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Sie sind die beste Söldnertruppe der Welt. Bis jetzt ...
Dieser Auftrag wird sie ihr Leben kosten. Sie sind Söldner – sechs Krieger und ein Magier –, sie nennen sich »Bund des Raben« und sie sind die Besten. Als die grausamen Wytchlords das Land mit Terror und Gewalt überfallen, bedeutet das für die beste Söldnertruppe der Welt vor allem eines: Krieg ...
Mit "Dieb der Dämmerung" hat James Barclay das neue Zeitalter der Abenteuer-Fantasy eingeläutet.
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Seitenzahl: 886
Sie nennen sich »Der Bund des Raben« – sieben Söldner, die für alles und jeden in den Krieg ziehen. Und in ihrer Heimat Balaia sind sie darin die Besten, so viel steht fest. Eine gewisse Kriegsmüdigkeit hat sich zwar schon eingeschlichen, aber als sie ein unzweideutiges Angebot von einer verrufenen Magierschule bekommen, geht es für den Bund des Raben um Ehre und Sieg. Ihr Auftrag: gegen die finsteren Wytchlords zu Felde ziehen, die aus ihrem Kerker ausgebrochen sind und nun das Land mit Terror und Schrecken überziehen. Doch dieser Feind ist stärker als alle, mit denen der Bund des Raben je zu tun hatte, und schon bald ist klar, dass nur ein mächtiger Zauber noch etwas bewirken kann: Dawnthief. Ein Zauber so mächtig, dass der geringste Fehler zur Auslöschung der ganzen Welt führen kann …
»James Barclays Fantasy-Romane lesen sich wie Thriller: mächtige Krieger, finstere Magier und knallharte Action!« The Guardian
James Barclays DER BUND DES RABEN:
Erster Roman: Dieb der Dämmerung Zweiter Roman: Jäger des Feuers Dritter Roman: Kind der Dunkelheit
James Barclay wurde 1965 in Suffolk geboren. Er begeisterte sich früh für Fantasy-Literatur und begann bereits mit dreizehn Jahren, die ersten eigenen Geschichten zu schreiben. Nach seinem Abschluss in Kommunikationswissenschaften besuchte Barclay eine Schauspielschule in London, entschied sich dann aber gegen eine Bühnenkarriere. Seit dem sensationellen Erfolg seiner Romane um den »Bund des Raben« konzentriert er sich ganz auf das Schreiben. James Barclay ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt und arbeitet in Teddington bei London.
Mehr zu Autor und Werk unter: www.jamesbarclay.com
Für Tara, die nie den Glauben verlor.Auch wenn ich selbst manchmal verzagte.
Eine Hand wurde auf ihren Mund gedrückt und erstickte ihre Schreie, als sie erwachte. Neben ihr schlief Alun, ahnungslos und still. Ein Gesicht, voller Schatten in der dunklen Nacht, beugte sich über sie. Sie konnte die hageren Gesichtszüge und die harten Augen erkennen. Die Hand wurde fester auf ihren Mund gepresst, und der Mann starrte sie an.
»Wenn du einen Spruch wirkst, werden deine Jungen sterben. Wenn du dich wehrst, werden deine Jungen sterben. Wenn du dich nicht fügst, werden deine Jungen sterben. Dein Ehemann wird hierbleiben und bezeugen können, dass wir fähig sind, solche wie dich überall zu holen, selbst hier im Herzen der Kolleg-Stadt. Denke darüber nach, während du schläfst, und zügle deinen Zorn, wenn du wach bist. Wir haben viel zu besprechen.«
Gedanken rasten durch ihren Kopf, ihr Herz schlug wie wild. Ihr dummer Entschluss, außerhalb der sicheren Kolleg-Mauern ein beschauliches Leben zu führen, hatte alles in Gefahr gebracht, was sie liebte. Der Angreifer hatte ihre Jungen erwähnt, die wundervollen Zwillinge, in die sie so große Hoffnungen setzte und in denen so große Kräfte geweckt werden konnten. So jung, so unschuldig waren die beiden. Alles in ihr begehrte auf, als ihr bewusstwurde, was Männer wie dieser hier zu tun imstande waren. Diese Leute kannten kein Erbarmen, sie sahen nur das, was sie für böse hielten, und sie hatten geschworen, es zu vernichten. Sie sahen nicht die Reinheit und die Magie der Dinge, die sie erschuf, und diese Blindheit machte jene Männer so gefährlich.
Sie erinnerte sich an die warnenden Stimmen. Die Meister des Kollegs hatten zwar Verständnis für ihr Verlangen nach einem Familienleben gezeigt, doch sie hatten auch gewarnt, dass ein Übermaß an Beschaulichkeit und Behagen in einer Zeit, da die Menschen ihre Feindschaft gegen das Kolleg und alles, was es darstellte, offen zeigten, nicht ungefährlich war. Ihr Leben war ein Experiment, daran hatten die Meister sie immer wieder erinnert. Es ging um mehr als nur um ihre Sehnsucht, sich mit ihrer Familie niederzulassen. Ihre Kinder waren die Kinder der Schule, hatten die Meister gesagt, und ihre Entwicklung war ein Gegenstand kritischer Forschung.
Natürlich hatte sie wie üblich bekommen, was sie wollte. Schließlich waren es ihre Söhne, und Alun verspürte ohnehin nicht den Wunsch, in der Schule zu leben. Sie verfluchte sich für ihren dummen Eigensinn und für ihr übertriebenes Vertrauen in ihre Fähigkeit, ihrer aller Sicherheit zu gewährleisten. Frustrierte und zornige Tränen wollten in ihr aufsteigen, doch wie die Stimmen der Meister in ihrem Kopf waren auch die Tränen Erinnerungen an Warnungen, die sie schon viel zu lange ignoriert und auf die sie viel zu spät gehört hatte.
Die zweite Hand des Mannes kam in ihr Gesichtsfeld. Sie hielt ein Tuch, das er nun auf ihre Nase und den Mund presste. Die Droge wirkte rasch, und sie wehrte sich wie ein Tier, das in einer Falle gefangen ist, während die Jagdhunde sich bereits nähern. Verzweifelt, kurz und vergeblich war ihre Gegenwehr. Brophane. Ihr letzter Gedanke war, dass sie sich elend fühlen würde, wenn sie die Augen wieder öffnete.
Blaues Licht stach durch den Spätnachmittagshimmel, flackerte vor den zerklüfteten niedrigen grauen Wolken und zeichnete den Zugang zum Taranspike-Pass als scharfes Relief. Eine schwere Explosion war zu hören, Männer schrien.
Hoch oben im Burgfried schätzte der Rabe die Situation gelassen ein und blickte von der Burg, die den Pass bewachte, über den Burghof hinweg zum Schlachtfeld.
Die linke Flanke der Verteidigungslinien war eingebrochen. Verkohlte Leichen lagen gekrümmt im versengten Gras, und an der ganzen Front verdoppelten die Feinde nun ihre Anstrengungen. Sie überrannten die Verteidiger.
»Verdammt auch«, sagte der Unbekannte Krieger. »Das gibt Ärger.« Er hob die Faust über den Kopf, spreizte die Finger und beschrieb mit dem Arm einen weiten Kreis. Sofort gaben die Flaggenmänner auf den Türmen den Befehl weiter. Fünf Kavalleristen und ein Magier galoppierten durch ein Ausfalltor hinaus.
»Schau, da.« Hirad deutete zur linken Flanke. Etwa fünfzehn gegnerische Kämpfer brachen durch die Lücke und ignorierten die Schlacht, während sie zur Burgmauer rannten. »Sind wir jetzt dran?«, fragte er.
»Wir sind dran«, bestätigte der Unbekannte.
»Das wurde aber auch Zeit.« Hirad lächelte.
»Der Rabe!«, donnerte der Unbekannte. »Der Rabe kommt!« Er zog das Zweihandschwert aus der Scheide, die an der Festungsmauer lehnte, und lief zur Treppe. Auf dem Brustharnisch spiegelten sich die letzten Strahlen der untergehenden Sonne, und sein mächtiger Körper entwickelte eine Geschwindigkeit und Wendigkeit, die sich schon für viele Gegner als tödliche Überraschung erwiesen hatten. Der kahlrasierte Kopf auf dem Stiernacken bewegte sich ruckartig, als er nach unten rannte.
Die Treppe führte vom Wehrgang auf der Innenseite der Festungsmauer hinab und weiter zum Dach des Burgfrieds. Von hier aus musste man durch einen der beiden Türme laufen und die Wendeltreppe nach unten steigen, um den Burghof zu erreichen.
Der Unbekannte führte die sechs mit Leder und Kettenhemden gerüsteten Krieger und den Magier, die zusammen den Raben bildeten, zum linken Turm, riss die Tür auf, ließ den Wächter mit einem gebrüllten Befehl zur Seite treten und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Dabei stützte er sich an der Außenmauer ab, um das Gleichgewicht zu halten.
Auf halbem Wege nach unten hörten sie eine zweite, noch stärkere Explosion. Die ganze Burg schien in ihren Grundfesten zu erbeben.
»Sie sind schon durch die Mauer gebrochen und in den Burghof eingedrungen«, warnte Hirad.
»Wir sind gleich da«, antwortete ihm der Unbekannte. Die Tür am Fuß des Turms war offen, doch Hirad war nicht sicher, ob der Unbekannte überhaupt einen Moment gezögert hätte, wenn sie verschlossen gewesen wäre, so groß war seine Geschwindigkeit. Der Rabe rannte ins verblassende, bernsteinfarbene Sonnenlicht hinaus und wandte sich zur linken Ecke des Burghofs, wo nach der Explosion noch der Staub in der Luft stand.
Aus den Staubschwaden tauchte der Feind auf und bahnte sich einen Weg durch den Schutt, den er selbst erzeugt hatte. Die Krieger, durch Lederharnische geschützt und die Gesichter hinter Masken aus Tuch verborgen, schwärmten im Burghof aus. Hinter ihnen konnte Hirad einen weiteren Mann sehen, der sich scheinbar gemächlich einen Weg durch die Trümmer suchte. Auch er trug eine glänzende Lederrüstung, doch darum hatte er einen weiten schwarzen Mantel gelegt, der sich hinter ihm bauschte. Eine rauchende Pfeife steckte in seinem Mund, und wenn Hirad seine Augen nicht täuschten, dann streichelte er eine Katze, die den Kopf aus dem Ausschnitt des Mantels steckte.
Hinter sich hörte er Ilkar, den Elfenmagier aus Julatsa, fluchen und spucken: »Xetesk!« Hirad hielt mitten im Schritt inne und sah sich um. Ilkar winkte ihn weiter.
»Mach schon und kämpfe«, sagte der Elf. Man sah dem großen schlanken Mann mit dem kurzen dunklen Haar die Anspannung an. Die Haselnussaugen verengten sich. »Ich werde ihn im Auge behalten.«
Die feindlichen Kämpfer rückten mit gleichmäßigem Tempo auf der linken Seite des Raben vor und liefen zur kahlen Felswand, wo sich Schuppen voller Getreide, Werkzeuge und Feuerholz von den äußeren Verteidigungsanlagen bis zum Burgfried erstreckten.
Der Unbekannte Krieger änderte sofort die Richtung und schnitt den Angreifern den Weg ab. Hirad runzelte die Stirn, er konnte den Blick nicht von der schwarz gewandeten Gestalt hinter den Schwertkämpfern wenden.
Die Kampfgeräusche, die von außerhalb der Mauer hereindrangen, ließen allmählich nach, und Hirad konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Aufgabe. Er sah die Feinde, die dem Raben zahlenmäßig beinahe drei zu eins überlegen waren, und stieß vor, um sie abzufangen. Fünf Krieger bildeten die Vorhut; sie rannten mit erhobenen Schwertern vorneweg, und ihre Rufe hallten zwischen den Mauern, während sie angriffen und auf ihre zahlenmäßige Überlegenheit vertrauten.
»Formation bilden!«, rief der Unbekannte, und der Rabe wechselte reibungslos zur Kampfaufstellung. Wie immer nahm der Unbekannte selbst den Platz im Zentrum eines schiefen, leicht unregelmäßigen Fünfsterns ein. Links neben ihm standen Talan, Ras und Richmond, während rechts von ihm Sirendor und Hirad ihre Positionen bezogen hatten. Hinter ihnen bereitete Ilkar den Verteidigungsschild vor.
Der Unbekannte tippte im Takt seiner Schritte mit der Spitze seines Zweihandschwerts auf den Boden, und Hirad, der in den Augen der Feinde das Erkennen suchte, bleckte die Zähne, als er es tatsächlich fand und sah, wie ihr Schritt sich um eine Winzigkeit verzögerte.
»Schild ist oben«, erklärte Ilkar. Selbst jetzt, nach zehn Jahren, jagte es Hirad noch einen Schauer über den Rücken. Dabei konnte er genau genommen überhaupt nichts fühlen. Doch die Abschirmung war jetzt an Ort und Stelle – ein Schutzschirm, der ihnen Sicherheit vor magischen Angriffen bot und einen Moment lang als Flimmern in der Luft zu erkennen war. Der Unbekannte hörte auf, mit dem Schwert auf den Boden zu stoßen, und einen Moment danach warf sich der Rabe in die Schlacht.
Der Unbekannte schwang sein Schwert von rechts nach links und gab mit einer einzigen Bewegung die Verteidigung des Gegners der Lächerlichkeit preis. Die Klinge des Mannes wurde zur Seite geschleudert, sein Gesicht vom Kinn bis zur Stirn gespalten. Blut spritzte von der Waffe des Unbekannten, als sie wieder herausgezogen wurde.
Der Mann wurde nach hinten geschleudert, prallte gegen zwei seiner Gefährten und stieß im Sterben nicht einmal einen Schrei aus.
Rechts fing Sirendor einen Hieb mit seinem Drachenschild ab, bevor er das Schwert durch die Brust des Feindes trieb. Hirad entging mühelos einem Überkopfschlag, wich nach rechts aus und stach seine Waffe mit beiden Händen in den Hals des Gegners. Die anderen Angreifer zögerten, die entstandenen Lücken zu schließen. Der Barbarenkrieger grinste, machte einen Schritt nach vorn und winkte die nächsten Gegner mit einer Hand zu sich.
Zur Linken des Unbekannten war der Kampf nicht ganz so einseitig. Ras und Talan wechselten Schläge mit fähigen Kriegern, die Schilde trugen, und Richmond war etwas abgelenkt und in die Defensive getrieben worden. Dennoch brachte er seinen Gegner mit raschen, elegant geführten Hieben in große Verlegenheit.
»Magier bewegt sich. Links von uns«, sagte er. Er parierte einen Schlag gegen seine Taille und trieb den Feind zurück.
»Habe ihn«, sagte Ilkar. Seine Stimme klang abwesend, weil er damit beschäftigt war, den Schild aufrechtzuerhalten. »Er wirkt einen Spruch.«
»Den überlassen wir Ilkar«, befahl der Unbekannte. Seine Klinge prallte gegen den Schild eines Feindes. Der Mann taumelte.
»Bewegt sich weiter nach links«, berichtete Richmond.
»Lass ihn.« Der große Mann schlitzte seinem Gegner den Bauch auf, während Talan, der unmittelbar neben ihm kämpfte, sein erstes Opfer fällte und dabei eine Schnittwunde auf dem Arm davontrug.
Der feindliche Magier stieß ein kurzes Befehlswort hervor. Hitze versengte die Luft, und in der darauf folgenden Stille hielten beide Seiten inne und wichen einen halben Schritt zurück.
»Jetzt!«, rief der Magier, und die Gebäude an der hinteren Wand explodierten. Holzsplitter und zerbrochene Balken wirbelten durch die Luft und landeten im Burghof.
Chaos.
Ein abgebrochener Balken prallte auf Hirads Fuß. Er verlor das Gleichgewicht, stolperte nach vorn und versuchte, sich noch im Fallen auf den Rücken zu drehen. Links neben ihm nahm der Unbekannte die gewaltige Explosion in seinem Rücken mit kaum mehr als einem Zucken zur Kenntnis. Er zog die Klinge quer durch die Luft und schnitt den Mann, der vor ihm stand, bis aufs Rückgrat in der Mitte durch.
»Schild ist unten!«, rief Ilkar. Der Schock der Detonation hatte ihn in den Staub geworfen und seine Konzentration gestört. Er war sofort wieder auf den Beinen. »Ich übernehme den Magier.«
»Ich habe ihn«, sagte Richmond, der beinahe seinem Gegner in die ausgebreiteten Arme gestürzt wäre. Er fing sich als Erster und rammte dem Feind sein Schwert in den Bauch, dann drehte er sich um und kehrte der Schlacht den Rücken.
»Bleib in der Schlachtlinie!«, brüllte der Unbekannte. »Richmond, bleib in der Linie!«
Hirad starrte dem Mann, der ihn töten wollte, in die Augen. Der mochte sein Glück kaum glauben und hieb mit dem Schwert nach dem vermeintlich hilflosen Barbaren, doch der Schlag sollte nie sein Ziel erreichen. Die Klinge prallte gegen einen Drachenschild. Breitbeinig baute sich der Gegner über Hirad auf, aber Sirendors Schwert durchtrennte den Hals des Mannes. Sirendor bückte sich und half Hirad wieder auf die Beine.
Das halbe Dutzend Schritte, das Richmond sich von der Schlachtlinie entfernte, ehe er seinen Irrtum erkannte, sollte sich als tödlich erweisen. Ras, der mit einem Gegner kämpfte, bemerkte nicht, dass seine linke Flanke völlig ungeschützt war. Ein weiterer Gegner ergriff die Chance, umrundete rasch seinen Gefährten und stach dem Rabenkrieger das Schwert in die Seite.
Ras brach grunzend zusammen und presste die Hand auf die Wunde, als das Blut durch seine Rüstung spritzte. Er stürzte heftig genug gegen Talans Beine, um den Freund aus dem Gleichgewicht zu bringen. Talan konnte noch einen Schlag abwehren, doch gegen den zweiten hatte er keine Chance.
»Verdammt!«, keuchte der Unbekannte. Er schirmte Talan mit vorgestreckter Klinge ab und konnte zwei Schläge abwehren, die dem taumelnden Krieger galten. Dann trat er mit dem rechten Fuß zu und traf den Unterleib des Gegners.
Richmond stürzte sich wieder in die Schlacht. Gleichzeitig erholte Talan sich weit genug, um sich breitbeinig über den niedergeschlagenen Rabenmann zu stellen. Er stach einem weiteren Feind das Schwert in die Brust und riss die Klinge wieder hinaus, als die Schreie des in seinem eigenen Blut ertrinkenden Mannes sich in ein gequältes Gurgeln verwandelten.
Hinter dem Kampfgetümmel konnte Ilkar nur hilflos zusehen, wie der Xetesk-Magier zur Mauer rannte, die er durch die Zerstörung der Holzbauten freigelegt hatte. Der Magier hielt inne, drehte sich zu Ilkar um, lächelte, sprach ein Wort und verschwand beim nächsten Schritt spurlos.
Ilkar knirschte mit den Zähnen und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Kampf. Ras lag gekrümmt und reglos am Boden. Der Unbekannte fällte einen anderen Feind, und auf der rechten Seite töteten Sirendor und Hirad ihre Gegner mit gewohnter Eleganz. Nur Richmonds Klinge fand kein Ziel, seine ganze Körperhaltung verriet seine Gefühle. Ilkar trat vor und bildete die Mana-Form für einen Haltespruch. Das war genug. Die Überlebenden der gegnerischen Truppe sahen ihn, gaben den Kampf auf und rannten dorthin zurück, wo sie hergekommen waren.
»Vergiss sie«, sagte der Unbekannte, als Hirad Anstalten machte, die fliehenden Feinde zu verfolgen. Der Barbar blieb stehen, sah ihnen nach und hörte das Johlen der Garnison auf der Burg, das den Rückzug der Gegner begleitete. Überall erhoben sich auf den Wehrgängen Jubelrufe, als die Hörner auf dem Schlachtfeld zum Rückzug bliesen.
Für den Raben hatte der Sieg jedoch einen bitteren Nachgeschmack.
Stille breitete sich im Hof aus, wo sie standen, und während das Schweigen um sich griff, verstummten auch die anderen, drehten sich um und wollten sehen, was nur wenige bisher gesehen hatten. Als Hirad sich umschaute, knieten alle bis auf Ilkar bei Ras. Hirad gesellte sich zu ihnen.
Er öffnete den Mund, um die Frage zu stellen, doch dann schluckte er schwer. Ras, die Hände noch auf die schreckliche Wunde an seiner Seite gepresst, atmete nicht mehr.
»Den ganzen Tag herumsitzen, und jetzt das«, sagte Hirad. »Wir sollten wohl besser keine Angebote mehr annehmen, uns als Reserve zu verdingen.«
»Ich glaube nicht, dass dies die richtige Zeit und der richtige Ort für diese Diskussion ist«, widersprach der Unbekannte leise. Er bemerkte, dass sich ein Auflauf von Gaffern zu sammeln begann.
»Warum denn nicht?« Hirad richtete sich auf. Unter der schweren gepolsterten Lederrüstung spielten die Muskeln. Das zu Zöpfen geflochtene rotblonde Haar wippte heftig, als er rasch aufstand. Er schob das Schwert energisch in die Scheide zurück. »Wie viele Beweise brauchen wir denn eigentlich noch? Wenn du einen Tag auf den Wehrgängen verbracht hast, bist du nicht mehr bissig genug für den Kampf.«
»Es gibt hier einige, die ganz sicher nicht deiner Meinung wären«, fauchte der Unbekannte. Er deutete auf einen getöteten Feind.
»Wir haben in zehn Jahren drei Männer verloren, und alle bei Aufträgen, die wir gar nicht erst hätten annehmen sollen. Man heuert uns an, damit wir kämpfen, und nicht, damit wir herumsitzen und anderen beim Kämpfen zusehen.«
»Es war ein Auftrag, für den wir gutes Geld bekommen haben«, wandte Ilkar ein.
»Das spielt für Ras wohl keine Rolle mehr«, rief Hirad aufgebracht.
»Ich …«, wollte Ilkar sagen. Er presste eine Hand an den Kopf, sein Blick irrte ab. Er drückte die Schulter des Unbekannten.
»Diese Diskussion und die Totenwache müssen warten«, sagte er. »Der Magier ist noch da.« Der Rabe war im Nu auf den Beinen, alle Männer waren zum Kampf bereit.
»Wo ist er?«, grollte Hirad. »Er ist schon so gut wie tot.«
»Ich kann ihn nicht sehen«, erklärte Ilkar. »Er verbirgt sich unter einem Tarnzauber. Er ist aber in der Nähe, denn ich kann spüren, wie er sein Mana formt.«
»Wie schön«, meinte Sirendor. »Dann sitzen wir ja hier wie auf dem Präsentierteller.« Er packte den Griff seines Schwerts fester.
»Uns kann hier nichts passieren. Er muss erst den Tarnzauber aufheben, ehe er einen anderen Spruch wirken kann. Ich wüsste nur zu gern, was er hier zu suchen hat.« Ilkars Gesicht verriet nicht, was er dachte, doch er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt.
Hirad blickte zum Burgfried und den Wehrgängen hinauf. Aufziehende Wolken beschleunigten den Sonnenuntergang, und das verblassende Licht färbte die Burg grau.
Ein leichter Regen hatte eingesetzt. Alle Aktivitäten waren eingestellt worden, hundert Augen blickten den Raben und den Toten in seiner Mitte an. Es war still auf Burg Taranspike, und die Soldaten, die nach ihrem Sieg in den Burghof marschiert kamen, unterbrachen ihre Rufe und verstummten, als sie die Szene erfassten.
Der Kreis des Raben bewegte sich langsam nach draußen, Ilkar ein wenig abseits, immer mit einem Auge die gerade vorher freigelegte Wand beobachtend.
»Wie konnte er uns mit diesem Spruch verfehlen?«, fragte Talan. Er deutete auf die Holztrümmer und das Korn, das ringsum verstreut war. »Er stand doch praktisch direkt über uns.«
»Er hat uns nicht verfehlt«, antwortete Ilkar. »Deshalb wollte ich doch …«
Der Magier war an der Mauer. Er tauchte schlagartig wieder auf, und man konnte sehen, dass er beide Hände auf die Steine gelegt hatte. Er tastete kurz herum, ein Abschnitt der Wand wich zurück, gab nach und legte einen dunklen Durchgang frei. Der Magier trat hindurch, und hinter ihm schloss sich die Öffnung sofort wieder.
Ilkar rannte zur Mauer und untersuchte den Abschnitt genau, die anderen sammelten sich um ihn.
»Nun öffne doch schon«, drängte Hirad. Der Elf drehte sich um und starrte den Barbaren an. Die spitz zulaufenden Ohren zuckten gereizt.
»Kannst du sie öffnen?«, fragte Talan.
Ilkar nickte. »Ich muss aber einen Spruch wirken. Sonst kann ich die Druckpunkte nicht sehen.« Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Mauer, und die anderen Mitglieder des Raben machten ihm Platz. Ilkar schloss die Augen und sprach eine kurze Anrufung, bewegte vor sich die Hände über die Mauer und spürte, wie die Manaspuren seine Finger einhüllten. Dann legte er die Fingerspitzen auf den Stein und suchte. Einer nach dem anderen stellten seine Finger die Bewegung ein, als sie die Punkte fanden.
»Ich habe es«, sagte er. Es war nicht mehr als eine Minute vergangen. Der Unbekannte nickte. Sein kurzes braunes Haar war von Schweiß verklebt, und die alte Narbe auf der linken Wange glühte hell auf der gebräunten Haut.
»Gut«, sagte er. »Aber du …«, er deutete auf den stämmigen Talan, »du bleibst hier und siehst zu, dass dieser Schnitt da versorgt wird. Und du«, er spuckte Richmond die Worte förmlich entgegen, »du übernimmst die erste Totenwache und überlegst dir, was du getan hast.«
Es folgte ein kurzes Schweigen. Talan wollte Einwände erheben, doch das Blut, das aus seiner Armwunde tropfte, und das bleiche Gesicht verrieten, dass er erheblich verletzt war. Richmond ging unterdessen zu Ras hinüber. Er hielt den Blick gesenkt, die Tränen brannten in seinen blauen Augen. Er kniete sich neben den toten Rabenkrieger, stach das Schwert in den Boden und fasste mit beiden Händen den Handschutz. Er neigte den Kopf und blieb reglos sitzen, der lange blonde Pferdeschwanz pendelte leicht im Wind. Zusammen mit Talan und Ras war er als Mitglied eines erprobten und geachteten Trios vier Jahre zuvor – nach der einzigen anderen Schlacht, in der ein Rabenkrieger, oder in diesem Fall sogar zwei, den Tod gefunden hatten – in die Truppe eingetreten.
Der Unbekannte Krieger gesellte sich zu Ilkar.
»Lass es uns tun«, sagte er.
»Alles klar«, antwortete Ilkar. Er drückte. Die Wand bewegte sich zur Seite und nach links. »Die Tür wird jetzt offen bleiben. Er muss sie von innen geschlossen haben.«
Am Ende des Durchgangs war ein schwaches, flackerndes Licht zu sehen. Der Unbekannte betrat den Gang, Hirad und Sirendor folgten ihm, Ilkar bildete die Nachhut.
Als der Unbekannte Krieger sich dem Licht näherte, war ein entsetzter Ruf zu hören, der plötzlich abbrach, dann ertönte eine drängende, laute Stimme, und man hörte Füße scharren. Der Unbekannte lief schneller.
Nachdem er einer scharfen Gangbiegung nach rechts gefolgt war, stand er in einem kleinen Raum. Auf der rechten Seite war ein Bett, gegenüber stand ein Tisch, aus einem kurzen Gang auf der linken Seite fiel ein Feuerschein herein. Neben dem Tisch und direkt vor einem Durchgang hockte ein zusammengesunkener Mann von mittleren Jahren, der ein schmuckloses blaues Gewand trug. Aus einer langen Schnittwunde auf seiner runzligen Stirn strömte Blut auf die langfingrigen Hände. Er starrte die Blutspritzer an und schauderte.
Als der Rabe sich im Raum versammelt hatte, kniete der Unbekannte beim Mann nieder.
»Wohin ist er gegangen?« Doch es kam keine Reaktion. »Der Magier, der Mann im schwarzen Gewand?«
»Bei den Göttern im Himmel!« Ilkar drängte sich nach vorn zum verwundeten Mann. »Das ist der Magier der Burg.« Der Unbekannte nickte. Ilkar hob den Kopf des Mannes und sah ihm ins Gesicht. Das Blut aus der Wunde tröpfelte über hagere weiße Gesichtszüge. Die Augen flackerten unstet, schienen alles zu sehen und nichts aufzunehmen.
»Seran, ich bin es, Ilkar. Kannst du mich hören?« Der Blick wurde einen Moment lang ruhiger. Es reichte aus. »Seran, wohin ist der Xeteskianer gelaufen? Wir wollen ihn schnappen.« Seran schaffte es, sich über die Schulter umzusehen und zum Durchgang hin zu nicken. Er wollte etwas sagen, doch außer dem Buchstaben »d«, den er immer wieder stotterte, kam nichts heraus.
»Warte mal«, sagte Sirendor. »Führt der Durchgang hinter dieser Mauer nicht …«
»Kommt schon«, sagte der Unbekannte. »Wenn wir uns nicht beeilen, wird er uns am Ende noch entwischen.«
»Genau«, stimmte Hirad zu. Er führte den Raben durch die Öffnung und einen kurzen Gang hinunter bis zu einem kleinen, kahlen Zimmer. Im trüben Licht, das aus Serans Arbeitszimmer bis hierher fiel, entdeckte er in der Wand gegenüber eine Tür.
Er lief hinüber, und als er die Tür geöffnet hatte, lag vor ihm ein weiterer, längerer Gang, an dessen Ende ein flackernder Lichtschein zu sehen war. Er sah sich über die Schulter um.
»Kommt schon«, drängte er und lief den Gang entlang. Als er sich dem anderen Ende näherte, konnte er hinter einem Gitter, das in die gegenüberliegende Wand eingelassen war, ein großes Feuer brennen sehen. Er rannte in den Raum hinein und sah sich rasch nach links und rechts um. Zwei Türen in der rechten Wand, etwa zwanzig Fuß entfernt, rahmten einen zweiten, kalten Kamin ein. Eine der Türen wurde gerade langsam geschlossen.
»Da!« Er deutete zur Tür und wechselte die Richtung, ohne sich zu vergewissern, ob die anderen ihm überhaupt folgten.
Rutschend kam er vor der Tür zum Stehen und riss sie auf, wich aber vorsichtshalber einen Schritt zurück, um sich umzuschauen, ehe er den Raum betrat. Es war ein kleines Vorzimmer, in dessen gegenüberliegender Wand sich ein großer Torbogen mit einer mächtigen Doppeltür befand. Die Wände waren mit Runen bedeckt, Kohlepfannen erhellten den Raum. Hirad ignorierte all dies. Ein Flügel der Doppeltür stand einen Spalt auf, dahinter war ein Funkeln zu sehen. Der Barbar lächelte.
»Erwischt, würde ich sagen«, keuchte er, als er durch den Türspalt ins Zimmer dahinter rannte.
»Hirad, warte!«, rief Sirendor, als er mit Ilkar und dem Unbekannten die größere Kammer betrat.
»Folge diesem Idioten, Sirendor«, befahl der Unbekannte. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir uns orientieren.«
Über dem Kamin hing eine runde Metallplatte von nicht weniger als drei Fuß Durchmesser. Der Kopf und die Krallen eines Drachen waren darauf eingraviert. Sein Maul war aufgerissen, Feuer drang aus dem Schlund, und die Klauen waren geöffnet und zum tödlichen Griff bereit. Ansonsten war der Raum bar jeden Schmucks. Der Unbekannte ging hinüber und behielt gleichzeitig Sirendor im Auge, der zu jener Tür rannte, durch die Hirad verschwunden war. Dann blieb er abrupt stehen, sah sich um und runzelte die Stirn.
»Was ist los?«, fragte Ilkar.
»Hier stimmt etwas nicht«, erklärte der Unbekannte. »Wenn ich mich nicht sehr irre, müsste dies hier die Küche sein, und dort am anderen Ende«, er deutete zu den beiden Türen, die den kalten Kamin einrahmten, »dort sollte der Burghof sein.«
»Tja, vielleicht sind wir unter dem Burghof«, wandte Ilkar ein.
»Wir sind nicht nach unten gestiegen«, erklärte der Unbekannte. »Was haltet ihr davon?« Doch Ilkar hörte schon nicht mehr auf ihn. Er starrte das Wappen über dem Kamin an und erbleichte.
»Dieses Symbol. Ich kenne es.« Ilkar ging zum Kamin hinüber, der Unbekannte folgte ihm.
»Was hat es zu bedeuten?«
»Es ist das Wappen der Drachenleute. Hast du schon einmal von ihnen gehört?«
»Ein paar Gerüchte.« Der Unbekannte zuckte mit den Achseln. »Und, was weiter?«
»Du meinst also, wir sollten jetzt eigentlich im Burghof stehen?«
»Nun ja, ich denke schon, aber …«
Ilkar schluckte schwer. »Bei den Göttern, wir hätten nicht tun sollen, was wir möglicherweise gerade getan haben.«
Als er sah, wie groß der Saal war, den er betreten hatte, wurde Hirad augenblicklich langsamer, und die Hitze, die ihm entgegenschlug, tat ein Übriges. Dann der Geruch – ein sehr strenger Geruch nach Holz und Öl. Durchdringend und stechend. Und schließlich noch die beiden riesigen Augen, die ihn von der gegenüberliegenden Seite des Raumes aus musterten. Er blieb wie angewurzelt stehen.
»Bei den Göttern, Hirad, so beruhige dich doch!« Sirendor riss die Tür rechts neben dem Kamin auf und rannte hinein. Vor sich sah er die Doppeltür mit dem Wappen darüber. Er blieb stehen, und auf einmal stand der Magier mit dem dunklen Mantel direkt vor ihm. Er hob instinktiv sein Schwert und wich einen Schritt zurück. Der Magier war offenbar so abrupt erschienen, weil sein Tarnzauber verbraucht war. Der Mann war Ende dreißig und hätte mit seinem zerzausten schwarzen Haar und dem struppigen kurzen Bart ein recht ansehnlicher Bursche sein können, doch jetzt war er bleich und verängstigt. Er hob beschwichtigend die Hände.
»Bitte«, flüsterte er. »Ihn konnte ich nicht aufhalten, aber ich kann dich aufhalten.«
»Du bist für den Tod eines Rabenkriegers verantwortlich …«
»Und glaube mir, ich will nicht, dass noch einer stirbt. Der Barbar …«
»Wo ist er?«, verlangte Sirendor zu wissen.
»Erhebe hier nicht deine Stimme. Hör zu, er steckt in Schwierigkeiten«, sagte der Magier. In seinem Mantel bewegte sich etwas. Eine Katze steckte den Kopf zum Kragen heraus, dann verschwand sie wieder. »Du bist Sirendor, nicht wahr? Sirendor Larn?« Sirendor blieb ruhig stehen und nickte. »Ich bin Denser«, fuhr der Magier fort. »Hör zu, ich weiß, wie du dich fühlst, aber wir können einander jetzt helfen, und glaube mir, dein Freund braucht wirklich Hilfe.«
»In was für Schwierigkeiten steckt er denn?« Auch Sirendor sprach jetzt leise. Den Grund hätte er nicht nennen können, doch das Benehmen des Magiers machte ihm irgendwie Angst. Er hätte den Mann auf der Stelle töten sollen, aber offensichtlich hatte der Magier vor etwas ganz anderem Angst als davor, dass der Rabenkrieger ihn umbringen könnte.
»Es sieht böse aus, sehr böse. Schau selbst.« Er legte einen Finger auf die Lippen und winkte Sirendor, ihm zu folgen. Der Krieger machte einen Schritt, ohne den Magier und den wandernden Höcker unter dem Mantel aus den Augen zu lassen. Denser winkte Sirendor, einen Blick durch die Türen zu werfen.
»Bei den großen Göttern im Himmel!« Er wollte durch die Tür treten, doch der Magier legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück. Sirendor drehte sich aufgebracht um.
»Nimm sofort die Hand weg.«
Der Magier gehorchte. »Du kannst ihm nicht helfen, wenn du da hineinstürmst.«
»Was können wir dann tun?«, zischte Sirendor.
»Ich bin nicht sicher.« Denser zuckte mit den Achseln. »Ich kann vielleicht helfen. Du solltest besser deine Freunde holen. Sie werden da draußen nichts weiter finden, und vielleicht erweisen sie sich hier als nützlich.«
Sirendor, der schon zur Tür unterwegs war, hielt inne. »Mach ja keine Dummheiten, hast du verstanden? Wenn er deinetwegen stirbt …«
Denser nickte. »Ich werde warten.«
»Das will ich doch hoffen.« Sirendor verließ im Laufschritt den Vorraum. Er konnte noch nicht wissen, dass er Ilkars schlimmste Befürchtungen bestätigen würde.
Hirad wäre am liebsten sofort weggerannt, doch er war schon zu weit in den Raum eingedrungen, und er war ohnehin nicht sicher, ob seine heftig zitternden Beine ihn überhaupt noch tragen wollten. So blieb er stehen und starrte.
Der Kopf des Drachen ruhte auf den vorderen Tatzen, und der erste zusammenhängende Gedanke, den Hirad fassen konnte, war der, dass schon die Spanne vom Unterkiefer bis zum Schädeldach ungefähr so groß war wie er selbst. Das Maul maß gut und gern drei Fuß, der Schlund konnte leicht fünf Fuß tief sein. Die Augen saßen über der Schnauze dicht nebeneinander. Sie waren von schwarzem Horn eingefasst, die Pupillen schmale schwarze Schlitze mit einem strahlenden blauen Kranz. Auf dem Kopf des Drachen entsprang ein Knochenwulst, der über den ganzen Rücken lief. Hirad konnte den riesigen glänzenden Leib dahinter erkennen.
Vor Hirads Augen entfaltete das Wesen behutsam die Schwingen, und jetzt wurde deutlich, warum der Raum so riesig war. Die oben am Rumpf und oberhalb der vorderen Gliedmaßen ansetzenden Flügel maßen gut und gern vierzig Fuß zu jeder Seite. Sie flatterten leicht und stützten den Drachen zusätzlich ab, als er den Kopf vom Boden hob und sich aufrichtete.
Obwohl der schlanke Hals mit dem knochigen Grat auf der Rückseite nach unten gekrümmt blieb, weil der Drache Hirad keinen Moment aus den Augen ließ, war das Geschöpf sechzig Fuß hoch. Der Schwanz, der gekrümmt auf der linken Seite lag, war selbst an der Spitze noch dicker als ein ausgewachsener Mann. Ganz ausgestreckt mochte der Drache mehr als hundertzwanzig Fuß lang sein. Jetzt hockte er auf den mächtigen Hinterkeulen. An den Füßen saßen jeweils vier Krallen, die allein schon dicker waren als der Kopf des Barbaren. Und überall schimmerte es golden – die Drachenhaut funkelte im Feuerschein, und an den Wänden glitzerte es.
Hirad hörte die tiefen, langsamen Atemzüge des Drachen. Er öffnete das Maul und entblößte lange Reihen von Reißzähnen. Der Speichel tropfte auf den Boden und verdampfte sofort.
Das Wesen hob ein Vorderbein und streckte eine einzige gekrümmte Kralle aus. Hirad wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Er schluckte schwer, sein ganzer Körper war schweißüberströmt. Er zitterte am ganzen Leib.
»Verdammt will ich sein«, keuchte er.
Hirad hatte stets geglaubt, er werde mit dem Schwert in der Hand sterben, doch in diesem Augenblick schien es ihm sinnlos, die Waffe einzusetzen. Der Zorn, der so rasch auf seine Furcht gefolgt war, wich einer eigenartigen Ruhe. Er steckte das Schwert in die Scheide und sah dem Geschöpf in die Augen.
Der tödliche Schlag blieb aus. Der Drache zog die Kralle wieder ein, legte den Kopf auf den Boden und schob ihn vor, bis er nur noch drei Schritt vor Hirad lag, dem der heiße, stinkende Atem ins Gesicht schlug.
»Interessant«, sagte der Drache mit einer Stimme, die Hirad ganz und gar zu durchdringen schien. Die Beine des Barbaren quittierten endgültig den Dienst, und er setzte sich schwer auf den gekachelten Boden. Er sperrte den Mund auf und bewegte die Lippen, doch es kam kein Ton heraus.
»Und jetzt«, sagte der Drache, »jetzt wollen wir über einige Dinge reden.«
»Wer sind diese Drachenleute denn nun?«, fauchte Sirendor.
Ilkar drehte sich zu ihm um. »Sie sind Magier. Sie haben, nun ja, wie soll ich sagen, sie kommen mit Drachen gut aus.« Er machte eine hilflose Geste.
»Also, wirklich! Drachen existieren doch überhaupt nicht. Es gibt sie nur in Gerüchten und Legenden.« Sirendor sprach immer noch flüsternd.
»Ach, ja? Und was ist das für eine riesige Legende, die ich da drinnen sehen kann?«, meinte Ilkar empört.
»Das ist doch alles völlig egal.« Die Stimme des Unbekannten verriet, auch wenn er leise sprach, seine Autorität. »Wir haben nur eine Frage, die sofort beantwortet werden muss.«
Die drei Rabenkrieger und Denser hatten sich vor der halbgeöffneten Tür des Drachengemachs versammelt und für den Augenblick alle Feindschaft vergessen. Hirad saß mit dem Rücken zu ihnen, die Hände hinter sich auf den Boden gestemmt und die Beine halb angezogen. Der Kopf des Drachen war nur ein paar Fuß vom Barbaren entfernt, der riesige Leib lag auf dem Boden, die Flügel waren zusammengefaltet. Ilkar hatte Mühe, die Größe des Geschöpfs richtig zu erfassen.
Es spielte keine Rolle, dass er den Büchern und den Lehren nie wirklich geglaubt hatte. Auf jeden Fall besaß er eine gewisse Vorstellung von Drachen und hatte immer gedacht, sie müssten groß sein. Hirad wirkte im Vergleich zu dem Ungeheuer jedoch derart winzig, dass Ilkar den Blick abwenden und noch einmal hinschauen musste, ehe er sich eingestehen konnte, dass Sirendor sich irrte und dass dies keineswegs eine Illusion war. Ganz und gar glauben konnte er es immer noch nicht.
»Eigentlich müsste Hirad längst tot sein«, murmelte der Unbekannte. Er befingerte nervös seinen Schwertknauf. »Warum hat er ihn noch nicht getötet?«
»Wir glauben, dass sie miteinander reden«, erklärte Denser.
»Was?« Ilkar konnte nichts hören. Soweit er es sehen konnte, starrten die beiden einander nur an. Doch dann konnte Ilkar, der ein gutes Auge hatte, erkennen, dass Hirad den Kopf schüttelte und sich aufrichtete, damit er die Hände vom Boden nehmen und eine Geste machen konnte. Hirad deutete hinter sich und sagte etwas, doch der Magier konnte die Worte nicht verstehen. Der Drache legte den Kopf schief, öffnete den Mund und entblößte ein gefährliches Spalier von Reißzähnen. Speichel tropfte auf den Boden, und Hirad zuckte zusammen.
»Wen meinst du mit ›wir‹?«, wollte Sirendor wissen. Denser antwortete nicht.
»Später, Sirendor«, sagte der Unbekannte. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Und zwar schnell.«
»Was, zum Teufel, haben die beiden da bloß zu besprechen?« Darauf wusste niemand eine Antwort. Ilkar beobachtete weiter die unwirkliche Szene in der riesigen Kammer, dann erregte ein Funkeln seine Aufmerksamkeit. Zunächst nahm er an, es sei ein Reflex auf den wundervollen Schuppen des Drachen, doch die Spiegelung war nicht golden, sondern sah eher nach Stahl oder Silber aus.
Er schaute genauer hin und nutzte die hervorragende Sehkraft seiner Augen, dann sah er es: eine kleine Scheibe, nicht größer als eine Handfläche, die mit einer Kette an der großen Kralle eines Hinterlaufs befestigt war. Er machte Denser darauf aufmerksam.
»Wo?«, fragte der andere Magier.
»Am rechten Fuß, dritte Kralle.« Ilkar deutete darauf. Denser schüttelte den Kopf.
»Du hast gute Augen, was? Warte.« Denser murmelte einige Worte und rieb sich mit dem Daumen über die Augen. Er sah noch einmal hin und erschrak.
»Was ist los? Versuche ja nicht …«
»Bete nur, dass Hirad das Gespräch in Gang hält«, sagte Denser. Wieder murmelte er irgendetwas.
»Was redest du da?«, zischte Ilkar. »Was hast du gesehen?«
»Vertrau mir. Ich kann ihn retten«, sagte Denser. »Und halte dich bereit wegzurennen.« Er machte einen Schritt und verschwand.
»Hör mal, das alles hier ist für mich wirklich schwer zu verstehen«, erklärte Hirad. Der Drache legte den Kopf auf die Seite und streckte den Unterkiefer ein wenig vor. Ein Speichelfaden tropfte von einem Reißzahn, und Hirad zog unwillkürlich das Bein zurück, um ihm auszuweichen.
»Erkläre mir, was du damit meinst«, verlangte der Drache; der Befehl umging die Ohren des Barbaren und dröhnte direkt in seinem Schädel.
»Nun ja, du musst verstehen, dass ich mir in meinen wildesten berauschten Träumen niemals ausgemalt hätte, ich könne jemals hier sitzen und mit … mit einem Drachen reden.« Er machte eine Geste und zog die Augenbrauen hoch. »Ich meine, ich …« Er unterbrach sich. Der Drache hatte die Nüstern gebläht und atmete aus, dass Hirads Haare nur so flatterten. Er musste sich zusammenreißen, um sich in diesem fauligen, bitteren Gestank nicht zu übergeben.
»Und jetzt?«, fragte der Drache.
»Ich habe schreckliche Angst.« Hirad fror. Er schauderte immer noch und fühlte sich, als gefröre der Schweiß auf seiner Haut, doch im Raum war es heiß, sehr heiß. Auf zehn Gitterrosten knisterten und knackten im hinteren Teil des Raumes zehn große Feuer und umgaben den Drachen auf drei Seiten. Das Ungeheuer selbst schien auf weichem Schlamm zu ruhen. Hirad stützte sich wieder auf die Hände.
»Furcht ist vernünftig. Ebenso vernünftig ist es zu wissen, wann du besiegt bist. Nur deshalb bist du noch am Leben.« Der linke Flügel des Drachen zuckte. »Nun sage mir, was du hier willst.«
»Wir haben jemanden verfolgt. Er ist hier hereingekommen.«
»Ich dachte mir schon, dass du nicht allein bist. Wen hast du gejagt?«
Der Barbar musste wider Willen lächeln, die ganze Situation war völlig absurd. Er redete mit einem Untier, das es eigentlich nur in Legenden gab, und konnte die Idee nicht ganz abschütteln, dass dies alles nur eine Art von Illusion war. Oder mindestens etwas, für das es eine vernünftige Erklärung gab.
»Einen Magier. Seine Männer haben einen meiner Freunde getötet. Wir wollen ihn fangen. Hast du … hast du jemanden gesehen?«, sagte Hirad. Es ging einfach über seinen Verstand. »Hör mal, es tut mir wirklich leid, aber ich habe Mühe, überhaupt zu glauben, dass du existierst.«
Der Drache lachte, oder jedenfalls gab er einen Laut von sich, den Hirad für Gelächter hielt. Es dröhnte in seinem Schädel wie Wellen, die auf eine Klippe schlagen, und er erbebte und schloss die Augen, als die Schmerzen, die auf den Lärm folgten, sein Gehirn erschütterten. Dann auf einmal waren die Reißzähne nur noch Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, und die Nüstern bliesen ihm heiße Luft in die Augen. Hirad fuhr erschrocken auf, doch bevor er noch richtig begreifen konnte, wie schnell sich der Drache tatsächlich zu bewegen vermochte, zog das Ungeheuer den Kopf hoch und traf ihn an der Kinnspitze. Hirad wurde nach hinten geschleudert und rutschte über den Boden. Benommen blieb er liegen. Er setzte sich wieder auf und rieb sich das Kinn. Blut strömte aus einem tiefen Riss.
»Nun, kleiner Mann, hast du immer noch Mühe zu glauben, dass ich existiere?«
»Ich … nein, wohl nicht.«
»Das ist auch besser so. Seran glaubt an mich, auch wenn er mich enttäuscht hat. Und deine Freunde hinter der Tür dort, die glauben wohl auch an mich.« Die Stimme des Drachen in seinem Kopf war lauter als zuvor. Hirad stand auf und näherte sich dem Geschöpf wieder. Er schüttelte den Kopf, um den Nebel loszuwerden, der ihn einhüllte.
»Ja, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht beleidigen.« Hirad schlug das Herz bis zur Kehle. Der Drache machte ein neues Geräusch. Es mochte ein Lachen sein, doch dieses Mal klang es irgendwie geringschätzig.
»Immerhin hast du meine Existenz infrage gestellt«, sagte der Drache. »Du hast freilich Glück, dass man mich nicht so leicht beleidigen kann. Oder vielleicht hast du auch Glück, weil ich deine Existenz nicht infrage stelle.« Hirad bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen und nachzudenken, doch es schien keinen Ausweg zu geben. Die einzige Frage war, wie lange er noch am Leben blieb, bevor der Drache es leid war und ihm das Lebenslicht ausblies.
»Ja.« Hirad zuckte mit den Achseln und war bereit zu sterben. »Aber du musst doch verstehen, dass ich mit allem Möglichen gerechnet habe, nur nicht mit dir, als ich diesen Raum betreten habe.«
»Ach.« Belustigung hallte in Hirads Kopf. »Dann habe ich dich also enttäuscht. Vielleicht sollte ich mich bei dir entschuldigen.« Der Drache lachte wieder. Leiser dieses Mal, eher nachdenklich als heiter.
Neben Hirads linkem Ohr raschelte es, dann flüsterte eine kaum vernehmbare Stimme:
»Lass dir nichts anmerken und sage nichts. Ich bin Denser, der Mann, den du verfolgt hast, und ich will dir helfen.« Er hielt inne. »Wenn ich sage, dass du losrennen sollst, dann rennst du, so schnell du kannst. Widersprich mir nicht und sieh dich nicht um.«
»Und nun kleiner Mann, kannst du mir eine Frage stellen.«
»Was?« Hirad blinzelte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Drachen. Er wunderte sich, wie er auch nur für eine Sekunde vergessen konnte, dass das Ungeheuer vor ihm lag.
»Frage mich. Es muss doch etwas geben, das du über mich wissen willst.« Der Drache zog den Kopf ein wenig zurück, und der Hals beschrieb vor dem riesigen Körper einen weiten Bogen.
»Also gut. Warum hast du mich nicht getötet?«
»Weil die Tatsache, dass du dein Schwert weggesteckt hast, dich von allen anderen Menschen, die mir begegnet sind, unterschieden hat. Dadurch bist du interessant geworden, und nur wenige Menschen sind interessant.«
»Wie du meinst. Aber was tust du hier?«
»Ich ruhe aus. Ich erhole mich. Hier bin ich sicher.«
Hirad runzelte die Stirn. »Sicher wovor?« Der Drache regte sich. Er setzte die Hinterbeine ein wenig weiter auseinander, legte den Kopf wieder vor Hirad auf den Boden und sah ihm tief in die Augen. Er blinzelte langsam.
»Auf meiner Welt herrscht Krieg. Wir vernichten unsere Länder, und es ist kein Ende abzusehen. Wenn wir uns erholen und wieder zu Kräften kommen müssen, benutzen wir Zufluchtsorte wie diesen.«
»Und wo genau sind wir hier?« Hirad sah sich in der riesigen Kammer mit der hohen Decke um.
»Immerhin bist du klug genug zu erkennen, dass du dich nicht mehr in deiner eigenen Dimension befindest.«
»Ich habe leider keine Ahnung, was du mit Dimensionen meinst. Ich weiß nur, dass es auf Burg Taranspike keinen Raum von diesen Ausmaßen gibt.«
Der Drache kicherte wieder. »So einfach ist das für dich. Wenn du nur wüsstest, wie viel Mühe es erfordert hat, damit du hier stehen kannst.« Er hob den Kopf ein wenig und schüttelte ihn. Dabei schloss er die Augen, und er hielt sie geschlossen, als er weitersprach. »Nachdem du Serans Zimmer verlassen hattest, hast du ein Ankleidezimmer betreten. Dieses Zimmer liegt in keiner bestimmten Dimension, so wenig wie das Gebetszimmer, das du ebenfalls gesehen haben musst. Wenn du möchtest, dann kannst du es dir als eine Art Korridor zwischen den Dimensionen vorstellen, zwischen deiner und meiner. Es kann nur existieren, wenn die Struktur deiner Dimension intakt bleibt.« Jetzt kam der Kopf wieder näher, und die Drachenflügel stützten sich ein wenig auf den Boden, um die abrupte Bewegung auszugleichen. »Meine Brut dient als Beschützer für eure Welt. Wir sorgen dafür, dass keine feindliche Brut auf euch aufmerksam wird. Wir schützen euch vor dem, was nie hätte geschaffen werden dürfen.«
»Warum macht ihr euch diese Mühe überhaupt?«
»Glaube nicht, dass es um eurer unbedeutenden Völker willen geschieht. Nur wenige von euch haben unsere Achtung verdient. Es ist einfach so, dass wir unsere Zuflucht verlieren, wenn wir euch erlauben, die Mittel zu finden und anzuwenden, mit denen ihr euch selbst zerstören könntet. Deshalb wird auch die Tür zu eurer Welt verschlossen gehalten. Andere Bruten könnten sonst den Wunsch verspüren, hierherzureisen und zu herrschen.«
Hirad dachte einen Augenblick darüber nach. »Dann gibst du mir also zu verstehen, dass du unser aller Zukunft beherrschst.«
Der Drache zog die Knochenwülste hoch, die ihm als Augenbrauen dienten. »Das ist gewiss eine Schlussfolgerung, zu der du kommen magst. Aber sage mir, wie lautet dein Name?«
»Hirad Coldheart.«
»Und ich bin Sha-Kaan. Du bist stark, Hirad Coldheart. Es war richtig, dass ich dich verschont und mit dir gesprochen habe. Ich werde dich wiedererkennen. Aber jetzt muss ich ruhen. Nimm deine Gefährten und geh. Der Eingang wird hinter dir versiegelt werden. Du wirst mich nie wiederfinden, aber ich finde vielleicht dich. Und was Seran angeht, so muss ich einen anderen suchen, der mir dient. Ich habe keinen Bedarf an Drachenleuten, die nicht die Sicherheit meines Zufluchtsortes gewährleisten können.«
Der Barbar brauchte mehrere Herzschläge lang, bis er verstand, was er gerade gehört hatte, doch glauben konnte er es immer noch nicht. »Du lässt mich gehen?«
»Warum denn nicht?«
»Lauf, Hirad. Renne jetzt weg.«
Der Drachenkopf kam rasch vom Boden hoch, die Augen loderten und suchten nach dem neuen Sprecher. Doch Denser blieb unsichtbar. Hirad zögerte.
»Lauf!«, rief Denser. Seine Stimme ertönte irgendwo links neben Hirad.
Der Barbar schaute zu Sha-Kaan hoch, und ihre Blicke begegneten sich kurz. Er sah wilde Wut. »Oh, nein«, keuchte er. Der Drache wandte den Blick ab und schaute auf sein rechtes Hinterbein. Hirad drehte sich um und rannte los.
»Nein!« Jetzt war Sha-Kaans Stimme für alle zu hören. Laut hallte sie zwischen den Wänden. »Gib mir zurück, was du mir gestohlen hast!«
»Hier drüben!«, rief Denser, und als Hirad nach rechts schaute, tauchte der Magier ungefähr dreißig Schritte vor der Doppeltür kurz auf. Der Drache legte den Kopf schief und hauchte in Richtung des Magiers. Das Feuer versengte eine Wand, wallte über die Decke und entzündete Holz und Wandbehänge, doch Denser war bereits verschwunden. Die Hitze hüllte Hirad ein wie eine undurchdringliche Wolke. Er stolperte, schrie auf und schnappte nach Luft. Das Brüllen der Flammen und die Explosionen in der Luft schüttelten ihn durch. Der ganze Saal schien jetzt zu brennen, Schweißperlen standen ihm im Gesicht. Durch den Rauch und die brennenden Wandbehänge sah er den Unbekannten in der Tür erscheinen. Er hielt sie vorsorglich auf. Ein Schatten huschte hindurch, dann hörte Hirad den Drachen hinter sich auf die Beine kommen. Der Unbekannte erbleichte.
»Lauf, Hirad, lauf!«, schrie er. Der Drache machte einen Schritt, dann noch einen. Hirad spürte, wie der Boden unter den Füßen des Ungeheuers erbebte.
»Gebt mir zurück, was ihr mir gestohlen habt!«, brüllte der Drache. Hirad erreichte die Tür.
»Sperre sie zu!«, rief der Unbekannte. Er und Sirendor lehnten sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. »Geht jetzt, geht!« Sie eilten zur Tür, die zum mittleren Saal führte. Ilkar und Denser rannten vorneweg, Sirendor folgte ihnen. Sha-Kaan spuckte Feuer gegen die schwere Doppeltür, die nach innen zerbarst. Fetzen aus Holz und Metall prallten gegen die Wände und zersplitterten noch einmal, wurden verbogen und blieben schmorend liegen. Die Erschütterung ließ Hirad straucheln, und er prallte gegen die Wand, die die Rückfront des kalten Kamins bildete. Brennende Holzstücke bedeckten den Boden und seine Stiefel, und er fürchtete, in der gewaltigen Hitze zu ersticken. Benommen blieb er einen Augenblick liegen und hatte nichts außer den Flammen vor Augen, dann schaute er auf und sah Sha-Kaan, der schon wieder einatmete und den Kopf durch die Trümmer der geborstenen Tür steckte.
Der Barbar schloss die Augen und war sicher, sein letztes Stündlein habe geschlagen, doch dann langte eine Hand um die Ecke, packte ihn am Kragen, zog ihn auf die Beine und beförderte ihn durch die Doppeltür in den mittleren Saal. Der Unbekannte zerrte ihn unter den überhängenden Feuerrost, und dann schossen zwei brennende Lanzen durch die Türen links und rechts von ihnen, verbrannten das Holz und erreichten die hintere Wand, wo das Metall des Drachenwappens über dem rechten Kamin schmolz.
»Komm schon, Hirad, wir müssen hier verschwinden«, sagte der große Krieger. Er schob Hirad zum Eingang, den anderen Gefährten hinterher.
»Bringt das Amulett zurück!«, brüllte Sha-Kaan. »Hirad Coldheart, bringe das Amulett zurück!« Hirad zögerte noch einmal, doch der Unbekannte schob ihn gerade rechtzeitig in den Gang, bevor eine weitere Feuerlanze durch den großen Raum stach und die Hitze ihnen den Atem raubte und das Haar versengte.
»Rasch!«, rief Sirendor von vorne. »Der Ausgang schließt sich, wir können es nicht aufhalten.«
Die beiden Männer verdoppelten ihre Geschwindigkeit und rannten den Gang hinunter bis ins Ankleidezimmer. Eine weitere Flammenwand lief durch den Gebetsraum, die Ausläufer drangen sogar bis in den Gang vor und leckten an Hirads Rücken, so dass sein Lederpanzer Falten warf. Ein Stück weiter den kurzen Eingangstunnel hinunter konnte er Ilkar sehen, der mit ausgebreiteten Armen schwitzend im Licht einer Laterne stand und mit einem Zauberspruch die Tür offen hielt. Doch die Tür schloss sich gerade eben noch ein weiteres Stückchen. Ilkar seufzte und schloss die Augen.
»Er schafft es nicht!«, rief Denser. »Er schafft es nicht! Lauft schneller!« Die Tür glitt zu, und mit jedem Rucken verschwand ein Stückchen von der Schlafkammer des Magiers. Sha-Kaans Heulen hallte laut in ihren Ohren. Der Unbekannte und Hirad sprangen durch die Tür und warfen Ilkar ungestüm zu Boden. Hinter ihnen schloss sich die Tür mit einem dumpfen Knall, und die Stimme des Drachen verstummte.
Ilkar, Hirad und der Unbekannte rappelten sich auf und klopften sich den Staub von der Kleidung. Der Barbar bedankte sich mit einem Nicken bei dem großen Mann, der seinerseits zum verschlossenen Eingang hin nickte. Dort war nichts zu sehen, kein Zeichen an der Wand verriet, dass dort jemals eine Tür gewesen war.
»Wir waren in einer anderen Dimension. Ich wusste doch gleich, dass die Proportionen dort nicht gestimmt haben.«
»Eigentlich waren wir nicht in einer anderen Dimension«, korrigierte Ilkar ihn. »Ich denke, wir waren eher zwischen den Dimensionen.« Er kniete sich neben den auf dem Boden liegenden Magier der Burg. »Schau an, schau an«, sagte er. »Dann war Seran also ein Drachenmann.« Er tastete nach dem Puls. »Ich fürchte, er ist tot.«
»Und er soll nicht der Einzige bleiben.« Hirad wandte sich an Denser. »Du hättest wegrennen sollen, solange du noch konntest.« Mit blank gezogenem Schwert ging er auf Denser los, doch dieser zuckte nur mit den Achseln und streichelte die Katze, die er in den Armen hielt.
»Hirad.« Der Unbekannte sprach leise, aber sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. Der Barbar blieb stehen, den Blick immer noch auf Denser gerichtet. »Die Schlacht ist vorbei. Wenn du ihn jetzt tötest, ist es Mord.«
»Sein kleines Abenteuer hat Ras getötet. Es hätte auch mich umbringen können. Er …«
»Vergiss nicht, wer du bist, Hirad. Wir haben einen Ehrenkodex.« Der Unbekannte trat zu ihm. »Wir sind der Rabe.«
Schließlich nickte Hirad und steckte das Schwert wieder in die Scheide.
»Außerdem«, warf Ilkar ein, »hat er eine Menge zu erklären.«
»Ich habe dir das Leben gerettet«, gab Denser stirnrunzelnd zu bedenken. Hirad stürzte sich sofort auf ihn, drückte seinen Kopf gegen die Wand und presste ihm den Unterarm unter das Kinn. Die Katze fauchte und brachte sich eilig in Sicherheit.
»Du hast mir das Leben gerettet?« Das Gesicht des Barbaren befand sich nur eine Handbreit vor dem des Magiers. »So drückst du es also aus, wenn ich beinahe bei lebendigem Leibe verbrannt werde? Der Unbekannte hat mir das Leben gerettet, nachdem du es in Gefahr gebracht hast. Allein dafür hättest du schon den Tod verdient.«
»Aber …«, protestierte der Magier. »Aber ich habe ihn abgelenkt, damit du weglaufen konntest.«
»Das war überhaupt nicht nötig.« Hirad grunzte, als er Densers verwirrten Blick sah. »Er wollte mich gehen lassen, Xetesk-Mann.« Hirad trat einen Schritt zurück und gab den Magier frei, der vorsichtig seinen Hals betastete. »Du hast mein Leben aufs Spiel gesetzt, weil du etwas stehlen wolltest. Ich hoffe, das war es wert.« Er wandte sich an die anderen Mitglieder des Raben.
»Ich weiß auch nicht, warum ich meine Zeit mit diesem Bastard vergeude. Wir müssen uns um die Totenwache kümmern.«
Alun schob mit zitternden Händen die Nachricht über den Tisch. Andere Hände legten sich über seine, stark und tröstend.
»Versuche dich zu beruhigen, Alun. Wenigstens wissen wir, dass sie am Leben sind, also haben wir noch eine Chance.«
Alun betrachtete das Gesicht seines Freundes Thraun, der sich auf der anderen Seite hinter den Tisch gequetscht hatte. Thraun war ein Riese, mehr als sechs Fuß groß, mit starken Schultern und muskulösem Oberkörper. Sein Gesicht war jugendlich, und sein sauberes, hellblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der halb bis zur Hüfte reichte. Er betrachtete Alun ernst und besorgt mit aufmerksamen dunkelgrünen Augen.
Dann bewegte er abrupt den Kopf, so dass der Pferdeschwanz pendelte, und sah sich im Gasthof um. Jetzt, zur Mittagsstunde, herrschte reichlich Betrieb, und ringsum waren die Gespräche der Gäste zu hören. Einige Tische standen auf dem Holzboden im Raum, außerdem gab es Nischen, in denen man ungestört reden konnte. Sie hatten sich in eine dieser Nischen zurückgezogen.
»Was steht hier, Will?« Thrauns Stimme, die so tief und knirschend war, wie sein Fass von Brustkorb vermuten ließ, riss Alun aus seiner Trübsal. Thraun zog die Hände von Aluns Händen zurück. Will saß direkt neben ihm, ein kleiner Mann, drahtig, mit wachen Augen, schwarzem Bart und schütterem Haupthaar. Will zupfte sich mit Daumen und Zeigefinger nachdenklich an der Nase, während er stirnrunzelnd las.
»Nicht sehr viel: Deine Magierfrau wurde wegen der Aktivitäten des Dordover-Kollegs zum Verhör abgeholt. Sie wird unversehrt wieder freigelassen, wenn sie mit uns zusammenarbeitet, ebenso deine Söhne. Es wird keine weiteren Mitteilungen geben.«
»Dann wissen wir also wenigstens, wo sie ist«, sagte der dritte Angehörige des Trios, das Alun um Unterstützung gebeten hatte. Der Elf Jandyr war jung, er hatte ein langes und schmales Gesicht, klare blaue Mandelaugen und einen kurzen, sauber gestutzten blonden Bart, dessen Farbe dem ebenfalls kurzgeschnittenen blonden Haupthaar entsprach.
»Ja, das wissen wir«, stimmte Thraun zu. »Und wir wissen auch, wie sehr wir den Worten dieser Nachricht vertrauen können.« Er leckte sich die Lippen und schaufelte sich eine Gabel Essen in den Mund.
»Ihr müsst mir helfen!« Alun sah verzweifelt von einem zum anderen, sein unsteter Blick kam nirgends zur Ruhe. Thraun erwiderte seinen Blick, Will und Jandyr nickten.
»Das werden wir tun«, versprach Thraun, während er kaute. »Und wir müssen uns beeilen. Die Chance, dass sie tatsächlich freigelassen werden, ist äußerst gering.« Alun nickte.
»Glaubst du wirklich?«, fragte Will.
»Die Zwillingsjungen sind Magier«, erklärte Thraun. »Sie werden viel Macht haben, und sie sind dordovanisch. Alun könnte es euch auch selbst erklären. Wenn die Entführer mit Erienne fertig sind, dann werden sie vermutlich auch die Jungen töten. Wir müssen sie rausholen.« Er wandte sich wieder an Alun. »Es wird aber nicht billig.«
»Was es auch kostet, es ist mir egal.«
»Ich bin natürlich bereit, für dich umsonst zu arbeiten«, sagte Thraun.
»Nein, mein Freund, das wirst du nicht.« Alun lächelte unsicher, Tränen glitzerten in seinen Augenwinkeln. »Ich will sie wieder bei mir zu Hause haben.«
»Sie werden bald wieder bei dir sein. Aber jetzt«, sagte Thraun, »jetzt bringe ich dich erst einmal nach Hause. Du musst ruhen, wir müssen planen. Ich melde mich später wieder bei dir.«
Thraun stützte Alun beim Aufstehen, dann verließen die beiden Männer langsam den Gasthof.
Richmond und Talan hatten Ras’ Leichnam in eine stille Kammer getragen, die aus dem nackten Fels, auf dem die Burg stand, gehauen worden war. Neben dem Toten brannten Kerzen, eine für jede Himmelsrichtung auf dem Kompass. Das Gesicht war gereinigt und rasiert, seine Rüstung geflickt und gewaschen, die Arme lagen ausgestreckt an seiner Seite, und das Schwert ruhte in der Scheide auf ihm; es reichte vom Kinn bis zu den Schenkeln.
Richmond, der bei ihm kniete, schaute nicht auf, als Hirad, Sirendor, der Unbekannte und Ilkar den Raum betraten. Talan, der an der Tür stand, begrüßte die anderen mit einem Nicken.
So standen die Rabenkrieger mit gesenkten Köpfen rings um Ras, der auf dem Tisch lag, und erwiesen ihrem gefallenen Freund die letzte Ehre. Jeder hatte seine Erinnerungen, jeder trauerte. Aber nur zwei ergriffen das Wort.
Als die Kerzen heruntergebrannt waren, stand Richmond auf und steckte sein Schwert wieder in die Scheide.
»Ich verpflichte mich dir und deinem Gedenken mit Leib und Seele. Ich bin dein, wenn du mich aus dem Jenseits hinter den Schleiern des Todes rufst. Wann immer du deine Stimme erhebst, ich werde dir folgen. Solange ich atme, soll dieses Versprechen gelten.« Die letzten Worte kamen nur noch als bitteres Flüstern heraus. »Ich war nicht da, als ich gebraucht wurde. Es tut mir leid.« Er blickte zum Unbekannten, der nickte und an den Tisch trat, um ihn einmal zu umrunden. Beginnend mit Ras’ Kopf löschte er nacheinander die Kerzen.
»Im Norden, im Osten, im Süden und im Westen. Auch wenn du fort bist, wirst du immer zum Raben gehören, und wir werden dich nie vergessen. Die Götter sollen lächelnd auf deine Seele herabschauen. Gut soll es dir ergehen bei allem, was dir jetzt und in der Ewigkeit noch begegnen mag.«
Schweigend blieben die Männer noch eine Weile in der Dunkelheit stehen.
Denser war in Serans Gemächern geblieben. Der tote Magier war, mit einem Laken bedeckt, auf seinem Bett aufgebahrt. Denser konnte nicht begreifen, warum er selbst noch am Leben war, doch er war dankbar dafür. Ganz Balaia sollte dankbar sein, doch keine Stadt war dankbarer als Xetesk, dass der Barbar aufgehalten worden war.
Die Katze schmiegte sich an seine Beine. Denser ließ sich an einer Wand hinabsinken und setzte sich auf den Boden.
»Ich frage mich, ob es wirklich das Richtige ist«, sagte der Magier, der das Amulett immer und immer wieder in den Händen drehte. »Ich glaube, es ist das Richtige, aber ich muss es genau wissen.« Die Katze sah ihm in die Augen, hatte aber keine Meinung dazu. »Die Frage ist allerdings, ob wir die Kraft dazu haben.« Die Katze sprang in seinen Mantel und schmiegte sich an Densers warmen Körper.
Sie nährte sich.
»Ja«, sagte Denser. »Ja, wir haben die Kraft.« Er schloss die Augen und spürte, wie sich das Mana um ihn sammelte. Es war ein schwieriges Unterfangen, doch er musste Gewissheit haben. Über eine solche Entfernung eine Kommunion zu halten, war anstrengend für Geist und Körper. Wissen und Ruhm kosten stets ihren Preis, sofern sie überhaupt kommen wollen.
Sie beerdigten Ras außerhalb der Burgmauern und markierten das Gelände mit dem Zeichen des Raben – ein einfacher Umriss vom Kopf des Vogels, das Auge vergrößert und der Flügel über den Kopf gereckt.
Alle außer Richmond verließen müde und hungrig die Grabstätte. Der einsame Krieger, der in der windigen, mondlosen Nacht auf der klammen Erde kniete, wollte bis zur Morgendämmerung Nachtwache halten.