Schmetterlinge im Bauch sind die gefährlichsten Tiere der Welt - Silke Neumayer - E-Book
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Schmetterlinge im Bauch sind die gefährlichsten Tiere der Welt E-Book

Silke Neumayer

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Beschreibung

Verlieben? Wie geht das noch mal? Frieda, Anfang fünfzig, alleinerziehende Mutter eines frisch ausgezogenen Sohnes und Mitbesitzerin von fünf gut gehenden Berliner Currywurstbuden hat ihr Leben eigentlich im Griff. Sie kann alles alleine, macht alles alleine, ist aber – leider – auch oft alleine. Verliebt hat sie sich seit ihrer Scheidung nicht, und einen Mann für aufregende Nächte hat sie auch lang nicht mehr getroffen. Ohnehin läuft es in Friedas Bett nicht gut: Sie schläft nicht mehr. Nachdem sie deshalb fast eine ihrer Currywurstbuden abfackelt, verordnet der Arzt Frieda eine Auszeit. Sechs Wochen Almhütte, Blumenwiesen, Bergluft, Gipfelglück und vor allem: himmlische Ruhe.  Oben angekommen wartet jedoch eine Überraschung: Nicht nur Frieda hat die Hütte gemietet. Und ihr Mitbewohner wider Willen ist genauso nervtötend wie attraktiv …

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Schmetterlinge im Bauch sind die gefährlichsten Tiere der Welt

Die Autorin

SILKE NEUMAYER, geboren 1962 in Zweibrücken, ist Drehbuchautorin für Film und Fernsehen und Bestsellerautorin. Sie kennt sich mit Hunden, Katzen und auch Pferden sehr gut aus, aber vor den Schmetterlingen im Bauch hat sie den meisten Respekt. Silke Neumayer lebt alleinerziehend mit ihrer Tochter inMünchen.

Das Buch

»Hatten wir nicht mal was miteinander?«»Hatten wir nicht.«»Hatten wir doch.« Max war Frieda so nah, dass sie die goldenen Einsprengsel in seinen braunen Augen erkennen konnte.»Hab ich vergessen.«»Hast du nicht«, meinte Max, ganz der selbstsichere Mistkerl wie schon damals in der Zehnten.Frieda blickte Max an und spürte so ein komisches Gefühl in der Magengegend. Vielleicht lag das an der Tütensuppe, die sie gestern zum Abendessen hatte und die seit 2011 abgelaufen war. Aber im Grunde wusste Frieda, dass die Tütensuppe nichts, aber auch gar nichts mit diesem Gefühl in ihrem Magen zu tun hatte.Verdammt.

Silke Neumayer

Schmetterlinge im Bauch sind die gefährlichsten Tiere der Welt

Roman

Ullstein

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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Foto der Autorin: © Susanne JellUmschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2291-9

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

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Cover

Titelseite

Inhalt

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Es roch nach Sommer, Kräutern, frisch gemähtem Gras und Sonne auf der Haut. Frieda ließ ihren Blick schweifen, sie war fast oben, fast am Gipfel. Weit unter ihr lag ein Tal mit einem kleinen Dorf, sie konnte den Kirchturm mit der Zwiebelspitze in der Mitte sehen, und ein paar verstreute Bauernhöfe lagen verschlafen im Glanz der Nachmittagssonne. Alles war weit weg, so als würde es diese Welt mit ihren Autos und Häusern nur noch in Spielzeugformat geben. Hier oben auf dem Berg gab es nur Natur, blühende Wiesen, Bäume, Gipfel, und über allem thronte ein magisch blauer Himmel, durch den am helllichten Tag fast die Sterne schimmerten, so hoch oben war Frieda.

Frieda drehte sich um und wandte ihren Blick auf die andere Seite. Jetzt lag die Alpenkette vor ihr, Gipfel an Gipfel reihte sich aneinander, manche selbst jetzt im Sommer noch schneebedeckt. Sie konnte fast bis zum Mittelmeer hinuntersehen, aber vielleicht war das Blau dort auch nur der Dunst, der sich am Horizont verlor. Ein paar Kuhglocken bimmelten, irgendwo meckerten ein paar Ziegen oder Schafe. Frieda hatte das Gefühl, sie müsste nur einen kleinen Hüpfer machen, und schon könnte sie abheben und durch den weißblauen Himmel bis ins Tal schweben. Ganz ohne Gleitschirm. Einfach so, Arme ausbreiten und fliegen, sich sanft von den Fallwinden der Berge tragen lassen.

Frieda breitete die Arme aus, und tatsächlich – sie schwebte langsam nach oben, wie ein Luftballon, was etwas seltsam war, da Frieda unter leichter Höhenangst litt, aber davon spürte sie im Moment gar nichts, ganz im Gegenteil, es fühlte sich einfach glücklich und frei an.

Frieda drehte ihren Kopf zur Seite und sah einen Schmetterling, der direkt neben ihr flog. Einen unglaublich bunten Schmetterling, der erstaunlich große Flügel hatte. Irgendwas an diesem Schmetterling erinnerte Frieda entfernt an Elton John. War es der Glitzer auf den bunten Flügeln? Oder dass er ziemlich moppelig geraten war? Vielleicht war es aber auch die ziemlich ausgefallene Sonnenbrille mit Strasssteinchen, die er auf seinen Fühlern trug.

Es war erstaunlich, dass der Schmetterling überhaupt fliegen konnte bei dem Figurproblem und dann auch noch so hoch, dachte sich Frieda. So viel Gewicht musste ja erst mal in die Luft. Obwohl, Hummeln konnten ja auch fliegen und waren nicht gerade Size Zero.

Aber was machte ein Schmetterling so weit hier oben auf dem Berg? Und seit wann konnten Schmetterlinge so gut fliegen? Die torkelten doch normalerweise immer eher durch die Gegend, so als hätten sie gerade ein Glas Champagner zu viel getrunken.

»Du hast echt keine Ahnung von gar nichts«, summte der Schmetterling bestens gelaunt in Richtung Frieda. Das Summen war erstaunlicherweise unterlegt mit der Melodie von »Don’t Go Breaking My Heart«. Dann zwinkerte er Frieda neckisch zu, machte einen lässigen Flügelschlag und flog davon, hinunter auf die Almwiese zu den bunten Blumen.

Frieda blickte dem Schmetterling nach, dann fiel ihr plötzlich ein, dass sie ja gar keine Flügel hatte, sich aber verdammt hoch über der Erde befand.

Sie runzelte die Stirn, ihr war nicht mehr so ganz klar, wie sie überhaupt fliegen konnte, sie fühlte auch schon die gewohnte Angst in sich aufsteigen. Beim Anblick der Höhe, in der sie sich gerade befand, war das ja auch kein Wunder. Frieda wollte gerade laut losschreien, gleich würde sie fallen, da schrie jemand anderes sie an.

»Frieda! Frieda!!!! Frieda!!!!!!!«

Mit einem Ruck wurde Frieda wach.

Beißender Gestank nach verbranntem Fett stach ihr in die Nase.

Nichts mit Alpenkräuterwiese.

Sie war klatschnass und von Kopf bis Fuß mit weißem Schaum bedeckt.

Annie, ihre beste Freundin und Mitinhaberin von »Friedas Fritten«, hielt einen Feuerlöscher auf sie gerichtet und feuerte Schaum wie eine Maschinengewehrsalve auf Frieda und die Fritteuse, die Feuer gefangen hatte.

Frieda blickte sich um. Es sah aus, als wäre ihre kleine, sehr beliebte Currywurstbude am Savignyplatz in Berlin plötzlich unter Meeresschaum begraben worden.

»Du hast gerade fast den ganzen Laden in Brand gesteckt. Hast du geschlafen? Was um alles in der Welt ist los?« Annie hörte endlich auf, sie mit Schaum zu bespritzen, und blickte sie besorgt an.

Frieda war plötzlich so wach wie seit Tagen nicht. Gott sei Dank war noch alles an ihr dran. Vielleicht ein paar versengte Haare. Kein Feuer mehr. Aber eine unglaubliche Schweinerei. Pommes schwammen traurig in einer Brühe aus Fett und Schaum.

Ein paar Kunden blickten von draußen wie erstarrt auf das Chaos. Ein Mann mit offenem Mund hielt eine aufgespießte Currywurstscheibe schwebend in der Hand, wie festgefroren.

Frieda blickte an sich herab und dann auf die Fritteuse und die schwarzen Rauchspuren, die das Feuer an der Wand hinterlassen hatte.

Ja. Sie hatte wohl tatsächlich für ein paar Sekunden geschlafen. Im Stehen. An der Fritteuse.

Keine gute Idee, aber auch kein Wunder.

Sie hatte seit Jahren Schlafstörungen. Als alleinerziehende Mutter eines ziemlich – wenn man es freundlich formulierte – aufgeweckten Sohnes war Schlafen nicht gerade die Priorität in ihrem Leben in den letzten Jahren gewesen.

Und da sie ja nicht nur Mutter war, sondern auch Geld verdienen musste, hatte sie quasi nebenher mit Annie mittlerweile fünf gut gehende Currywurstbuden in Berlin aufgebaut. »Friedas Fritten« lief hervorragend, so hervorragend, dass Frieda in den letzten fünf Jahren nicht mehr im Urlaub gewesen war. Schließlich arbeitete sie selbst und ständig. Und ihre selbst gemachte Currysoße war ein Geheimtipp, der »Friedas Fritten« in jedem Reise­blog über Berlin einen enthusiastischen Eintrag beschert hatte.

Irgendwann zwischen Sohn, Currywurst und Steuererklärung hatte Frieda das Schlafen verlernt.

So erschien es ihr zumindest. Zwei, drei Stunden in der Nacht an einem Stück war das Längste, was Frieda noch an Schlaf kannte. Danach war sie für Stunden hellwach und schlummerte, wenn überhaupt, erst in den frühen Morgenstunden wieder ein.

Seit Jakob, ihr mittlerweile neunzehnjähriger Sohn, sich vor vier Wochen auf eine halbjährige Weltreise begeben hatte, war es mit dem Schlafen beziehungsweise mit dem Nichtschlafen sogar noch schlimmer geworden.

Dabei hätte sie jetzt doch endlich mehr Zeit zum Schlafen gehabt.

Jahrelang hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, mal wieder allein zu leben und wenigstens in ihrer Freizeit tun und lassen zu können, was sie wollte.

Schlafen. Endlich schlafen. Und zwar allein. In einem großen, weißen Bett in einem Zimmer mit weißen, leicht im Wind wehenden Leinenvorhängen.

Das war für längere Zeit in ihrem völlig durchgetakteten Leben ihr größter Wunschtraum gewesen. Nun ging er irgendwie in Erfüllung, allerdings anders als gedacht.

Tja, wenn sie eines mittlerweile in ihrem Leben gelernt hatte: Bei Träumen war es gar nicht so selten, dass sie irgendwie anders ausgingen als gedacht. Sie hatte jetzt weiße Leinenvorhänge an den Fenstern und war alleine. Aber der Schlaf war ferner denn je.

Seit der Scheidung von Anton, ihrem lausigen Ex, vor über zehn Jahren hatte Frieda es nur ab und zu geschafft, eine kleine Affäre zwischen zwei Pommes und Jakobs Pubertätsanfällen zu quetschen. Sie hatte keine Zeit zum Schlafen. Sie hatte keine Zeit für Männer. Und irgendwie hatte sie nicht nur das Schlafen, sondern auch die Männer verlernt. Oder die Männer sie. Und das mit gerade mal fünfzig. Manchmal nachts in ihren viel zu wachen Stunden hegte sie den leisen Verdacht, dass sie schon lange wieder Jungfrau war.

Gab es das? Konnte man wieder Jungfrau werden, wenn man nur lange genug keinen Sex hatte? Frieda hielt Männer im Leben von Frauen sowieso für absolut überbewertet. Sie kam wunderbar ohne klar. Und so etwas wie ihren Ex brauchte ganz sicher keine Frau. Auch nicht so was wie Vitus, ihr letztes Date. Der machte ihr den Vorschlag, sofort bei ihr einzuziehen, wenn ihr Sohn ausziehen würde. Damit sie nicht so alleine sei. Frieda blickte Vitus nur entsetzt über ihren Aperol Spritz an und löschte schon beim Verlassen des Lokals seine Nummer. Frieda war gerne alleine. Kein Problem. Besser allein als einsam zu zweit. Das war sie lange genug in ihrer Ehe gewesen.

Annie, die selbst lang und locker verheiratet war, war von Friedas Schlaf- und Männermangel nicht begeistert und schleppte Frieda ab und zu durch ein paar Kneipen Berlins. Zum einen, damit Frieda müde genug wurde, um ins Bett zu gehen, zum anderen, damit Frieda und vielleicht auch Annie endlich einen neuen Mann kennenlernen würde.

Nichts davon passierte. Der Schlaf blieb weg. Die Männer auch. Frieda war manchmal so müde, dass es ihr egal war.

Annie hatte rote Haare, nicht gefärbt, nur etwas mit Weiß durchzogen, und ein Temperament, das genau dazu passte. Etwas hitzig – wenn man es nett ausdrücken wollte. Aufbrausend und ziemlich dominant, wenn man es weniger nett ausdrückte.

»Was glotzt ihr denn so?«, fuhr Annie jetzt die verblüfften Kunden draußen vor »Friedas Fritten« an. »Das kann mal passieren. Schluss für heute mit Currywurst. Geht doch alle zu Mackie. Wir müssen hier erst mal die Sauerei aufräumen.«

Sprach Annie, ließ resolut die Rollos runter und sperrte so die Kunden aus.

Aus dem Augenwinkel sah Frieda, dass der eine Kunde immer noch das Stück Currywurst aufgespießt in der Hand hielt.

2

Ein paar Stunden und einen Arztbesuch später war Annie immer noch resolut. Und immer noch sauer auf Frieda. Das war etwas, das in ihrer langjährigen Freundschaft nur äußerst selten vorkam und deshalb Frieda mehr irritierte als der Brand von heute Morgen.

Sie saß mit Annie in einer Kneipe um die Ecke ihrer Wohnung und gönnte sich einen Absacker in Form von italienischem Rotwein und Tomaten-Mozzarella. Von Fritten und Currywurst hatte sie gerade die Nase gestrichen voll. Der Brandgeruch hing immer noch in ihrer Nase und in ihren Haaren, obwohl sie zweimal geduscht hatte.

»So geht es nicht weiter«, sagte Annie und blickte Frieda streng an.

»Es ist doch nichts passiert.«

»Weil ich da war.«

»Ich wäre schon rechtzeitig aufgewacht.«

»Im Krematorium?«

»Du übertreibst schamlos«, meinte Frieda und trank einen großen Schluck Wein. Sie versuchte, es vor Annie zu verbergen, aber der Schreck über den Brand saß ihr in den Knochen.

»Du hast gehört, was der Arzt gesagt hat. Sechs Wochen Kur oder Urlaub oder in einem halben Jahr ein Jahr Klinik wegen Burn-out. Denn das nächste Mal, wenn du was abfackelst, wird es nicht unsere Currywurstbude sein, sondern du selbst wirst diejenige sein, die abgefackelt ist. Und ich schätze, das lässt sich dann nicht in ein paar Stunden mit Putzmittel und einem Eimer Farbe wieder hinbekommen.«

Annie hatte sie nach dem Brand unter die Dusche und in frische Klamotten gesteckt und war sofort mit Frieda zu ihrem Bruder, seines Zeichens Hausarzt ihres Vertrauens, gefahren. Und der war nicht begeistert von Friedas körperlichem Zustand. Ganz und gar nicht begeistert. Wenn Frieda fünf Jahre nicht im Urlaub gewesen war, so war sie zehn Jahre nicht mehr beim Arzt gewesen.

Sie hatte keine Zeit für so was. Und vielleicht hatte sie auch zu viel Angst, nagte eine kleine Stimme in Frieda, die sie sofort wieder zum Schweigen verdonnerte.

»Ich brauch nur zwei, drei Tage mal etwas Ruhe, ein heißes entspannendes Bad, und dann passt das schon wieder«, meinte Frieda und hoffte, dass der Wein bald wirkte.

»Passt es nicht. Und das weißt du im Grunde genommen ganz genau«, entgegnete Annie starrköpfig.

Annie blickte Frieda tief in die Augen. Annie war »no bullshit« und ihre Freundin, seit Frieda mit siebzehn mit ihren Eltern nach Berlin gezogen war. Sie wohnte damals in der Wohnung direkt unter Frieda und kam gleich am ersten Tag hoch, um sich über Friedas Rumtrampelei auf ihrem Kopf zu beschweren. Die beiden Mädchen hatten die Zimmer direkt übereinander. Es gab einen heftigen Wortwechsel, aber bevor es zu Handgreiflichkeiten kam, fing Annie an zu lachen, weil Frieda ihr mit einer »Watschn« gedroht hatte und Annie das Wort nicht kannte und total komisch fand. Frieda fiel einfach in Annies ansteckendes Lachen mit ein, und der Streit war behoben. Seitdem waren sie beste Freundinnen.

Frieda mochte das »no bullshit« sehr an Annie. Man konnte Annie nichts vormachen. Das war großartig bei Kunden, Lieferanten und auch sonst. Es war nur nicht großartig, wenn es sich gegen Frieda selbst richtete.

»Ich finde, du solltest dich mal entspannen«, sagte Frieda und versuchte betont lässig zu klingen.

»Sagt die, die seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen hat. Du bist ab sofort ausgesperrt. Ich nehme dir die Schlüssel ab. Du gehst jetzt heim und legst dich hin. Ich will dich die nächsten Wochen nicht mehr sehen. Mir egal, was du tust, aber wenn du in einer der Buden auftauchst, werfen wir dich raus. Ich habe das schon allen Angestellten gesagt. Niemand lässt dich rein. Flieg in die Karibik. Oder nach Thailand. Oder willst du, dass ich dir eine Sechswochenkur an der Ostsee buche?«

Frieda blickte Annie entsetzt an, dann brach es aus ihr heraus:

»Ich will keine Anwendungen! Und ich will keine Schonkost! Ich bin noch nicht bereit dafür, so alt zu sein!« Das ging Frieda jetzt echt zu weit.

»Vielleicht ein Kurhotel am Bodensee? Der Chiemsee soll auch schön sein.«

»Auch nicht.«

»Du musst etwas ändern. Nimm dir einen Mann mit in dein Bett, dann wird das mit dem Schlafen auch besser.«

»Das ist lächerlich, Annie. Männer schnarchen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Frauen in getrennten Schlafzimmern besser schlafen. Neben Anton habe ich äußerst schlecht geschlafen. Er hat geschnarcht und gepupst … es war kein Vergnügen, mit ihm das Bett zu teilen«, fauchte Frieda. »Außer in einer Hinsicht«, fügte sie noch schnell hinzu, auch wenn es nicht so wirklich stimmte, nur um damit die zwölf Ehejahre mit Anton im Nachhinein doch in besserem Licht erscheinen zu lassen.

»Du schaffst es ja noch nicht mal zu getrennten Schlafzimmern. Dafür bräuchte man erst mal ein gemeinsames Schlafzimmer.«

Frieda warf Annie als Antwort nur einen bösen Blick zu. Schließlich war Annie zwar verheiratet, aber eben nicht besonders glücklich. Das war einer der wenigen Punkte, über die Annie, die sonst mehr als deutlich war, nicht gerne reden wollte.

»Ich mein es ernst.«

»Ich weiß«, seufzte Frieda. Sie hatte den Verdacht, dass Annie sehr hartnäckig bleiben würde. Und dass ihre Freundin vielleicht eventuell ein kleines bisschen recht hatte. Aber nur vielleicht.

In dieser Nacht war an Schlaf überhaupt nicht mehr zu denken. Frieda drehte sich seit Stunden im Bett herum.

Sie hatte vorhin noch kurz mit ihrem Sohn Jakob geskypt. Der war zum Zwischenstopp in einer Art überteuerter Jugendherberge in Dubai und amüsierte sich offensichtlich köstlich. Er war betrunken bei dem kurzen Gespräch, auch wenn er versuchte, das vor seiner Mutter zu verbergen. Sie ging ihrem Sohn offensichtlich gehörig auf die Nerven. Und wennschon. Frieda fand, sie hatte sich das Recht zu nerven redlich erworben. Wenn sie nur an seine vielen Eskapaden in den letzten Jahren dachte. Allein dreimal hatte sie ihn im letzten Jahr mitten in der Nacht auf einer Polizeistation abholen müssen. Gott sei Dank nur wegen Kleinigkeiten wie eines abgebrochenen Mercedessterns oder Abmontierens eines Straßenschildes – aber trotzdem.

Frieda stand auf. Im Bett war die Schlaflosigkeit noch schlimmer. Das wusste sie aus leidvoller Erfahrung.

Sie setzte sich an ihren Laptop. Frieda hatte den Verdacht, das Internet sei in erster Linie für schlaflose Menschen erfunden worden. Sie selbst war mitten in der Nacht oft viel zu erschöpft, um sich auf ein Buch konzentrieren zu können, und so surfte sie durchs Netz. Sie klickte jeden Quark an und fiel bewusst auf jeden Clickbait rein: »Drei Schwestern machen Jahr für Jahr dieses Foto. Beim letzten Bild werden Sie in Tränen ausbrechen.« Frieda brach nicht in Tränen aus, eher in Lachen, und hüpfte halb wach und halb müde weiter von Seite zu Seite.

Spontane Einkäufe des Nachts hatte sie sich allerdings abgewöhnt. Morgens um vier eine Bluse und drei Hosen zu bestellen führte nur dazu, dass sie ein paar Tage später vorm Spiegel heulen wollte und alles wieder zurückschicken musste.

Irgendwann landete sie bei Airbnb. Manchmal schaute sie sich dort die ausgefallenen Objekte an, die man so mieten konnte – von einer kleinen Insel vor Kanada bis zum Baumhaus in Schweden. Annie spukte in ihrem Kopf rum. Und das Feuer.

Es war 4.36 Uhr. Friedas Lider waren auf halbmast, aber sie war immer noch nicht müde genug, um sich noch mal ins Bett zu trauen.

Alm, 1845 Meter, gar nicht so teuer. Und besser als sechs Wochen Kur an der Ostsee. In die Karibik wollte Annie nicht. Dort war es viel zu heiß. Sie hätte das Gefühl, den ganzen Tag an der Fritteuse zu stehen. Ihr Traum von heute Morgen fiel ihr wieder ein. Das Gefühl des Schwebens war schön gewesen und die Gipfel und die Almwiese. Sie war ewig nicht mehr in den Alpen gewesen. Früher als Kind war sie oft mit ihren Eltern in den Bergen gewesen und hatte auch auf Almhütten übernachtet. Damals, als Urlaub noch Ferien hieß und man nicht Gott weiß wohin fliegen musste, um etwas zu erleben. Annie wusste, wie uralt sie war, dass sie so dachte. Ihr Sohn hatte sich schon ab dreizehn geweigert, auf eine Alm zu fahren – viel zu langweilig. Er flog lieber mit seinem Vater in Pauschalurlaube, für die seine Mutter keine Zeit hatte.

Friedas Kopf sank langsam tiefer. Ihre Hand bewegte sich auf der Tastatur: klick, klick, klick. Und dann war Frieda endlich eingeschlafen.

Frieda wurde wach, als irgendwer draußen vor ihrem Fenster laut im Berufsverkehr hupte. Ein Sabberfaden lief ihr Kinn runter. Ihre Wange hatte einen Tastaturabdruck. Sah schick aus – Frieda sah sich selbst im Spiegel des Bildschirms und konnte tatsächlich die kleinen Quadrate der Tastatur identifizieren. So war es eben, wenn man nicht mehr ganz so jung war. Man brauchte Stunden am Morgen zum Entknittern. Und wenn man nicht gerade auf einer Tastatur schlief, dann hatte man bis elf Uhr schon mal den Kissenabdruck im Gesicht.

Schon fast sieben. Sie musste los zum Einkaufen in die Großmarkthalle.

Und dann fiel ihr der gestrige Tag wieder ein. In diesem Moment plingte eine WhatsApp-Nachricht von Annie auf ihrem Handy: »Versuch erst gar nicht, hier vorbeizukommen. Und wehe, du gehst in die Großmarkthalle. Da bin ich schon.« Annie hatte ein schönes Foto von einer Kurklinik im Schwarzwald mitgeschickt.

Nun gut. Das würde Diskussionen geben.

Frieda holte den Laptop aus dem Schlafmodus.

Eine neue E-Mail erwartete sie.

»Danke für die Buchung« von Airbnb. Frieda blickte ungläubig auf den Betreff. Sie hatte die Alm gebucht. Für sechs Wochen. Ab Sonntag. Und bezahlt hatte sie offensichtlich auch schon. Das war jetzt doch etwas schlimmer, als morgens um vier sechs Hosen, drei Paar Schuhe und zwölf T-Shirts von fünf verschiedenen Onlineanbietern zu bestellen.

Wer war diese fremde Frau in der Nacht? Und was machte sie an Friedas Laptop?

Sechs Wochen auf einer Alm alleine? Frieda bekam Panik. Sie war doch keine Sennerin. Das konnte man sicher zurückschicken, stornieren. Frieda suchte fieberhaft nach dem richtigen Link.

Und dann dachte sie an dieses Gefühl im Traum und an Schlaf und an Ruhe. Frieda stand auf. Sie brauchte erst mal ein paar klare Gedanken und einen Kaffee. In Deutschland konnte man ja fast alles innerhalb von zwei Wochen zurückgeben. Nur den falschen Ehemann leider nicht.

»Du bist völlig verrückt.«

»Du wolltest doch, dass ich mal wegfahre.«

»Aber doch nicht so.«

»Wie denn dann?«

»Ostsee mit frischem Wind und Kurschatten.«

»Weg ist weg. Frischen Wind gibt es auf 1.800 Metern sicher auch. Und mir reicht mein eigener Schatten.«

Frieda stand mit Annie in einer Art Outdoorausrüstungswunderland und erkannte sich selbst nicht wieder. Sie sah absolut lächerlich aus. Bunte Bergschuhe. Eine pinkfarbene Allwetterjacke.

Pink war gut, wenn man aus Versehen beim Wandern oder Klettern abstürzte und gefunden werden wollte, versicherte ihr der Verkäufer. Sie wollte nicht klettern. Vielleicht noch nicht mal wandern, aber sie musste sicher ein paar Hundert Meter zu Fuß gehen. Man konnte nicht direkt mit dem Auto bis zur Alm hochfahren. Das war noch so etwas, das Annie bestätigte, dass Frieda vollkommen verrückt geworden war. Wahrscheinlich hatte sie zu viel von dem Feuerlöschschaum abgekriegt.

Frieda hatte eigentlich überhaupt keine Kondition. Dass sie noch eine ziemlich gute Figur in ihrem Alter hatte, verdankte sie eher ihrer Abneigung für allzu fettes Essen und Fast Food. Wer den ganzen Tag Currywurst und Fritten austeilt, will abends doch lieber öfter mal einen Salat. Sport war nicht so ihr Ding. Wer hatte schon Zeit für so was? Vor drei Jahren war sie mal in einer Yogastunde gewesen. Das war gar nichts für sie, sie war viel zu hibbelig, um länger als zwei Sekunden still zu sitzen. Und dieses doofe »Oooohhhhmmmm« – sie musste dabei an eine alte Oma beim Verrenken denken und war in lautes Lachen ausgebrochen, was ihr böse Blicke von den anderen Yoginis eingebracht hatte.

Und jetzt das.

Frieda blickte sich um. Um sie herum war alles Mögliche verteilt, es sah aus, als würde sie gleich den ganzen Laden leer kaufen.

Ein großer Rucksack. Ein kleiner Rucksack. Stöcke. Socken. Fleece und Funktion in rauen Mengen. Und alles in mehr als kräftigen Farben, die in Friedas Augen ein Verbrechen waren.

Frieda konnte solche Menschen nicht so wirklich ernst nehmen, die sich für ihren Pauschalurlaub ausrüsteten, als würden sie alle Gipfel des Himalajas erklimmen. Manchmal sah sie in Berlin Touristengruppen mit Rucksäcken, Funktionskleidung und Wanderstöcken, die ausgestattet waren, als würden sie zumindest den Mont-Blanc besteigen und nicht gerade über den Gendarmenmarkt spazieren.

Und jetzt gehörte sie selbst dazu. Die Kletterausrüstung, mit Karabinerhaken und Seilen, die ihr der Verkäufer noch andrehen wollte, hatte Frieda dann allerdings abgelehnt. Allein der Anblick der im Geschäft fest installierten Kletterwand machte sie schwindelig. Was dachte sich der junge durchtrainierte Verkäufer? Dass man mit fünfzig noch fähig war, die Beine so hoch zu kriegen? Frieda schüttelte innerlich den Kopf. Der Verkäufer dachte wahrscheinlich nur an seine Verkaufsprovision.

Er würde heute gut an Frieda verdienen.

Sich perfekt für die Berge auszustatten gab Frieda im Moment wenigstens etwas das Gefühl von Sicherheit.

Sie hatte die Buchung nicht storniert. Sie würde morgen auf die Alm fahren. Sie war vollkommen verrückt. Annie hatte recht.

Frieda zog die Schuhe und die Jacke wieder aus. »Ich nehme das alles. Würden Sie das bitte an die Kasse bringen?«

Der Verkäufer strahlte und packte alles in seine sehr definierten Arme. Wahrscheinlich durfte man in so einem Laden nur arbeiten, wenn man schon mindestens einen Achttausender ohne Sauerstoffmaske erklommen hatte. Nun, Frieda musste nur auf 1.853 Meter. Das würde schon nicht so schlimm werden.

Sie zog ihre alten Sneaker wieder an und murmelte zu Annie rüber, die ganz versonnen dem attraktiven Verkäufer hinterherblickte.

»Was, wenn ich es nicht aushalte? Ich meine, so ganz alleine da oben?«

Annie riss ihren Blick von dem muskulösen Anblick los und wandte sich Frieda zu.

»Dann lässt du dich einfach den Berg runterrollen und kommst wieder hierher. Wo ist das Problem? Und wenn es da oben auf dem Berg solche Männer wie den da gibt …« Annie nickte zu dem Verkäufer rüber. »Dann wirst du dich sicher nicht einsam fühlen. Und wer weiß, vielleicht komme ich dich dann mal besuchen.«

»Ja. Klar. Annie, jetzt spinnst du. Der ist viel zu jung für mich, und auf so einem Berg gibt es sowieso nur Gamsböcke. Und ich brauch echt keinen Mann mehr. Ich hatte schon einige von diesen Exemplaren, und ich komme besser ohne klar.«

»Oder ein verirrter Wanderer. Oder ein Mountainbiker, der Unterschlupf vor einem Gewitter sucht.« Annie machte weiter, als hätte Frieda nie etwas gesagt, und seufzte sehnsüchtig auf. Sie hatte eine unheilbar romantische Ader, tief unter ihrer schroffen Art vergraben, und las heimlich Bücher, auf deren Titel halb nackte Männer halb nackte Frauen in üppigen Kostümen auf ihren starken Armen davontrugen. Außerdem würde sie nie aufhören, Frieda verkuppeln zu wollen. Selbst am Rollator wäre Annie noch über Friedas nicht vorhandenes Liebesleben besorgt. Vielleicht war das aber auch nur eine gute Ablenkung von den ständigen Affären mit immer jüngeren Frauen, die Annies Mann offen nebenbei hatte, dachte Frieda manchmal – aber nur wenn sie mal wieder von Annies Verkupplungsversuchen genervt war.

»Ich habe Angst«, meinte Frieda, um das Thema zu wechseln.

»Hätte ich an deiner Stelle auch«, sagte Annie absolut nicht tröstend und wandte endlich ihre volle Aufmerksamkeit wieder Frieda zu.

»Also doch lieber sechs Wochen Ostsee mit Fangopackungen?«

Annie blickte Frieda herausfordernd an.

Frieda stand wortlos auf und ging zur Kasse.

Ein mulmiges Gefühl hatte sie trotzdem.

Das ließ auch die ganze Fahrt nach München in ihrem kleinen Auto nicht so wirklich nach.

Frieda machte irgendwann das Radio an, volle Lautstärke. Der Vorteil, wenn man gerade noch ein Kind in der Pubertät gehabt hatte, lag daran, dass man im Musikgeschmack nicht völlig in den 90ern stehen geblieben war.

Frieda sang jedes Lied aus vollem Hals mit. Ein Skilehrer hatte ihr das mal als Trick beigebracht. Wer singt, kann nicht so viel Angst haben. Singen lockert das vegetative Nervensystem. Und Frieda war tatsächlich mal Ski gefahren, gar nicht so schlecht. Sie war durchaus mal sportlich gewesen, in einem anderen Leben.

Als sie dann hinter München auf der Autobahn über den Irschenberg fuhr, machte ihr Herz einen Freudensprung. Vor ihr lagen prachtvoll die Alpen. Und danach kam nach der Abfahrt Prien noch der ganze Chiemsee und machte seinem Spitznamen als bayerisches Meer alle Ehre. Ein großartiger Anblick.

Links glitzerte der See mit vielen kleinen Segelbooten, rechts erhoben sich Berge im Weißblau eines bayerischen Sommertages. Sie hatte dieses Gefühl völlig vergessen, wie es war, wenn man plötzlich einen unendlich weiten Blick hatte. Und nicht nur von einer Hauswand zur nächsten blicken konnte.

Frieda war nicht mehr bang. In ihr regte sich sogar so etwas wie Vorfreude.

Sie würde auf einer Bank vor ihrer Almhütte in der Sonne sitzen und ins Tal blicken. Sie würde auf einer Almwiese liegen, Schäfchenwolken zählen, sich erholen, vielleicht schlafen, und das alles ohne Fangopackungen.

Frieda gab Gas. Vor ihr lagen noch über achtzig Kilometer, und Proviant musste sie auch noch einkaufen.

3

Frieda musste leider feststellen: Die Tante Emma hier im einzigen und winzigen Tante-Emma-Edeka-Bäcker-Metzger-Laden von Kleindingtupfing war leider keine nette alte Dame mit grauem Dutt, sondern ein älterer, etwas schmierig wirkender Mann in fleckigem Hemd und einer noch fleckigeren Lederhose mit fettigem Haar und einem schweren bayerischen Dialekt, an den Frieda sich erst mal wieder gewöhnen musste.

»Grüß Gott!«, grummelte er gleichzeitig mit dem Bimmeln der Türglocke und einem kurzen prüfenden Blick auf Frieda.

Grüß Gott statt Guten Tag. Die Bayern waren schon immer ein seltsames Volk. Wieso sollte Gott grüßen? Oder wieso sollte man Gott grüßen? Warum konnten die nicht Guten Tag sagen wie normale Menschen? Frieda war das wirklich nicht mehr gewohnt, trotzdem rollte ihr ein schwaches »Grüß Gott« über die Lippen.

Schließlich wollte sie nicht als komplett verirrte Touristin durchgehen. Sie hatte ja die ersten Jahre ihres Lebens unter Bayern oder zumindest unter Münchnern verbracht. Wobei die Münchner hier nicht als richtige Bayern durchgingen. Das wusste sie noch von den Wochenendausflügen mit ihren Eltern ins bayerische Umland.

Frieda blickte sich um und steuerte dann erst mal auf ein Regal mit Konserven zu. So wie der Mann sah leider auch der ganze Laden aus. Von kleinen idyllischen Dorfläden träumen auch nur von riesiger Auswahl und KaDeWe verwöhnte Großstädter. Hier gab es ein Regal, in dem Tütensuppen standen, die so verstaubt waren, dass man kaum die Aufschrift erkennen konnte: Pfannkuchensuppe. Grießnockerlsuppe. Wie um alles in der Welt kriegt man Grießnockerl in eine Tüte?, musste Frieda sich unwillkürlich fragen. Aber wahrscheinlich gab es mittlerweile auch Currywurst in Tüten. Unauffällig versuchte Frieda auf das Verfallsdatum einer der Tütensuppen zu schauen. 12.08.2013. Großartig. Hier würde sie sich sicher nicht für den Rest der Woche eindecken können. Eine Magen-Darm-Verstimmung auf über 1.800 Meter war nicht gerade das, was Frieda sich so für den Anfang auf der Alm vorstellte. Aber für die nächsten ein, zwei Tage würde sie hier schon was finden. In dem kleinen Kühlregal lag etwas Käse aus der Gegend, und der sah echt lecker aus. Und vielleicht ein paar Dosen, etwas Toastbrot, Butter und Marmelade. Sie wollte nicht richtig kochen, sie stand ja sonst genug am Herd.

Hauptsache, irgendwas im Magen. Morgen oder übermorgen konnte sie nach Bad Reichenhall reinfahren, aber jetzt musste sie hoch auf die Alm, bevor es dunkel wurde. Vielleicht würde sie auch irgendwann bis Salzburg fahren. Dort gab es sicher richtige Supermärkte. Oder waren hier alle Selbstversorger? Sie war Jahre nicht mehr aus Berlin rausgekommen. Sie wusste schon gar nicht mehr, dass es Menschen gab, die ihren eigenen Salat anpflanzten.

Für einen kurzen Augenblick sah sie die Käseabteilung vom KaDeWe vor ihrem inneren Auge. Frieda, reiß dich zusammen, befahl sie sich. Ein Almaufenthalt ist kein Fressurlaub. Und etwas weniger essen wäre auch nicht schlecht. Ihr Magen knurrte leise drohend als Antwort.

Gerade war Frieda dabei, ein Glas Gewürzgurken mit dem Verfallsdatum vom letzten Monat in ihren kleinen Einkaufskorb zu packen, da bimmelte die kleine Türglocke erneut, und ein Mann betrat den Raum. Frieda drehte sich um.

Sie und er waren die einzigen Kunden an diesem verstaubten Ort. Der Mann sah nicht nach Bauer oder Einheimischem aus. Ganz im Gegenteil. Er trug einen schicken Anzug und schnappte sich wie Frieda einen Einkaufskorb. Ein verlaufener Tourist. Offensichtlich. Auch wenn er Gott grüßte.

Frieda überlegte. Vielleicht noch ein Glas Rote Bete? Und dann stellte sie irritiert fest, dass irgendetwas an diesem Mann ihr seltsam bekannt vorkam. Das konnte nicht sein. Sie kannte hier niemanden. Und sie wollte hier auch niemanden kennenlernen. Sie wollte hier allein sein. Deshalb war sie hier.

Der Mann wandte sich an das einheimische Verkaufsgenie mit den fettigen Haaren.

»Haben Sie zufällig Andechser Biojoghurt? Himbeere?«

»Hammer nedda.«

»Kein Himbeerjoghurt oder kein Andechser?«

»Hammer nedda.«

Der Mann seufzte auf, griff nach einem anderen Joghurt und beäugte ihn kritisch. Frieda sah ihn deutlich von der Seite und ging hinter dem Regal mit den Essiggurken und den abgelaufenen Tütensuppen in Deckung.

Das konnte nicht wahr sein.

Das gab es nicht.

Ihr Gedächtnis spielte ihr einen Streich. Das war die viele frische Luft. Frieda war so was ja gar nicht mehr gewöhnt. Obwohl man jetzt hier im Laden eher eine Staublunge erwarten konnte als Frischluftgefühle.

Das war sicher alles nur, weil sie das alles hier trotz Dorfambiente an ihre frühen Jahre in München erinnerte.

So eine Art Flashback. Das sollte es geben in emotional he­rausfordernden Situationen. Und schließlich war es ja wohl mehr als emotional herausfordernd für Frieda, sechs Wochen allein auf eine Alm zu gehen.

Herausfordernder, als sie es sich selbst eingestehen wollte.

Frieda riskierte einen weiteren Blick durch ein paar Gläser auf den Mann. Verdammt.

Der sah aus wie Max. Max Schröder.

Das konnte nicht sein. Spinn nicht rum, versuchte Frieda sich zur Ordnung zu rufen.

Frieda lugte erneut zu dem Mann hin – diesmal durch die Essiggurken durch. Für eine etwas bessere Sicht musste sie ein Glas mit Roter Bete umstellen. Verfallsdatum irgendwann im Januar 2002. Unfassbar. Bei ihr in den Currywurstbuden stand ständig das Gesundheitsamt vor der Tür. Kontrolle hier, Kontrolle da. Und jetzt das hier. Mitten im ach so ordentlichen Bayern. Vergiss das Gesundheitsamt. Das hier war interessanter.

Frieda spähte nach vorn.

Ja. Doch. Das war Max. Dreiunddreißig Jahre älter, durchaus einiges an Falten, ziemlich graue Haare, aber wenigstens noch Haare, etwas schwerer, aber so gut erhalten, dass sie das arrogant wirkende Kinn durchaus sofort erkennen konnte. Frieda hatte ein unglaubliches Gesichtergedächtnis. Leider. Dabei gab es in ihrem Leben viele Gesichter, an die sie sich lieber nicht mehr erinnern wollte.

Und das hier war eindeutig Max Schröder.

DER Max Schröder.

Aus der 10B und 11C.

Der Max, der damals alles und jedes, was zwei Beine und zwei Brüste sein Eigen nennen konnte, flachlegte.

Keine ihrer Klassenkameradinnen war schnell genug auf einem Baum gewesen. Und zu Max’ Verteidigung musste man leider auch sagen, keine wollte vor Max auf die Bäume fliehen. Ganz im Gegenteil. Sie fielen von den Bäumen runter, geradewegs in den Schoß von Max.

Wie überreife Äpfel. Max musste sie weder pflücken noch aufheben. Nur reinbeißen.

Frieda verabscheute dieses Verhalten von ihren Geschlechtsgenossinnen damals zutiefst.

Wie konnte man sich einem Jungen nur so an den Hals werfen?

Frieda war dafür viel zu stolz.

Bis auf die eine Party, die Geburtstagsparty im Hobbyraum von Franz Mayer.

Da fiel auch Frieda. Plumps machte es. Sechs Cola-Cognac ließen sie in die Arme von Max fallen oder vielmehr torkeln.

Max war der Junge, der ihr den ersten richtigen Kuss ihres Lebens verpasst hatte. So richtig mit Zunge und allem Drum und Dran. Und das Drum und Dran waren Schmetterlinge im Bauch, weiche Knie und so eine Art elektrische Schläge ihre Wirbelsäule hoch und runter gewesen.

Ein erster Kuss, wie er besser nicht hätte sein können.

Atemberaubend. Unvergesslich. Großartig. Die Messlatte für alle zukünftigen Küsse hoch legend.

Frieda war lange Zeit von diesem Kuss beeindruckt.

Leider.

Denn bedauerlicherweise war dieser für Frieda erste Kuss für Max Schröder ja alles andere als ein erster Kuss gewesen. Ganz im Gegenteil. Für ihn war das damals wahrscheinlich der 193. Kuss gewesen. So mit Zunge und allem Drum und Dran. Oder vielleicht auch der 567. Kuss. Wer wusste das schon genau? Ganz sicher nicht Max selbst.

Wahrscheinlich hatte er zu jener Zeit alle Mädchen ihrer Klasse schon geküsst. Und vielleicht sogar mehr.

Frieda war wohl die Letzte, die er an seinen Kusskünsten teilhaben ließ.

Max hatte sich nach dieser Nacht nicht mehr an den Kuss erinnern können. Wie auch, wenn Frieda die Nummer einhundertvierundneunzig in seinem damals siebzehnjährigen Leben war. Aber für Frieda war er die Nummer eins, und sie konnte sich ständig und täglich an den Kuss erinnern und wurde fortan permanent knallrot wie eine Tomate, sobald sie Max nur von Ferne ansichtig wurde. Ein grauenvoller Zustand für eine sowieso schon von allem und jedem verunsicherte Siebzehnjährige mit viel zu großen Füßen.

Max tat danach, als wäre nie etwas zwischen ihnen in irgendeiner Form je passiert. Aber Frieda wurde bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit rot. Knallrot. Leuchtend rot. Tomatenrot.

Die Qual endete erst, als kurz darauf Friedas Vater nach Berlin versetzt wurde, die ganze Familie nach Charlottenburg umzog und Frieda auf eine neue Schule ging. Um dort auf neue Jungs zu treffen. Und auf neue Küsse. Und den ganzen verdammten Rest. Den Umzug fand sie damals furchtbar, aber wenigstens wurde sie ab da nie mehr rot.

Apropos rot.

Frieda fühlte eine schon lange nicht mehr bekannte Hitze in sich aufsteigen. Doch nicht jetzt! Waren das die Wechseljahre? Aber sie war doch noch gar nicht so weit und hatte noch nie Beschwerden mit Hitzewallungen gehabt?

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