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In der Medizin sagt man, die Therapie darf nicht schädlicher sein als die Krankheit. Überträgt man dies auf die weltweiten Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, müsste man wohl von einem der größten Kunstfehler der Geschichte sprechen. Die indirekten Kollateralschäden der Therapie stehen in keinem Verhältnis zu den Schäden durch das Virus selbst. Der Journalist und Bestsellerautor Jens Berger zeigt anhand zahlreicher nationaler und internationaler Beispiele, welche Schäden die Corona-Politik verursacht hat und immer noch verursacht. Schäden auf dem Gebiet der Ökonomie, der Ökologie und der Gesundheit - aber auch Schäden an unserer Psyche. Schäden, die so unsolidarisch verteilt sind, wie bei keiner Katastrophe zuvor. Schäden, die uns noch lange begleiten werden und unsere Gesellschaften nachhaltig verändern werden. Berger blickt über den Tellerrand von Infiziertenzahlen und Inzidenzen und richtet den Fokus auf Zusammenhänge, die in der Debatte gerne verdrängt und ignoriert werden. Erstmals werden hier Daten und Studien zusammengetragen, die außerhalb von Fachkreisen wenig Beachtung finden, da sie nicht in das Bild einer Politik passen, für die das Wohl und die Gesundheit der Bürger angeblich das oberste Primat sind.
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Seitenzahl: 260
Ebook Edition
Jens Berger
Schwarzbuch Corona
Zwischenbilanz der vermeidbaren Schäden und tolerierten Opfer
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ISBN 978-3-86489-834-4
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2020
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
Kein anderer Begriff wurde während der letzten eineinhalb Jahre so oft gebraucht und so oft missbraucht wie der Begriff der Solidarität. Aus Solidarität mit den Alten und Vorerkrankten, für die eine Infektion schwer oder gar tödlich verlaufen könnte, haben wir das ganze Land lahmgelegt. Gefragt wurden die »Risikogruppen« jedoch nicht. Wer weiß, vielleicht waren sehr viele von ihnen gar nicht so erpicht darauf, Weihnachten allein zu verbringen? Vielleicht wären sie lieber das Risiko einer Infektion eingegangen, als zum Beispiel ihre Enkel und Urenkel über Wochen und Monate nicht zu sehen, sie nicht in den Arm nehmen zu können?
Die Großmutter eines Freundes von mir musste ihren 100. Geburtstag ohne Familie oder Freunde im Heim verbringen. 100 Jahre. Die Frau hat die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs überlebt. Sie hat unter Aufbietung all ihrer Kräfte in schweren Zeiten ihren Kindern das Leben geschenkt und sie zu verantwortungsvollen Menschen erzogen. Sie hat so manche Lebenskrise durchlaufen und so manche Krankheit gemeistert und nun, an ihrem 100. Geburtstag, saß sie allein im Heim. Eine maskierte Pflegerin brachte ihr zumindest ein Stück Apfelkuchen und ein Glas Sekt. Doch ihre Kinder, Enkel und Urenkel durfte sie nicht sehen. Zwei Wochen später starb sie – nicht an Corona, vielleicht aber an Einsamkeit. Um ihre Hinterlassenschaften wegzuräumen, durften ihre Enkel übrigens das Altenheim betreten. Schließlich müsse das Zimmer schnell wieder frei werden. Alles im Namen der Solidarität.
Die Tochter eines anderen Freundes hat in diesem Jahr ihr Abitur gemacht. Als ich vor vielen Jahren mein Abitur gemacht habe, war dies – abseits der schulischen Fragen, die für mich damals ohnehin eine untergeordnete Rolle gespielt haben – eine wunderschöne Zeit. Wir haben gefeiert, getrunken, getanzt. Wir lagen uns in den Armen und haben die vielleicht letzten Tage einer unbeschwerten Jugend genossen. Kaum hatten wir unsere Zeugnisse in den Händen, ging es für viele erst einmal auf große Reise. Per Interrail haben wir Europa bereist, Gleichaltrige aus aller Herren Länder kennen und lieben gelernt, andere Kulturen entdeckt. Eine schöne Zeit. Für mich vielleicht die schönste Zeit in meinem Leben.
Für die Tochter meines Freundes war dieses Jahr keine schöne Zeit. Die letzten Monate ihrer Schulzeit verbrachte sie auf sich gestellt vor ihrem Rechner. Soziale Kontakte außerhalb der Familie waren zumeist auf den virtuellen Raum ausgelagert. Keine Partys, kein Tanz, keine Freude. Kein Umarmen, keine Küsse und keine Gelegenheit, die Jugend zu verabschieden. Die langen Monate zwischen Abitur und digitaler Immatrikulation an der Universität – monoton, isoliert. Bis heute hat sie ihre Kommilitonen nur am Bildschirm ihres Rechners gesehen. Ja, sie war solidarisch. Aber wer war solidarisch mit ihr?
Wer war in den letzten eineinhalb Jahren solidarisch mit all den Wirten und Hoteliers, die um ihr Lebenswerk bangen, vielfach schon kapituliert haben und im besten Falle einer mehr als ungewissen Zukunft entgegenblicken? Wer war solidarisch mit den Armen und in prekären Berufen Tätigen, die nicht den Luxus hatten, die Pandemie im Homeoffice auszusitzen und die gewonnene Freizeit zur Selbstverwirklichung zu nutzen? Wie solidarisch waren wir mit der alleinerziehenden Mutter, der in ihrer kleinen Plattenbauwohnung die Decke auf den Kopf gefallen ist und die nicht wusste, was sie mit ihrem dauergelangweilten Sohn noch anstellen soll, der aus Solidarität weder den Kindergarten noch den Spielplatz besuchen durfte?
O ja, die allermeisten Deutschen waren in den letzten eineinhalb Jahren so solidarisch, dass sie sich in eine Duldungsstarre begeben haben. Und die wenigen Menschen, denen der Kragen geplatzt ist und die aufbegehrt haben, wurden mit ausgestrecktem Finder als Querdenker, Spinner, Verschwörungstheoretiker oder gar Nazis verunglimpft. Zahlreiche TV- und Printformate halfen dabei, eine Lockdown-Ideologie aufzubauen, und schürten bei vielen Bürgern Ängste. Und wer Angst hat, ist anfällig dafür, Menschen zu verdammen, die ihm als Bedrohung präsentiert werden und von denen es heißt, sie seien unsolidarisch.
In Zeiten von Corona ist Solidarität eine Einbahnstraße. Kann man die Solidarität gegenüber der einen Gruppe überhaupt mit der Solidarität einer anderen Gruppe verrechnen? Man kann nicht nur, man muss. Die Solidarität mit den einen ist bei der Corona-Debatte auch immer die Unsolidarität mit den anderen. Hier einen gangbaren Mittelweg zu finden, ist schwer, und wer den Lockdown vor allem als solidarische Maßnahme sieht, verschließt sich der Kompromissfindung.
Warum ein Buch zu Corona schreiben? Wer will das lesen? Das war mein erster Gedanke, als mein Verleger Markus Karsten mir die Idee unterbreitete, ein Schwarzbuch Corona zu verfassen. Es ist doch eigentlich alles gesagt, wenn auch noch nicht von jedem. Doch dieser Eindruck täuscht: Obgleich eigentlich alles gesagt ist, wurde nur weniges davon gehört. Von Tag zu Tag nimmt die Debatte groteskere Züge an, und von Tag zu Tag werden die Gräben zwischen den Lagern tiefer. Viele Mitmenschen haben Angst. Die einen haben Angst vor dem Virus, andere haben Angst vor den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen, und wiederum andere haben Angst davor, dass der Staat die Grundrechte beschneidet und ein autoritäres Gesundheitsregime einführt. Ängste sind immer subjektiv, und jede dieser Ängste muss man respektieren. Das ist jedoch schwer in einer Zeit, in der man am liebsten jeden Widerspruch gegen ein »gesundes Volksempfinden«, das mit einer sehr einseitigen Auslegung des Begriffes Solidarität gekoppelt ist, ausgrenzen will.
Warum gibt es so wenig Kritik, und warum werden die Maßnahmen meist stoisch hingenommen? Sehen wir es doch mal aus folgender Perspektive: Seit nunmehr Jahrzehnten wurde unsere Gesellschaft getreu dem neoliberalen Ideal auf Individualismus getrimmt. Ein jeder sollte seines eigenen Glückes Schmied sein, Solidarität galt als Auslaufmodell. Damit konnten sich zum Glück sehr viele Bürger nicht anfreunden. Das Unwohlsein blieb dabei in vielen Fällen jedoch im Verborgenen. Wie viele unserer Mitbürger, die nun Solidarität für die Risikogruppen einfordern, haben in der Vergangenheit gegen Kinderarmut, Hungerrenten oder prekäre Jobs kritisch Stellung bezogen? Auch Armut tötet. Offenbar ist Solidarität oft nur dann Solidarität, wenn sie von Politik und Medien eingefordert wird und damit staatstragend ist.
Corona vereint einen Großteil der Bürger nun zu einer solchen staatstragenden »Solidar- und Schicksalsgemeinschaft«. Politik und Medien schreiten gleichförmig voran, und viele Bürger reihen sich freudig in die neue Gemeinschaft ein. Politologen nennen dies den »Rally-’round-the-flag-Effekt« – das letzte eindrucksvolle Beispiel dafür waren übrigens die Terroranschläge vom 11. September 2001. Die Muster sind eindrucksvoll: Es gibt eine große Gefahr (das Virus) und Gefährder (Demonstranten und Kritiker der Maßnahmen), ein gemeinsames äußerliches Erkennungszeichen (die Maske), gemeinsame Riten (Mindestabstand) und Vordenker, die den Weg weisen (die TV-Virologen), und über allem steht die Angst. Angst ist zwar ein schlechter Ratgeber, aber dafür das wohl denkbar geeignetste Motiv, sich einer derart allgegenwärtigen und gesellschaftlich akzeptierten Gruppenideologie zu unterwerfen. Die Gruppe nimmt mir die Angst und sorgt durch die für alle geltenden Maßnahmen nicht nur für meinen Schutz, sondern auch für den Schutz der Gesellschaft als Ganzes. Ich bin nicht mehr als Individuum meines eigenen Glückes Schmied und auf mich selbst gestellt, sondern Teil einer großen Volksgemeinschaft, die sich um mich kümmert.
Das ist sicher für viele Bürger ein schönes Gefühl – nur dass hier Wahrnehmung und Realität deutlich auseinanderklaffen. Stellen Politik und Medien schließlich nicht einmal im Ansatz die ideologische Basis unseres neoliberalen Systems infrage, das diesen Wunsch nach Gemeinschaft überhaupt erst geschaffen hat. Dies ist zuerst einmal staatstragend und damit letzten Endes systemstabilisierend. Wenn sich das Gros der Bevölkerung in Krisenzeiten hinter die politische Führung schart und die Medien sich als Hüter der Wahrheit gegen die bösen Kritiker aufspielen können, ist dies für die Politik ein Hauptgewinn, kann sie doch von den Ursachen der Misere ablenken und sich gleichzeitig als Retter von Menschenleben inszenieren. Was zählt aus Sicht der Lockdown-Ideologie schon das Wohl der Kinder, das Schicksal Alleinerziehender oder gar der Künstler und Gastronomen? Und die kritischen Geister, die Dinge hinterfragen, haben in dieser Gesellschaft ohnehin schon lange keinen Bestandsschutz mehr. Die Meinungsfreiheit wird nur dann großgeschrieben, wenn es sich um die »richtige« Meinung handelt. Wer die »falsche« Meinung hat, findet in den Talkshows der Republik keinen Platz und wird von Internetplattformen wie YouTube gelöscht. Corona hat auch dazu geführt, dass unsere Debattenräume immer enger werden.
Das ist es dann auch, wovor ich Angst habe – eine Spaltung der Gesellschaft, die so schnell nicht mehr zu kitten sein wird. Ich fühle mich nicht durch ein Virus, sondern durch Mitbürger gefährdet, die sich bei hinter der Politik zusammenrotten und Maßnahmen und Sanktionen gegen alles und jeden fordern, der als Gefahr für ihre mutmaßliche Volksgemeinschaft wahrgenommen wird. Ich fühle mich zudem durch eine Gesellschaft bedroht, die keinen Widerspruch zulässt. Demokratie lebt vom Diskurs und von der Debatte. Wenn wir beides unterdrücken, bewegen wir uns in sehr gefährliches Fahrwasser und zeigen, dass wir nichts aus unserer Geschichte gelernt haben. Davor habe ich Angst, und um meinen – vielleicht noch so kleinen – Teil dazu beizutragen, die Debatte um Facetten anzureichern, die im Dauerdiskurs um Inzidenzwerte, Mutanten und Impf-Priorisierungen untergehen, habe ich dieses Buch geschrieben.
Es soll hier nicht um eine Fundamentalkritik an allen Maßnahmen gehen. Überhaupt nichts gegen die Ausbreitung des Virus zu tun, ist keine Alternative. Bestimmte Maßnahmen sind nötig, aber sie müssen dann auch mit Augenmaß gewählt und so justiert werden, dass sie Kollateralschäden minimieren. Hier ist vor allem eine Abwägung verschiedener Interessen nötig, und dafür müssen auch andere Disziplinen als »nur« die Virologie und die Epidemiologie gehört und bei der Entscheidungsfindung mit einbezogen werden. Dies wurde in geradezu fahrlässiger Art und Weise versäumt, wie dieses Buch anhand vieler erschreckender Beispiele aufzeigt. Es ist wichtig, auf diese Fehler hinzuweisen, denn nur wer die Fehler kennt, kann auch aus ihnen lernen.
Dieses Buch wurde nicht geschrieben, um die Gefahren, die vom Virus ausgehen, zu verharmlosen. Obgleich dies eigentlich selbstverständlich ist, treibt mich die allgegenwärtige Unart, Kritiker der Corona-Maßnahmen oder auch nur Menschen, die die Gefahren des Virus etwas differenzierter sehen, als Verharmloser oder gar Leugner zu diskreditieren, zu diesem Statement. Ich bin nicht so naiv, anzunehmen, dass mir dieser Vorwurf allen Differenzierungen zum Trotz nicht gemacht werden wird. Man sieht halt meist nur das, was man sehen will. Auf langwierige »ceterum censeos« und Rechtfertigungen habe ich dennoch verzichtet. Wir wissen alle, dass Covid-19 eine gefährliche Krankheit ist. Das muss man nicht pausenlos und an jeder Stelle wiederholen.
Dieses Buch soll die Krankheit als solche nicht in den Mittelpunkt stellen – denn in diesem Punkt sind wir nicht unter-, sondern überinformiert. Um eine Einordnung dieser Thematik komme jedoch auch ich nicht herum. Der Schwerpunkt eines Schwarzbuches muss dennoch woanders liegen. Und zwar bei den Gefahren und Schäden, die mit den politischen Antworten auf das Virus, die Maßnahmen und Lockdowns angerichtet werden. Darauf haben wir bei den NachDenkSeiten seit Beginn der Pandemie immer wieder hingewiesen. Wer diese Punkte nicht kennt oder nicht wahrnimmt, wird nämlich nie die eine Solidarität mit der anderen Solidarität verrechnen und einen sinnvollen Mittelweg finden. Und der ist dringend nötig, denn Corona ist gekommen, um zu bleiben, und das Thema wird uns – ob wir es wollen oder nicht – noch lange Zeit beschäftigen.
Jens Berger
Wolfshagen im Harz
24. Mai 2021
Dass Angst ein schlechter Ratgeber ist, weiß bereits der Volksmund. Ängste sind meist das Produkt der subjektiven Wahrnehmung. Nachdem es im Jahr 2017 in zahlreichen europäischen Metropolen zu Terroranschlägen kam, rangierte die Angst vor Terror plötzlich laut repräsentativen Umfragen1 auf dem ersten Platz der wahrgenommenen Bedrohungen. Das ist aus rationaler Sichtweise erstaunlich, da es für einen normalen Menschen in Deutschland statistisch deutlich gefährlicher ist, selbst die Glühbirne auszutauschen oder das Fenster zu putzen, als Opfer eines Terroranschlags zu werden. Jedes Jahr sterben in Deutschland immerhin mehr als 9 000 Menschen2 durch Sturzverletzungen, während die Zahl der Terroropfer im langjährigen Schnitt kaum messbar ist. Wenn jedoch mal ein Terroranschlag mit Todesopfern passiert, beherrscht er tage-, wenn nicht wochenlang die mediale Berichterstattung, während es der tödliche Sturz beim Fensterputzen bestenfalls zu einer Randnotiz im Polizeibericht der Lokalzeitung bringt.
So bestimmt unsere Wahrnehmung, wovor wir Angst haben. Vor Dingen, die wir kennen, haben wir im Allgemeinen ebenfalls weniger Angst als vor Dingen, die neu, unbekannt oder außergewöhnlich sind. Selbst mancher aufgeklärte und kühl rational denkende Mensch hat beispielsweise – so er kein Vielflieger ist – ein Grummeln im Bauch, wenn er in einem startenden Flugzeug sitzt. Eine Radtour tritt man in der Regel jedoch völlig angstfrei an. Dabei ist das Risiko, bei einer gemütlichen Radtour ums Leben zu kommen, fünfzigmal so hoch wie bei einem Flug im Flugzeug. Dies ist zumindest eines der Ergebnisse einschlägiger Risikostudien3.
Es gibt sogar ein statistisches Maß für die Lebensgefährlichkeit bestimmter Tätigkeiten – das Mikromort. Ein Mikromort zeigt an, wie viele Menschen von einer Million bei einer bestimmten Tätigkeit oder einem Ereignis sterben. So beträgt die Gefahr, bei einem Flug im Flugzeug ums Leben zu kommen, 0,02 Mikromort, während eine fünfstündige Fahrt auf der Autobahn oder eine 49 Kilometer lange gemütliche Radtour bereits mit 1,0 Mikromort zu Buche schlagen4. Bezieht man die möglicherweise tödlichen Spätfolgen bestimmter Handlungen mit ein, kommt man auf noch erstaunlichere Werte. So entsprechen 1,4 Zigaretten, ein halber Liter Wein, 100 über Kohle gebratene Steaks und 40 Löffel Erdnussbutter jeweils einem Mikromort. Eine Vollnarkose sowie ein Fallschirmsprung kommen übrigens auf jeweils zehn Mikromort, während die Geburt eines Kindes mit 120 Mikromort schon beinahe ein Hochrisikoereignis ist. Das höchste in der Fachliteratur angegebene Einzelrisiko bringt übrigens eine Besteigung des Mount Everests mit sich. Hier beträgt das Risiko sportliche 35 000 Mikromort und ist mehr als doppelt so hoch wie das Risiko, bei einer Bypassoperation zu versterben.
Der größte kumulierte Risikofaktor ist jedoch, was sicherlich nicht überraschen kann, das Leben selbst. Für einen 18-Jährigen bringt jeder Tag ein allgemeines Risiko zu sterben5 von einem Mikromort mit sich. Für einen 90-Jährigen liegt das allgemeine Risiko, an jedem neuen Tag zu sterben, bereits bei 464 Mikromort.
Und wie gefährlich ist eine Covid-19-Erkrankung? Auf den ersten Blick sehr gefährlich. So kommen auf rund drei Million labortechnisch bestätigte Infektionsfälle in Deutschland rund 80 000 Todesfälle. Das entspricht einer Gefährlichkeit von 26 667 Mikromort. Die Gefährlichkeit variiert jedoch sehr stark, wenn man die Infektionen auf die bestimmten Altersgruppen unterteilt.
So entfallen lediglich 190 Todesfälle auf die rund 1,4 Millionen labortechnisch bestätigten Infektionsfälle in der Altersgruppe der unter 35-Jährigen (beides Stand 10. Mai 2021). Umgerechnet ergibt das ein Sterberisiko pro Infektion von 139,1 Mikromort. Würde man an dieser Stelle auch noch die Dunkelziffer der Infizierten ohne laborbestätigte Meldung mit einbeziehen, würde die Ziffer je nach Quelle um den Faktor Fünf bis Zehn kleiner ausfallen. Wir sprechen also von einer Lebensgefahr, die ungefähr dem Pensum entspricht, das man als Hobbyradler oder Autofahrer in einem Jahr auf oder in dem jeweiligen Verkehrsmittel verbringt oder aber dem Risiko, das von ein bis zwei Packungen Zigaretten beziehungsweise einer Kiste Wein ausgeht. Das ist nicht wirklich geeignet, um in Angst zu verfallen.
Geschlecht
Altersruppe (in Jahren)
0–9
10–19
20–29
30–39
40–49
50–59
60–69
70–79
80–89
90+
männlich
4
4
44
133
386
1 837
5 068
11 003
19 513
6 278
weiblich
8
3
26
68
188
755
2 205
6 184
18 979
12 172
gesamt
12*
7*
70
201
574
2592
7 237
17 187
38 522
18 450
* Zwei Fälle werden derzeit noch validiert.
An das RKI übermittelte Covid-19-Todesfälle nach Altersgruppe und Geschlecht
(Angaben verfügbar für 84 888 Todesfälle, 11. Mai 2021, 0 Uhr)
Quelle: RKI
Bei den Hochbetagten sieht die Situation jedoch vollkommen anders aus. Betrachtet man die Altersgruppe der über 80-Jährigen kommt man bei 283 000 laborbestätigten Infektionen auf dramatische 57 000 Todesfälle, was mehr als 200 000 Mikromort entspricht. Selbst unter Berücksichtigung der Dunkelziffer ist dies ein gewaltiges Risiko für Leib und Leben, das am obersten Ende der Risikoskala liegt.
Diese Berechnungen werden durch internationale Vergleichsstudien zur Sterblichkeit von Covid-19 bestätigt. Besonders hervorzuheben ist hier eine Studie6 des Center for Global Development, die sich als eine der wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen die Mühe gemacht hat, die Sterblichkeit nicht nur für die verschiedenen Altersgruppen und Geschlechter, sondern auch gesondert für das Vorliegen einer sogenannten Vorerkrankung auszuwerten. Die Ergebnisse sind erstaunlich.
Sterblichkeit in Prozent (IFR)
Frauen
Männer
Vorerkrankung
0
> 0
0
> 0
Alter
0–9
0,00004
0,0361
0,00004
0,0397
10–19
0,00004
0,0361
0,00004
0,0397
20–29
0,0002
0,0543
0,0003
0,0963
30–39
0,0009
0,1364
0,0014
0,2100
40–49
0,0020
0,1847
0,0035
0,3057
50–59
0,0112
0,6353
0,0185
0,7865
60–69
0,0438
1,2395
0,1105
2,0008
70–79
0,1749
2,3906
0,4755
4,3483
80+
1,0913
7,1848
3,6682
20,0846
Sterblichkeit nach Alter, Geschlecht und Vorerkrankung
Quelle: Predicted Covid-19 Fatality Rates Based on Age, Sex, Comorbidities, and Health System Capacity – Center for Global Development, Working Paper 535 June 2020
Für unter 20-Jährige ohne Vorerkrankung liegt die Sterblichkeitsrate (IFR) bei kaum messbaren 0,00004 Prozent oder 0,4 Mikromort. Eine Infektion ist also in etwa so (un)gefährlich wie eine kleinere Fahrradtour. Für 20- bis 50-Jährige – und damit die Gruppe, die in Deutschland den Großteil der Neuinfektionen ausmacht – liegt die Rate zwischen 0,0002 Prozent und 0,0035 Prozent. Und selbst für 60- bis 69-Jährige ohne Vorerkrankung ist sie mit 0,044 Prozent bis 0,11 Prozent überschaubar und liegt im Bereich der normalen Grippe. Anders sieht es aus, wenn eine einschlägige Vorerkrankung vorliegt. Auch dann liegt die Sterblichkeitsrate bei allen unter 60-Jährigen zwar immer noch deutlich unter 1 Prozent. Bei Männern zwischen 60 und 70 Jahren geht der Wert jedoch bereits auf 2 Prozent hoch.
Richtig gefährlich wird Covid-19 aber erst dann, wenn zu einem hohen Alter auch noch Vorerkrankungen kommen. Für Männer über 80 mit Vorerkrankungen beträgt die Sterblichkeitsrate beispielsweise schwindelerregende 20,1 Prozent. Das heißt, jeder fünfte Mann über 80, der eine einschlägige Vorerkrankung vorweist, überlebt laut Statistik die Krankheit nicht. Bei einer Virenerkrankung, die derart leicht ansteckend wie Covid-19 ist, ist dies in der Tat ein äußerst bedrohlicher Wert.
Diese nackten und an dieser Stelle emotionslos vorgetragenen Zahlen entsprechen – vor allem für die jüngeren Altersgruppen – natürlich in keiner Weise der Wahrnehmung der Gefahr. Es ist den Menschen jedoch nicht zu verdenken, dass sie gerade im Fall von Covid-19 die individuelle Gefahr derart irrational überhöhen. Schuld daran ist die undifferenzierte Berichterstattung fast aller Medien. Einerseits hat man in der gesamten Berichterstattung viel zu wenig auf die unterschiedlichen Risiken hingewiesen und andererseits auch noch zusätzlich durch tragische, aber eben auch sehr, sehr seltene Einzelbeispiele aus den jüngeren Altersgruppen einen falschen Eindruck von der Gefährlichkeit für diese Altersgruppen vermittelt.
Selbst ein Sterblichkeitsrisiko von einem zehntel Promille heißt ja letzten Endes, dass von 10 000 Infizierten eine Person verstirbt. Während des Höhepunkts der zweiten Welle im Winter 2020/21 entsprach dies bei 20 000 Infizierten aus der Altersgruppe der unter 50-Jährigen in der Spitze jeden Tag zwei Todesfällen. Insgesamt sind seit Beginn der Pandemie in Deutschland zwar weniger als 900 Menschen unter 50 Jahren an oder mit der Krankheit gestorben, und die allermeisten der Sterbefälle hatten zudem schwere Vorerkrankungen, aber mit geballter investigativer Energie gelang es den Medien immer wieder, genau die Ausnahmen von der Regel ausfindig zu machen, die ein falsches Bild von der Gefährlichkeit vermitteln konnten.
Vor allem bei Kindern und Jugendlichen hat man subjektiv den Eindruck, dass es fast mehr Schlagzeilen über Sterbefälle als Sterbefälle selbst gibt. Nach den offiziellen Zahlen des Robert Koch-Instituts sind seit Beginn der Pandemie gerade einmal sieben Teenager an Covid-19 verstorben – allesamt mit schweren Vorerkrankungen. Zynisch könnte man nun entgegnen, dass »Hund beißt Briefträger« nun einmal keine Schlagzeile ist, »Briefträger beißt Hund« jedoch für einen Aufmacher taugt. Dieser Zynismus blendet jedoch die Folgen der Berichterstattung aus. Während sicherlich kein Hundehalter Angst vor bissigen Briefträgern hat, haben Millionen junge Menschen und deren Angehörige Angst vor einer Covid-Infektion. Diese Ängste führen wiederum zu irrationalen, gesellschaftlich verheerenden Folgen, die in den späteren Kapiteln beschrieben werden.
Große Verwirrung gab es vor allem in der frühen Phase der Pandemie über die Frage, wer eigentlich als Corona-Toter gelten kann. Während in den klassischen Medien damals sämtliche vom Robert Koch-Institut gemeldeten Sterbefälle als »an Corona« Verstorbene bezeichnet wurden, setzte sich in kritischen Kreisen, vor allem in den sozialen Netzwerken, das Narrativ durch7, niemand sei »an Corona« verstorben; es handele sich vielmehr um eine Art »Testphänomen«, da Coronaviren nun einmal weitverbreitet seien und daher auch bei Menschen nachweisbar sind, die an ganz anderen Ursachen verstorben sind. Beide Erzählungen sind falsch.
Nach Definition des Robert Koch-Instituts gilt jeder als Covid-19-Toter, bei dem Covid-19 nachgewiesen wurde und der an einer dazu passenden Krankheit gestorben ist. Das von einigen Kritikern immer wieder angeführte Beispiel, nach dem ein Opfer eines Verkehrsunfalls als »Corona-Toter« gelte, wenn man bei ihm das Virus positiv nachweisen könne, ist also falsch. Richtig ist jedoch, dass vor allem zahlreiche höchstbetagte Patienten, die an multiplen Vorerkrankungen – teils im finalen Stadium – litten und sich mit dem SARS-CoV-2-Virus infizierten und dann verstarben, in den meisten Fällen in der Tat als Corona-Tote gezählt wurden und werden, auch wenn die Todesursache sich unmöglich isoliert auf einen einzigen Faktor reduzieren lässt. Wie groß die Zahl der dabei vielleicht zu Unrecht als Corona-Tote mitgezählten Verstorbenen ist, lässt sich jedoch nur schwer seriös schätzen. Selbst kritische Stimmen wie der Pathologe Klaus Püschel8 und der Virologe Alexander Kekulé9 schätzen die Fehlerquote durch diese Definition jedoch als »nicht wesentlich« ein. Hinzu kommt der ebenfalls nicht sonderlich große Effekt in die andere Richtung, dass bei einigen wenigen an Covid-19 Verstorbenen kein Test auf das Virus unternommen wurde. Aber das ist wohl Erbsenzählerei.
Zusätzlich erschwert wird die Definitionsfrage dadurch, dass es hier keinen internationalen Konsens gibt und die Zahlen verschiedener Länder untereinander nicht vergleichbar sind. So wurden zum Höhepunkt des Infektionsgeschehens während der ersten Welle in der Lombardei – auch mangels zur Verfügung stehender Testkapazitäten – alle Todesfälle, die »in Verdacht« standen, etwas mit dem Virus zu tun zu haben, als Corona-Tote gezählt. Später wurden die Zahlen sogar noch nach oben korrigiert, da man die sogenannte Exzessmortalität angewandt hatte. Dieses statistische Verfahren ist eigentlich eher als Instrument zur Bestimmung der Grippe-Toten bekannt. Da bei Toten, die zum Beispiel an einer Pneumonie gestorben sind, in der Regel kein Test auf das Grippevirus vorgenommen wird, behilft man sich bei der Schätzung der Opferzahlen mit einer einfachen Überschlagsrechnung – man schaut, wie viele Menschen im langjährigen Schnitt in einem bestimmten Zeitraum sterben, vergleicht dies mit den aktuellen Zahlen und definiert die Abweichung als Übersterblichkeit, die man dann ganz einfach der Grippe zuschreibt. Dieses Verfahren ist statistisch sehr ungenau und steht schon lange in der Kritik. Auf Corona angewendet ist es jedoch nicht nur ungenau, sondern führt zu geradezu fahrlässigen Überschätzungen. Um dies zu verdeutlichen, eignet sich das Beispiel Lombardei sehr gut.
Während der dramatischen Phase brach dort das komplette Gesundheitssystem zusammen. Wer beispielsweise eine bakterielle Pneumonie hatte und eigentlich eine intensivmedizinische Behandlung hätte bekommen müssen, starb. Wer einen schweren Herzinfarkt oder einen schweren Schlaganfall bekam, starb ebenfalls in vielen Fällen, da das Gesundheitssystem schlicht keine Kapazitäten für solche Fälle mehr hatte. Nun ist die Lombardei eine der Regionen, die weltweit mit den höchsten Altersdurchschnitt hat, sodass schwere, nicht coronabedingte Erkrankungen, die ohne intensivmedizinische Behandlung zum Tode führen, nicht gerade selten sind. Die Exzessmortalität hilft hier jedoch nicht weiter, da diese Fälle in den Vorjahren vom Gesundheitssystem abgefedert werden konnten, die Menschen also nicht verstarben und somit nicht in die Zahlen eingingen.
So hat Corona dazu geführt, dass eine unbekannte – aber sicher sehr große – Zahl von »normalen« Schwersterkrankungen zum Tode führten und über die Berechnung der Übersterblichkeit dann als Corona-Tote gezählt wurden. Das ist nicht ganz falsch, da die Todesfälle ja »coronabedingt« waren, aber nicht mit dem Virus und Covid-19 direkt im Zusammenhang standen. Hier müsste man also davon sprechen, dass diese Menschen weder »an« noch »mit«, sondern »durch« Corona gestorben sind.
Die gleiche Zählweise wurde von den französischen Behörden vorgenommen. Auch hier gab es – vor allem im Elsass und in Lothringen – einen medizinischen Notstand, der eine konkret nicht seriös zu bestimmende Zahl von »nicht coronabedingten« Erkrankungen zu »coronabedingten« Todesfällen gemacht hat, die in die offiziellen Zahlen mit eingingen.
Die weltweit höchsten Todesziffern – gerechnet auf die Bevölkerungszahl – musste während der ersten Welle Belgien vermelden. Auch wenn Belgien eine mit Deutschland vergleichbare Definition der Todesfälle hat, so wurde sie im Nachbarland auf konkreter Handlungsebene gänzlich anders angewandt. Dort zählte man während der erste Welle mangels freier Test- und Pathologiekapazitäten einfach sämtliche Todesfälle mit, bei denen es einen Zusammenhang mit Covid-19 geben könnte. Viele dieser »Corona-Toten« wurden jedoch nie auf das Virus getestet. Durch diese eigenwillige Zählweise wurde Belgien zum internationalen Schlusslicht, obgleich das Virus dort nicht wesentlich stärker gewütet hatte als in den Nachbarländern.
Das andere Extrem ist Russland. Dort zählt nur derjenige als »Corona-Toter«, bei dem eine Obduktion Covid-19 als klare und einzige Todesursache festgestellt hat. Das klingt zwar vorbildlich, führt in der Praxis jedoch zu einer tendenziell zu niedrigen Sterbezahl, da auch in Russland Sterbefälle, für die es eine natürliche Erklärung gibt, gar nicht erst obduziert werden. So vermeldeten die russischen Behörden Mitte März eine »wundersame« Zunahme von Sterbefällen durch Lungenentzündung10, während die offiziellen Covid-19-Todesfälle gemessen im internationalen Vergleich erstaunlich gering waren.
Auch in Deutschland gab es sehr lange eine Ungewissheit, wie viele der offiziell Verstorbenen denn nun tatsächlich ursächlich an einer Covid-19-Erkrankung gestorben sind. Eine Empfehlung11 des Robert Koch-Instituts während der ersten Welle, keine Obduktionen an Corona-Toten zu unternehmen, verschärfte diese Ungewissheit. Zum Glück wurde diese Empfehlung jedoch von den Fachgesellschaften für Pathologie schnell scharf kritisiert12 und wenige Wochen später vom RKI