsten war der große Saal fast leer, abgesehen von fünfzehn Wächtern des Kollegs und einer Schar von Schreibern und Protokollmagiern. Die Stimmen klangen hohl in dem riesigen Raum mit dem Kuppeldach.

Hirad Coldheart hielt die ganze Veranstaltung für einen kapitalen Fehler. Dieses Gefühl, dass etwas grundfalsch war, hatte alle seine Sinne erfasst und sich wie ein klebriges Spinnennetz über seinen Körper ausgedehnt. Schon zweimal hatten ihn die Gerichtsdiener ermahnt, und jetzt legte der Unbekannte Krieger ihm eine Hand auf die Schulter, damit er sitzen blieb. Man hatte ihm versprochen, er dürfe sich zu gegebener Zeit äußern, doch er hatte den Eindruck, dazu werde es erst kommen, wenn die Magier auf der anderen Seite des Tischs ihr Urteil längst gefällt hatten. Für Heryst mochte das nicht gelten, gewiss aber für die anderen Richter.

Darrick hatte natürlich eine untadelige Haltung an den Tag gelegt. Der ehemalige General der lysternischen Armee, der jetzt wegen Fahnenflucht, Hochverrats und Feigheit vor dem Feind angeklagt wurde, war aus eigenem Antrieb ins Kolleg zurückgekehrt, um sich zu rechtfertigen. Zwar hatten die anderen Rabenkrieger eingewandt, es sei ein ungünstiger Zeitpunkt, weil es wichtigere Dinge gebe, um die man sich kümmern müsse, doch Darrick hatte sich nicht beirren lassen.

Er war ein Mann mit unumstößlichen Prinzipien, und für ihn war die Wiederherstellung seines guten Rufs wichtiger als alles, was der Rabe sonst noch planen mochte. Diese Prinzipien waren es, die ihn zu einem so wertvollen Mitstreiter des Raben machten, doch im Moment waren sie die Ursache einer Verzögerung, die Hirad unerträglich fand. So viel war noch zu tun, und er hatte das Gefühl, sie verplemperten hier nur ihre Zeit. Die Ereignisse überschlugen sich, und sie durften nicht ins Hintertreffen geraten.

Heryst hob den Kopf, nachdem er flüsternde Zwiesprache mit den anderen Richtern gehalten hatte. Zwei runzelten die Stirn, einer schüttelte den Kopf, der vierte schien unentschlossen.

»An diesem Punkt«, erklärte der Lordälteste Magier, »lassen wir die Anklage wegen Hochverrats fallen. Es ist klar, dass es nicht Eure Absicht war, Euch gegen Lystern zu wenden. Euer Einwand, unser Bündnis mit Dordover sei zu jener Zeit womöglich ein viel schwerwiegenderer Verrat gewesen, ist nicht völlig zu entkräften. Deshalb entfällt auch der Vorwurf, Ihr hättet aufgrund eines Verrats Eure Männer in Gefahr gebracht. Allerdings werden die Vorwürfe der Fahnenflucht und der Feigheit vor dem Feind aufrechterhalten, und zu diesen müsst Ihr Euch äußern.«

Hirad öffnete den Mund, doch der Unbekannte drückte auf seine Schulter.

»Lächerlich«, murmelte der Barbar.

»Ich weiß«, sagte der Unbekannte.

»Über den Vorwurf, ich sei ein Feigling, kann ich nur lachen«, erklärte Darrick. »Aber nach den Gesetzen Lysterns habe ich mich tatsächlich der Fahnenflucht schuldig gemacht. Dies steht außer Zweifel.«

»Das ist nicht gerade eine kluge Einleitung für deine Verteidigung«, sagte Denser.

Darrick warf einen kurzen Blick nach rechts und durchbohrte den xeteskianischen Magier mit dem Blick, der schon tausend jungen Rekruten den Atem hatte stocken lassen.

»Es war Fahnenflucht«, bekräftigte Darrick, »doch die Begleitumstände relativieren die Vorwürfe und lassen meine Entscheidung sogar als die einzig ehrenhafte erscheinen.«

»Mildernde Umstände sind hier nicht zu erkennen«, grollte einer der Richter, ein Mann mit fetten Wangen und tief in den Höhlen liegenden Augen.

»Dann müssen die mildernden Umstände durch diese Sitzung ans Licht kommen.« Darrick ließ sich nichts anmerken. »Es war keine Fahnenflucht aufgrund von Feigheit oder Angst. Es war keine Fahnenflucht, die auf irgendeine Weise das Leben der unter meinem Befehl stehenden Männer gefährdet hätte. In Friedenszeiten hätte man es als Rücktritt aus prinzipiellen Erwägungen betrachtet.«

»Doch wir waren im Krieg«, fuhr der Magier fort. »Und Ihr standet im Kampf gegen den Feind.«

»Dennoch wollen wir anhören, was Ihr zu sagen habt«, lenkte Heryst ein.

»Ihr lasst Euch von Eurer persönlichen Freundschaft blenden«, erwiderte ein anderer Richter, ein Mann mit grauen Haaren und großer Nase.

»Und durch seine bislang makellose Karriere, durch seinen Mut und sein ehrenhaftes Verhalten im Kampf«, sagte Heryst. »Wir haben es hier nicht mit irgendeinem Rekruten zu tun.« Lächelnd wandte er sich an Darrick. »Gebt Euch Mühe, Ry. Wenn es Euch nicht gelingt, Euch zu erklären, dann droht Euch eine schwere Strafe.«

»Das ist mir bewusst«, erwiderte Darrick. »Und dies ist auch der erste Punkt meiner Verteidigung – ich bin freiwillig gekommen, um mich zu den Vorwürfen zu äußern. Da an unseren Grenzen Krieg herrscht, hätte wenig Aussicht bestanden, mich festzunehmen. Ich will jedoch meinen guten Ruf wiederherstellen, damit ich meinen Teil beitragen kann, ohne mich ständig über die Schulter nach Kollegwachen umsehen zu müssen, die mit Haftbefehlen ausgerüstet sind.«

»Seid unseres Dankes gewiss, dass Ihr Euch selbst gestellt habt und uns die Notwendigkeit erspart, zusätzliche Kräfte für Euch einzusetzen«, sagte der Magier mit der großen Nase trocken.

Hirad starrte ihn finster an und spannte unwillkürlich alle Muskeln. Die Atmosphäre gefiel ihm nicht. Die vier alten Männer waren offenbar von der Schuld des Angeklagten bereits überzeugt. Nur Heryst schien ehrlich an Argumenten dafür interessiert, dass Darrick die einzige Entscheidung getroffen hatte, die unter den damaligen Bedingungen überhaupt möglich gewesen war. Fraglich war nur, ob die anderen Richter ihm folgen würden.

»Vor drei Jahren ereignete sich im Hafen von Arlen ein Verrat, der nicht nur mich, sondern jeden Lysternier betraf. Dort warfen einige, die ermächtigt waren, die Kontrolle über das Nachtkind zu übernehmen, jegliche Moral über Bord und belegten das Kind mit der Todesstrafe – und nicht nur das Mädchen, sondern auch dessen Mutter Erienne, die links neben mir sitzt.«

»Wir sind uns durchaus …«

»Ihr werdet mich ohne Unterbrechung sprechen lassen, Lord Metsas«, sagte Darrick. Seine Stimme klang nicht einmal verärgert.

Metsas’ errötete, sagte aber nichts weiter.

»Wie bereits bekannt ist, befehligte ich dort eine Kavallerieabteilung, die im Auftrag der verbündeten Kollegien Lystern und Dordover ein Schiff am Auslaufen hindern sollte. Wir mussten es gegen einen Angriff von Xetesk verteidigen, und an Bord des Schiffs befanden sich dordovanische Magier, die mit den Schwarzen Schwingen unter einer Decke steckten. Mit den Schwarzen Schwingen, meine Herren. Außerdem befand sich eine Geisel an Bord: Erienne.«

Darrick deutete auf sie, und Hirad entging nicht ihr schmerzlicher Gesichtsausdruck. Sie lehnte einen Moment den Kopf an Densers Schulter.

»Dordover hat sie benutzt, um ihre Tochter Lyanna in die Hände zu bekommen. Dann wollten die Magier sie den Schwarzen Schwingen ausliefern, die sie getötet hätten, und sie selbst hätten dem Nachtkind das Gleiche angetan. Es war ein unmenschlicher Plan, für den Dordover nichts als ewige Verachtung verdient. Und falls einer von Euch insgeheim Dordovers Pläne billigt, dann verdient er die gleiche Verachtung. Seid versichert, dass ich meine Stadt und mein Kolleg liebe. Ich liebe seine Prinzipien, seine Moral und seine Ethik. Ich konnte keine Streitmacht anführen, die dazu beitragen sollte, dass diese Werte verraten würden. Die Entscheidung brach mir das Herz, aber ich hatte keine andere Möglichkeit. Dies könnt Ihr sicherlich verstehen, da auch Ihr dafür verantwortlich seid, die Ethik und die Prinzipien unserer Stadt zu hüten.

Doch Ihr sollt auch wissen, dass ich meinen Rücktritt ordentlich vollzogen habe. Ich übergab das Kommando an Izack im Wissen, dass er fähig war, seine Pflicht genauso sorgfältig zu erfüllen wie ich. Selbstverständlich hat er meine Erwartungen nicht enttäuscht. Meine Männer wurden keinen unnötigen Gefahren ausgesetzt, und die Bürde von Lysterns Entscheidungen wurde von ihnen genommen. Ich war derjenige, der die Befehle empfangen hatte; Izack und seine Männer waren lediglich verpflichtet, die Befehle auszuführen.

Zugleich ließ ich ihnen jedoch die Wahl. Ich habe keine Massendesertion angestiftet, und wie belegt ist, kam es auch nicht dazu. Die Entscheidung blieb jedem Einzelnen und seinem Gewissen überlassen, doch was konnten die meisten dieser Männer schon tun? Sie hatten Angehörige, die von ihnen abhängig waren. Sie hatten ihr Leben noch vor sich. Und sie hatten niemanden, zu dem sie gehen konnten. Das war bei mir anders, denn ich hatte den Raben.«

Heryst rutschte auf seinem Stuhl hin und her und wich Darricks festem Blick aus. Auch Hirad beobachtete die Magier im Richteramt. Sie zeigten keinerlei Mitgefühl und Verständnis für Darricks Konflikt. Die Worte, die gesprochen wurden, bestätigten nur ihre einfältigen Vorurteile.

»In der Tat, Ihr hattet den Raben«, sagte der Magier mit der großen Nase. »Und Ihr habt auf einer Seite des Hafens gemeinsam mit Xetesk gekämpft, während auf der anderen Seite Eure Männer von Xetesk getötet wurden. Wie bringt Ihr das mit einer verantwortungsvollen Übergabe Eures Kommandos in Einklang?«

Darrick nickte bedächtig. »Lord Simmac, falls meine Pflicht darin bestanden hat, Mörder und Hexenjäger zu beschützen, dann bin ich froh, sie nicht erfüllt zu haben. Falls es aber meine Aufgabe war, die Unschuldigen zu beschützen und mit einer schrecklichen Ausnahme das Bestmögliche für Balaia und somit auch für Lystern zu tun, dann hatten ich und der Rabe Erfolg, auch wenn die nachfolgenden Ereignisse unseren Erfolg getrübt haben.«

»Was wäre diese Ausnahme?«, fragte Simmac.

»Die Tatsache, dass Lyanna starb, sodass wir niemals mehr erfahren werden, ob sie fähig gewesen wäre, ihre Kräfte zu unser aller Vorteil zu nutzen.«

»Natürlich«, sagte Simmac, als sei ihm diese Tatsache völlig entfallen.

»Dordover wollte sie töten, nachdem sie entkommen war«, warf Hirad leise ein. »Ich frage mich, was Eure Absicht war?«

Heryst wandte sich an ihn. »Hirad, bei allem Respekt, wir haben uns hier nicht versammelt, um über Lysterns schändliches Bündnis mit Dordover zu diskutieren. Wir verhandeln hier gegen Ry Darrick.« Er gestattete sich ein kleines Lächeln. »Aber da Ihr die ganze Zeit schon, seit wir begonnen haben, dringend das Wort ergreifen wollt, ist jetzt vielleicht der richtige Zeitpunkt gekommen, falls Darrick fertig ist.«

»Für den Augenblick, ja«, erklärte Darrick. »Allerdings behalte ich mir vor, noch einmal zu sprechen.«

»Das sei Euch gewährt«, stimmte Heryst zu. »Hirad, Euer Auftritt.«

Unter den kalten, abschätzenden Blicken der Richter stand der Barbar auf.

»Es ist ganz einfach«, sagte er. »Was Darrick in Gang brachte, hat das Elfenvolk vor der Ausrottung bewahrt. Er hat vielen das Leben gerettet, indem er sich uns anschloss. Leider waren es nicht genug.«

Der Unbekannte drückte seinen Unterarm. Alle Rabenkrieger empfanden wie er. Sie hatten Ilkar nicht mehr retten können, den Elfenmagier, der von Anfang an beim Raben gewesen war. Ein Elfenmagier, den sie alle geliebt hatten und der ironischerweise gefürchtet hatte, mit ansehen zu müssen, wie sie alle älter wurden und starben.

»Und wie genau würdet Ihr dies begründen?«, fragte Simmac. Es klang beinahe höhnisch.

Hirad verspürte einen überwältigenden Drang, über den Tisch zu springen und dem Mann die große Nase einzuschlagen. Er holte tief Luft.

»Hätte er nicht auf Herendeneth die Verteidigung des Hauses der Al-Drechar organisiert, und hätte er nicht mit dem Raben und Xetesk in diesem Haus gegen die Invasion der Dordovaner und der Schwarzen Schwingen gekämpft, dann hätten außer Lyanna auch alle Al-Drechar den Tod gefunden. Und mit ihnen wäre, wie wir jetzt wissen, auch jeder andere Elf gestorben. Nur sie besaßen genügend Wissen, um die Statue des Yniss wieder zu binden und der Seuche Einhalt zu gebieten.«

»Ich vermag nicht recht einzusehen, wie …«, hub Simmac an.

»Wo wären Eure Streitkräfte ohne die Elfen, hm?« Hirad hob die Stimme; es hallte laut unterm Gebälk. »Wo wärt Ihr ohne ihre Schwerter und ihre Magie, die Euch und Dordover gegen Xetesk unterstützen? Beantwortet mir das, und dann könnt Ihr weiter höhnisch lachen.« Hirad wollte sich schon setzen, dann fiel ihm noch etwas ein.

»Ry Darrick ist einer der tapfersten Männer, die ich je kennen gelernt habe. Seine Ehrenhaftigkeit und Aufrichtigkeit ist über jeden Zweifel erhaben. Was er tut, dient dem Wohl Balaias, und danach sollten wir alle streben, meint Ihr nicht auch? Wenn Ihr ihn verurteilt, dann nehmt Ihr uns eine starke Waffe, die wir im kommenden Kampf dringend brauchen. Und glaubt mir, wir stehen auf Eurer Seite. Auf der Seite, die dem Land das Gleichgewicht zurückgeben wird. Bestraft ihn, und Ihr macht Euch den Raben zum Feind. Und das werdet Ihr sicher nicht wollen.«

Hirad setzte sich. Er spürte seinen Puls am Hals pochen und war froh, dass sein Gesicht stark gebräunt war; er war sicher, dass es rot angelaufen war.

»Gut gesprochen, Hirad«, sagte der Unbekannte.

Darrick drehte sich kurz um und nickte knapp.

»Wünscht sonst noch jemand das Wort?«, fragte Heryst.

»Hirad spricht für uns alle«, erwiderte der Unbekannte. »Darrick gehört zum Raben. Er hat entscheidend dazu beigetragen, das Elfenvolk zu retten, und seine Ehre und sein Mut stehen außer Frage. Wenn Ihr ihn schuldig sprecht, dann müsst Ihr Euch selbst fragen, welcher Tat er eigentlich schuldig sein soll.«

»Fahnenflucht«, fauchte Metsas. »Er ist desertiert und hat die lysternischen Reihen verlassen.«

»Vielleicht hat er auch einfach seine Pflicht für sein Land getan.«

»Wenn Ihr das glauben wollt«, sagte Metsas.

»Oh, ich habe daran keinen Zweifel«, erwiderte der Unbekannte. »Aber Ihr seid die Richter.«

»Fürs Protokoll«, sagte Heryst, »und entschuldigt die Widersprüchlichkeit, weil ich zugleich Darricks Richter und sein vorgesetzter Offizier bin. Ich muss jedoch Darricks makelloses Verhalten, seinen Mut und seine Dienste für die Stadt und das Kolleg von Lystern zur Sprache bringen. Jede einzelne Tat zu erwähnen, würde mehr Zeit erfordern, als wir haben, und dies allein sollte uns schon genug über seinen Charakter sagen. Alles ist gut dokumentiert, doch drei Ereignisse treten als leuchtende Beispiele für seine Loyalität, seine Entschlossenheit und seine Fähigkeiten besonders hervor.

Die Vorstöße in den Understone-Pass in den Jahren, bevor der Pass schließlich fiel. Wie viel Schaden hätte die Invasion der Wesmen angerichtet, wenn wir den Pass schon früher verloren hätten?

Die Schlacht von Parve vor sechs Jahren. Darrick führte seine Kavallerie ins Herz der Wesmen-Stellungen, um dem Raben den Durchbruch zu ermöglichen. Wäre Denser ohne ihn fähig gewesen, Dawnthief zu wirken und die Herzen der Wytchlords zu durchbohren?

Schließlich die Invasion der Wesmen. Die vereinte Streitmacht der Kollegien war unter Darricks Kommando fähig, die Wesmen lange genug aufzuhalten, bis Hilfe in Gestalt der Kaan-Drachen durch den sich bereits schließenden Schattenriss eintraf.

Bei all diesen Ereignissen stellte er seinen Heldenmut und seine Bereitschaft unter Beweis, sich aufzuopfern. In seiner Zeit als lysternischer General hat Darrick ohne jede Frage einen wichtigen Beitrag zur Rettung Balaias geleistet.«

Hirad sah den Kollegrichtern an, was sie dachten. Unverkennbar, dass ihnen nicht gefiel, was sie gehört hatten. Es waren Magier der alten Schule, in deren Augen die Treue gegenüber Lystern und die Liebe zu Balaia nicht unbedingt deckungsgleich waren. Und Darrick hatte sich für Balaia entschieden.

»Sind wir fertig?«, fragte Simmac. Darrick und Heryst nickten. »Gut.« Der ältere Magier schnippte mit den Fingern, und eine junge Frau löste sich aus der Gruppe der Gerichtsschreiber. »Den Schallschild, bitte.«

Sie nickte und wirkte den Spruch, indem sie mit den Händen eine Kuppel über die fünf beratenden Richter zeichnete. Lautlos aktivierte sie den Spruch, legte die Hände trichterförmig vor den Mund und sprach das Befehlswort, um den einfachen Zauber zu vollenden.

»Wie lange wird es dauern?«, fragte Hirad. Er konnte beobachten, wie Metsas als Erster das Wort ergriff und abfällig zum Raben deutete. Heryst runzelte die Stirn und antwortete kopfschüttelnd.

»Nicht sehr lange, fürchte ich«, sagte Darrick. »In dieser stillen Blase habe ich nur einen einzigen Verbündeten.«

»Aber er ist der oberste Magier«, wandte Hirad ein.

»Das hat nicht viel zu bedeuten, mitten in einem Krieg, den Lystern nach Ansicht der Hälfte aller Ratsmitglieder überhaupt nicht führen dürfte«, sagte Denser.

»Allerdings«, stimmte Darrick zu.

»Glaubst du, Heryst könnte dich opfern, um die Opposition zu beschwichtigen?«, fragte der Unbekannte.

»Das ist möglich«, sagte Darrick. »Er ist nicht mehr so selbstsicher, wie ich ihn in Erinnerung habe.«

»Ich verstehe das nicht«, schaltete sich Erienne ein. »Die Rettung der Elfen sollte doch ausreichen.«

»Möglicherweise reicht das, um mir das Leben zu retten. Ob es auch für einen Freispruch reicht, weiß ich nicht.«

Links von sich hörte Hirad ein Knurren. Er drehte sich zu Thraun um, der wie gebannt die Kollegrichter und Heryst beobachtete. Sein Gesicht war verkniffen und wütend, und er fletschte beinahe die Zähne.

»Blinde Männer«, sagte Thraun.

»Ich weiß, was du meinst«, stimmte Hirad zu.

Sie schwiegen und beobachteten das Gericht, das über Darricks Schicksal beriet, während im großen Saal die Spannung stieg. Hirads Hände schwitzten, und auch Darrick, der neben ihm stand, zeigte endlich einmal etwas Gefühl. Sein Gesicht unter dem blonden Lockenschopf war besorgt, und er ballte und öffnete unentwegt die Hände. Er schluckte schwer und warf einen Blick zu Hirad. Sein Lächeln war verzagt, seine Augen klein und voller Furcht.

Die Rabenkrieger mieden die Blicke ihrer Gefährten und beobachteten das stumme Schauspiel auf der anderen Seite des Tisches. Metsas und Simmac hatten bereits deutlich gemacht, wo sie standen, und auch Heryst hatte sich klar geäußert. So blieben noch die beiden, die während der Sitzung geschwiegen hatten. Was würden ihre Köpfe und Herzen ihnen sagen?

Die Stille schmerzte in Hirads Ohren, während er Heryst offenbar erzürnt antworten sah. Er klatschte die Hände auf den Tisch, und die Schwingung breitete sich lautlos aus. Der Lordälteste Magier zielte mit einem Finger auf Metsas und deutete auf die beiden noch unentschlossenen Magier. Der Kollegrichter zuckte zusammen und zog den Kopf ein, doch sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Heryst stellte ihm noch eine Frage. Metsas schüttelte den Kopf, Simmac rührte sich nicht, und die anderen beiden nickten.

»Die Entscheidung wird durch die Mehrheit getroffen.« Herysts Stimme war unnatürlich laut, nachdem der Schallschild aufgehoben worden war.

Wenn überhaupt möglich, dann richtete Darrick sich noch eine Spur weiter auf. Die Hände hielt er jetzt still.

»Das Urteil des lysternischen Gerichts nach der Verhandlung gegen den ehemaligen General Darrick wegen Fahnenflucht und Feigheit vor dem Feind lautet wie folgt.«

Heryst bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen, als er das Urteil verkündete, doch seine Augen verrieten sein Unbehagen. Hirad packte unwillkürlich die Stuhllehnen fester. Auf einmal war ihm sehr heiß, und er wünschte sich, er könnte ähnlich gefasst reagieren wie Darrick.

»Der Vorwurf der Feigheit vor dem Feind wird verworfen. Der Vorwurf, dass Ihr desertiert seid und die Euch unterstellten Männer zurückgelassen habt, als sie einem Feind von unbekannter Stärke gegenüberstanden, und dass Ihr das Schlachtfeld verlassen habt, um die Waffen gegen einen Verbündeten zu erheben, wird aufrechterhalten.

Die Strafe für Fahnenflucht ist gewöhnlich der Tod ohne Möglichkeit der Berufung. Doch wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Situation, und an Euren Fähigkeiten als Schwertkämpfer, Reiter und Anführer der Truppen besteht kein Zweifel.«

Lord Metsas räusperte sich, doch ein scharfer Blick von Heryst brachte ihn zum Schweigen.

»Deshalb hat dieses Gericht entschieden, dass Ihr, Ry Darrick, erneut in die lysternische Kavallerie einberufen werdet. Ihr sollt unter Kommandant Izack im Krieg gegen Xetesk dienen. Ihr werdet zum Kavalleristen zweiter Klasse degradiert, doch ihr wisst, dass in den lysternischen Streitkräften herausragende Leistungen stets mit rascher Beförderung, oft direkt auf dem Schlachtfeld, belohnt werden.

Ihr werdet morgen in der Dämmerung zur Front am Osttor aufbrechen. Habt Ihr sonst noch etwas zu sagen, ehe das Urteil rechtskräftig wird?«

Hirad schwirrte der Kopf. Einerseits war er froh, dass Darrick nicht hingerichtet wurde, andererseits sollte der ehemalige General vom Raben getrennt werden. Nach den letzten Verlusten mochte Hirad sich nicht damit abfinden, dass der Rabe unter einer solchen Strafe leiden sollte.

Einige Augenblicke lang schwieg Darrick, während die Anwesenden auf seine Reaktion warteten. Sie fiel nicht so aus wie erwartet.

»Ich akzeptiere die Entscheidung, aber nicht die Strafe«, sagte er.

Lord Metsas schnaubte. »Ihr redet, als hättet Ihr eine Wahl.«

»Die habe ich«, sagte Darrick. »Ich kann mich entscheiden, Euer Urteil anzunehmen oder meinen Überzeugungen treu zu bleiben.«

Hirad war sicher, dass in der darauf einsetzenden Stille alle anderen hören konnten, wie ihm das Herz bis zum Halse schlug. Heryst war völlig verwirrt, er schien entsetzt und den Tränen nahe. Erienne schüttelte den Kopf, während Thraun und der Unbekannte nickten. Hirad schloss sich ihnen an.

»Und wie sehen Eure Überzeugungen nun aus?«, erkundigte sich Lord Metsas.

»Ich bin davon überzeugt, dass ich Balaia zusammen mit dem Raben besser dienen kann als am Osttor von Xetesk. Ich bin überzeugt, dass wir das Gleichgewicht wiederherstellen können, wenn wir frei handeln können, während die Verbündeten Xetesk in Schach halten. Ich bin überzeugt, dass meine Abordnung zur lysternischen Kavallerie eine billige Retourkutsche ist. Meine Herren, Ihr müsst mich verstehen. Ich bin ein Rabenkrieger. Und das ist alles, was ich sein will, von heute an bis zum Tag meines Todes.«

Metsas und Simmac entspannten sich sichtlich. Heryst dagegen schloss einen Moment die Augen und beugte sich vor. Er massierte mit den Fingern seine Stirn.

»Dann bleibt mir nichts anderes übrig«, sagte ich. »Ich habe für Euch getan, was ich konnte. Ry Darrick, wenn Ihr Euch weigert, Euch der Kavallerie anzuschließen, dann kann dieses Gericht nur noch ein Urteil über Euch verhängen: die Todesstrafe.«

Zweites Kapitel

Niemand brach das Schweigen, das sich über das größtenteils wieder aufgebaute Kolleg von Julatsa gesenkt hatte. Niemand wagte etwas zu sagen, weil niemand die Ängste aussprechen wollte, die alle spürten.

Es hatte sie jedoch alle tief getroffen, es hatte ihnen den Atem verschlagen und die Kräfte geraubt. Schweigend hatten sie sich am Loch in der Mitte des Kollegs versammelt. Hier ruhte das Einzige, was sie nicht in Ordnung bringen konnten, weil sie nicht genug waren, und es war das Einzige, was sie jetzt wirklich brauchten, weil das Kolleg sonst nicht wieder als magisches Gebilde auferstehen konnte.

Das Herz.

Es war begraben worden, um seiner Zerstörung durch die Wesmen zuvorzukommen, und es würde unzugänglich bleiben, bis sich genügend Julatsaner versammelten, um es zu bergen und wieder zum Schlagen zu bringen, damit es das Kolleg mit neuem Leben erfüllte.

Sie hatten angenommen, das Herz würde, nachdem es begraben worden war, einfach schlafen, bis es wieder heraufgeholt wurde, doch dies traf nicht zu. Diese Furcht war es, die sie alle – so wenige sie auch waren – am zackigen Kraterrand zusammengeführt hatte. Dreihundert Fuß tief und von undurchdringlicher Schwärze bedeckt, lag dort unten das Herz.

Als die Magier es begraben hatten, war der Turm eingestürzt, den das Kolleg über ihm errichtet hatte. Dabei waren auch die tapferen Seelen verschüttet worden, die sich aufgeopfert hatten, um das Kolleg vor der endgültigen Zerstörung zu retten. Dieses Begräbnis rückgängig zu machen, war äußerst schwierig und überstieg die Kräfte der vierzig Magier, die sich am Krater versammelt hatten.

Pheone nagte an der Unterlippe und versuchte verzweifelt, sich ein paar hoffnungsvolle Worte einfallen zu lassen, um die anderen aufzumuntern, doch ihr Herz war schwer, und das Loch vor ihr war tief. Sie hatten sich an den Glauben geklammert, das Herz liege zwar im Schlaf, halte aber immer noch ihre Magie lebendig. Sie waren überzeugt gewesen, eines Tages, so lange es auch dauern mochte, ihrem Kolleg den früheren Glanz zurückgeben zu können. Diese Hoffnung war dahin.

»Es stirbt, nicht wahr?«, sagte Pheone, und ihre Stimme trug weit im stillen Hof. Niemand antwortete ihr, doch das Scharren der Füße verriet ihr, dass alle sie gehört hatten.

Was, um alles in der Welt, sollte sie nur tun? Alle hatten sich an sie gewandt, nachdem Ilkar vor drei Jahreszeiten mit dem Raben aufgebrochen war. Sie erwarteten von ihr, dass sie fortsetzte, was er begonnen hatte. Als ob das so einfach wäre.

Bei den Göttern, sie vermisste ihn. Seine Kraft, seine Berührungen, seine Küsse. Kein Tag verging, an dem sie nicht zum Tor blickte und wünschte, er möge hindurchreiten. Er wüsste, was zu tun war und wo man die Magier finden konnte, die man brauchte, um das Herz zu bergen, ehe es zu spät war. Vielleicht würde er bald kommen. Doch die Neuigkeiten trafen nur spärlich ein, da nicht viele Julatsaner mit dem Kolleg in Verbindung standen, und sie hatte seit mehr als einer Jahreszeit überhaupt nichts mehr von ihm gehört. Jeder Tag ohne Nachricht ließ ihren Glauben ein wenig brüchiger werden.

»Das ist nicht möglich«, sagte Lempaar schließlich. Er war der älteste Elfenmagier unter ihnen und von der Krankheit verschont geblieben, die ein Zehntel seines Volks und ein Fünftel der ohnehin schon kleinen Schar von Magiern dahingerafft hatte. Allmählich drangen die Nachrichten zu ihnen durch, dass die Seuche auf beiden Kontinenten zehntausende Elfen dahingerafft hatte, um ebenso plötzlich wieder abzuebben.

»Wir haben es alle gespürt, Lempaar«, sagte Pheone. »Wir wissen, was es zu bedeuten hat.«

Es hatte nicht sehr lange gedauert. In jedem Magier hatte sich ein Abgrund aufgetan und einen Ausblick auf ein Leben ohne Mana eröffnet. Es war schrecklich. Eine furchtbare, unergründliche Leere, ein unheilbarer Verlust.

Pheone ließ den Blick langsam über die Versammlung wandern. Alle bemühten sich, genau wie sie selbst, das Offensichtliche zu verdrängen. Die offiziellen Lehren waren unmissverständlich gewesen. Das Herz, so hieß es, war das Zentrum der julatsanischen Macht, stellte aber für sich genommen kein Portal zwischen den Magiern und dem Mana dar. Sein Verlust wäre ein schrecklicher Schlag, doch es wäre nicht das Ende der julatsanischen Magie; sie würde danach nur schwieriger werden.

So verkündeten es die Lehren.

»Aber sie haben sich geirrt«, flüsterte Pheone.

»Wer?«, wollte Lempaar wissen.

»Alle, die uns jemals etwas über das Wesen der julatsanischen Magie gelehrt haben.«

Alle sahen sie jetzt an und warteten darauf, dass sie entschied, was als Nächstes zu tun sei. Sie hätte es komisch gefunden, hätten sie nicht vor einer Katastrophe gestanden. Sie war nie gewählt worden, sondern hatte, genau wie Ilkar, nur deshalb eine Führungsrolle übernommen, weil sie gut organisieren konnte. Es war leicht gewesen, solange sie noch viel Arbeit gehabt hatten. Doch inzwischen waren die Bauarbeiten und Reparaturen bis auf den Turm abgeschlossen, und sie mussten sich einer Zukunft stellen, in der löchrige Dächer und wacklige Bauten unbedeutende Nebensächlichkeiten darstellten. Jetzt mussten sie sich damit abfinden, dass sie ihre Fähigkeit verloren, auf das Mana-Spektrum einzuwirken. Julatsa starb.

»Wir müssen jetzt scharf nachdenken«, sagte Pheone und versuchte, ihre Gedanken halbwegs zu ordnen. »Es gibt einige Dinge, die wir tun können, und wir dürfen es uns nicht erlauben, jetzt aufzugeben. Nicht nach allem, was wir bisher schon erreicht haben. Lempaar, könntest du so viele Leute wie möglich mitnehmen und die Texte, die wir noch haben, auf Hinweise durchgehen, die uns zu verstehen helfen, was jetzt im Herzen vor sich geht? Vielleicht können wir … ich weiß nicht, vielleicht können wir es in gewisser Weise nähren oder wieder beleben. Irgendetwas, um sein Leben zu verlängern, falls das Problem wirklich im Herzen liegt.

Buraad, Massentii, Tegereen, wir brauchen einen Plan, wie wir am besten unseren Hilferuf aussenden. Alle julatsanischen Magier müssen dies gefühlt haben. Sie alle müssen herkommen und uns helfen, das Herz zu bergen.«

»Wir brauchen so viele«, wandte jemand auf der anderen Seite des Kraters ein.

»Dann sollten wir sie lieber sofort zu uns rufen«, erwiderte Pheone.

»Warum glaubst du, dass wir dieses Mal mehr Erfolg haben als beim letzten Mal? Wir haben schon einmal um Hilfe gebeten, wie du weißt. Nur wenige sind dem Ruf gefolgt. Und jetzt tobt da draußen ein Krieg.« Es war wieder derselbe Magier, der zum Ausdruck brachte, was sie alle empfanden. Sie waren ausgelaugt und hoffnungslos.

»Ich weiß. Aber wir müssen einfach Erfolg haben. Und der Krieg hat einige Elfen von Calaius hierher verschlagen, auch wenn die Götter allein den Grund dafür wissen. Sie wurden alle in Julatsa ausgebildet, und wir müssen ihnen erklären, was auf dem Spiel steht. Welche anderen Möglichkeiten haben wir denn, außer es immer wieder zu versuchen? Die Alternativen sind unvorstellbar.

Hört zu, wir müssen jetzt stark sein und zusammenhalten. Jeder, der nicht in der Bibliothek hilft, soll das Mana-Spektrum erkunden. Wir müssen herausfinden, was passiert, wenn wir jetzt einen Spruch wirken. Könnt ihr die Sprüche so leicht wie vorher formen? Erkundet alles, aber seid vorsichtig. Wir können es uns nicht erlauben, noch jemanden durch einen Rückschlag zu verlieren. Seid ihr alle bereit?«

Schweigen.

»Also gut, dann lasst uns beginnen. Am Abend reden wir weiter.«

 

Tessaya, der Lord der Paleon-Stämme der Wesmen, blickte auf die Knospen hinab, die vor seinem Füßen aus dem Boden brachen, und lächelte unwillkürlich. Das ganze Dorf summte vor Leben, die Einwohner schöpften Wasser aus dem Brunnen, die Bauern wetzten ihr Werkzeug und waren für die Aussaat bereit, die Häuser waren mit sauberem Stroh gedeckt und verstärkt. Ein frischer Geruch lag in der Luft, der Geruch von neuem Leben. Es war der Geruch der Hoffnung, und Hoffung war etwas, das sein Volk dringend brauchte.

In den sechs Jahren nach dem Krieg, in dem so viele Männer gefallen waren, hatten die Todfeinde im Osten immer neues Elend gesandt, um die Wesmen zu quälen, obwohl sie schon am Boden lagen. Tessaya war es vorgekommen, als habe es seit Menschengedenken keine solchen Unwetter mehr gegeben. Die Schamanen hatten jedoch Magie in Stürmen, Regenfällen und in den Blitzen gewittert, die den Boden versengten, und auch in der Erde selbst, die sich aufbäumte und die Menschen verschlang.

Tag um Tag wurden sie heimgesucht, und als die Stürme nachließen, wurden sie von der heißen Sonne verbrannt. Die Felder standen unter Wasser oder verdorrten, das Vieh vermehrte sich nicht, und als der Winter kam, ließ zwar das Toben der Elemente nach, doch es war klar, dass viele sterben mussten.

Tief im Kernland hatte Tessaya sich verschanzt, er hatte die noch lebenden Lords zu sich gerufen und darum gebeten, alles zusammenzuwerfen, was sie noch besaßen. Wenn dies tatsächlich das Werk der Magier im Osten war, dann verfolgten sie offensichtlich das Ziel, die Wesmen endgültig auszulöschen. Nur wenn die Wesmen zusammenhielten, konnten sie überleben und wieder erstarken.

Die Lords hatten auf ihn gehört. Tessaya war der Älteste unter ihnen, und er hatte zwei Jahrzehnte lang alle Kriege mit dem Osten und alle Stammesfehden überlebt. Er allein hatte die Stämme zu einer Streitmacht sammeln können, die stark genug gewesen war, um den Osten anzugreifen. Die Lords, viele von ihnen jung und ängstlich, glaubten, er könne es noch einmal tun.

Im Winter hatten sie darben müssen. Holz hatten sie genug gehabt, aber nichts, das sie auf den Flammen kochen konnten. Die Tiere mussten am Leben bleiben, damit sie sich fortpflanzen konnten. Männer, Frauen und Kinder magerten ab, und die Kranken und Schwachen überlebten nicht. Scheiterhaufen brannten jeden Tag an allen heiligen Stätten und mahnten sie, an welch dünnem Faden ihr Schicksal hing.

In dieser Zeit gewannen die Schamanen erneut an Einfluss. Sie beteten zu den Geistern um Gnade, und beinahe schien es selbst einem, der so skeptisch war wie Tessaya, dass die Wesmen in ihrem Ringen nicht allein standen. Vielleicht war der Winter doch nicht so schlimm, wie alle glaubten. Vielleicht fanden die Jagdtrupps mehr Wild, als sie eigentlich hätten finden können. Vielleicht gaben die winterfesten Beerensträuche und die Wurzeln aus ganz natürlichen Gründen mehr Nahrung her.

Vielleicht aber gab irgendeine Macht ihnen die Mittel an die Hand, damit sie überleben konnten.

Wenn es nach Tessaya ging, dann sollte sein Volk glauben, was es wollte. Der Pakt mit den Stammesfürsten führte jedenfalls dazu, dass es nur sehr wenig Nahrungsdiebstähle gab, und diejenigen, die es gab, wurden mit dem Tod durch Pfählen bestraft. Als die kalten Tage zu Ende gingen, sah er in den Paleon-Stämmen eine neue Entschlossenheit wachsen. Vor gar nicht so langer Zeit hatten die Menschen sich noch mit ihrer Schwäche abgefunden, aber jetzt keimte der Wunsch, zu überleben und wieder zu erstarken. Welche Übel die Magier auch gesandt hatten, die Wesmen wollten sie in Antriebskraft verwandeln.

Da nun die neue Jahreszeit begann und das Leben im Überfluss zurückkehrte, konnte er einer prächtigen Zukunft entgegensehen. Bis zur nächsten Ernte mussten sie noch in großer Not leben, aber es gab immerhin noch Paleon-Männer, die die Ernte einholen konnten. Es sollte eine Zeit der Feiern werden, wie es sie noch nicht gegeben hatte.

Tessaya trauerte um all jene, denen er nicht hatte helfen können. Um jene, die sich entschlossen hatten, jenseits des Kernlandes zu leben, und um jene, die bereits zu geschwächt gewesen waren und ihre Willenskraft verloren hatten. Doch unweigerlich richteten sich seine Gedanken nun erneut auf die Eroberung.

Die Schamanen hatten nur zur Hälfte recht, wenn die Geschichten, die er in den letzten Tagen gehört hatte, der Wahrheit entsprachen. Ja, das Wüten der Elemente war durch Magie verstärkt worden. Doch die Quelle waren nicht die Kollegien. Noch interessanter war, dass die Zerstörung im Osten womöglich sogar noch schlimmer war als im Kernland. In welcher Verfassung befanden sich ihre Feinde? Waren sie stark genug, um zu kämpfen und zu siegen?

Den Gerüchten nach hatte Julatsa vergeblich versucht, sich aus der Asche wieder zu erheben, und die anderen Kollegien lagen im Krieg und rissen sich gegenseitig in Stücke. Und noch besser: Die gewöhnlichen Menschen, die mit der Magie nichts zu tun hatten, wandten sich gegen ihre selbst ernannten Herren. Die Menschen wollten ihr Leben ohne Zaubersprüche und Anrufungen wieder aufbauen. Sehr interessant.

Tessaya brauchte Antworten und klare Beweise. Er hatte schon einmal den Fehler gemacht, den Erzählungen anderer Leute zu glauben, und deshalb waren seine Kämpfer zu tausenden gestorben. Dieses Mal wollte er die Wahrheit aus Mündern hören, denen er trauen konnte. Die Wesmen waren schwach, und sein Heer war klein. Doch wenn die Beute wirklich dort lag und nur darauf wartete, dass er sie an sich nahm, und wenn die Kollegien im Osten den größten Teil ihrer Unterstützung verloren hatten, dann konnte er hoffen. Hoffen, dass die Wesmen endlich bekamen, was ihnen von Rechts wegen zustand – die Herrschaft über ganz Balaia.

Lord Tessaya atmete tief durch. Er musste mit seinen engsten Beratern und Schamanen sprechen. Nun galt es, besonders vorsichtig vorzugehen. Er bückte sich und pflückte zwischen seinen Füßen eine Frühlingsblume, die er seiner Frau mitbringen wollte.

 

Der Rauch hatte sich vom Schlachtfeld verzogen, das Feuer der Sprüche und Pfeile hatte aufgehört. Die Hilferufe verhallten allmählich vor den schroffen Mauern von Xetesk, bis zwischen den feindlichen Reihen nur noch die Schmähungen der Sieger und die Schreie der Aasvögel zu hören waren.

Dila’heths Kopf pochte von der Schnittwunde, die sie sich zugezogen hatte. Neben dem sterbenden Elf, dem sie zu Hilfe gekommen war, richtete sie sich auf und blickte über das Schlachtfeld. Überall lagen Tote. Gebackener Schlamm und flache Krater verrieten ihr, wo Feuerkugeln und Höllenfeuer eingeschlagen waren. Verkohlte Tuchfetzen flatterten im leichten Wind. Hinter den Toten hatten sich die Xeteskianer zurückgezogen und nur ein paar Wachen zurückgelassen, während die anderen in Sichtweite des Schlachtfeldes ihren Sieg feierten.

Jemand kam, sie drehte sich um.

»Warum greifen sie nicht an?«, fragte sie.

»Das ist nicht nötig«, erklärte Rebraal. »Sie müssen nur dafür sorgen, dass wir den Mauern nicht zu nahe kommen und beschäftigt sind, während sie die Forschung an den Texten vollenden, die sie uns gestohlen haben.«

Der Anführer der Al-Arynaar deutete auf eine Gruppe Protektoren und Magier, die sich zum Tor zurückzogen.

»Die dort werden nicht ruhen, das kann ich dir garantieren.«

»Was haben sie jetzt vor?«

»Nun, die Boten berichten, Xetesk sei im Süden auf Schwierigkeiten gestoßen, also gehen die Kämpfer vielleicht dorthin.« Rebraal zuckte mit den Achseln.

»Aber du glaubst es nicht.«

»Nein. Wenn die Rabenkrieger recht haben, dann werden sie versuchen, so bald wie möglich in Richtung Norden vorzustoßen.«

»Nach Norden?«

»Nach Julatsa.«

»Meinst du wirklich?«

Rebraal nickte. »Warum nicht? Sie wollen die Vorherrschaft erringen, und Julatsa ist der schwächste Gegner …«

»Aber …«