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Jeden Tag dieselben Bilder und Berichte von brennenden Gebäuden, zerstörten Wohnblocks, verzweifelten Müttern und Kindern. Dazwischen mehrdeutige Statements unserer Politiker. Sie geben sich fest entschlossen – und wirken dabei eher ziellos. Ein wachsender Teil in unserer Bevölkerung wendet sich ganz ab, viele verlieren ihr Informationsinteresse und gehen den Nachrichten über Politik und Krieg ganz aus dem Weg. Nach dem Konflikt über die Migrationspolitik, nach dem Streit um die richtigen Corona-Maßnahmen beschimpft man sich über die "richtige" Haltung zu den Kriegen in Nahost und in der Ukraine. Sind Sie dafür oder dagegen? Jeder hat die einzig wahre Sicht, die andern gelten als ahnungslos oder borniert oder haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Deutschland spaltet sich in verfeindete Meinungslager. Können wir nicht mehr über Fragen der Mitverantwortung, über Solidarität und Hilfe für die Überfallenen nachdenken und miteinander Begründungen und Beurteilungen abwägen? Doch, genau dies wollten die beiden Autoren. Statt Gesinnung und Vorurteile gegeneinander zu stellen, diskutieren sie das Streitthema "Was geht uns der Krieg in der Ukraine an? Wie können wir im offenen Diskurs unsere Haltung überprüfen und klären?" Ihre Argumente stützen sich auf Erfahrungen, logische Erwägungen und grundrechtliche Werte. Dieses Buch gibt das Streitgespräch in Form von 25 Briefen wieder. Die Autoren haben sie im Laufe von sechs Monaten – von Mitte März 2023 bis Mitte September 2023 – geschrieben und ausgetauscht: eine schriftlich geführte Debatte. Dabei vertritt keiner von ihnen ideologische Besserwisser-Positionen.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
Michael Haller / Hans-Peter Waldrich
Schuld, Verantwortung und Solidarität.
Eine Kontroverse über Russland, Deutschland und die Nato im Ukrainekrieg
Köln: Halem 2024
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© 2024, by Herbert von Halem Verlag, Köln
ISBN (Print): 978-3-86962-692-5
ISBN (PDF): 978-3-86962-693-2
ISBN (ePub): 978-3-86962-694-9
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Michael Haller / Hans-Peter Waldrich
Eine Kontroverse über Russland, Deutschland und die Nato im Ukrainekrieg
HERBERT VON HALEM VERLAG
Vorbemerkung:Wie der Briefwechsel und daraus das Buch entstanden sind
Zum Auftakt
Teil 1:Wer trägt die Verantwortung?
Brief 1, Hamburg, Mitte März 2023
Brief 2, Freiburg, 23. März 2023
Brief 3, Hamburg, Anfang April 2023
Brief 4, Freiburg, 11. April 2023
Brief 5, Hamburg, Mitte April 2023
Brief 6, Freiburg, 18. April 2023
Brief 7, Hamburg, am Tag der Arbeit (1. Mai 2023)
Teil 2:Wo sind die Pazifisten geblieben?
Brief 8, Freiburg, Anfang Mai 2023
Brief 9, Hamburg, 15. Mai 2023
Brief 10, Freiburg, dritte Maiwoche 2023
Brief 11, Hamburg, 27. Mai 2023
Teil 3:Droht uns in Europa der Atomkrieg?
Brief 12, Freiburg, den 4. Juni 2023
Brief 13, Hamburg, Mitte Juni 2023
Brief 14, Freiburg, 27. Juni 2023
Brief 15, Hamburg, 28. Juni 2023
Brief 16, Freiburg, Anfang Juli 2023
Brief 17, Hamburg, Mitte Juli 2023
Brief 18, Freiburg, gegen Ende Juli 2023
Teil 4:Medien im Krieg – Wie informieren wir uns?
Brief 19, Hamburg, Anfang August 2023
Brief 20, Freiburg, 20. August 2023
Brief 21, Hamburg, Ende August 2023
Brief 22, Freiburg, Ende August 2023
Brief 23, Hamburg, Anfang September2023
Brief 24, Freiburg, zweite Septemberwoche 2023
Brief 25, Hamburg, Mitte September 2023
Zwei Nachworte: Was haben wir gelernt?
Nachwort von Hans-Peter Waldrich
Nachwort von Michael Haller
Literatur
Register
Über die Autoren
Sie beschimpfen sich, sie geifern gegeneinander; jeder hat die einzig wahre Sicht, die andern sind ahnungslos oder borniert oder haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Nach dem Konflikt über die Migrationspolitik, nach dem Streit um die richtigen Corona-Maßnahmen streitet man sich seit bald zwei Jahren über die Waffenlieferungen für die überfallene Ukraine, die Deutschland in verfeindete Meinungslager spaltet. Es scheint, als werde der echte Ukrainekrieg in Deutschland als Meinungskrieg ausgefochten.
Es geht offensichtlich um einen fundamentalen Wertekonflikt: Müssen wir uns vor Putins Atomraketen fürchten? Sollten wir nicht zuerst an uns und unsere Wirtschaft denken? Oder sind wir Wohlstandsbürger zu bequem geworden, um uns für die Menschenrechte der Ukrainerinnen und Ukrainer zu engagieren? Oder könnte es sein, dass uns die Medien mit ihren Katastrophen-Geschichten, ihren Putin-Verteufelungen und Appellen für die Waffenlieferungen an die Ukraine in die Irre führen?
Jeden Tag dieselben Bilder und Berichte von brennenden Gebäuden, zerstörten Wohnblocks, verzweifelten Müttern und Kindern. Dazwischen mehrdeutige Statements unserer Politiker. Ein wachsender Teil in unserer Bevölkerung wendet sich ab, viele verlieren ihr Informationsinteresse und gehen den Nachrichten über Politik und Krieg ganz aus dem Weg. Wie kommt das?
Deutschland gehört zur Gemeinschaft der Vereinten Nationen, Deutschland hat die Menschenrechtsabkommen der UNO ratifiziert; Deutschland ist Mitglied der Nato und unterstützt die Friedenspolitik seiner Bündnispartner. Warum reagieren so viele Menschen empört, wenn es um die Einlösung dieser Beistandspflicht für die Ukraine geht? Warum ergreifen die Leitmedien, wenn Fragen aufkommen, sogleich Partei für die Politik der Nato? Können wir denn nicht über die Frage der Verantwortung auf beiden Seiten, über das Für und das Wider der Waffenhilfe miteinander nachdenken und die Argumente gemeinsam abwägen?
Doch, genau dies wollten wir. Statt Gesinnung und Vorurteile gegeneinander zu stellen, haben wir das Riesenthema »Was genau bedeutet der Krieg in der Ukraine? Was können wir tun? Wie könnte der Weg aussehen, der zum Frieden führt?« im Fortgang unserer Meinungskontroverse durchleuchtet. Unsere Leuchtmittel sind Erfahrungen, Erwägungen und frische Gedanken.
Dieses Buch gibt unser Gespräch in Form von 25 Briefen wieder. Wir haben sie im Lauf von sechs Monaten – von Mitte März 2023 bis Mitte September 2023 – geschrieben und ausgetauscht: eine schriftlich geführte Debatte. Dabei vertritt keiner von uns ideologische Besserwisser-Positionen. Jeder steht vielmehr für eine der beiden in der Bevölkerung »mehrheitsfähigen« Positionen ein:
Hans-Peter Waldrich ist studierter Politikwissenschaftler und Publizist. Er hat verschiedene Bücher über Bildungspolitik veröffentlicht, gehört zur Friedensbewegung und ist überzeugter Atomwaffengegner: »Frieden statt Waffen!«.
Michael Haller, studierter Philosoph und Medienwissenschaftler, argumentiert aus der Sicht des Ethikers, für den der Schutz der Menschenrechte das höchste Gut bedeutet: »Wir müssen der Ukraine beistehen, auch mit schweren Waffen!«
Weshalb wollten wir diese Debatte führen? Wir sind zwei alte Männer, die am Ende des Zweiten Weltkriegs zur Welt kamen, die schon als Schüler befreundet waren, die gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, gegen Nato und die atomare Abschreckung auf die Straßen gingen, Manifeste schrieben und Proteste organisierten. Deren Lebenswege dann aber in verschiedene Regionen und Richtungen führten – und zu unterschiedlichen politischen Auffassungen.
Diesem Disput vorausgegangen ist die Beobachtung, dass eine wachsende Zahl an Menschen nicht mehr miteinander reden kann, dass die »demokratische Streitkultur« in der Medienöffentlichkeit schon wieder vergessen scheint. Vielleicht kann dieses Buch mancher Leserin, manchem Leser als Anregung dienen, auch über fundamentale Problemthemen den Gedankenaustausch zu suchen und dem Vorurteil zu widerstehen.
Das Motto unseres Gesprächs haben wir nicht Hegel, sondern Martin Walser entlehnt: »Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.«1
Michael Haller und Hans-Peter Waldrich
Hamburg und Freiburg, Ende September 2023
1Martin Walser über sich und sein Werk. Vorträge und Gespräche. München [Quartino] 2012
Ausgangspunkt unserer Debatte waren zwei Ereignisse: Das »Manifest für Frieden« und die Kundgebung »Aufstand für Frieden« in Berlin, veranstaltet von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer. Zur Einstimmung dokumentieren wir hier beide Ereignisse.
Manifest für Frieden
Das »Manifest« wurde am 10. Februar 2023 auf change.org veröffentlicht und von Alice Schwarzers Zeitschrift Emma unterstützt. Bis zum Sommer 2023 wurde das Manifest von rund 850.000 Personen unterzeichnet. Hier der Wortlaut:
Heute ist der 352. Kriegstag in der Ukraine (10.2.2023). Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert. Wenn die Kämpfe so weitergehen, ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land. Und auch viele Menschen in ganz Europa haben Angst vor einer Ausweitung des Krieges. Sie fürchten um ihre und die Zukunft ihrer Kinder.
Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität. Aber was wäre jetzt solidarisch? Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden? Und was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel dieses Krieges? Die deutsche Außenministerin sprach jüngst davon, dass »wir« einen »Krieg gegen Russland« führen. Im Ernst?
Präsident Selenskyj macht aus seinem Ziel kein Geheimnis. Nach den zugesagten Panzern fordert er jetzt auch Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – um Russland auf ganzer Linie zu besiegen? Noch versichert der deutsche Kanzler, er wolle weder Kampfjets noch »Bodentruppen« senden. Doch wie viele »rote Linien« wurden in den letzten Monaten schon überschritten?
Es ist zu befürchten, dass Putin spätestens bei einem Angriff auf die Krim zu einem maximalen Gegenschlag ausholt. Geraten wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg? Es wäre nicht der erste große Krieg, der so begonnen hat. Aber es wäre vielleicht der letzte.
Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen. Das sagt auch der höchste Militär der USA, General Milley. Er spricht von einer Pattsituation, in der keine Seite militärisch siegen und der Krieg nur am Verhandlungstisch beendet werden kann. Warum dann nicht jetzt? Sofort!
Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Es ist Zeit, uns zuzuhören!
Wir Bürgerinnen und Bürger Deutschlands können nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken. Doch wir können und müssen unsere Regierung und den Kanzler in die Pflicht nehmen und ihn an seinen Schwur erinnern:
»Schaden vom deutschen Volk wenden«.
Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt! Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben – und bringt uns einem 3. Weltkrieg näher.
Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht
+++
Die Kundgebung in Berlin am 25. Februar 2023
Auf dem Podium (von links): Erich Vad, Corinna Kirchhoff, Hans-Peter Waldrich, Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer.
Zwei Wochen später, am 25. Februar 2023, fand in Berlin die Großdemonstration »Aufstand für Frieden« statt. Dieser sei »der Beginn einer neuen starken Friedensbewegung«, erklären die Veranstalterinnen.
Die Nachrichtenagentur dpa berichtete über die Kundgebung wie folgt:
Alice Schwarzer hat die von ihr und Sahra Wagenknecht initiierte Kundgebung am Samstag in Berlin als »gewaltigen Erfolg« gewertet. »Ich bin total glücklich«, sagte die Frauenrechtlerin am Abend der Deutschen Presse-Agentur. »Es war eine so friedliche und fröhliche Stimmung. Keine parteigebundene Stimmung, keine Sektenstimmung. Da waren einfach Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die aus allen Ecken Deutschlands angereist waren, um ein Zeichen zu setzen.« Als am Ende Imagine von John Lennon gespielt worden sei, hätte sie am liebsten auf der Bühne getanzt.
Mit der Kundgebung wollten Wagenknecht und Schwarzer ihre Forderungen zum Umgang mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine untermauern. Sie hatten vor zwei Wochen ein »Manifest für Frieden« veröffentlicht, in dem sie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auffordern, »die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen«. Die Frauenrechtlerin und die Linken-Politikerin rufen darin zu einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen mit Russland auf. Kritiker hatten Wagenknecht und Schwarzer vorgeworfen, ihr Text sei »naiv«.
Schwarzer sagte zu der Stimmung am Samstag, auf dem Weg zu einem Café sei sie »durch einen Strom von Herzlichkeit und Zustimmung« gegangen. Die Menschen hätten sich bei ihr dafür bedankt, dass sie endlich die Möglichkeit bekommen hätten, ihre große Sorge vor einer Ausweitung des Ukraine-Krieges zum Ausdruck zu bringen. Rechtsextreme habe sie bei der Kundgebung nicht gesehen, sagte Schwarzer. Natürlich könne sie nicht ausschließen, dass einzelne Rechte da gewesen seien, es könne sich dabei dann aber nur um eine verschwindende Minderheit gehandelt haben.
Die Polizei hatte nach der Veranstaltung von 13.000 Teilnehmern gesprochen – die Veranstalter sprachen von 50.000 Teilnehmern.
© dpa-infocom, dpa:230225-99-738968/3
Briefe 1 bis 7
Lieber Hans-Peter,
kennst Du vielleicht den Weg, der weg vom Krieg in Richtung Frieden führt? Unsere Regierungspolitiker scheinen ratlos, unsere Leitmedien sind Parteivertreter und wirken hysterisch, viele Menschen sind verwirrt. Vor wenigen Tagen starb Antje Vollmer, die Theologin und geistreiche Politikerin der Grünen, die das Ethos des Politischen als Auftrag zur Befriedung der Welt noch ernst und ehrlich nahm. Kurz vor ihrem Tod schrieb die überzeugte Pazifistin in ihrem letzten Essay: »Warum nur fand ausgerechnet Europa, dieser Kontinent mit all seinen historischen Tragödien und Irrwegen, nicht die Kraft, zum Zentrum einer friedlichen Vision für den bedrohten Planeten zu werden?«2 Ja, warum nicht? Mit ihrem Rückblick auf die Nachkriegsgeschichte schrieb Vollmer: Der Hang der Westmächte, »sich zum Sieger zu erklären, ist eine alte westliche Hybris und seit jeher Grund für viele Demütigungen, die das ungleiche Verhältnis zum Osten prägen.« Dem kann ich voll zustimmen, nur: Dieser Rückblick hilft uns heute, im Krieg der Russen gegen die Ukrainer, nicht weiter.
Seit mehr als einem Jahr führt Russland diesen grauenhaften Angriffskrieg, ein Ende ist nicht in Sicht: ›Abnützungskrieg‹ ist das Schlagwort der Stunde. Britischen Geheimdienstberichten zufolge werden täglich mehr als tausend russische Soldaten getötet oder durch Verletzungen kampfunfähig. Auf ukrainischer Seite sollen es viele Hundert sein. Täglich sterben Zivilisten durch Raketentreffer und Granaten der russischen Artillerie, brennen Schulen und Krankenhäuser, zerbersten Wasserleitungen und explodieren Stromwerke. Auch wenn wir nur Zuschauer sind, so spüren wir doch dieses ungeheure Leid der betroffenen ukrainischen Menschen; wir spüren, dass Mitleid mit den Opfern keine Attitüde ist, sondern Mit-Leiden bedeutet. Alle Personen in meinem Freundeskreis helfen irgendwie betroffenen Ukrainern, die meisten den geflüchteten Frauen und Kindern, andere durch Spenden für die Bevölkerung in den zerstörten Dörfern und Städten der Ukraine.
Ich kenne niemanden, der nicht den Frieden für die Ukraine herbeisehnt. In einer aktuellen Umfrage vom März 2023 wünschen mehr als zwei Drittel der Befragten ein möglichst rasches Ende des Krieges und so auch Friedensverhandlungen. Natürlich kann eine Befragung nicht ermitteln, wie dieser Frieden erreicht werden könnte. Dafür werden in Zeitungskommentaren, auf den Kanälen der Social Media, in Podcast-Sendungen und in den zahllosen TV-Talkrunden wunderwirkende Ideen vorgestellt und vermeintlich Schuldige an den Pranger gestellt. Die einen finden, die Regierung in Kiew solle doch den Donbass und die Krim abtreten, dann wäre der um sein Image bangende Putin zufrieden. Andere wollen die Armee der Ukraine so rasch wie möglich weiter aufrüsten, damit sie weitere Gebiete befreien und die russische Armee so weit schwächen könne, bis der Kreml endlich zu Waffenstillstandsverhandlungen bereit sein werde. Manche fordern Konferenzen zwischen US-Präsident Biden und Kreml-Chef Putin, andere sehen Chinas mächtigen Staats- und Parteichef Xi Jinping als halbneutralen Vermittler, wiederum andere erinnern sich an die Gesprächsrunde in Istanbul im April 2022 und setzen auf den türkischen Regierungschef Erdoğan: Er solle die Kriegsbeteiligten wieder zusammenbringen.
Diese und viele weitere Ideen sprudeln in der öffentlichen Debatte, die Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer mit vielen Erstunterzeichnern – darunter auch Antje Vollmer – im Februar 2023 mit ihrem »Manifest für Frieden« initiiert haben und die durch eure »Friedensdemo« am 25. Februar in Berlin so richtig in Schwung kam. Beide Initiantinnen behaupteten in vollem Ernst, »eine Lösung für das Ende des Krieges« zu kennen.
Vielleicht haben solche Sätze der beiden Frauen die Journalisten dazu verleitet, mit Schlagseite zu berichten und oberschlau zu kommentieren – und für eure politischen Gegner sofort Platz freizuräumen. Zum Beispiel für Katrin Göring-Eckhardts Meinung, euer Aufruf sei »naiv und unehrlich« (Südkurier), er komme »im vergnügten Ton der Bevormundung« daher (Tagesspiegel) und bedeute »eine Beleidigung für die Ukrainer« (Kölnische Rundschau).
Ob es wirklich nur »Friedens-Sprücheklopferinnen seien« (Der Spiegel), die in Berlin zur Groß-Kundgebung riefen? Ich wollte statt der abwertenden Medienberichte den O-Ton hören und die Originalbilder sehen und habe mir darum die ungeschnittene Videoaufzeichnung Eurer Berliner Kundgebung angeschaut.3
Der Aufzeichnung zufolge hast Du, lieber Hans-Peter, auf dieser Friedensdemo in Berlin mit starken Worten und schockierend wirkenden Sprachbildern über die Gefahr einer weiteren Eskalation – Stichwort: Atomkrieg – gesprochen und sofortige Friedensverhandlungen eingefordert. Ich bin überzeugt, dass Du dies nicht als wohlfeile Meinung kundtatst, wie viele andere, die mit ihren Ansichten die Redner der Friedensbewegung munitionieren, obwohl sie keine belastbaren Aussagen machen können. Ich denke, dass Du als kenntnisreicher Politologe und erfahrener Streiter der Friedensbewegung konkrete Vorstellungen, vielleicht auch Vorschläge geben kannst, die mir helfen, den Realismus einzusehen, der in euren Forderungen stecken und der handlungsleitend wirken soll. Du hast das Wort.
Mit herzlichem Gruß
Michael
2 Antje Vollmers Essay vom 23.02.2023 findet sich hier (Bezahlschranke): https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ein-jahr-ukraine-krieg-kritik-an-gruenen-antje-vollmers-vermaechtnis-einer-pazi-fistin-was-ich-noch-zu-sagen-haette-li.320443
3 Die Reden der VeranstalterInnen können hier nachgehört werden: https://aufstand-fuer-frieden.de/
Ja, lieber Michael,
viele von uns empfanden die Berichterstattung mancher Mainstreammedien an der Grenze zur Diffamierung. Wer Frieden statt Waffen fordert, der gilt bereits als Putinist. Sag Du mir, warum es den Journalisten der meisten Medien immer schwerer fällt, die Nachrichten von ihrer Meinung getrennt zu halten? Darüber möchte ich mich mit dir als Medienforscher auch austauschen.
Jetzt aber geht’s um die Berliner Veranstaltung selbst. Du fragst mich, ob in den Forderungen, die wir beim ›Aufstand für Frieden‹ am 25. Februar in Berlin gestellt haben, Ansätze zu einem gangbaren Weg zum Frieden zu finden sind. Denn sicher reicht es nicht aus, nach Waffenstillstand und Verhandlungen zu rufen, ohne zeigen zu können, dass hiermit aktuell das Problem gelöst werden könnte.
In verschiedenen Erklärungen hat Bundeskanzler Scholz Friedensverhandlungen vorläufig ausgeschlossen. Über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg seien diese nicht denkbar. Ein Diktatfrieden könne nicht akzeptiert werden, man müsse damit rechnen, dass dieser Krieg noch länger dauere. Einig ist sich Scholz auch mit den Staats- und Regierungschefs der EU, die sich vor wenigen Tagen einigten, die Ukraine weiterhin humanitär, aber auch mit Waffen zu unterstützen und generell den Druck auf Russland zu erhöhen.
In Bezug auf diese Position stelle ich zwei Fragen: Was sind die Ziele sowohl des Bundeskanzlers wie auch der EU? Und kann wirklich davon ausgegangen werden, dass alle einen raschen Frieden wollen? »Ich kenne niemanden, der nicht den Frieden für die Ukraine herbeisehnt«, schreibst Du (18). Sicher wird das auf die Menschen in unserer Umgebung zutreffen. Das heißt aber noch lange nicht, dass es auch für die interessengeleitete Außenpolitik jener Mächte zutrifft, die an diesem Konflikt beteiligt sind.
Die Forderung nach einem Waffenstillstand und nach Friedensverhandlungen läuft also zunächst einmal auf die Überzeugung hinaus, dass das Geflecht jener Interessen, die sich in diesem Konflikt aufgeschaukelt haben, besser auf dem Verhandlungsweg aufgelöst werden kann als durch Krieg, und dass daher die Interessen und Ziele aller an diesem Konflikt Beteiligten zur Sprache kommen müssen. Die »Sprache« der Waffen ist dafür ungeeignet.
Zugrunde liegen folgende Voraussetzungen: Nahezu alle Kriege können ursächlich auf bereits lange bestehende Streitigkeiten reduziert werden. Krieg ist gewissermaßen die Verlegenheitslösung dieser Streitigkeiten, wenn der vorherige Interessensausgleich nicht stattfand bzw. versäumt wurde. So waren etwa die außenpolitischen Anstrengungen der Weimarer Republik zwischen Deutschland und Frankreich vor allem ein Versuch, gegenseitige nationale Kränkungen und vor allem die Demütigungen des Versailler Vertrags auf friedlichem Weg wieder gut zu machen. Selbstverständlich sind Hitlers Eroberungsgelüste nicht dadurch zu erklären, dass diese Versuche nur unvollkommen gelangen. Dennoch ist der Zweite Weltkrieg auch eine Folge des ungenügenden Interessensausgleichs.
Werden zur Zeit also Verhandlungen im Ukraine-Krieg von westlicher Seite abgelehnt, so scheint mir das geradezu ein Beweis dafür zu sein, dass es sich hier keineswegs mehr um einen reinen Verteidigungskrieg handelt, in dem das Richtige und das Verkehrte, das Gute und das Böse säuberlich geschieden werden können. Nicht das Ende des Kriegs, so scheint es mir, steht für den Westen daher auf der Tagesordnung, sondern implizit die Durchsetzung von Interessen, die im Hintergrund bereits lange schon eine Rolle spielten und nun – da der Krieg nun einmal da ist – konsequent weiterverfolgt werden.
Ich weiß, wie geradezu ungeheuerlich diese Behauptung für manche Ohren klingen mag. Sehen doch gerade wir Deutschen uns zum ersten Mal seit 1945 in einer bewaffneten Auseinandersetzung auf der Seite der Gerechtigkeit, vielleicht abgesehen von jener ebenfalls schon bedenklichen Intervention 1999 im Kosovokrieg. Und tatsächlich besteht ja kein Zweifel daran, dass der Überfall Russlands auf die Ukraine einen Bruch des Völkerrechts darstellt. Ebenso unbestreitbar ist es, dass nach Art. 51 der UN-Charta solidarische militärische Hilfe, also vor allem Waffenlieferungen rechtens sind.
Das schließt aber keineswegs aus, dass der Konflikt außer der widerrechtlichen Aggression Russlands noch eine ganze weitere Reihe von Ursachen hat, die nun eben – gewissermaßen stellvertretend für Verhandlungen – in kriegerischer Form einer Lösung zugeführt werden sollen. Um es provokativ zu wiederholen: Kriege sind oft Ersatzhandlung, nachdem der Aufbau einer klugen, diplomatisch gesteuerten Friedensarchitektur im Vorlauf verfehlt wurde. Auch dieser Krieg kann so gesehen als Symptom betrachtet werden, das eine tiefer liegende Dysfunktion anzeigt. Nämlich als Symptom für eine schlechte Außenpolitik der maßgebenden Mächte, denen es nicht gelang, eine stabile Friedensordnung aufzurichten.
Auch diese Behauptung mag einen provokativen Beiklang haben. Gilt nicht Putin als der Alleinschuldige an dieser Misere? Bereite ich hier nicht so etwas wie eine Täter-Opfer-Umkehr vor? Will ich nicht den Despoten Putin entlasten, wenn ich auf die eventuelle Mitschuld anderer hinweise? Die Antwort lautet, dass hier sorgsam unterschieden werden muss. Im außerpolitischen Konzert ist Schuld stets nur verteilt aufzufinden. Beginnt aber jemand einen Angriffskrieg, so ist er ohne Wenn und Aber der Angreifer und der Friedensbrecher. Von Kriegsverbrechen, sofern sie stattfanden, kann er schon gar nicht freigesprochen werden, nur er hat sie zu verantworten. Hieran kann nicht gerüttelt werden.
Das schließt aber nicht aus, dass zumindest der Möglichkeit nach auch der Angegriffene als Mitverursacher des kriegsauslösenden Konflikts infrage kommen kann. Die Schuld des einen löscht die eventuelle Schuld des anderen nicht aus. Da die Verursachung sozialer und politischer Konflikte also zumeist breit gestreut ist und fast ohne Ausnahme mehrere Akteure daran mitgewirkt haben, scheint es mir wichtig zu sein, sich die jeweilige Situation unter diesem Gesichtspunkt deutlich vor Augen zu führen. Wollen wir lernen, wie Frieden organisiert werden kann, so sind solche oft versteckten Ursachen von größter Bedeutung.
Leider scheint mir zurzeit gerade diese Sicht sträflich zu kurz zu kommen. Der Unwille zu verhandeln scheint mir daher genau diesen Hintergrund zu haben: Man verbirgt die eigene Beteiligung an der Wurzel und Entstehung des Konflikts. Man versteckt sich geradezu hinter einer selektiven Wahrnehmung und Interpretation des Ereignisses: eben der eindeutigen Verletzung des Völkerrechts auf der Seite Russlands. Und freilich wäre diese Blickverengung auch nicht förderlich, um erfolgreich Verhandlungen zu führen. Wäre man restlos davon überzeugt, dass die völkerrechtliche Schuld des Angriffs identisch mit der Gesamtschuld an dieser Auseinandersetzung ist, bräuchte man Verhandlungen gar nicht erst zu beginnen. Wer sich sicher ist, niemals irgendeinen Konfliktstoff geliefert zu haben, der braucht über Kompromisse nicht einmal nachzudenken. Wer dem außenpolitischen Kontrahenten jedes Recht auf ein begründetes Interesse abspricht und sein eigenes Interesse absolut setzt, der wird mit leeren Händen wieder nach Hause gehen. Sieht es aber anders aus, so könnte die Sprache der Waffen durch Diplomatie ersetzt werden.
Es liegt also eine gewisse Mehrdeutigkeit in der gegenwärtigen westlichen Ablehnung von Verhandlungen. Sie beruft sich einerseits auf Recht und Gerechtigkeit, weiß aber, dass man der anderen Seite durchaus Gründe geliefert hat, das Recht zu übertreten. Gehen wir davon aus, dass das Ende des Konflikts nicht durch militärische Gewalt erzwungen werden kann, sondern – der Gemengelage der Sache entsprechend – im Kompromiss liegen wird, so war unsere Forderung am 25. Februar, sofort Verhandlungen aufzunehmen, einer realistischen Sicht geschuldet. Was in der Realität Ergebnis gemeinsamer Irrtümer und Fehler ist, kann heutzutage nicht mehr entlang der Interessen nur einer einzigen Seite »durchgeprügelt« werden. Diese Methode legt den Zündstoff für spätere Folgekonflikte. Freilich gilt solches Reden in erster Linie für Russland, aber eben auch für den Westen.
Was Du dazu sagen magst? Ich bin gespannt.
Dein Freund Hans-Peter
Lieber Hans-Peter,
während der Lektüre deines Antwortbriefs gewann ich den Eindruck, dass Du der Frage »Wie kommen wir vom Krieg zum Frieden?« ausweichst und stattdessen die Frage aufwirfst, ob die Weststaaten – Du meinst vermutlich die USA mit ihren Nato-Verbündeten – eine doppelte Schuld träfe: zum einen als Mitverursacher der dem Krieg vorausgegangenen Konflikte, zum andern durch ihre Verweigerung, Friedensverhandlungen aufzunehmen. Ich kenne diese Positionen, sie decken sich grosso modo mit dem offenen Brief (»Manifest«) von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer an die Bundesregierung, den Du mitunterzeichnet hast. Beide Punkte kommen auch in den Reden vor, die Ihr an der Kundgebung am 25. Februar in Berlin gehalten habt. Aus meiner Sicht zielen beide Positionen am Kern des Problems vorbei. Bitte lass mich dies hier begründen.
Zur ersten Position: Du bindest die Suche nach Frieden zurück an die Ursachen des Konflikts. Diese müssten rekonstruiert werden, so verstehe ich dich, ehe der Weg zum Frieden gefunden werden kann. Diesen Ansatz halte ich für akademisch, vielleicht geeignet für ein Seminar mit angehenden Historikern. Als Handlungsziel für die Friedenspolitik erscheint er mir irreführend. Deine These, Kriege seien Ersatzhandlungen und könnten mit »einer klugen, diplomatisch gesteuerten Friedensarchitektur« vermieden werden, vertreten auch namhafte Publizisten der linksalterativen Szene. Doch aus meiner Sicht erzählen die seit dem Zweiten Weltkrieg stattgehabten Kriege eine andere Geschichte. Du sagst, dass Kriege »als Symptom für eine schlechte Außenpolitik« zu deuten seien (23). Das mag – wenn ich dem britischen Historiker Christopher Clark (deutsch: Die Schlafwandler, 2013) folge – für die Gründe des Ersten Weltkriegs zutreffen. Damals gelang es den europäischen Nationalstaaten tatsächlich nicht, »eine stabile Friedenordnung aufzurichten«, wie Du es formulierst. Wobei: Die damaligen Machtstaaten Europas standen im Widerstreit zwischen borniertem Nationalismus und imperialen Grandiositätsphantasien. Vermutlich wollten die Generalstäbe der Achsenmächte keine Friedensordnung. Kriegsführung galt ihnen noch im Clausewitz’schen Sinne als effektives Instrument zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele. Ich meine: Jene Sturköpfe waren vermutlich in Erinnerung an »Preußens Gloria« (FISCHER-FABIAN 1976) noch immer dem eitlen Renommier-Nationalismus des 19. Jahrhunderts verhaftet, Motto: »Viel Feind, viel Ehr!«.
Das änderte sich mit den ideologisch begründeten Herrschaftsansprüchen, zuerst durch die Bolschewisten der Sowjetunion, dann durch den faschistischen Autoritarismus: Mussolini als erster, gefolgt von Franco und den Nationalsozialisten mit ihren Vasallen im Südosten. Das Münchner Abkommen von 1938 gilt bis heute als Menetekel: Die auf eine »stabile Friedensordnung« gerichtete Besänftigungspolitik Chamberlains ermutigte Hitler, ein gutes halbes Jahr später das von den Nazis »Rest-Tschechei« genannte Gebiet militärisch zu besetzen. Die Analogie zu Putin mit seiner Annektierung der Krim und der folgenden Aufwiegelei im Donbass kommt nicht von mir, sie ist vielerorts beschrieben worden.
Aus westlicher Sicht war der Koreakrieg 1950/53 der wohl letzte ideologisch begründete Krieg. In Indien, Indochina und Vietnam, Rhodesien, Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Kongo und Algerien tobten indessen brutale Rückzugskriege der Kolonialmächte, die ihre Rohstoffressourcen sichern wollten. Daran ändert die von den US-Präsidenten Johnson und Nixon als Ideologem verkaufte Domino-Theorie nichts, der zufolge ganz Südostasien kommunistisch zu werden drohe (sozusagen eine antiideologische Ideologie). Tatsächlich ging es um die auf Ausbeutung gestützten hegemonialen Wirtschaftsinteressen der USA und ihrer Verbündeten. Der Weg zur »stabilen Friedensordnung« setzte damals die Unterwerfung unter das Regime des Dollars voraus, anfangs unter Bretton-Woods, anschließend unter dem Zepter der WTO. Die meisten im Namen der Freiheit und Menschenrechte von den USA geführten Kriege – ich spanne den Bogen vom Sturz des gewählten Regierungschefs Mossadegh 1953 im Iran, dann die Ermordung Allendes, gefolgt von der Pinochet-Diktatur in Chile 1973 bis zur Hinrichtung Saddam Husseins im Irak 2006 – dienten vor allem den Rohstoff-Interessen der kapitalistischen US-Wirtschaft. Chiles Kupfer, Irans Ölfelder und jene des Irak waren für die westlichen Energieindustrien verlockend, ähnlich wie es heute die seltenen Metalle für die Halbleiterindustrie sind. Heute zeigt China uns und der Welt, dass es auch anders geht: Peking investiert in die Infrastruktur zahlloser Staaten des globalen Südens und bewirkt auf friedlichen Wege durchaus ähnliche wirtschaftspolitische Abhängigkeiten wie damals die westlichen Kolonialmächte mit ihren terroristischen Kriegen.
Um die Hintergründe für den russischen Überfall auf die Ukraine zu verstehen, scheint mir noch eine andere Motivlage relevant. Bereits der blutige Einmarsch der USA in den Irak war neben dem wirtschaftspolitischen Interesse vor allem innenpolitisch motiviert: George W. Bush und sein Kriegstrommler Donald Rumsfeld wollten sich innenpolitisch als Sieger im selbsterklärten »Krieg« gegen Osama bin Laden und Al-Qaida feiern lassen. Da die US-Militärs in Afghanistan aber keine Erfolge vorweisen konnten, wurde der Irak kurzerhand der »Achse des Bösen« zugerechnet, den Staaten, die laut Bush »terroristische Verbündete« seien, die in seltsamer Weise die USA bedrohen »könnten«. Im September 2002 verkündete Bush, die USA müssten jetzt »weltweit« Freiheit und Gerechtigkeit verteidigen, außerdem dürften sie im Namen der nationalen Selbstverteidigung Präventivkriege auch ohne UN-Mandat führen. Ich sehe auch hier ein Muster, das Putin für seine Strategie übernommen hat: Seit 2014 macht er das, was Bush jr. der ganzen Welt vorgegaukelt hat. In Putins Reden agieren die Nato-Staaten in einer Art »Achse des Bösen«, weil sie den russischen Rückholdrang mit Eindämmung konterkarieren: Russland werde durch die Nato- Osterweiterung direkt bedroht und müsse seine Interessen mit der Annexion der (angeblich mehrheitlich von Russen bewohnten) Krim und dann mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine sichern. Ich hoffe, auch Du siehst, wie verdreht diese Rechtfertigung ist. Deren Logik entspricht diesem Muster: Weil aus dem Nachbarhaus die laute Musik immer lauter wird, darf ich jetzt das ganze Haus abfackeln.