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Deutschland, Musterschüler Europas? Politik und Medien preisen täglich die Leistungsfähigkeit Deutschlands, nicht ohne uns im gleichen Atemzug zu ermahnen, den Gürtel doch bitte enger zu schnallen. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt - die Grenzen zwischen Selbstbeweihräucherung und schrillem Alarmismus verschwimmen immer mehr. Doch wie gut sind wir wirklich? Jens Berger wirft einen unbestechlichen Blick u. a. auf die derzeitige Demokratiekrise, auf Wirtschafts-, Finanz- und Gesundheitspolitik, auf Rente und Soziales. Wir sind Vize-Exportweltmeister, haben das begehrte AAA-Rating und hangeln uns von einem XXL-Aufschwung zum nächsten. Gleichzeitig wissen Millionen Deutsche am Monatsende nicht mehr, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. Ihnen droht die Altersarmut, während ihre Kinder sich von einem Zeitvertrag zum nächsten schleppen. Geht es der Bevölkerung tatsächlich gut, wenn es der Wirtschaft gut geht? Ist die schwäbische Hausfrau wirklich ein passendes Leitbild für eine Volkswirtschaft? Wird Demokratie überhaupt noch gelebt, oder ist sie mittlerweile zu einer hohlen Phrase für Sonntagsreden verkommen? Und wer ist eigentlich der Souverän - die Banken oder das Volk? Sind die Medien noch ein "Sturmgeschütz der Demokratie" oder nur die "Spritzpistole Angela Merkels"? Kann die Bewegung der Empörten ein Korrektiv sein? Jens Berger unterzieht Deutschland einem Stresstest und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis.
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Seitenzahl: 327
Ebook Edition
Jens Berger
STRESSTEST DEUTSCHLAND
Wie gut sind wir wirklich?
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ISBN 978-3-86489-003-1
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2012
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
Inhalt
Einleitung: Auf der Suche nach dem Glück
1 Demokratiekrise: Leben wir im besten aller denkbaren Systeme?
Willkommen in der Parteiendemokratie
Wie systemverdrossen ist das Volk?
Wer hat uns verraten?
Willkommen in der Bionade-Republik
Stuttgart 21 – ein postdemokratisches Lehrstück
Wo ist die Alternative?
2 Zwischen Mediendemokratie und Mediokratie
Vom Sturmgeschütz der Demokratie zu Angela Merkels Spritzpistole
Ratschläge vom Wirtschaftsklempner
Das systemische Versagen der Medien
Machtkartell Bertelsmann
Die Meinungsmacht der Campagneros
Porsche-Klaus und die Selektivität der Medien
Öffentlich-rechtliche Klofrauen
Retten die Blogger die Demokratie? The good, the bad and the ugly
Gefahren für die digitalen Bürgermedien
3 Lobbyismus: Doch man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht
Etikettenschwindel mit Schuldenuhr
Der Lobbyist als Diener zweier Herren
Der Drehtüreffekt
Lukrative Nebenjobs
Wolfgang Clement – wenn Lobby und Politik verschmelzen
Friedrich Merz – ein politisch-lobbyistisches Gesamtkunstwerk
Es muss ein Ruck durch unseren Bundestag gehen
4 Wirtschaftspolitik: Kennst du das Land, in dem die Löhne blühen?
Der Neoliberalismus ist nicht zu bremsen
Autos kaufen keine Autos
Bewusstseinsverändernde Droge mit drei Buchstaben
Die schwäbische Hausfrau als Kardinalfehler deutschen Denkens
Fremdwörter für Fortgeschrittene: Binnennachfrage
Der Flügelschlag eines schwäbischen Schmetterlings
Unsoziale Marktwirtschaft
Hurra – wir sind Weltmeister!
Pyrrhussieg für Chermany
Gleichgewicht oder Währungskrieg?
Lohnsteigerung als Königsweg aus der strukturellen Krise
Mit Vollgas in die Sackgasse
5 Sozialpolitik: Gerechtigkeit ist mehr als eine Frage der Moral
Eine Frage des Abstands
Aufstocker – willkommen im Putzfrauenparadies
Krisenbewältigung nach Art der drei Affen
6 Steuersystem: Umverteilung einmal andersrum
Steuersenkungen durch die Hintertür
7 Gesundheitspolitik: Dr. Knock – oder der ökonomische Erfolg im Gesundheitssektor
Rohrkrepierer Kostenexplosion
Das böse Spiel mit den »demographischen Zombies«
Die gefühlte Kostenexplosion
Der Angriff der Lobbyisten
Renditeobjekt Krankenhaus: Wie aus der Schwarzwaldklinik ein Profitcenter wurde
Renditeziel fünfzehn Prozent
Aus Krankenschwestern werden Kostenfaktoren
Pflegenotstand ante portas
8 Finanzpolitik: Auf dem Weg zur marktkonformen Demokratie
Spekulantenbilder
Geld aus dem Nichts
Das Geschäft mit den Staatsanleihen
Die Erpressung
Eurokrise – Europa im Visier der Banken
Hurra! Wir sparen uns zu Tode!
Schockstrategie: Kann die Welt am deutschen Wesen genesen?
Eurobonds als Ausweg aus der Eurokrise
Das Ende der Spekulation wäre möglich
Inflation – das deutsche Reizwort
Nachwort: Demokratie in Gefahr
Anmerkungen
Literatur
Einleitung Auf der Suche nach dem Glück
In der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Jahr 1776 wird das Recht auf »Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit« als das unveräußerliche Recht eines jeden Menschen bezeichnet. Der kleine Himalaja-Staat Bhutan hat das Glück seiner Bürger sogar zum Staatsziel erhoben. Dort bemisst sich der Erfolg der Politik nicht am Bruttoinlandsprodukt, sondern am »Bruttonationalglück«. Jede öffentliche Investition und jede politische Gesetzesänderung müssen sich dort daran messen lassen, ob sie dem Allgemeinwohl dienen. Diese Maxime mag für deutsche Leser, die als Maßstab für erfolgreiches politisches Handeln eher materielle Benchmarks wie Effizienz, Produktivität, Rendite und Profit kennen, ungewöhnlich, ja vielleicht sogar naiv klingen. Warum eigentlich?
Es versteht sich von selbst, dass wirtschaftliche Kennzahlen kein reiner Selbstzweck sind. Umso erstaunlicher ist es jedoch, dass eben diese wirtschaftlichen Kennzahlen von Politikern und Medien immer wieder isoliert zum Maß aller Dinge erhoben werden. Deutschland strebt nicht nach Glückseligkeit, sondern nach steigenden DAX-Kursen. Nicht das Bruttonationalglück, sondern das Bruttoinlandsprodukt ist die Benchmark politischen Handelns. Dabei heißt es schon im Amtseid, den jeder Bundeskanzler und Bundesminister ablegen muss: »Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden […] werde.« Dem Wohl der Wirtschaft haben die Verfasser des Grundgesetzes wohlweislich keinen Verfassungsrang zugesprochen.
Gleichwohl stehen wirtschaftliche Kennzahlen keinesfalls im Gegensatz zum Streben nach Glückseligkeit. Denn es ist nicht per se falsch, eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts anzustreben, und selbstverständlich ist es für das Land zunächst einmal von Vorteil, wenn es der hiesigen Wirtschaft gutgeht. Analog zum bekannten Sprichwort, nach dem Geld nicht alles, ohne Geld aber alles nichts sei, könnte man auch sagen, dass Wirtschaftswachstum nicht alles, ohne Wirtschaftswachstum aber alles nichts ist.
Seit mehreren Jahren hat die Mehrheit der Deutschen das Gefühl, dass es ihr von Jahr zu Jahr schlechter geht. Die Preise steigen, die Löhne stagnieren, immer häufiger reicht selbst für die Angehörigen der Mittelschicht am Ende des Monats das Geld nicht mehr aus, um alle Rechnungen pünktlich zu begleichen. Fragt man die Deutschen, wovor sie Angst haben, stehen nicht etwa der Klimawandel oder der internationale Terrorismus an erster Stelle, sondern die steigenden Lebenshaltungskosten.1 Noch sind zwei Drittel aller Deutschen mit ihrem persönlichen Lebensstandard eher zufrieden.2 Es sind jedoch ebenfalls zwei Drittel, die sich vor einem künftigen persönlichen sozialen Abstieg fürchten.3 Mehr als die Hälfte aller Deutschen ist zudem der Ansicht,4 dass der allgemeine Lebensstandard in Deutschland künftig eher sinken wird. All dies steht im krassen Gegensatz zur jüngeren Entwicklung der deutschen Wirtschaft, die Jahr für Jahr neue Umsatz- und Gewinnrekorde meldet, während das Bruttoinlandsprodukt trotz Weltwirtschaftskrise und kurzzeitiger Rückschläge solide und stetig steigt. Nehmen die Menschen den XXL-Aufschwung – O-Ton Rainer Brüderle – etwa nicht wahr? Oder haben sie erkannt, dass er nichts mit ihrer persönlichen Situation zu tun hat?
Wäre das Glück auch hierzulande Staatsziel, müsste die Regierung wohl eine Kommission einberufen, um die Diskrepanz zwischen den wirtschaftlichen Kennzahlen und dem Empfinden der Menschen zu untersuchen. Die Wirtschaftswissenschaft kann – und will – diese Diskrepanz offensichtlich nicht aufklären. Das Fach Wohlfahrtsökonomik gilt hierzulande als Außenseiterfach, da es »normativ« ist, also Werturteile fällt. Moderne Ökonomen lieben nackte Zahlen, unterlassen es jedoch, aus diesen Zahlen Werturteile herzuleiten. Darum wird das Fach Wohlfahrtsökonomik auch nur an wenigen deutschen Universitäten überhaupt gelehrt.
Auch das Fach Wirtschaftsethik führt an den deutschen Universitäten ein Schattendasein. Trotz großer Nachfrage seitens der Bologna-gestressten Studierenden bietet nur jede zweite Wirtschaftsfakultät dieses Fach an5 – zu den abschlussrelevanten Pflichtveranstaltungen gehört es fast nirgends. Stattdessen werden den Studenten der Wirtschaftswissenschaften auch heute noch unhaltbare Thesen wie die der universellen Gültigkeit der Marktgesetze eingebleut.
Der US-amerikanische Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz bringt die vermeintliche Unfehlbarkeit ökonomischer Erkenntnisse in einem kurzen Satz auf den Punkt: »Die Ökonomie ist die einzige Wissenschaft, in der sich zwei Menschen einen Nobelpreis teilen können, weil ihre Theorien sich gegenseitig widerlegen.«6
Man versucht seitens der herrschenden Lehrmeinung erst gar nicht, die Diskrepanz zwischen Theorie und Realität zu erklären. Vielmehr werden die Menschen, die nicht daran glauben, dass sie etwas vom XXL-Aufschwung haben, bezichtigt, einer Sinnestäuschung zu unterliegen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Dass die Menschen aber nicht Opfer von Sinnestäuschungen sind, belegen unzählige Statistiken, von denen einige in späteren Kapiteln noch angeführt werden.
Welchen Maßstab könnte man also anlegen, wenn man die Frage beantworten will, ob es uns gut geht und ob das Land auf dem richtigen Weg ist? Das Glück oder die Glückseligkeit wären zwar die ideale Benchmark. Leider ist Glück jedoch nicht messbar, und zum Glücksempfinden gehören viele Faktoren, die mit politischen oder wirtschaftlichen Fragen nicht unbedingt im Zusammenhang stehen, etwa das private Umfeld oder die Gesundheit. Einen praktikableren Ansatz bietet da schon die eingangs zitierte Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten: Nicht das Glück als solches, sondern das »Streben nach Glückseligkeit« gilt dort als unveräußerliches Recht. Eine Politik, die den Menschen das Streben nach Glückseligkeit ermöglicht, wäre somit eine denkbare Benchmark für unsere Lagebestimmung.
Begriffe wie Glück oder Freiheit sind zugleich sehr subjektiv. Guido Westerwelle und Sahra Wagenknecht vertreten nicht nur einen anderen Freiheitsbegriff, sondern haben vermutlich auch unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Politik das Streben der Menschen nach Glückseligkeit unterstützt. Eine Benchmark, die hier Klarheit bringt, muss demnach auch normativ sein, sie muss Ziele setzen, deren Erreichung wünschenswert erscheint.
Die Glücksforschung gibt uns da zumindest einen empirischen Befund. Nach dem neoliberalen Dogma fördert Ungleichheit den Wettbewerb, spornt die ärmeren Schichten an, ihren Lebensstandard durch Leistung zu verbessern, und sorgt daher für eine Gesellschaft, in der ein jeder mit vollem Einsatz sein (ökonomisches) Glück suchen kann. Dass diese Theorie falsch ist, belegten die britischen Epidemiologen Kate Pickett und Richard Wilkinson in einer aktuellen und aufsehenerregenden Studie.7 Pickett und Wilkinson haben in jahrzehntelanger Arbeit Daten zum Zustand der Gesellschaft in modernen Industriestaaten gesammelt und ausgewertet. Sie untersuchten unter anderem die Verbreitung von psychischen Erkrankungen, den Drogenkonsum, die Zahl der Selbstmorde, die Höhe der Lebenserwartung; sie fragten nach dem Bildungsniveau, nach Schwangerschaften von Minderjährigen und der sozialen Mobilität. Die Wissenschaftler kamen zu dem – vielleicht überraschenden – Ergebnis, dass soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft es begünstigt, dass negative Faktoren besonders häufig auftreten.
Nicht nur die Armen, sondern alle soziale Schichten leiden unter der Ungleichheit. So ist beispielsweise die Zahl psychischer Erkrankungen in den USA, wo es gewaltige Einkommensunterschiede gibt, fünfmal so hoch wie in den skandinavischen Ländern und betrifft vor allem Personen mit einem höheren Einkommen. Ungleichheit führt zu Statusangst auf allen Ebenen einer Gesellschaft, und diese macht die Menschen nicht nur unglücklich, sondern auch krank. Die Ergebnisse von Pickett und Wilkinson decken sich mit Studien der University of Leicester.8 Dort wurde mit Hilfe einer Metaanalyse aus mehr als hundert verschiedenen Studien eine Weltkarte des Glücks erstellt. Auch hier konnten die skandinavischen Länder, in denen Einkommen und Vermögen relativ gleichmäßig verteilt sind, Spitzenplätze erzielen, während Länder, in denen es große Unterschiede bei der Einkommens- und Vermögensverteilung gibt, schlecht abschnitten.
Die Benchmark für den Stresstest Deutschland ist somit eine gerechte Gesellschaft, in der Einkommen, Vermögen und Macht möglichst gleich verteilt sind, in der die Menschen keine Angst vor sozialem Abstieg haben müssen und die sich durch eine hohe Einkommens- und Bildungsmobilität – das heißt durch gute Aufstiegschancen für die ärmeren Schichten –, auszeichnet. Eine solche Gesellschaft hat sich ansatzweise in Deutschland in der Nachkriegszeit bereits entwickelt. »Wirtschaftswunder« wurde das Schlagwort für diese gut zwei Jahrzehnte andauernde rasante Entwicklung. Auferstanden aus Ruinen der eigenen Großmannssucht, wurde der Westteil des Landes zu einem demokratischen Staat, in dem Freiheit nicht nur eine hohle Phrase war.
Natürlich kann man dieses »Wirtschaftswunder« nicht losgelöst von seinem historischen Kontext betrachten. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag das Land in Trümmern, viele Angehörige der jüngeren und mittleren Generation waren im Krieg gefallen. Das Land brauchte nicht nur Arbeiter, sondern auch speziell geschulte Fachkräfte und Akademiker, die dann natürlich auch höhere Einkommen erzielen konnten. Die oberen Schichten reichten als »Reservoir« für diesen Bedarf nicht aus, also musste man auch den Nachwuchs der unteren Schichten rekrutieren. Dies ging nur, indem man das Bildungssystem sukzessive öffnete, um eine erhöhte soziale Mobilität zu ermöglichen.
Man sollte auch nicht vergessen, dass sich der kapitalistische Westen damals in einem Wettbewerb der Systeme befand und sich selbst und seinen Bürgern stets aufs neue beweisen musste, dass der Kapitalismus dem Sozialismus überlegen sei. Insofern fand auch die Freiheit der politischen Betätigung im neuen demokratischen Deutschland 1956 mit dem Verbot der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) ihre Grenze.
Die Periode zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Wiedervereinigung zeichnete sich auch durch ein komplett anderes Selbstverständnis des Staates aus, als wir es heute – nach dem Siegeszug des Neoliberalismus – kennen. Der starke Staat, dessen Wirken weit in sämtliche wirtschaftliche Belange reichte, war in dieser Periode der Regelfall. Damals gab es noch keine Spitzenverdiener, die der Politik Steuersenkungen abpressten und offen mit ihrem Wegzug drohten. Bis ins Jahr 2000 lag der Spitzensteuersatz in Deutschland stetig zwischen 53 Prozent und 56 Prozent und galt für alle Einkommensarten. Heute liegt er bei 42 Prozent und gilt nur für Einkommen aus eigener Arbeit – Einkünfte aus Kapitalanlagen, Mieten und Dividenden werden pauschal mit lediglich 25 Prozent versteuert. In den »erzkapitalistischen« USA lag der Spitzensteuersatz in der Nachkriegszeit bis zum Jahre 1965 sogar bei 91 Prozent und betrug 1981 beim Amtsantritt Ronald Reagans immer noch stolze siebzig Prozent.
Wenn der Staat nicht freiwillig auf Einnahmen verzichtet, kann er es sich natürlich auch leisten, Rahmenbedingungen zu schaffen, die das Streben nach Glück bestmöglich garantieren. In Deutschland betrugen die Staatseinnahmen in den Fünfzigern und Sechzigern mehr als 27,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – unter den Kanzlern Gerhard Schröder und Angela Merkel ist dieser Wert auf unter 22,5 Prozent gesunken. Wann immer über die angeblich horrende Staatsverschuldung palavert wird, sollte man im Hinterkopf behalten, dass Deutschland nahezu schuldenfrei wäre, wenn die Regierungen Kohl, Schröder und Merkel die Staatseinnahmenquote nach der Wiedervereinigung nicht durch teilweise groteske Steuersenkungen für Unternehmen und Besserverdienende gesenkt hätten.
Eine weitere Benchmark für unseren Stresstest ist somit ein aktiver Staat, der sein Handeln am Wohl seiner Bürger ausrichtet, wie es ja auch der Amtseid der deutschen Kanzler und Bundesminister vorsieht. Ziel wäre demnach ein Land, in dem man die Schichtzugehörigkeit und Entlohnungsstufe seiner Bewohner nicht bereits am Zustand des Gebisses erkennt. Ein Land, in dem es möglich ist, dass auch Arbeiter ihre Kinder auf die Universität schicken, die dann auch im späteren Leben die gleichen Chancen haben wie Kinder aus »besserem Hause«. Ein Land, in dem keine Angst vor sozialem Abstieg, Armut oder Arbeitslosigkeit herrscht.
Dem Begriff Stresstest kommt in diesem Buch gleich doppelte Bedeutung zu. Die rasante Entwicklung, die das Land seit dem Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise durchmacht, stellt für unsere Gesellschaft einen Stressfaktor par excellence dar. Gleichzeitig greift der Begriff »Stresstest« in ironischer Weise die Stresstests des vergangenen Jahres auf. Ganz gleich, ob es sich dabei um den Stresstest für das Immobilienprojekt Stuttgart 21, den Stresstest für die Atommeiler oder die zahlreichen Stresstests für das Bankensystem handelte – die Ergebnisse dieser Stresstests standen bereits von vornherein fest, und ihr einziger Sinn und Zweck lag darin, besorgte und verängstigte Menschen zu beruhigen. Dieses Buch will freilich nicht beruhigen, sondern vielmehr zum Nachdenken anregen und wachrütteln. Es will den Finger in die Wunde legen. Dabei soll Kritik jedoch nicht zum Selbstzweck verkommen, sondern auch stets Alternativen aufzeigen. Es soll nicht nur um nackte Zahlen gehen, sondern vor allem um die Menschen, deren Schicksale sich hinter diesen Zahlen verbergen. Es behandelt auch weniger konkrete tagespolitische Fragen und Entscheidungen, sondern analysiert die Strukturen und Strategien, die diesen tagespolitischen Problemen zugrunde liegen.
Trotz – oder gerade wegen? – der Globalisierung und der digitalen Revolution ist unsere Welt nicht einfacher, sondern um vieles komplexer geworden. Politik und Medien preisen täglich die Leistungsfähigkeit Deutschlands, nicht ohne uns im gleichen Atemzug zu ermahnen, den Gürtel doch bitte enger zu schnallen.
Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – die Grenzen zwischen Selbstbeweihräucherung und schrillem Alarmismus verschwimmen immer mehr.
Um diese täglichen, widersprüchlichen Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können, will ich in diesem Buch verschiedene Politikbereiche auf den Prüfstand stellen. Dabei werden vermeintliche Wahrheiten hinterfragt und Alternativen zu angeblichen Alternativlosigkeiten aufgezeigt. In einer besseren Welt würden die Medien diese Aufgabe erfüllen, und ein Buch wie dieses wäre überflüssig. Man muss aber leider konstatieren, dass diese – im wahrsten Sinne des Wortes – aufklärerische Arbeit von den Medien mehr und mehr vernachlässigt wird. Anstatt die herrschende Meinung, den Meinungsmainstream, zu hinterfragen und fair über Alternativen zu berichten, werden Positionen, die nicht im Einklang mit der vorherrschenden Meinung stehen, lieber »links liegengelassen« und ausgeblendet.
Der vorgenommene Stresstest deckt vor allem die Politikbereiche ab, die für das Streben nach Glück maßgeblich sind. Dies ist insbesondere das demokratische System als solches, das nicht nur den Rahmen, sondern auch die Orientierung staatlichen Handelns vorgibt. Schlussendlich liegen alle in diesem Buch behandelten Fragen und Probleme im Entscheidungshorizont der Politik. Ihr kommt daher auch eine ganz entscheidende Rolle bei der Bewertung zu. Das macht die Sache jedoch keinesfalls einfacher. Denn die Entscheidungsprozesse in der Politik verlaufen leider nicht nach dem simplen Schema, dass Politiker sich eigene Gedanken um die Zukunft des Landes machen, sondern es gibt viele Faktoren, die in die politischen Entscheidungsprozesse hineinspielen und sie beeinflussen. An erster Stelle ist da der Lobbyismus zu nennen, der sich in den letzten Jahren zu einer echten Gefährdung des demokratischen Systems entwickelt hat. Eine sehr wichtige Funktion kommt in diesem Kontext auch den Medien zu. Sie sind nicht nur die vierte Gewalt, die den Staat, die Parteien und die Politik überwachen soll, sondern auch ein wichtiger Akteur bei der politischen Willensbildung – nicht nur für den Wähler, sondern mit zunehmender Tendenz auch für die Politiker selbst.
Wenn es um das Streben nach Glück geht, spielen natürlich auch ökonomische Fragen eine wichtige Rolle, da wirtschaftliche Faktoren ganz entscheidend zum subjektiven Glücksempfinden beitragen. Daher werden auch unser Wirtschaftssystem und dessen wirtschaftspolitische und ideologische Leitlinien unter die Lupe genommen. Außerdem sollen das Gesundheitssystem und die Bereiche Rente, Arbeit und Soziales näher beleuchtet werden – sind sie es doch, die für unsere soziale Sicherheit verantwortlich sind.
Natürlich muss ein Stresstest auch auf die Handlungsoptionen eingehen. Aktuell ist Deutschland mit einer Finanzkrise konfrontiert, die nicht nur viele Paradigmen über den Haufen geworfen hat, sondern auch in Form der Eurokrise maßgeblich den Handlungsspielraum für künftige Regierungen bestimmt. Schon heute steht die Politik dieses Landes unter Finanzierungsvorbehalt. Sollte sich die Politik nicht aus den Schlingen der Finanzmärkte befreien und sich selbst in die babylonische Gefangenschaft einer »marktkonformen Demokratie« begeben, könnten sich sämtliche Diskussionen über Detailfragen schon bald erübrigt haben, da nicht mehr wir, die Bürger, sondern die Finanzmärkte über unsere Zukunft entscheiden. So viel sei vorweggenommen – unser Streben nach Glück ist den Analysten der Investmentbanken und Ratingagenturen herzlich egal.
1 Demokratiekrise: Leben wir im besten aller denkbaren Systeme?
Zahlreiche Umfragen der letzten Jahre kommen übereinstimmend zu dem Befund, dass ungefähr die Hälfte der Deutschen mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, wenig oder gar nicht zufrieden ist.1 Je ärmer die Menschen sind, desto schlechter funktioniert ihrer Meinung nach die Demokratie.2 Für 73 Prozent der Arbeitslosen, 63 Prozent der Hartz-IV-Haushalte und sechzig Prozent der Haushalte mit einem Nettoeinkommen von unter 700 Euro gilt demnach, dass sie der Demokratie skeptisch gegenüberstehen. Jeder zweite Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger würde die Demokratie nicht verteidigen. Vor allem im Osten hat sie kein besonders gutes Image. Jeder zweite Ostdeutsche spricht einem demokratischen System generell die Fähigkeit ab, Probleme zu lösen. Das sind höchst gefährliche Alarmzeichen.
Nun darf man aber nicht den Fehler machen, Verdruss und Unzufriedenheit über die derzeitige Funktionsweise unserer Demokratie mit einer Ablehnung der Demokratie gleichzusetzen. Dieselben Umfragen kommen nämlich ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die ganz überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung ein demokratisches Staatswesen, das Grundgesetz und den Sozialstaat für verteidigenswert hält. Man sollte also eher von einer Politik-, Politiker-, Parteien- oder Systemverdrossenheit sprechen, demokratieverdrossen sind die Deutschen (noch) nicht. Die Unzufriedenheit mit der Demokratie, der Politik, den Politikern und Parteien ist eigentlich nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Politik in zentralen Fragen dauerhaft gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung regiert. Das ist bezogen auf Hartz IV so, die Rentemit 67, die Gesundheitsreformen oder auch auf den Kriegseinsatz in Afghanistan. Man könnte noch eine ganze Reihe weiterer Politikfelder aufzählen, bei denen die Bürger das Gefühl gewonnen haben, dass ihre Meinung bei der Politik, den Parteien und den Regierungen nicht mehr gefragt ist. Schlimmer noch: Ihre Meinung kommt in der öffentlichen Debatte gar nicht mehr vor.
Unser politisches System gehört zu den freiesten, die es je gab. Da die Freiheit des einen aber auch immer die Unfreiheit des anderen ist, sollte man sich darüber im klaren sein, wessen Freiheit der Politik eigentlich am Herzen liegt. »Freiheit hoaßt koa Angst habn, vor neamands«, sang einst der Liedermacher Konstantin Wecker. Angst war aber schon immer ein Element der Politik – der Verängstigte stellt weniger Fragen und lässt sich leichter regieren. Eine solche Politik hat mit der Freiheit aller Bürger also wenig zu tun. Und die Deutschen haben Angst. Sie haben Angst, ihren Job zu verlieren oder in das Heer der zahllosen »working poor« abzu-gleiten; sie haben Angst davor, im Alter ihren Lebensstandard nicht mehr halten zu können; sie haben Angst, in einer immer schneller werdenden Welt abgehängt zu werden.
Anstatt diese Ängste zu beseitigen, schürt die Politik sie durch den Abbau des Sozialstaats und subtil gestreuten Sozialdarwinismus. Solange unsere Demokratie die Ängste der Menschen nicht wirklich ernstnimmt und Mittel und Wege findet, sie zu beseitigen, wird es ihr auch nicht gelingen, aus den Verängstigten engagierte Demokraten zu machen. Warum sollte man ein politisches System verteidigen, das einen selbst zum Verlierer abstempelt und keine ernstzunehmende Lebensperspektive bietet?
Willkommen in der Parteiendemokratie
Alle Macht geht vom Volke aus, heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik. Aber stimmt das? Geht die Macht in Deutschland wirklich vom Volke aus? Kritische Zeitgenossen werden diese Frage wahrscheinlich verneinen, denn sie beobachten, dass doch die Parteien als Repräsentanten des Volkes immer mehr Macht an sich reißen. Die Macht der Parteien geht inzwischen weit über den politischen Gestaltungsauftrag hinaus, den ihnen das Grundgesetz zubilligt. Das Parteibuch entscheidet, wer einen Posten im höheren Staatsdienst bekommt, die obersten Richter des Landes werden nach Parteibuch und Parteienproporz ernannt, und sogar die Wächter der Demokratie, die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, mögen zwar staatsfern sein – parteienfern sind sie aber nicht einmal im Ansatz. Die Parteien setzen sich über die Gewaltenteilung hinweg – sie kontrollieren die Exekutive, die Judikative, die Legislative und teilweise sogar die Medien, die von Optimisten immer gern als vierte Gewalt im Staat bezeichnet werden. Ein Staatsgebilde ohne Gewaltentrennung ist allerdings keine Demokratie. Will man das Staatssystem der Bundesrepublik auf einen griffigen Nenner bringen, könnte man daher auch von einer Parteienherrschaft sprechen.
Wie konnte es passieren, dass eine vorbildliche Verfassung, wie es die deutsche ist, durch die Parteien derart ausgehöhlt werden konnte? Die Antwort auf diese Frage wird vielen nicht so sehr gefallen: Das Volk hat den Parteien die Macht auf dem Silbertablett dargeboten.
Die Bürger fühlen sich von den Parteien zwar nicht wirklich repräsentiert, machen allerdings auch keinerlei Anstalten, an diesem Zustand etwas zu ändern. Wenn ihnen alle paar Jahre wieder die einzige Möglichkeit geboten wird, Politik mitzugestalten, versagen sie auf ganzer Linie – entweder, sie nehmen diese Möglichkeit nicht wahr oder sie stimmen mit überwältigender Mehrheit für das politische System, das sie an anderer Stelle kritisieren. So unzufrieden kann das Volk demnach mit der Politik gar nicht sein. Aber vielleicht entspricht die Mehrheit der kritischen Beobachter auch ganz einfach nicht dem repräsentativen Durchschnitt, und es gibt so etwas wie die »schweigende Mehrheit«, die Richard Nixon einst immer dann in den Ring warf, wenn seine wertkonservative Politik von den liberalen Demonstranten auf der Straße kritisiert wurde. Hatte Nixon vielleicht recht? Gibt es auch in Deutschland eine »schweigende Mehrheit«, die gar nicht so unzufrieden mit der Politik ist, wie es kritische Betrachter ausgemacht haben wollen?
Eine Antwort auf diese Frage könnte auch das Orakel der Demoskopen nicht geben. Denn leider verschaffen die Sprüche dieses Orakels keine Klarheit, sondern bieten nur weiteren Diskussions- und Interpretationsspielraum. Zwar ist die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bei einigen Sachfragen, etwa Rente mit 67 oder Krieg in Afghanistan, anderer Meinung als die überwältigende Mehrheit der Parlamentarier, dennoch schlägt sich dieser Dissens nicht im politischen Stimmungsbild nieder. Nur jeder Zehnte der Befragten, die überhaupt wählen würden, erklärt bei Umfragen, seine Stimme auch der einzigen Partei zu geben, die bei den erwähnten Sachfragen mit der Mehrheit des Volkes übereinstimmt. Ähnlich sieht es beim Thema Mindestlohn aus. In diversen Umfragen erklärt die übergroße Mehrheit der Bevölkerung, dass sie einen Mindestlohn für richtig hält, bei der konkreten Wahlentscheidung spielt dieses Thema jedoch offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle, zumindest wählt sie nicht die Partei, die sich dafür einsetzt.
Dafür gibt es drei mögliche Erklärungen:
Die Themen, bei denen die Parteien nicht die Meinung ihrer Wähler vertreten, werden von den Wählern eher als unwichtig betrachtet. Die Wahl einer Partei ist immer die Einigung auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner. Wenn man beispielsweise zu 75 Prozent mit dem Parteiprogramm der CDU übereinstimmt, beim Thema Afghanistan allerdings anderer Meinung ist, muss dies kein Hindernis sein, diese Partei trotzdem zu wählen.
Parteien, mit denen man in bestimmten Bereichen übereinstimmt, scheinen durch andere Positionen oder aber die öffentliche Wahrnehmung unwählbar. So spielt es für die allermeisten Wahlberechtigten gar keine Rolle, welche Position beispielsweise die NPD zu bestimmten Themen hat, da diese Partei für sie ohnehin nicht wählbar ist.
Der Wähler ordnet sich dem Paternalismus des politischen Systems unter. Ein Kind würde schließlich auch nicht seine Eltern in Frage stellen, wenn sie sich bei der Wahl des nächsten Urlaubsortes nicht an seinen Wünschen orientieren. Um diesen Effekt zu verstärken, benutzt die Politik gern den Trick, gewisse Positionen als alternativlos darzustellen.
Wie systemverdrossen ist das Volk?
Die beliebte These, nach der die Deutschen politikverdrossen seien, lässt sich bereits mit dem Blick in jede x-beliebige Kneipe oder deren virtuelles Pendant, die sozialen Netzwerke im Internet, widerlegen. Es wird gejammert, diskutiert, debattiert und gestritten, dass die Fetzen fliegen. Neu ist jedoch, dass es nur sehr selten vorkommt, dass einer der Diskutanten sich offen auf die Seite einer Partei stellt. Der politische Diskurs ist lebhaft, er findet jedoch heute jenseits der Parteienpolitik statt. Die vielzitierte »Politikverdrossenheit« trifft also nicht den Kern des Problems.
Mit den Politikern, die als Talk-Show-Helden auftreten, haben die wenigsten ihrer Wähler und Nichtwähler irgendetwas gemein. Der Politiker von heute ist kein Idol, er ist kein Visionär und auch kein ehrlicher Makler. Er ist ein PR-Produkt, austauschbar in seiner belanglosen Unverbindlichkeit. Kennt eigentlich noch irgendwer die großen »Leuchttürme« der Politik des vergangenen Jahrzehnts: Ruprecht Polenz, Hubertus Heil, Klaus Uwe Benneter oder Peter Hinze? Wird in fünf Jahren noch irgendwer Ronald Pofalla, Hermann Gröhe, Alexander Dobrindt oder Andrea Nahles kennen? Nein, warum auch? Ein kleiner Tipp an alle Leser, die hier selbst ins Schwimmen kommen: Alle genannten Herren und die Dame waren oder sind Generalsekretäre einer Volkspartei.
Was heute oft als Politik-, Politiker- oder auch als Parteienverdrossenheit beschrieben wird, ist strenggenommen eher eine Systemverdrossenheit Wie weit diese Systemverdrossenheit allerdings geht, ist umstritten. Wäre das Volk wirklich so systemverdrossen, wie manche kritischen Beobachter vermuten, müsste es doch eigentlich aus dem binären Lagerdenken ausbrechen. In den Köpfen der Publizisten lässt sich die deutsche Parteienlandschaft grob in zwei Lager aufteilen – das »bürgerliche« Lager mit den Unionsparteien und der FDP und das »linke« Lager mit der SPD und den Grünen. Diese Definition greift jedoch noch auf das Parteiensystem der Weimarer Republik zurück, in dem die Parteien auch mehr oder weniger klar mit bestimmten sozialen Schichten korrespondierten – das Zentrum (Vorgänger der Unionsparteien) mit dem Bürgertum und die SPD mit der Arbeiterklasse. Obwohl dieses Lagerdenken eigentlich spätestens mit der Entwicklung der beiden großen Parteien zu Volksparteien überwunden sein sollte, finden auch heutzutage noch die größten Wählerwanderungen innerhalb des vemeintlich bürgerlichen und des vermeintlich linken Lagers statt. Wählerwanderungen zwischen den Lagern sind heute häufiger zu beobachten als früher, es kommt jedoch eher selten vor, dass Wähler einer Partei, die nicht so einfach einem der beiden Lager zuzuordnen ist, ihre Stimme geben. Dies könnte sich mit den jüngsten Erfolgsmeldungen der Piratenpartei vielleicht ändern, es ist jedoch noch zu früh, um dazu belastbare Aussagen zu machen.
Da Parteien, die weder in das »bürgerliche« noch in das »linke« Lager passen beziehungsweise von den Wortführern dieser Lager als nicht zugehörig zum entsprechenden Lager bezeichnet werden, nur von einer kleinen Minderheit gewählt werden, scheint es auch mit der Systemverdrossenheit nicht allzu weit her zu sein. Die in diesem Zusammenhang immer wieder genannten Nichtwähler klären diesen Widerspruch ebenfalls nicht auf – bei wichtigen Wahlen, etwa den Bundestagswahlen, ist die Zahl der Nichtwähler heute nicht wesentlich größer als zu den »goldenen Zeiten« der Bundesrepublik, als noch niemand von Systemverdrossenheit sprach. Bei den letzten Bundestagswahlen gaben immerhin sieben von zehn Deutschen ihre Stimme ab, von einer massenhaften Wählerflucht kann da wohl kaum die Rede sein.
Entweder ist das Volk nicht systemverdrossen, oder es sieht ganz einfach keine Alternative und bleibt aus geistiger Bequemlichkeit lieber beim zweigeteilten Lagerdenken. Man kann auch mit dem Wetter fürchterlich unzufrieden sein, ändern kann man es nicht. Während unsere »systemverdrossenen« Vorfahren in vordemokratischen Zeiten ihr Leben dafür gaben, im politischen System gehört zu werden, muss man heute den Hund schon zum Jagen tragen. Von engagierten Oppositionswählern oder begeisterten Nichtwählern kann wirklich nicht die Rede sein.
Sollten hierzulande einmal bewaffnete Rabauken die Bürger vom Betreten der Wahllokale abhalten, würde dies bei den Wahlwilligen wahrscheinlich bestenfalls ein Schulterzucken hervorrufen – hätte ich das vorher gewusst, wäre ich gleich und ohne Umweg in die Eisdiele gegangen. Für eine Demokratie ist dies freilich ein jämmerliches Bild.
Die Deutschen sind zwar latent unzufrieden, rühren aber keinen Finger, um etwas an dieser Unzufriedenheit zu ändern. Sie sind passive Demokraten, die die Politik als Showveranstaltung betrachten. Sie geben ihrem Favoriten die Stimme oder schalten ab und gehen in die innere Emigration – wobei dieser Begriff den Großteil der bildungsfernen Schichten, die lieber Bohlen als Phoenix einschalten und sich ihrer politischen Verantwortung entziehen, sicher nur sehr ungenügend charakterisiert.
Wer hat uns verraten?
Das Parteiensystem eignet sich hervorragend dazu, Unzufriedenheiten zu kanalisieren. Dies funktioniert allerdings nur dann, wenn Regierung und Opposition jeweils ein halbwegs geschlossenes Lager darstellen. Als die Bürger mit der Regierung Helmut Kohls unzufrieden waren, wählten sie das andere, sogenannte linke Lager; als sie mit der Regierung Gerhard Schröders unzufrieden waren, stimmten sie wieder für das sogenannte bürgerliche Lager, so als hätten sie ihr Missfallen mit der Regierung Kohls schon wieder vergessen. Wähler haben ein sehr schlechtes Langzeitgedächtnis und neigen zum binären Denken: Wenn sie mit X unzufrieden sind, müssen sie Y wählen, Alternativen gibt es nicht.
Solange die Wähler sich ein X für ein Y vormachen lassen und noch einen markanten Unterschied zwischen den beiden Lagern sehen, funktioniert dieses Unterscheidungsprinzip. Die einstigen inhaltlichen Positionen der großen Parteien verschwinden jedoch zusehends. Die SPD ist nicht sozialdemokratisch, die CDU nicht christlich, die CSU nicht sozial, die FDP kämpft mehr für die Freiheit des Marktes als die des Wählers, und die Grünen streifen sich den olivgrünen Stahlhelm über. Macht und Machterhalt werden zum Selbstzweck. Mehr und mehr erinnern die Parteien an Produkte, denen die Marketingabteilung ein Image verpasst hat.
Dieser Eindruck wird bestärkt, wenn man die modernen Vokabeln politischer Kommunikation betrachtet. Da wird von einem Markenkern, von Image, Außenwirkung, Zielgruppen oder auch Alleinstellungsmerkmalen gesprochen. Politik wird nicht mehr von Politikern, sondern von PR-Profis formuliert. Für die SPD erfüllt diese Aufgabe beispielsweise die Werbeagentur BUT-TER3– wir wissen ja, wer heute hip sein will, muss sich entweder ausschließlich in Klein- oder in Großbuchstaben schreiben. BUT-TER verkauft morgens Schnaps, mittags Handyverträge und nachmittags die Politik der SPD. Wen wundert es da, dass ein Sigmar Gabriel eher als angeschickerter Handyverkäufer denn als ernstzunehmender Politiker wahrgenommen wird?
Betrachtet man die großen Parteien – CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen –, so hat man das Gefühl, vor vier Gläsern mit aromatisiertem und gefärbtem Zuckerwasser zu stehen, die sich zwar in Geschmack und Konsistenz ähneln, aber durch geschickte Imagekampagnen unterschiedliche Zielgruppen ansprechen sollen. Da haben wir die klassische schwarze koffeinhaltige Brause, die vor allem auf dem Land und von älteren Käuferschichten bevorzugt wird, die rote Limonade mit Süßstoff und ständig wechselnder Werbebotschaft, die sowohl dem Banker als auch dem Arbeitslosen schmecken soll, die grüne Bionade für die Mover und Shaker mit Energiesparlampe und Bausparvertrag vom Prenzlauer Berg und den gelben Energy-Drink im gehobenen Preissegment für überarbeitete oder gelangweilte Leistungsträger. Welches Glas hätten Sie denn gerne?
Geradezu ein Großmeister des politischen Marketings ist die SPD. 1998 warb die Schröder-Partei im Wahlkampf für mehr soziale Gerechtigkeit, eine gerechtere Verteilung der Vermögen und eine verantwortungsvolle Außenpolitik. Diese Versprechen kamen beim Wähler an. Es wäre jedoch eine maßlose Untertreibung, wenn man sagen würde, die SPD hätte ihre Versprechen nicht eingehalten. Sie hat vielmehr exakt das Gegenteil dessen, was sie versprochen hat, umgesetzt. Statt sozialer Gerechtigkeit gab es Hartz IV und die Rente mit 67. Statt einer gerechteren Verteilung der Vermögen gab es historisch einmalige Steuersenkungen der für Besserverdienende, eine Verschärfung des Lohndumpings und den Ausbau des Niedriglohnsektors. Statt einer verantwortungsvollen Außenpolitik schickten SPD und Grüne zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs wieder deutsche Soldaten in einen Krieg, dessen Begründung auf dem Reißbrett der PR-Strategen entworfen wurde. In den drei Legislaturperioden, in denen die SPD mal als Senior-, mal als Juniorpartner die Geschicke des Landes mitbestimmt hat, protegierte sie die Versicherungsbranche, indem sie sie mit der Riester-Rente auf Kosten des Steuerzahlers subventionierte. Sie deregulierte die Finanzmärkte in einer Geschwindigkeit, bei der einem schon vor Eintritt der Finanzkrise nur noch angst und bange werden konnte. Wie schlecht muss die Bilanz einer Partei sein, dass für viele Wähler im Jahre 2009 sogar die FDP eine echte Alternative darstellte?
Doch der Wähler ist bekanntlich vergesslich. Fool me once, shame on you, fool me twice, shame on me! Wer zweimal auf denselben Trick hereinfällt, ist selber schuld. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass der Wähler auch ein weiteres Mal auf den Trick hereinfällt, den die SPD in den letzten Jahren auf den Oppositionsbänken ausbaldowert hat. Kaum nahm sie auf den harten Bänken der Opposition Platz, schrie sie Zeter und Mordio, und
selbst in ihren Reihen wird immer öfter gegen Niedriglohn, Rente mit 67, Steuersenkungen und die Deregulierung der Finanzmärkte polemisiert. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal der SPD – keine andere Partei kann wie ein Rohrspatz über die Regierungsarbeit des letzten Jahrzehnts schimpfen, ohne sich selbst damit zu meinen.
Von einer inhaltlichen Aufarbeitung der elf Regierungsjahre sind die Sozialdemokraten jedoch trotz aller Verbalakrobatik sehr weit entfernt. »Man habe es nicht vermocht, die Menschen mitzunehmen«, räumt der SPD-Politiker Joachim Poß in gestelzter Politrhetorik ein. Die Agendapolitik als PR-Problem, so einfach kann man es sich machen. Von einer programmatischen Abkehr von der Agenda 2010 ist weniger die Rede. Schaut man sich das Parteiprogramm an, stellen lediglich die Forderung nach der Wiedereinführung der Vermögenssteuer und die Forderung nach einem Mindestlohn eine – wenn auch wenig glaubwürdige – inhaltliche Novelle dar. Ansonsten konzentrierte man sich darauf, öffentlich Geschlossenheit zu demonstrieren und sich verbal neu aufzustellen.
Aber wie glaubhaft kann diese Neuordnung überhaupt sein?
Der neue starke Mann der Partei ist der ehemalige Goslarer Berufsschullehrer Sigmar Gabriel, der ein guter Redner ist und es immer wieder schafft, die Parteibasis für sich einzunehmen. Das letzte verbliebene Schwergewicht der Partei ist ein brillanter Verkäufer. Er könnte nicht nur einem Eskimo einen Kühlschrank verkaufen, die Basis traut ihm offensichtlich auch zu, die Wähler davon überzeugen zu können, dass die alte SPD eine neue SPD ist. Sigmar Gabriel verkörpert die hohe Kunst des Opportunismus in der Politik wie kaum ein anderer. Als sein guter Freund Gerhard Schröder zusammen mit dem Briten Tony Blair 1999 in dem Schröder-Blair-Papier4 die Sozialdemokratie durch eine neoliberale Ausrichtung ad absurdum führte, gehörte Gabriel zu den bedingungslosen Unterstützern dieser Politik. Gabriels Begeisterung für die »neue Mitte« zeugt von seiner enormen Fähigkeit, politische Positionen zu wechseln – in den frühen Jahren seiner politischen Karriere war Gabriel noch ein überzeugter Parteilinker.
Höhere Weihen konnten ihm in der SPD allerdings nur im Schröder-Lager zuteil werden. Und Gabriels Opportunismus zahlte sich aus – ohne die Protektion des Kanzlers wäre Gabriel weder Fraktionsvorsitzender der niedersächsischen SPD noch 1999 Amtsnachfolger des zurückgetretenen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Glogowski geworden. Plötzlich war Sigmar Gabriel wer, und seitdem hat er es sich nicht nur auf den Sesseln der politischen Talk-Shows, sondern auch an den Trögen der Macht bequem gemacht.
Gabriel ist ein politischer Hans Dampf in allen Gassen. Er ist Mitglied des konservativen Seeheimer Kreises der SPD und des agendapolitischen Netzwerks Berlin5. Da wundert man sich, dass Gabriel nicht zusätzlich auch noch Mitglied der »Parlamentarischen Linken« ist, dann würde er alle drei politischen Strömungen innerhalb der SPD in seiner Person vereinen. Das Hauptproblem des Opportunisten dürfte indes sein, dass kaum ein politisch interessierter Beobachter ihm seine verbale Wenderhetorik abnimmt.
Warum sollte ausgerechnet der Agendaarchitekt Gabriel nun für eine sozial gerechte Politik stehen? Warum sollte ein Politiker, der jahrelang das Mantra der freien Märkte nachgebetet hat, nun diese Märkte zum Wohle der Allgemeinheit regulieren wollen?
Der Mann an Gabriels Seite ist Frank Walter Steinmeier, seines Zeichens Fraktions- und damit Oppositionsführer. Auch Steinmeier ist ein Ziehkind Schröders. Steinmeier gilt sogar als Koautor und Architekt der Agenda 2010, von der er sich auch später nie distanziert hat. Kann so ein Mann für einen glaubhaften Politikwechsel stehen? Da sogar die Genossen weder Gabriel noch Steinmeier über den Weg trauen, hat der derzeit von den Medien protegierte ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück realistische Chancen, für die Partei 2013 als Kanzlerkandidat in den Ring geschickt zu werden. Steinbrück ist jedoch ebenfalls ein Agendapolitiker und vertritt darüber hinaus marktliberale Vorstellungen, die man in der Sozialdemokratie schlechterdings nicht für möglich gehalten hätte. Doch Inhalte spielen bei der SPD schon lange keine Rolle mehr.
Wenn SPD-Spitzenpolitiker gesellschaftliche Missstände anprangern, dann sagen sie, dass dieses und jenes »von den Menschen als ungerecht empfunden« würde. SPD-Spitzenpolitiker hüten sich davor, Ross und Reiter beim Namen zu nennen und einen Missstand tatsächlich als ungerecht zu bezeichnen. Daraus ließe sich schließlich ein konkreter Handlungsbedarf ableiten. Konkret Stellung beziehen und Politik so gestalten, dass Ungerechtigkeiten abgeschafft werden, will die SPD aber nicht – dies könnte ja schließlich ihre Koalitionsfähigkeit einschränken. Die SPD scheut die konkrete inhaltliche Positionierung wie der Teufel das Weihwasser.
Die Kernfrage heißt daher: »Kann man der SPD noch über den Weg trauen?« Die Antwort lautet dezidiert: »Nein, das kann man nicht!« Würde die SPD ihre in letzter Zeit mit Verve vorgetragene, aber inhaltslose Antiagenda ernst meinen, so müsste sie diese Reformen auch mit politischen Konstellationen, sprich möglichen Bündnispartnern, verknüpfen. Mit der CDU lassen sich diese Ziele nämlich nicht umsetzen, und es ist auch fraglich, ob die immer konservativer werdenden Grünen überhaupt ein Interesse an einer sozialdemokratisch ausgerichteten Politik haben. Jede Koalitionsoption mit der Linkspartei schließt die SPD jedoch kategorisch aus.
Willkommen in der Bionade-Republik
Kaum eine andere Partei profitiert dermaßen von ihrem Image und vom Zeitgeist wie die Grünen. Nach dreißig Jahren sind die Grünen auf ihrem Marsch durch die Institutionen an einem Etappenziel angekommen. In Baden-Württemberg stellen sie mit Winfried Kretschmann den ersten Ministerpräsidenten ihrer Parteigeschichte und haben beste Chancen, 2013 zusammen mit der SPDauch wieder im Bund an die Macht zu kommen. Für den jüngsten Popularitätsboom in den Umfragen haben die Leitartikler der Republik ihre ganz eigene, recht eigenwillige Interpretation. Die Grünen seien nun eine Volkspartei, und das Wahlergebnis in Baden-Württemberg markiere eine Niederlage des Konservatismus und einen Sieg linker Politik. Diese Analysen mögen interessant sein, bei näherer Betrachtung erweisen sie sich jedoch allesamt als falsch.
Die Grünen profitieren so sehr wie keine andere Partei vom demographischen Wandel. Seit Jahrzehnten können sie bei Neuund Jungwählern überproportional punkten. Die Parteitreue der jungen Wähler ist erstaunlich ausgeprägt. Wer einmal grün wählt, bleibt der Partei meistens treu. »Wer in seiner Jugend nicht links denkt, hat kein Herz, und wer im Alter immer noch links denkt, hat keinen Verstand« – so lautet ein verbreiteter Aphorismus, nach dem man den Grünen gleichzeitig Herz und Verstand zubilligen könnte. Die Geschichte der Grünen ist charakteristisch für eine ganze Generation des Bürgertums. In Totalopposition zum alten Bürgertum ihrer Eltern versuchten die Jungen frischen Wind in eine verkrustete Gesellschaft zu bringen und nahmen sich vor, den Marsch durch die Institutionen anzutreten, um die Gesellschaft zu verändern. Die Marschierenden sind angekommen, nur hat die Gesellschaft sie verändert.