Scheitert der Westen? - Wolfgang Schäuble - E-Book

Scheitert der Westen? E-Book

Wolfgang Schäuble

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Beschreibung

Nicht zuletzt die politische Krise um den Irak-Krieg hat gezeigt, wie tief das Zerwürfnis innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft ist. Wolfgang Schäuble analysiert die Stellung Deutschlands und Europas in einer Welt, in der der Westen, seine Traditionen, seine Wertvorstellungen zunehmend in Frage gestellt werden. Mit seinem überzeugenden, aufrüttelnden und Mut machenden Plädoyer für ein selbstbewusstes Deutschland in einem starken Europa erweist sich Wolfgang Schäuble auch über Partei- und Landesgrenzen hinweg als eine der wichtigsten politischen Stimmen unseres Landes.

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Inhaltsverzeichnis
 
Vorwort
Einleitung
 
1. Vom 9. 11. zum 11. 9. - Das Interregnum des Marktes
 
Copyright
Vorwort
Henry A. Kissinger
Die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges ist gekennzeichnet durch eine Reihe von Paradoxien. Volkswirtschaften sind durch Technologie und Kommunikation eng vernetzt und dadurch gemeinsam verletzlich gegenüber Schwankungen, die notwendig zur Marktwirtschaft gehören. Gleichzeitig erwarten die Menschen in den verschiedenen Demokratien von ihren Regierungen Schutz vor eben diesen Schwankungen durch Maßnahmen, die außerhalb des Marktmechanismus liegen. Eine ganze Reihe fundamentaler Umwälzungen sind die Folge von demografischen Verschiebungen, von Klimawandel und der Veränderung menschlicher Wahrnehmung, hervorgebracht von einer Technologie, die noch eine Generation zuvor unbekannt war. Was der Welt jedoch fehlt sind Institutionen, die die Herausforderungen jenseits von reinem Krisenmanagement annehmen. Das Ende des Bedrohungsszenarios des Kalten Krieges und das Entstehen radikal neuer Gefahren begründen die Notwendigkeit einer Neudefinition des aus dem Kalten Krieg stammenden Verständnisses von Sicherheit. Die Diskussionen um Unilateralismus versus Multilateralismus zeigen, dass sich das Verständnis von gemeinsamen Interessen nicht mehr so deckungsgleich gestaltet wie zu der Zeit, als die Allianzen geschlossen wurden.
Die vergangenen Jahrzehnte haben eine triumphale Ausbreitung von Demokratie in vielen Teilen der Welt hervorgebracht. Gleichzeitig wuchsen in derselben Zeit neue Bedrohungen für die Beständigkeit von Demokratien, und zwar durch aufkeimenden Fundamentalismus in vielen Teilen des Globus.
Es ist die Aufgabe eines Staatsmannes, seine Gesellschaft von einer vertrauten Gegenwart in eine ungewisse Zukunft zu führen. Dies ist eine recht einsame Aufgabe, die den Willen voraussetzt, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Es liegt aber in der Natur des modernen demokratischen Staates, das aktuell Naheliegende dem wirklich Wichtigen vorzuziehen und das gegenwärtig Populäre gegenüber dem, was mit Blick auf die Zukunft langfristig notwendig erscheint. Diesen Zwiespalt zu überbrücken ist die wichtigste Aufgabe gegenwärtiger Politik.
Es ist zu würdigen, dass sich Dr. Schäuble dieser Herausforderung gestellt hat. Als eine führende Persönlichkeit in der zweiten Generation deutscher Nachkriegspolitiker befand er sich als Minister in der Übergangsphase am Ende des Kalten Krieges und während der deutschen Wiedervereinigung in Schlüsselpositionen. Als Teil der Generation, die die Übergangsphase von der Überwindung der Hinterlassenschaften des Weltkrieges hin zu einer Position des Ansehens für Deutschland innerhalb europäischer und globaler Politik gestaltet hat, wirkte er klug und konstruktiv sowohl an den nationalen wie internationalen Debatten mit, welche die Welt, in der wir heute leben, geprägt haben. Mit diesem Buch hat er eine Zukunftsvision entwickelt für sein Land, für Europa, für die transatlantischen Beziehungen und für das Verhältnis von Industrie- und Entwicklungsländern. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht auf taktischen Lösungen, sondern auf grundlegenden Konzepten.
Veröffentlicht zu einer Zeit, in der die transatlantischen Beziehungen neu ausgelotet werden, in der sich Europa in einem Zustand von Evolution befindet und in der Deutschland versucht, sich dieser neuen Dynamik anzupassen, ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag. Und für jene Amerikaner, die ihr Schicksal untrennbar mit dem Schicksal Deutschlands verbunden sehen, ist es ermutigend, eine Sichtweise kennenzulernen, die trotz gewisser Vorbehalte bestätigt, dass die gemeinsamen Anstrengungen der Vergangenheit die Grundlage bilden sollten für die noch wichtigere Zukunft.
Einleitung
Ich bin kein Schwarzseher. Meines Erachtens gehört ein Mindestmaß an Zuversicht zur notwendigen Grundausstattung jedes Menschen, der sich politisch engagieren möchte. Nur der Mutige gestaltet die Zukunft. Aber es mangelt mir auch nicht im nötigen Maß an Realitätssinn, um zu bemerken, dass sich die Welt wie auch Deutschland zwischen dem 9. 11. 1989 und dem 11. 9. 2001 und besonders danach weniger positiv entwickelt haben, als sich das viele nach dem Fall der Berliner Mauer erhofft hatten. In keinem Fall ist die Welt stabiler geworden, weniger bedroht. Das vereinte Deutschland im Jahr 2003 wirkt weniger glücklich, als man das 1990 vielleicht hätte voraussehen mögen. Der Westen als Gemeinschaft der freien, demokratisch verfassten Völker und Nationen Europas und Amerikas scheint noch ohne Konzeption für seine Rolle auf der Bühne der Weltpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu sein.
Deutschland steckt in einer der bedrohlichsten Wirtschaftskrisen der Nachkriegsgeschichte und tut sich sehr schwer bei der Bewältigung seiner Strukturprobleme. Das Land schlingert in dieser Krise, weil es kein politisches Leitbild und keine Zukunftsvision gibt, die es der Bevölkerung erleichtern würden, die dringend benötigten Reformschritte als zukunftssichernd zu begreifen. Das Problem ist gar nicht so sehr, dass falsche Entscheidungen getroffen werden. Die Orientierungslosigkeit entsteht eher dadurch, dass oftmals gar keine oder nur sehr unzureichende Entscheidungen getroffen werden, obwohl mittlerweile jedem vor Augen steht, dass ein nicht mehr steuerbares Schiff Deutschland auf ein Riff zuläuft.
Global entwickeln sich die Dinge nicht wesentlich anders: Weite Teile Afrikas - wie beispielsweise Liberia oder der Kongo mit einer Landmasse von der Größe Westeuropas - versinken im Chaos. Scheinbar niemand, der dazu im Westen die Möglichkeiten hätte, handelt oder interveniert effektiv, weil die Bereitschaft, sich dort zu engagieren und sich damit auch entsprechender internationaler Kritik auszusetzen, nicht in ausreichendem Maße vorhanden ist. In Ruanda war die Sachlage im Jahr 1994 nicht anders, und das Ergebnis waren Hunderttausende von Toten. In Afghanistan und im Irak sind zwar die schlimmsten Exzesse totalitärer Herrschaft beendet worden, die Gestaltung der Freiheit und die Errichtung einer friedlichen Nachkriegsgesellschaft kommen aber nicht recht voran. Darüber hinaus tut sich die Staatengemeinschaft bei der Definition einer tragfähigen Weltordnung für das 21. Jahrhundert schwer. Es bleibt unklar, wer in Zukunft welche Rolle spielen soll, wer Verantwortung tragen wird für die Entwicklung der Welt und wie das Miteinander der Menschheit geregelt werden soll. Der Eindruck einer führungs- und konzeptionslosen Welt macht sich breit.
Stagnation ist viel lähmender als eine Fehlentscheidung, weil sie allen Beteiligten das Gefühl der Ohnmacht und der Untätigkeit vermittelt, was jede Gesellschaft und jedes Individuum am Ende handlungsunfähig macht. Politische Führung ist dazu bestimmt, auf bestehende Probleme zu reagieren und nach Lösungswegen zu suchen. Aus der Vielzahl der Lösungen müssen stets einige wenige ausgesucht und trotz ungewissen Ausgangs umgesetzt werden. In diesem Prozess sind immer auch Fehler und Fehlentwicklungen zu erwarten, denn kein politisches System ist unfehlbar, kein Politiker kann alle Probleme auf einmal lösen. Allerdings drängt sich dem Beobachter manchmal der Eindruck auf, dass gerade die Verantwortungsträger in den westlichen Staaten nicht zuletzt wegen der großen Bedeutung der Medien sich vor Entscheidungen drücken oder sie hinauszögern, aus Angst vor der Reaktion der Betroffenen und aus der falschen Wahrnehmung, dass das Ausbleiben von sofortiger Zustimmung sogleich einem politischen Versagen gleichkommt. Das Gegenteil ist der Fall. Zustimmung muss erkämpft werden. Sie muss in einem zähen Ringen um die öffentliche Meinung erstritten werden. Nur so stellt sich effektive nationale wie internationale politische Führung ein. Die politischen Führer der freien Demokratien des Westens sollten hierbei nicht den Fehler machen, zu sehr auf die vermeintliche Orientierungskraft der Demoskopie zu vertrauen. Als man Winston Churchill einmal den Rat gab, bei der inhaltlichen Bestimmung seiner Politik »das Ohr nahe am Boden zu haben«, bemerkte der große Staatsmann nur trocken: »Wie soll denn die britische Nation zu politischen Führern emporschauen, wenn sich diese in einer solchen Körperhaltung befinden?«
Dass unsere Nachbarn von der Insel eine gesunde Skepsis gegenüber der Demoskopie haben, zeigt ein dort weit verbreitetes Bonmot. Es beschreibt eine schwache Führung mit dem Blick auf einen Kommandeur, der die Meinungsbildung innerhalb seiner Truppe abwartet, bevor er klare Befehle gibt, und dies dann mit der Begründung verteidigt: »I have to follow them, I am their leader!« So weit darf es nicht kommen, denn die Lösung unserer großen und kleinen Probleme benötigt auf der Seite der Politik durchaus mehr leadership, mehr Initiative, mehr Mut und Leidenschaft. Bei dieser Kombination stellt sich das nötige Quäntchen Glück dann oft von selbst ein.
 
Was haben nun beide Krisen, die deutsche auf der einen und die globale auf der anderen Seite, trotz ihres völlig unterschiedlichen Ausmaßes gemein? Gibt es eventuell ähnliche politische Wege zu ihrer Lösung trotz kaum vergleichbarer Voraussetzungen? Hier liegen zentrale Fragen und Antworten dieses Buches: Die globale wie die deutsche Krise haben ähnliche Merkmale in der ihnen innewohnenden Mechanik politischer und am Ende höchst menschlicher Prozesse. Sie sind durch vergleichbare Fehleinschätzungen und politische wie wirtschaftliche Entwicklungen entstanden. Sie sind sehr ähnlich, weil sie meines Erachtens Probleme des Westens sind, die die westlichen Staaten individuell und gemeinsam lösen müssen. Die Ursachen der Strukturkrisen in fast allen westlichen Staaten sind miteinander verwandt und lassen auf »Fehler im System« schließen. Das legt die Vermutung nahe, dass auch die Lösungswege beider Krisen nicht völlig unverbunden nebeneinander her verlaufen.
Dieses Buch will versuchen, die deutschen und die globalen Probleme möglichst parallel zu analysieren sowie konkrete Lösungsansätze für beide zu vergleichen.
Deutschland ist ein Teil des Westens und leidet mehr oder minder stark an den Gebrechen und Schwächen aller westlichen Staaten. Diese Schwächen muss der Westen überwinden, wenn er weiterhin Vorbildfunktion und Führungsrolle in der Welt einnehmen möchte. Wenn man vom Westen spricht, dann doch meist von den freien, demokratischen, rechtsstaatlichen, privatwirtschaftlich geprägten Staaten Nordamerikas und Europas sowie seiner dem britischen Empire entstammenden Ableger wie Australien und Neuseeland. Diese Staaten mit ihren offenen Gesellschaften waren nicht von Natur aus frei, demokratisch, rechtsstaatlich und privatwirtschaftlich, sondern haben sich ihre Eigenschaften über Jahrhunderte mit unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten und Erfolgsgraden erkämpft. Erkämpft im Streit zwischen Bürger und Staat, zwischen Individuum und Kollektiv, erkämpft aber auch gegen religiöse und ideologische Machtansprüche. Die Geschichte der politischen Emanzipation des Westens ist vornehmlich eine Geschichte innerer Kämpfe um das rechte Maß an Freiheit und Ordnung. Diese Geschichte hat bis zum heutigen Tag der Welt einen nie gekannten Entwicklungsgrad und Wohlstand gebracht. Erbe und Auftrag des Westens ist es, diese Entwicklung friedlich mit allen anderen Gesellschaften der Welt zu teilen und zu einer gleichmäßigen und nachhaltigen Entwicklung der ganzen Welt beizutragen. An dieser Aufgabe wird der Westen als Staaten- und Wertegemeinschaft in den kommenden Jahrzehnten gemessen werden, und daran darf er nicht scheitern, wenn wir unsere eine Welt weiterentwickeln wollen. Scheitern kann der Westen nur dann, wenn er sich dieser aus seiner Herkunft und Geschichte rührenden Verantwortung für die Zukunft nicht bewusst ist.
Da der Westen insgesamt immer nur so stark sein wird wie die Summe seiner ihn konstituierenden Mitglieder, kommt der Gesundung seines Staats- und Gesellschaftswesens in einem Land wie Deutschland eine Bedeutung zu, die über den eigenen Bereich noch hinausgeht. Gesundung und Entwicklung Deutschlands sind daher nicht nur Selbstzweck, sie tragen auch zur Stärkung des Westens und seiner Gestaltungsfähigkeit in der Welt bei. Auch in diesem Sinne sind die hausgemachten Probleme mit den globalen verzahnt und bedürfen eines durchdachten Lösungsweges.
Natürlich zeitigt nicht alles, was in Deutschland funktionieren kann und für deutsche Verhältnisse entwickelt wird, auch auf globaler Ebene Wirkung und umgekehrt. Dennoch bin ich der Meinung, dass Deutschlands Herausforderungen zwar in einem bestimmten nationalen Kontext stehen, dass die Werkzeuge zu ihrer Lösung jedoch auch global greifen können et vice versa. Dies ist nicht als Neuauflage eines kolonialen »An unserem Wesen soll die Welt genesen« misszuverstehen, im Gegenteil: Mit einem erheblichen Maß an Bescheidenheit können wir Deutsche aus eigenen Fehlern lernen und genauso fremde Erfahrungen für uns und andere nutzbar machen. Hier schließt sich der Kreis mit Blick auf den Titel dieses Buches: Der Erfolg des Westens ist eben dann bedroht, wenn seine verschiedenen Teile es nicht schaffen, ihre eigenen nationalen Probleme zu lösen. Gelingt ihnen dies nicht, führen die Konsequenzen dieses Unvermögens auf globaler Ebene im Zweifel zu mehr Konflikten und Auseinandersetzungen.
 
Das vorliegende Buch beruht auf zwei Grundhaltungen, die zwar keineswegs neu, aber hochaktuell sind. Beide finden sich als Inschrift im Apollotempel zu Delphi: Erkenne dich selbst - Gnoti seauton - und Nichts im Übermaß - Meden agan.
Die Suche nach Erkenntnis im Bewusstsein der eigenen Grenzen und das Maßhalten als Leitlinie menschlichen Handelns sind aus meiner Sicht die entscheidenden Fähigkeiten zur Lösung gesellschaftlicher Probleme, weil sie Fortschritt ermöglichen, ohne zu Selbstüberhebungen zu führen. Probleme - ob nun globale, nationale oder individuelle - können nur diejenigen lösen, die zunächst in der Lage sind, sie zu erkennen. Und mit einer adäquaten Problemdiagnose kann nur sinnvoll umgehen, wer maßvoll und abwägend Lösungsvorschläge umzusetzen weiß. Gerade nach dem Ende des Kalten Krieges bis hin zum 11. 9. 2001 schienen viele der Meinung zu sein, dass die Welt nun ihre großen Probleme bewältigt habe und der Mäßigung in Zeiten eines scheinbar grenzenlosen Wachstums nicht mehr bedürfe. Dem ist aber mitnichten so, wie ein Blick auf eine von Bedrohungen, Konflikten und Rezessionen geprägte aktuelle Weltlage zeigt.
Vor diesem Hintergrund werde ich mich im ersten Kapitel der Periode zwischen dem 9. 11. 1989 und dem 11. 9. 2001 zuwenden, um vor der Suche nach Lösungsansätzen zunächst ein Problembewusstsein dafür zu entwickeln, was sich in dieser außergewöhnlichen Dekade abgespielt hat. Diese Periode muss gerade im Westen als ein »Interregnum des Marktes« wahrgenommen werden, in der die entwickelte, globalisierte und sich immer schneller verändernde Welt losgelöst von staatlicher Einflussnahme und mit einem auf das rein Wirtschaftliche bezogenen vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens auszukommen schien. Die Bill Gates oder Jerry Yangs dieser Welt, so die damals vorherrschende Meinung, würden die Dinge schon richten und weltweiten Wohlstand garantieren. Aber diese Vision zerschellte zunächst an den Börsen und schließlich an zwei Bürotürmen in New York. Der kraftstrotzende Koloss Globalisierung wurde über Nacht zum ängstlichen Atlas, der nun wieder nach Sicherheit, Orientierung und auch staatlicher Führung rief, damit er beim Tragen seiner Last unterstützt werde. Hier stellt sich eine der zentralen Fragen unserer aktuellen Befindlichkeit: Wie konnte es nur zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges zu einer weltpolitischen Situation kommen, in der sich Menschen durch Terror bedroht fühlen, Volkswirtschaften nicht mehr wachsen und der Ruf nach einem starken Staat vielerorts lauter wird? Warum hat sich gerade für uns Deutsche als diejenigen, die mit der Wiedervereinigung gesegnet wurden, die Lage im europäischen Maßstab so dramatisch verschlechtert? Welche Fehleinschätzungen lagen unserem Handeln zugrunde, und wie können wir sie korrigieren?
Im zweiten Kapitel ist der Prozess der zunehmenden Globalisierung als die dritte kapitalistische Revolution zu analysieren, die nach der Dampfmaschine und dem Erdöl den Computer zum Motor wirtschaftlichen Wachstums machte.
Wie hängen die geschichtlich beispiellose Industrialisierung und die damit verbundene wirtschaftliche Expansion im 19. und 20. Jahrhundert sowie der Einzug des Informationszeitalters zusammen? Wie haben diese Prozesse die Entwicklungen des letzten Jahrzehnts beeinflusst? Welche Chancen und Gefahren, welche Nebenwirkungen hat die Globalisierung offenbart, und wie gehen wir im Westen mit diesem Prozess um?
Im darauf folgenden dritten Kapitel soll nach der Beschreibung der momentanen ökonomischen und politischen Situation eine grundlegende Ursachenforschung betrieben werden, um zu realisierbaren Lösungswegen zu kommen: Fehler werden am Ende nicht von Staaten oder Institutionen, sondern von den in ihnen eingebundenen und vernetzten Individuen gemacht. In welchen Handlungsparametern agieren diese Individuen, und an welchen scheitern sie?
»Ich bin ein Mensch, mir ist nichts Menschliches fremd«, lässt Terenz eine seiner Hauptfiguren sagen. Politische oder gesellschaftliche Gruppen, denen der Kern dieses Menschlichen fremd und unzugänglich bleibt, können ihre Umwelt weder verstehen noch deren Probleme lösen. Welches Menschenbild liegt unserer Gesellschaft als Teil des Westens zugrunde? Was trägt es, was tragen wir zum Problem und was zur Lösung bei? Oder besser: Erkenne dich selbst!
Sodann möchte ich der Frage nachgehen, wo wir herkommen und wo wir stehen, als Deutsche, als Europäer und als der Westen. Daher wird in einem vierten Kapitel zunächst Europa als die Heimat Deutschlands und als ein Kontinent, der alle historischen Höhen und Tiefen durchlebt hat, vorgestellt. Aus der Geschichte Europas und aus dem Zusammenspiel seiner vielen Völker und Nationen lässt sich sicherlich viel an Erfahrungen weitergeben, ohne dass es paternalistisch oder oberlehrerhaft wirken muss. Die Notwendigkeit zum Maßhalten, verbunden mit Geduld und Dynamik, sind für mich dabei die Destillate der langen Geschichte Europas und zugleich wesentliche Bestandteile westlichen Denkens und Handelns, die wir in der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts gut gebrauchen können. Gerade im Licht der jüngsten Spannungen in den transatlantischen Beziehungen können die Vereinigten Staaten von Amerika - der andere Pfeiler des Westens - hier viel von Europa lernen, ohne dass Europa - wie in den letzten Monaten - als Lehrmeister auftreten muss.
Im fünften Kapitel werde ich mich deshalb den Lehren und Erfahrungen der Neuen Welt, deren Idealen und ihrer Zuversicht zuwenden, um so die Grundlagen für ein zukünftiges Erfolgskonzept des Westens zu suchen, mit dem man nationale wie globale Probleme angehen kann. Denn auch wir Europäer können von unseren engsten Verwandten, den Bürgern der Vereinigten Staaten von Amerika, vieles lernen, was uns bei der Bewältigung zukünftiger Herausforderungen von Nutzen sein wird, vor allem eben Idealismus und Lebensmut.
Da die Welt aber nicht nur aus dem Westen, aus Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika besteht, will ich im sechsten Kapitel unter der Überschrift »Die Würde des Anderen« den Versuch unternehmen, die Vielfalt unseres Daseins als das eigentlich Faszinierende und das für unser Handeln im 21. Jahrhundert Prägende vorzustellen. Wie kann unsere Welt auf friedliche Weise zusammenwachsen, und wie können wir Konflikte vermeiden, statt an ihnen zu zerbrechen? Die Vielfalt des Lebens in politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, religiöser, kultureller und biologischer Hinsicht wird uns durch die Intensität der Globalisierung täglich bewusster. Wir sind darauf anscheinend unzureichend vorbereitet und sollten doch positiv mit diesem Phänomen umgehen, weil es die Quelle für Fortschritt und Entwicklung der Menschheit ist.
Welche Lehren können und müssen wir aus der Globalisierung und den Ereignissen nach dem 11. 9. im Westen ziehen, um in der Zukunft nicht nur bestehen, sondern auch friedlich zusammenleben zu können? Wie nutzen wir unsere natürlichen, ökonomischen und kulturellen Ressourcen und Erfahrungen so, dass nicht nur wir selbst, sondern möglichst viele andere die Herausforderungen der Globalisierung, von Terrorismus über Aids bis hin zu Umweltproblemen, bewältigen können? Wie schaffen wir es, als Westen vorbildlich aufzutreten und den Dialog der Kulturen anstatt des Kriegs der Zivilisationen zum Leitbild zu erheben? Diesen Fragen will ich im siebten Kapitel nachgehen.
Im letzten Kapitel stellt sich dann die Frage, was das alles für Deutschland außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitisch bedeutet. Welche ist unsere Rolle in der Weltgemeinschaft? Können wir diese wählen, und wie werden wir ihr langfristig gerecht? Wie bewältigen wir kurz- und mittelfristig unsere eigenen gesellschaftlichen Probleme? Was konkret können wir von unseren Freunden und Gegnern in der Welt lernen, und was geben wir diesen umgekehrt zurück?
 
Das vorliegende Buch will trotz aller auf der Welt bestehenden Nöte und Sorgen vor allem ermutigen. Ermutigen zum Lösen von Problemen, zum aktiven Handeln und zum geduldigen und nachhaltigen Umsetzen kleiner Schritte Tag für Tag und auch gegen Widerstände und Hindernisse. Heutzutage stehen viele Menschen an unterschiedlichen Orten der Welt vor ähnlichen Problemen. Ein von Hungersnöten, Krankheiten und Unterdrückung geplagter Bauer in Westafrika hat beispielsweise vermutlich eines gemein mit einem nahezu allmächtigen und mit immenser Ressourcenfülle ausgestatteten Vorstandsvorsitzenden einer global agierenden Bank im Herzen Europas: Beide haben das Gefühl, »nicht mehr Herr der Lage« zu sein. Das verbindet sie, ohne dass sie voneinander wissen. Aus diesem ähnlichen Empfinden stellen beide an die Politik die Frage, ob diese Abhilfe schaffen kann.
Wir dürfen von der Politik und von den Politikern keine Wunder erwarten, aber Mut und Leidenschaft werden schon gebraucht. Mut zur Ehrlichkeit, welche die Fehlbarkeit politischen Handelns nicht schönredet, sich aber auch nicht resignierend mit ihr abfindet. Und Leidenschaft, um dennoch jeden Tag zu handeln, um jeden Tag zu ermutigen und manchmal auch Vorbild zu sein. Das Scheitern der großen Gesellschaftsentwürfe, das Verpuffen ganzer Regierungsprogramme und die häufige Wirkungslosigkeit der ungezählten Regierungskonferenzen, Kommissionen, Expertengruppen und Räte sind kein Beleg für die Vergeblichkeit von Politik. Sie sollten eher Ansporn sein für eine auf den Menschen eingehende, zuhörende und verstehende Politik.
Als frisch gewählter Bundestagsabgeordneter stand ich Ende 1972 in einer Gesprächsrunde junger Abgeordneter mit dem damaligen Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel zusammen. »Reden«, sagte Rainer Barzel, »können Sie alle wohl mehr oder weniger, sonst wären Sie ja nicht hier. Was Sie in Bonn jetzt lernen können und lernen müssen, ist zuhören.« Seitdem habe ich immer wieder den Eindruck gewonnen, dass in der Tat die Fähigkeit zum Zuhören in unseren politischen und gesellschaftlichen Debatten eher gering entwickelt ist. Wer Menschen offen begegnet und ihnen das Gefühl gibt zuzuhören, ermutigt sie. Zuhören in diesem Sinne heißt, die Probleme der Menschen und die Probleme der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Und Lösungen zu suchen bedeutet, auch längerfristige Entwicklungen und Folgen ins Blickfeld zu nehmen.
Unsere politischen Diskussions- und Entscheidungsprozesse wirken im Alltag oft kurzatmig. Man scheint oft zu vergessen, dass alles seine Zeit hat und dass gut Ding auch Weile haben will. Gerade weil die Veränderungsprozesse so gewaltig sind, darf die längerfristige Tragfähigkeit von Lösungen nicht zu stark ausgeblendet werden. Im Jahr 1993 habe ich mit der Feststellung, dass die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit sich auflösen, viel Aufregung verursacht. Auch der Hinweis, dass wir um eine behutsame Weiterentwicklung des Völkerrechtes nicht herumkommen werden, galt noch Ende vergangenen Jahres fast als Tabubruch. Beides gehört heute genauso zum allseits akzeptierten Erkenntnisstand deutscher Politik wie die Einsicht, dass die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland unsere grundsätzliche Bereitschaft erfordert, außerhalb unserer Landesgrenzen gemeinsam mit anderen notfalls auch militärische Verantwortung zu übernehmen.
Als ich Mitte der 1980er-Jahre auf Auswirkungen der demografischen Entwicklung hinwies, war die öffentliche Resonanz gering. Ähnlich erging es anderen, die schon in den vorangegangenen 1970er-Jahren auf die wachsenden ökologischen Probleme aufmerksam gemacht hatten. Deshalb plädiere ich dafür, in unseren aktuellen Debatten längerfristige Perspektiven nicht auszublenden. Auf Grund vielfältig drängender Sorgen und Probleme gibt es kein Recht zur Resignation, aber die Pflicht zum Handeln.
Die demografischen, ökonomischen und ökologischen Probleme und die daraus resultierenden handfesten Bedrohungen unserer Sicherheit lassen uns zwar wenig Zeit zur Überwindung der nationalen wie transnationalen Differenzen und zur Errichtung einer freiheitlichen Weltordnung. Eine Betrachtung unseres eigenen Menschenbildes und der einzigartigen westlichen Entwicklungsgeschichte zeigt aber auch, dass wir in Europa und gemeinsam mit unseren Freunden in Amerika diese Probleme sehr wohl lösen können. Und hier ist der von mir verwendete und von anderen vielfach kritisierte Begriff »Schicksalsgemeinschaft« angebracht: Das fundierte Verständnis des eigenen Menschen- und Gesellschaftsbildes sowie die ökonomisch-politische Analyse der Herausforderungen der Globalisierung machen deutlich, weshalb der Westen die Kraft aufbringen kann und muss, um dem bedrohlichen Menetekel eines weltweiten Kulturkampfes zu entgehen und einen friedlichen Wettbewerb der Kulturen zu fördern.
 
Eine allein der Sequenz von Wahlperioden folgende »Agenda 2010« wird weder Deutschland noch der Welt reichen, um erfolgreich durch die nationalen und globalen Stürme der nächsten Jahrzehnte zu steuern.
Meines Erachtens lassen sich alle vor uns stehenden Probleme durch eine Erneuerung konservativen Denkens und Handelns meistern. Damit ist vor allem gemeint, dass wir uns nicht mehr länger von der Dynamik der Moderne einfach treiben lassen, sondern dass wir diese Dynamik steuern und neben das Erneuern und Modernisieren auch das Bewahren stellen.
Die antiken Inschriften am Apollotempel zu Delphi sind hierfür höchst aktuelle Wegweiser zu einer ausgeglichenen Entwicklung. Die Handlungsmaximen, die daraus abgeleitet werden können, sind nicht schwer zu verstehen:
Erstens die Anerkennung und Wertschätzung menschlicher Langsamkeit und Mäßigung.
Zweitens das Bedürfnis nach beständigen, verlässlichen und bewahrenden Regeln und Institutionen zur Erhaltung von Freiheit und kultureller Vielfalt.
Drittens die Erkenntnis, dass Subsidiarität als Rückführung menschlicher Entscheidungen auf überschaubare Zusammenhänge, sei es nun die Familie oder der Betrieb oder der Wohnort, oft das verlässlichste und bewährteste Mittel im Umgang mit globalen wie nationalen Problemen darstellt.
 
Wer nun findet, dass sich dies alles altbacken und überkommen anhört, dem möchte ich entgegenhalten, dass diese Sichtweisen freilich nichts mit den großen ideologischen Gesellschaftsentwürfen linker und rechter Prägung zu tun haben, dafür aber an den Interessen und Fähigkeiten aller Menschen orientiert sind. Im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Ideologien, wurde mit Gesellschaftsmodellen operiert, in denen die allein selig machende Überzeugung von Minderheiten für alle verbindlich gemacht werden sollte. Im Zweifel wollte man die Menschen zu ihrem vermeintlichen Glück zwingen oder auch erst den neuen Menschen schaffen, der die Segnungen der Ideologie begreifen konnte. Der Ausgang all dieser Experimente war grauenvoll. Das liegt zum Glück hinter uns, und deshalb sollte man getrost nach Maximen handeln, die dem Naturell und dem Wesen aller Menschen entsprechen. Das 21. Jahrhundert kann eine Epoche werden, in der die Entwicklung der Menschheit nicht von ein paar wenigen Ideologen, sondern von vielen Menschen aller Kulturen und Nationen gleichermaßen und in Maßen vorangetrieben wird.
Dass der Westen in dieser an die Bedürfnisse der Menschen angepassten Entwicklung eine gestaltende Rolle spielen kann, darf und muss, ist für mich unstrittiger denn je und könnte die Grundlage bilden für eine neue politische und gesellschaftliche Vision aller Deutschen. Als Nation nicht nur mitten in Europa, sondern dadurch auch mitten in der Welt, sollten wir optimistisch nach vorn blicken und mit Augenmaß und Leidenschaft unsere Probleme angehen und unseren Teil zur Entwicklung zu einer besseren Welt beitragen.
1. Vom 9. 11. zum 11. 9. - Das Interregnum des Marktes
 
Roland Tichy kenne ich seit den 1980er-Jahren, als ich Chef des Bundeskanzleramtes und er wissenschaftlicher Mitarbeiter war. Wir hatten uns damals und haben uns seitdem immer wieder über Zuwanderungs- und Asylpolitik sowie über die Probleme der demographischen Entwicklung unterhalten. Im Jahr 2001 hat er mit seiner Frau ein Buch »Die Pyramide steht Kopf« geschrieben, das sich mit den Auswirkungen der demografischen Katastrophe beschäftigt. Ich hatte gern zugesagt, an einer Diskussion zur Präsentation dieses Buches mitzuwirken. Die Spannungen, die sich in der Welt der Globalisierung aus dem ganz unterschiedlichen Bevölkerungswachstum in den verschiedenen Teilen der Welt und aus dem Widerspruch zwischen vielen Jungen in armen Ländern und vielen Alten in reichen ergeben, waren das Thema und die Probleme, die sich für uns in Deutschland aus dem Alterungsprozess der Bevölkerung ergeben.
Von dieser Veranstaltung kam ich gegen 15.00 Uhr in mein Abgeordnetenbüro im Berliner Reichstag zurück. Es war der 11. 9. 2001. Im Vorzimmer starrte meine Mitarbeiterin auf den Bildschirm. In New York war kurze Zeit zuvor ein Flugzeug in einen der Türme des World Trade Center geflogen. Kaum hatte ich den Fernsehapparat in meinem Arbeitszimmer eingeschaltet, raste das zweite Flugzeug in den anderen Turm. Der Rest des Tages verlief zwischen lähmendem Entsetzen und ohnmächtiger Hektik. Abends nahm ich an einem Gedenkgottesdienst im Berliner Dom teil. Was werden sollte, wusste niemand so recht.
Am 9. 11. 1989 war ich in Bonn Innenminister. Seit Monaten hatte sich die Lage in der DDR immer dramatischer entwickelt. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich sowie nach der Massenflucht in die Botschaften von Budapest und Prag waren die Übersiedlerzahlen aus der DDR wieder so groß, wie sie zuletzt im Sommer 1961 vor dem Bau der Berliner Mauer gewesen waren. Im Schmidt-Rottluff-Zimmer des Kanzleramtes sprachen wir auf Einladung von Rudolf Seiters, dem Chef des Kanzleramtes, mit den Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen über die mit der Aufnahme der hohen Übersiedlerzahlen verbundenen Probleme. Der Bundeskanzler war zum Staatsbesuch in Polen. Plötzlich wurden wir in unseren Beratungen unterbrochen. Eduard Ackermann platzte mit der Meldung herein, die Regierung der DDR habe bekannt gegeben, dass ab heute Abend die Mauer geöffnet werde. Wir konnten es nicht glauben, und ich fragte noch, ob denn mittlerweile Alkoholgenuss während der Dienstzeit im Kanzleramt üblich sei. Aber es war keine Täuschung, die Welt hatte sich verändert. Am 9. 11. 1989 wurde ein Traum wahr, nicht nur für uns Deutsche. Und daran erinnerte ich mich bei den Bildern vom zusammenstürzenden World Trade Center. Jetzt war es ein Albtraum. Und wieder wusste man unmittelbar, dass man einen historischen Einschnitt erlebte. Geschichte vollzieht sich beständig. Aber es gibt auch Einschnitte, Ereignisse, die das Rad der Geschichte gewissermaßen beschleunigen; Daten, die später in den Geschichtsbüchern stehen werden. Oft begreift man erst in der Rückschau, was geschehen ist. Aber dass vieles nicht mehr so sein würde wie zuvor, dass wusste jeder am 9. 11. 1989 genauso wie am 11. 9. 2001.
 
Die Stimmung des Abends am 9. November 1989 erscheint aus dem Blickwinkel des Jahres 2003 heraus nahezu unwirklich und fremd. Die Freude, das Staunen, die Euphorie, das Unbegreifliche - ja, und eben auch dieses tief empfundene Gefühl des Glücks vor allem bei uns Deutschen: Es wirkt heute wie ein Ereignis aus grauer Vorzeit, aus einer längst vergangenen Epoche. Nicht allein in Deutschland, sondern weltweit machte sich die Hoffnung breit, dass nunmehr der Konflikt zwischen Ost und West, der sich in der unmenschlichen Berliner Mauer in Stein und Zement manifestiert hatte, zu einem friedlichen Ende gelangen würde. Mit diesem Ende des Kalten Krieges verknüpften Menschen auf der ganzen Welt hohe Erwartungen. In den Staaten und Völkern des Westens war man sich einiger denn je in der Zuversicht und der Überzeugung, dass das westliche Gesellschaftsmodell zum Vorbild einer freien, friedlichen und demokratischen Welt geworden war. Die Menschen in den westlichen Ländern waren fast euphorisch, voller Hoffnungen und Erwartungen an eine bessere Zukunft. Freiheit und Demokratie, basierend auf freien Märkten und einer kraftstrotzenden Wirtschaft, schienen sich weltweit durchzusetzen. Der sich seit der Aufklärung vollziehende Prozess der kulturellen Internationalisierung des Westens mündete ein in das Phänomen der Globalisierung, die fortan vor allem in ihrer wirtschaftlichen Dimension erlebt wurde. Nichts konnte den vermeintlichen Sieg des westlichen Gesellschaftsentwurfes treffender darstellen als der Verlauf der Börsenkurse und die volkswirtschaftlichen Wachstumsraten. Die Dynamik der Ereignisse war bis in den letzten Winkel zu spüren. Alles hing irgendwie mit allem zusammen und war dank der Möglichkeiten der modernen Kommunikations- und Informationstechnologien auch für jeden einsehbar und erfahrbar. Die Wirtschaft und mit ihr die großen Unternehmen und ihre Koryphäen waren aus Sicht des Westens die neue Elite, die global players, die sich anschickten, die Geschicke der Welt zum Wohle aller zu lenken.
 
Unbestreitbar ist die Globalisierung in einer Hinsicht eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Sie verbindet Menschen weltweit, schafft Wohlstand, ermöglicht Zugang zu Informationen und weitet bisher geschlossene Horizonte. Nicht umsonst weist der Herausgeber des Economist, Bill Emmott, in seinem Buch »20/21 Vision: Lessons of the 20th Century for the 21st Century« darauf hin, dass es der Westen und besonders die Vereinigten Staaten sind, die im Prozess der Globalisierung durchaus Frieden und Wohlstand sichern können, wenn sie die Segnungen der Globalisierung nur richtig in den Griff bekommen. Wie sehr der mit dem Begriff der Globalisierung bezeichnete und vermeintlich vor allem wirtschaftlich definierte Prozess die Welt verändert und weit über das Wirtschaftliche hinaus das politische, soziale und kulturelle Zusammenleben der Menschen ergriffen hat, haben unsere französischen Nachbarn mit ihrem ausgeprägten Sprachsinn besser begriffen. Denn in Frankreich spricht man nicht von Globalisierung oder globalization, sondern von der mondialisation oder Mondialisierung. Das bezeichnet viel treffender, wie sehr die Welt emotional und mental zusammengewachsen ist, wie sehr schon heute ein »Weltzusammengehörigkeitsgefühl« herrscht. Das lateinische Wort globus - »Kugel« - beschreibt die Welt nur als Gestalt und damit als Objekt, während das Wort mundus - »Welt« - auch auf die Struktur und das Innenleben dieser Welt verweist. So gesehen schulden wir den Franzosen und ihrer sprachlichen Verbundenheit mit unserem römischen Erbe Dank für diese wichtige und richtige Wortwahl.
Ein Blick auf die atemberaubenden Erfolgsseiten der Globalisierung beziehungsweise der Mondialisation beweist eindrucksvoll, wie sehr unsere Welt zusammengerückt ist:
• Niemals zuvor war die Menschheit pro Kopf wohlhabender als in den vergangenen Jahren; niemals produzierte die Menschheit so viele Güter und Dienstleistungen, und dies gilt sogar für das Armenhaus der Welt, für Afrika.
• Zwischen den Jahren 1990 und 2000 hat sich die Weltproduktion, das heißt die Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen, um knapp 15 Prozent erhöht, der Welthandel verdoppelt und das Volumen der Auslandsdirektinvestitionen versiebenfacht von knapp 200 Milliarden US-Dollar auf über 1450 Milliarden US-Dollar.
• Wenngleich Einkommensmessungen und Verteilungsmessungen immer schwierig und umstritten sind, deuten neuere Statistiken des Institute for International Economists auf ermutigende Ergebnisse: 23 Prozent der Weltbevölkerung verfügten im Jahr 2000 über ein Einkommen von weniger als zwei US-Dollar pro Tag (Armutsdefinition der Weltbank) nach 56 Prozent im Jahr 1980. Das sind immer noch beschämende 1,1 Milliarden Menschen, aber noch 1990 waren es 1,7 Milliarden und 1980 noch 1,9 Milliarden Menschen.
• Die tendenziell steigenden Prokopfeinkommen der Menschheit haben mit besonderer Ausprägung in Asien zum Entstehen einer bürgerlichen Mittelschicht in vielen Ländern geführt, was für deren Fortentwicklung in der Zukunft von zentraler Bedeutung sein dürfte.
• Nach Schätzungen der Vereinten Nationen arbeiten weltweit 150 Millionen Menschen, das heißt rund zwei Prozent der Weltbevölkerung, außerhalb ihrer Heimatländer. Die transferierten Ersparnisse dieser Menschen beliefen sich im Jahr 2000 auf rund 70 Milliarden US-Dollar.
• Von den über sechs Milliarden Bewohnern der Erde sind knapp 600 Millionen täglich Nutzer der Internettechnologie.
• Zwischen 1990 und 2000 stieg weltweit die Anzahl der so genannten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) um 10 000 solcher zumeist international vernetzter und humanitär, sozial und kulturell ausgerichteter Bürgerbewegungen auf 37 000 an, sodass man auch sagen kann, die Menschheit kommt sich »inhaltlich« näher.
 
Diese unterschiedlichen Schlaglichter verdeutlichen die Intensität des Zusammenwachsens der Welt nach 1990, und sie belegen
Das Vorwort von Henry A. Kissinger wurde von Nils Ole Oermann aus dem Amerikanischen übersetzt.
 
 
 
1. Auflage
© 2003 by C. Bertelsmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
eISBN : 978-3-641-02157-3
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