Wer schützt die Welt vor den Finanzkonzernen? - Jens Berger - E-Book

Wer schützt die Welt vor den Finanzkonzernen? E-Book

Jens Berger

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

BlackRock, Vanguard und State Street - allein die drei größten Finanzkonzerne verwalten Vermögen im Wert von 15 Billionen US-Dollar. Mit Anteilen an fast allen großen Unternehmen und dem Kapital für politisches Lobbying über Partei- und Ländergrenzen hinweg haben sie eine bisher ungekannte Machtfülle. Ihre komplexen Finanz-Algorithmen sind darauf programmiert, ganze Wirtschaftszweige auszuleuchten und gewinnbringend anzuzapfen. Zugriff auf den nächsten Billionen-Euro-Markt sollen die Finanzgiganten mit der geplanten Deregulierung der privaten Altersvorsorge in der EU bekommen. Doch welche Folgen hat es, wenn ganze Industrien von wenigen Finanzinstituten dominiert werden? Bringt die Finanzlobby unser ohnehin schon kaputtgespartes Rentensystem zum Kollaps? Welche Rolle spielen BlackRock-Gründer Larry Fink und sein deutscher Chef-Lobbyist Friedrich Merz? Spiegel-Bestsellerautor Jens Berger wirft ein Schlaglicht auf die heimliche Herrschaft der Finanzeliten und ihre beflissenen Gehilfen in Wirtschaft und Politik - und er zeigt, was jetzt getan werden muss, um das Schlimmste vielleicht noch zu verhindern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 399

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ebook Edition

Jens Berger

Wer schützt die Welt vor den Finanzkonzernen?

Die heimlichen Herrscher und ihre Gehilfen

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-747-4

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2019

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Frühstück mit BlackRock und Co.
BlackRock: Der Gigant im Schatten
Larry Fink: Der Sechs-Billionen-Dollar-Mann
Die Erfindung der finanziellen Massenvernichtungswaffe
Die Geister, die Larry Fink rief
Vom Star zum Trottel
Stein oder Kiesel?
Zins und Risiko: Die Grundlagen des Finanzwesens
Das Risiko wird gehebelt
Im Dschungel lauern Drachen
Aladdin: Der Versuch, Risiken messbar zu machen
BlackRock und seine 2 000 Töchter
Der Flügelschlag eines Schmetterlings
Die Finanzkrise: BlackRock wird zum Staat im Staate
Das Kartenhaus bricht zusammen
BlackRock als Retter in der Not
Mythen und geschickte Eigen-PR
Vanguard: Die Investment-Genossen
John Bogle – Vanguards Steuermann
Bogles Schnapsidee
Vanguards Innovation – der Indexfonds
Ein bisschen Aldi, ein bisschen Amazon, ein bisschen Volksbank
Die dunkle Seite von Vanguard
State Street: Der Sieg der ETFs
BlackRock wird zum Giganten
Die Krise trifft Großbritannien
Volkskapitalismus
Toxische Innovationen
Risiken im System
Run for the Exit
Nach dem Crash ist vor dem Crash
Abschreckendes Beispiel: Deutschlands Energiewende
Eurokrise: Europa unterwirft sich
Der keltische Tiger taumelt
Flächenbrand
Operation »Solar«
Rückschläge in Spanien, Portugal und Zypern
Die Schattenzentralbank
Stresstest
Lobbyismus: Bestens vernetzt
G30 – wo sich die Bankenelite dezent mit ihren Aufsehern trifft
Neue Lobbyhorizonte
Nur nicht systemrelevant
Osbornes Judaslohn für die Rentenrevolution
Neu im europäischen Lobbydschungel
Thinktanks im Kampf um die Parlamentarier
Deutschland im Vormerz
Der Angriff auf die Rente
Die Rentenfresser betreten die Bühne
Wo kommen die Billionen her?
Die zwei Säulen der Finanzkonzerne
Vorbild USA
Dunkle Wolken über Kalifornien
Es lebe das Risiko
Super-Rente oder Super-Altersarmut?
Das vergiftete Erbe der Chicago-Boys
Wem gehört die Welt?
Big in USA
Der Mythos vom Volkskapitalismus
Von der Deutschland AG zur World Inc.
Wem gehören BlackRock und Co.?
Die neue Weltmacht
Giganten ohne Agenda?
Die Macht der Proxies
Wettbewerb oder Oligopol?
Finanzweltmacht USA
Die lange Liste der Sanktionen
Finanzkonzerne als ultimativer Machthebel im Finanzkrieg
Ungleichheit der Waffen
Wir sind die Guten!
Fallbeispiel: Afrika
Fallbeispiel: Steuermanipulation
Fallbeispiel: Rüstung
Fallbeispiel: Klimaschutz
Wie schützen wir uns vor den Finanzkonzernen?
BlackRock und Co. sind …
… der Elefant im Raum
Nichts ist unmöglich
Anmerkungen

Frühstück mit BlackRock und Co.

Morgens, 6.30 Uhr in Deutschland, der Wecker klingelt. Erst einmal unter die Dusche. Das Duschgel der Marke Axe stammt vom niederländisch-britischen Konzern Unilever. Dessen größter Aktionär ist der Finanzkonzern BlackRock. Das Wasser kommt von den Stadtwerken, an denen mehrheitlich der französische Konzern Veolia beteiligt ist, dessen zweitgrößter Anteilseigner ebenfalls der Finanzkonzern BlackRock ist. Die Zähne geputzt. Die Zahncreme der Marke Colgate stammt vom US-Konzerne Colgate-Palmolive, dessen größte Aktionäre die Finanzkonzerne Vanguard, BlackRock und State Street sind – zusammen gehören ihnen mehr als 22 Prozent des Unternehmens. Rein in die Jeans der Marke Levis, das Poloshirt von Ralph Lauren übergezogen und in die Sneaker von Adidas geschlüpft. Größte Anteilseigner der Levi Strauss & Co. sind die Price (T.Rowe) Associates und Vanguard. Bei der Ralph Lauren Corp. sind es Vanguard und BlackRock, und beim deutschen Unternehmen Adidas ist BlackRock zweitgrößter Aktionär. Und nun noch schnell eine Schale Cornflakes. Auch bei der amerikanischen Kellogg Company zählen BlackRock, Vanguard und State Street zu den größten fünf Anteilseignern. Bei der Konkurrenz vom Schweizer Nestlé-Konzern sieht es übrigens ganz ähnlich aus.

Noch mal schnell auf dem iPhone gecheckt, was es Neues auf Facebook und Twitter gibt – bei allen drei Konzernen sind Vanguard und BlackRock die größten Anteilseigner. Nun noch den Hund füttern – das Hundefutter von Eukanuba kommt von Proc­ter & Gamble, größte Anteilseigner sind Vanguard, BlackRock und State Street. Und bevor es ins Büro geht, wird noch schnell ein Smoothie getrunken – der Smoothie-Hersteller Innocent gehört zur Coca Cola Company, bei der die Finanzkonzerne Berk­shire Hathaway, Vanguard, BlackRock und State Street die größten Anteilseigner sind.

Die Liste ließe sich endlos fortführen und betrifft die gesamte Wertschöpfungskette. So stammen die Cerealien für die Cornflakes womöglich vom weltweit führenden Agrarmulti Pioneer Natural Resources (Vanguard, BlackRock und State Street), wurden mit landwirtschaftlichen Maschinen des Weltmarktführers AGCO Corporation geerntet (Vanguard und BlackRock), mit der weltweit führenden Reederei A.P. Moeller-Maersk (Vanguard und BlackRock) in einem Containerfrachter von Hyundai Heavy (Vanguard und BlackRock) zur Fabrik transportiert, in einem Karton des Papiergiganten Stora Enso (Vanguard und BlackRock) verpackt und in einem Supermarkt der Metro AG (Vanguard und BlackRock) gekauft.

Oft umfasst dieses Besitzoligopol sogar eine gesamte Branche. Ob Ihnen nun die Deutsche Post, DHL, Fedex oder UPS das Paket bringen – bei all diesen Unternehmen zählen BlackRock und Vanguard zu den größten Anteilseignern. Ob sie mit ihrem Smartphone über D1, D2 oder O2 telefonieren – auch bei der Deutschen Telekom, Vodafone und Telefónica gehören diese Finanzkonzerne zu den größten Anteilseignern. Von Aareal Bank (BlackRock) bis zum Veterinärmedizinhersteller Zoetis (BlackRock und Vanguard) sind die deutschen Aktiengesellschaften fest in der Hand der Finanzkonzerne. Niemand besitzt mehr Anteile an deutschen Unternehmen als BlackRock. In Frankreich, Italien und Großbritannien sieht es genauso aus. In den USA ist BlackRock allerdings »nur« die Nummer zwei hinter Vanguard.

In der Sprache der Finanzmärkte werden Finanzkonzerne wie BlackRock oder Vanguard als institutionelle Investoren bezeichnet. Investmentfonds, Hedgefonds, Banken und Versicherungen komplettieren diese Gruppe. Zusammengenommen gehören ihnen nach einer aktuellen Studie des Harvard Business Review1 80 Prozent aller Aktien der im S&P 500 Index gelisteten größten Aktiengesellschaften der USA. Bei 88 Prozent der S&P-500-Unternehmen heißt der größte Anteilseigner entweder BlackRock, State Street oder Vanguard.

Allein BlackRock hält mehr Aktien an Alphabet (Google) als Sergey Brin. Zusammen mit seinem Konkurrenten Vanguard hält BlackRock auch mehr Aktien an Amazon als Jeff Bezos und rund 25-mal so viele Aktien von Apple, wie der komplette Apple-Vorstand zusammen. BlackRock, Vanguard und State Street halten auch mehr Aktien an Facebook als Mark Zuckerberg. Auch bei den großen Rüstungskonzernen, den Banken und Big Oil sind die Finanzkonzerne die größten Anteilseigner und damit tonangebend. Nicht die ständig in den Medien präsenten Unternehmensspitzen sind die Lenker der größten und mächtigsten Konzerne der Welt, sondern mächtige Finanzkonzerne. Gemessen an dieser Machtfülle und Machtkonzentration ist es erstaunlich, wie wenig über BlackRock, State Street und Vanguard berichtet wird und wie wenig über die Interessen und Ziele dieses Giganten bekannt ist. Wer sind diese Konzerne und welche Ziele verfolgen diese Giganten?

Bei einer derart dünnen Berichterstattung ist es nicht weiter verwunderlich, dass es auch zahlreiche Gerüchte gibt, die sich hartnäckig halten. So werden BlackRock und Co. oft fälschlicherweise als Hedgefonds oder als Heuschrecken bezeichnet. Die Eigenbezeichnung dieser Konzerne ist schlicht Vermögensverwalter oder auf Englisch Asset Manager, was wiederum eine starke Untertreibung ist. Gerade so, als würde man den Handelsgiganten Amazon einen Einzelhändler nennen. In der Tat ist die Vermögensverwaltung das Kerngeschäft dieser Konzerne. Die Summen, um die es dabei geht, entziehen sich jedoch jeder Vorstellungskraft. BlackRock verwaltet zurzeit 6,85 Billionen US-Dollar, Vanguard 5,6 Billionen US-Dollar und State Street 2,51 Billionen US-Dollar. Zusammen sind dies rund 15 Billionen US-Dollar, ausgeschrieben 15 000 000 000 000. Das sind rund 2 000 US-Dollar pro Kopf der Weltbevölkerung – vom Neugeborenen in Ruanda bis zur Greisin in Japan. Würde man diese Summe zu gleichen Teilen unter Deutschlands Einwohnern aufteilen, bekäme jeder Bürger stolze 180 000 US-Dollar.

Freilich gehört dieses Geld nicht BlackRock und Co. Es handelt sich hierbei vielmehr um Kundeneinlagen. Das Geld kommt von Pensionsfonds, die beispielsweise die Altersrücklagen für New Yorker Lehrer oder kalifornische Polizisten verwalten. Es kommt von Staatsfonds, mit denen unter anderem die ölexportierenden Länder des Nahen und Mittleren Ostens ihre Deviseneinnahmen am Kapitalmarkt anlegen und für die Zeit nach dem Öl vorsorgen. Und es kommt von Einzelpersonen, die mal über weniger aber oft auch über sehr große Vermögen verfügen. Der Teufel scheißt halt doch immer auf den größten Haufen.

Befeuert werden die nimmer enden wollenden Kapitalzuflüsse dieser Unternehmen dabei durch ein Wirtschaftssystem, das umgangssprachlich meist als Neoliberalismus bezeichnet wird. Der Staat zieht sich global zunehmend aus der Daseinsvorsorge zurück und überlässt es seinen Bürgern, privat für das Alter vorzusorgen. Man spart auch für die Studiengebühren der Kinder und Enkel, die nicht mehr vom Staat getragen werden. Private Krankenversicherungen arbeiten nach dem Prinzip, dass die Beiträge, die die Versicherten in den jüngeren Jahren einzahlen, an den Kapitalmärkten Zinsen »erwirtschaften« und die höheren Gesundheitskosten im Alter dann von dem gebildeten Kapitalstock finanziert werden können. Bis dahin müssen die Gelder jedoch angelegt werden. Zurzeit fließen jedes Jahr global 3,6 Billionen Euro an Beiträgen in Sach- und Lebensversicherungen, 2027 sollen es Prognosen der Versicherer zufolge 6,8 Billionen Euro sein. Das ist der Treibstoff, mit dem der Motor der gigantischen Vermögensverwalter am Laufen gehalten wird, und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.

So unbekannt die gigantischen Finanzkonzerne in der öffentlichen Wahrnehmung sind, so unterschiedlich sind ihre Geschäftsmodelle. Die Nummer zwei, Vanguard, beschränkt sich weitest­gehend auf die Vermögensverwaltung und ist dabei sogar genossenschaftlich organisiert; wie eine Volks- oder Raiffeisenbank gehört der Riese seinen eigenen Kunden und ist nicht primär darauf ausgerichtet, Gewinne zu erwirtschaften, sondern arbeitet nach dem Kostendeckungsprinzip. Und wenn doch einmal Gewinne erzielt werden, werden sie über eine Senkung der Verwaltungskosten an die eigenen Kunden weitergegeben. BlackRock und State Street sind hingegen selbst Aktiengesellschaften, die bestrebt sind, Gewinne zu erwirtschaften und Dividenden an ihre Aktionäre und Boni an das Management auszuschütten. Die meisten Anteile sind jedoch im Besitz von BlackRock und State Street selbst – Entscheidungsmacht und Kontrolle verbleiben also in ihren Händen.

Während bei Vanguard die Definition eines – wenn auch absurd großen – Vermögensverwalters noch greift, trifft dies auf BlackRock nicht mehr zu. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen einem Vermögensverwalter und einem Hedgefonds immer mehr. Das Kerngeschäft von BlackRock ist nach wie vor die treuhänderische Vermögensverwaltung für seine Kunden. Doch um dieses Ziel zu erreichen, betreibt BlackRock selbst ein ganzes Heer an aktiv gemangten Investmentfonds, die nicht nur mit Aktien oder Anleihen, sondern auch mit Finanzprodukten aller Art handeln. Die ohnehin schwammigen Grenzen zwischen einem Investment- und einem Hedgefonds sind hier fließend und werden oft überschritten. Treffender könnte man BlackRock daher wohl am ehesten als Schattenbank bezeichnen – das sind nach Definition der Bundesbank »diejenigen Akteure und Aktivitäten auf den Finanzmärkten […], die bankähnliche Funktionen (insbesondere im Kreditvergabeprozess) wahrnehmen, aber keine Banken sind und somit nicht der Regulierung für Kreditinstitute unterliegen«. Das trifft alles auf BlackRock zu. Ist das größte Finanzunternehmen der Welt also gleichzeitig die größte Schattenbank der Welt? Dazu später mehr.

Neben der Vermögensverwaltung hat sich BlackRock auch auf andere Tätigkeitsfelder im Finanzsystem spezialisiert. So gehört die von einem Konsortium rund um BlackRock betriebene Handels­plattform Luminex2 zu den größten und wichtigsten »Dark Pools« des Finanzsystems – ein interner Umschlagplatz für Wertpapiere jeder Art, die sich der öffentlichen Regulierung entziehen und nur einem ausgesuchten Kundenkreis offenstehen. Über seinen Geschäftsbereich »Private Credit«3 vermittelt BlackRock zwischen privaten Kreditnehmern und Kreditgebern. Andere Unternehmensbereiche haben sich auf Beratertätigkeiten spezialisiert. Die Sparte BlackRock Solutions berät Staaten und Zentralbanken in Fragen, die ganz maßgeblichen Einfluss auf die von BlackRock selbst betriebenen Fonds haben. Über BlackRocks Analysesystem »Aladdin« werden von BlackRock und anderen Finanzkonzernen Vermögenswerte in Höhe von rund 20 Billionen US-Dollar4 auf mögliche Risiken geprüft. Auf Basis selbstentwickelter Algorithmen soll Aladdin den optimalen Mix zwischen Risiko und Ertragschancen ermitteln und stellt dabei womöglich selbst das größte Risiko für die Stabilität der Finanzmärkte dar.

Beherrscht wird das ganze System von einer kleinen Gruppe von Managern, die bei allen Unterschiedlichkeiten die Ideologie des Shareholder-Value eint – was gut für den Aktienbesitzer ist, ist gut für das Unternehmen und am Ende auch gut für die Allgemeinheit. So kann es dann sein, dass der Stahlarbeiter seine private Altersvorsorge einem Finanzkonzern überträgt, der auf der nächsten Jahreshauptversammlung seines Arbeitgebers einen Personalabbau durchsetzt, der den Stahlarbeiter am Ende selbst seinen Job kostet. Die Klasseninteressen werden dabei auf den Kopf gestellt. Der US-Milliardär Warren Buffett sagte vor wenigen Jahren5: »Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.« Das System der Vermögensverwaltung ist Teil dieses Kriegs.

Besitz bedeutet Macht. Wenn die großen Finanzkonzerne die größten Anteilseigner bei fast allen großen Konzernen sind, die die Geschicke unserer Welt bestimmen, kontrollieren sie diese Konzerne auch und bestimmen schlussendlich selbst die Geschicke unserer Welt. Und da macht es keinen Unterschied, ob das Kapital, mit dem sie operieren, ihnen selbst gehört oder ob sie es nur treuhänderisch für ihre Kunden verwalten. Nicht der Stahlarbeiter und noch nicht einmal der viele Milliarden US-Dollar schwere Pensionsfonds bestimmen, wie BlackRock, State Street und Co. auf den Hauptversammlungen der Unternehmen, an denen man beteiligt ist, abstimmen und welche Einflüsse sie auf die Unternehmensführung ausüben. Die mit dem Besitz einhergehende Macht üben diese Finanzkonzerne ganz allein aus. Noch nie waren die Entscheidungsprozesse derart undemokratisch. Noch nie war so viel Macht in den Händen so weniger.

Dieses Buch soll aufzeigen, wie es zum sagenhaften Erfolg der Vermögensverwalter und Schattenbanken kommen konnte und welche Geschäfte sie genau betreiben. Getreu dem Motto »Man sollte verstehen, was man kritisiert« soll versucht werden, diese Entwicklungen nicht nur aufzuzeigen, sondern auch einzuordnen und dabei die grundlegenden Mechanismen zu erklären. Das ist auch deshalb so wichtig, weil diese Entwicklungen nicht haltmachen werden, wenn man sich ihnen nicht aktiv entgegenstellt, und weil der Einfluss der Finanzkonzerne in den letzten Jahren dank massiver Lobbyarbeit merklich zugenommen hat. Zurzeit ist nicht einmal auszuschließen, dass mit Friedrich Merz der Chef-Lobbyist von BlackRock Deutschland der nächste Bundeskanzler wird.

BlackRock: Der Gigant im Schatten

Noch vor wenigen Jahren war der Name BlackRock nur Insidern aus der Finanzbranche ein Begriff. Das ist auch wenig verwunderlich, denn vor der Finanzkrise waren BlackRock und Larry Fink selbst an der Wall Street nur wenigen bekannt1. Heute ist BlackRock der Gigant eines weltweiten Finanzkapitalismus’ und Larry Fink der Consigliere der Mächtigen dieser Welt, der bei Staats- und Regierungschefs ein- und ausgeht und die Regeln mitbestimmt, die nicht nur die Finanzwelt, sondern unser aller Leben maßgeblich beeinflussen.

Seit der Finanzkrise, aber mehr noch seit dem politischen Comeback des BlackRock-Mitarbeiters Friedrich Merz ist BlackRock vor allem Kritikern des Finanzsystems durchaus ein Begriff. Doch wenn man sich die veröffentlichten Meinungen dieser Kritiker anschaut, geht dabei auch einiges drunter und drüber. Mal wird BlackRock als Heuschrecke dargestellt, was – unter Bezugnahme auf einen Vergleich des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering2 – eigentlich auf Private-Equity- oder Beteiligungsgesellschaften und sogenannte Geierfonds (engl. Vulture fund) gemünzt ist, die angeschlagene Unternehmen übernehmen, um sie dann finanziell ausbluten zu lassen, zu zerschlagen und dann mit sattem Gewinn zum nächsten Opfer weiterzuziehen. Das macht BlackRock jedoch nicht. Vielleicht verwechseln einige Kritiker BlackRock mit der Beteiligungsgesellschaft Blackstone, deren Aktivitäten auf dem deutschen Markt Auslöser für Münteferings Heuschreckendebatte waren.

BlackRock ist keine Bank und auch keiner dieser Hedgefonds, die aggressiv an den Finanzmärkten spekulieren oder mit hochriskanten synthetischen Papieren Banken und Anleger über den Tisch ziehen. Anders als zahlreiche Banken und Hedgefonds arbeitet BlackRock auch nicht mit eigenem Geld und greift für sein Kerngeschäft, das fast 90 Prozent des Finanzvolumens ausmacht, auch nicht auf billiges Notenbankgeld zurück, das dann mit einem an Wahnsinn grenzenden Hebel in irgendwelchen Dark Pools der Branche für noch wahnsinnigere Wetten auf steigende Öl- oder Weizenpreise eingesetzt wird. All dies ist BlackRock nicht. Dennoch ist BlackRock das wohl mächtigste Unternehmen der Welt und eine große Gefahr für das Allgemeinwohl, was mit Fug und Recht kritisiert werden kann, kritisiert werden muss.

Wenn man Menschen auf der Straße fragt, welcher Finanzkonzern der größte oder mächtigste der Welt ist, erhält man meist Goldman Sachs, J. P. Morgan oder gar die Deutsche Bank als Antwort. BlackRock ist jedoch größer als diese drei Unternehmen zusammen. BlackRock in Zahlen zu fassen, sprengt die Vorstellungskraft normaler Menschen. BlackRock verwaltet zurzeit 6,85 Billionen US-Dollar. Darunter sind etwa Pensionsfonds in einem Volumen von mehr als einer Billion US-Dollar, von denen die Pensionen von Millionen US-Amerikanern bezahlt werden müssen. Zu den Kunden von BlackRock gehören Stiftungen von Universitäten, Versicherungsgesellschaften, Staatsfonds und praktisch alle Großkonzerne.

Eher bescheiden wirken da im Vergleich die normalen Kennzahlen des Unternehmens. Weltweit arbeiten gerade einmal 14 500 Mitarbeiter für BlackRock. Das ist nur unwesentlich mehr als im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt und geradezu ein »Fliegenschiss« im Vergleich zu den 2,2 Millionen Mitarbeitern, die weltweit für die Einzelhandelskette Walmart arbeiten. Im Finanzjahr 2018 erzielte BlackRock pro Mitarbeiter einen Ertrag von 952 886 US-Dollar und nach Abschreibungen und Steuern immerhin noch einen Reingewinn von 288 926 US-Dollar pro Mitarbeiter. Zum Vergleich – die größten deutschen Finanzkonzerne Allianz und Münchner Rück kommen auf einen Reingewinn pro Mitarbeiter von 52 380 beziehungsweise 55 784 Euro. Unternehmen aus der Realwirtschaft, wie der Bauzulieferer HeidelbergCement oder der Maschinenbauer Krones kommen sogar »nur« auf 19 360 beziehungsweise 9 133 Euro. BlackRock ist profitabel und hat seinen Unternehmensgründer zum Milliardär gemacht. Aber das ist es nicht, was die machtpolitische Alleinstellung von BlackRock ausmacht.

Die Macht von BlackRock wird erst dann vorstellbar, wenn man einen Blick auf die Unternehmensbeteiligungen wirft, die BlackRock als Verwalter des Vermögens seiner Anleger erworben hat. BlackRock spielt in einer eigenen Liga, in jeder Hinsicht: BlackRock ist nämlich nicht nur bei jedem zweiten deutschen Dax-Konzern der größte Anteilseigner, sondern auch größter Aktionär bei Apple, Exxon Mobil, Microsoft, General Electric, Chevron, Royal Dutch Shell und Nestlé sowie zweitgrößter Aktionär bei Google. Wenn man sich die 20 wertvollsten Unternehmen der Welt, gemessen am Börsenwert, anschaut, ist BlackRock bei neun von ihnen der größte und bei sechs weiteren der zweitgrößte Anteilseigner. Es gibt weltweit nur wenige große Aktiengesellschaften, an denen BlackRock nicht maßgeblich beteiligt ist.

Gemessen an dieser Machtfülle und Machtkonzentration ist es erstaunlich, wie wenig über BlackRock berichtet wird und wie wenig über die Interessen und Ziele dieses Giganten bekannt ist. Was ist BlackRock und welche Ziele verfolgt dieser Gigant?

Larry Fink: Der Sechs-Billionen-Dollar-Mann

Der BlackRock-Gründer Lawrence »Larry« Fink ist heute der unbestrittene König der Wall Street. Danach sah es zu Beginn seiner Karriere ganz und gar nicht aus. Fink wuchs als Sohn eines Schuhverkäufers und einer Englisch-Lehrerin in Van Nuys, am Stadtrand der kalifornischen Metropole Los Angeles auf. Heute erzählt er gerne, dass er das Verkaufen und die Orientierung auf den Kunden von seinem Vater gelernt hat, dem er hin und wieder im Schuhgeschäft ausgeholfen habe. Ob das stimmt oder Teil der Legendenbildung des Mannes ist, ist jedoch nur schwer herauszufinden. Vom Schuhverkäufer zum Milliardär? Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein.

Ein unterprivilegierter Habenichts war der junge Larry jedenfalls nicht. Nach der High School studierte Fink erst einmal Politikwissenschaften an der angesehen UCLA. Im Jahr seines Abschlusses heiratete er seine Jugendliebe Lori, mit der er bis heute verheiratet ist und mit der er gemeinsam drei Kinder hat. Gleich darauf immatrikulierte er im Masterstudiengang Immobilienfinanzwesen an der Business School der UCLA. Als typisches »L.A.-Kid« mit »Jadeschmuck und langen Haaren«, wie Fink es der Vanity Fair beschrieb1, ging er dann nach New York, um an der Wall Street beim Finanzunternehmen First Boston die ersten Sporen zu verdienen. Und dies gelang ihm auch vortrefflich. Finks Jahre bei First Boston zeichnen jedoch das genaue Gegenteil des heutigen »Wall Street Statesman«, der die Branche bei jeder sich bietenden Gelegenheit ermahnt, das Risiko herunterzufahren und solider zu wirtschaften.

Hypotheken galten zu jenem Zeitpunkt, also Mitte der 1980er-Jahre, als eine fürchterlich langweilige Angelegenheit: Banken, die Immobilienkredite vergeben, müssen dafür einen gehörigen Teil ihrer Kundeneinlagen einsetzen und einen Teil ihrer Rücklagen zur Absicherung gegen Ausfälle zurückstellen – ein substanzieller Einsatz eigener Mittel also, bei einer Verzinsung, die nicht gerade große Profite verspricht. Die Immobilienfinanzierung machte damals den größten Teil des klassischen Bankgeschäfts aus, zu dem neben den technischen Aufgaben (Kontenführung, Teilnahme am Zahlungsverkehr) die Kreditvergabe an Privatpersonen und Unternehmen und Einlagengeschäfte (zum Beispiel Spareinlagen oder Tages- und Festgeld) gehören. Zugespitzt formuliert, funktionierte das klassische Bankgeschäft nach der 3-6-3-Regel – gib deinen Kunden auf ihre Einlagen 3 Prozent Zinsen, verleihe sie für 6 Prozent weiter, kassiere die Differenz und geh’ um 3 Uhr Nachmittag auf den Golfplatz. Der Ökonom Paul Krugman hat diese Kernaufgaben der Geschäftsbanken (zu denen freilich nicht das Golfspielen gehört) einmal ironisch als »boring banking« (langweilige Bankgeschäfte) beschrieben. Und an langweiligen Geschäften hatten die Finanzmagier an der Wall Street kein Interesse. Angeheizt von den Deregulierungen der Reagan-Ära war man förmlich auf Speed und wollte die Branche auf den Kopf stellen.

Das war die eigentliche Geburtsstunde des Investmentbankings, das alles andere als »langweilig« ist. Und mit maximal drei Prozent Zinsgewinn gibt man sich dabei nicht einmal im Ansatz zufrieden. Zu diesen Geschäften sollte später das gesamte Repertoire des modernen Finanzsystems gehören – angefangen beim Hochfrequenzhandel im Nanosekundentakt, über die Finanzierung von Hedgefonds, »Leveraged Buyouts«, also mit Fremdkapital finanzierte unfreundliche Unternehmensübernahmen, den Handel von Derivaten und synthetischen Finanzprodukten und intransparente Finanzwetten in den sogenannten Dark Pools. Diese hoch riskanten und hoch spekulativen Finanzgeschäfte werden dabei entweder im Kundenauftrag oder auf eigene Rechnung durchgeführt, gerne auch in separaten Finanzvehikeln abseits der eigenen Bilanz.

Die Erfindung der finanziellen Massenvernichtungswaffe

Finks Job bei First Boston bestand darin, aus diesen langweiligen und renditeschwachen Papieren ein Geschäft zu machen, mit dem sich gutes Geld verdienen lässt. Und diese Aufgabe meisterte er – zumindest aus damaliger Sicht – mit Bravour. Seine Innovation war es, ein Finanzinstrument zu entwickeln, mit dem viele Banken ihre langweiligen festverzinslichen Kredite in Papiere bündeln können, die handelbar sind und kalkulierbare, regelmäßige Einnahmen ­versprechen. Die Kredite selbst bleiben dabei zwar indirekt in den Bilanzen der Bank, nicht aber das Risiko. Und da die Banken das Risiko auf diese Art und Weise ausgelagert haben, müssen sie bilanzrechtlich auch keine Rücklagen mehr dafür bilden und können fröhlich weitere Kredite vergeben oder sonstige Geschäfte finanzieren, die Banken halt so machen. Investmentlegende Warren Buffett sollte Finks »Erfindung« fast 20 Jahre später als »finanzielle Massenvernichtungswaffe« bezeichnen.

Die genaue Funktion und Konstruktion dieser Papiere ist kompliziert. Vereinfacht gesagt werden die Forderungen aus einer großen Gruppe von vergebenen Krediten an eine Zweckgesellschaft ausgelagert. Diese Zweckgesellschaft bildet dann einen Pool aus allen Forderungen und »verbrieft« sie; aus ihnen werden also festverzinsliche Wertpapiere gemacht, deren Verzinsung das Ausfallrisiko wiedergeben soll. So kann eine Bank aus Düsseldorf in Hypotheken aus Idaho oder Studentenkredite aus Florida investieren, ohne selbst vor Ort eine Filiale zu haben. Und die Sicherheit dieser Papiere ist ja schließlich durch die Ratingagenturen »garantiert«. Bei den besonders beliebten verbrieften Hypothekendarlehen standen sogar noch die Immobilien selbst als Sicherheit zur Verfügung. Was sollte da schon schiefgehen?

Einiges, wie sich später herausstellen sollte, und das nicht erst in der sogenannten Subprime-Krise, welche die weltweite Finanzkrise von 2008 auslösen sollte. Die ohnehin schon komplizierten und intransparenten verbrieften forderungsbesicherten Papiere (Asset Backed Securities, ABS) und hypothekenbesicherten Papiere (Mortage Backed Securities, MBS) wurden nämlich von den Finanzmagiern der Wall Street durch weitere »Innovationen« noch komplizierter und noch intransparenter gemacht. Zunächst wurden die ABS und MBS in Tranchen mit unterschiedlicher Ausfallwahrscheinlichkeit und damit auch unterschiedlichen Zinsen unterteilt. Andere MBS wurden in Tranchen unterteilt, die nach dem Risiko sortiert wurden, dass die zugrunde liegenden Hypotheken vorzeitig aufgelöst werden – dies ist der Fall, wenn der Kreditnehmer die alte Hypothek durch einen neue ersetzt, also umschuldet. Für Fonds und Versicherungen, die auf regelmäßige Einnahmen angewiesen sind, ist dies ein echtes Problem.

Nun nahm man Tranchen verschiedener Pools, bündelte sie und machte daraus neue Wertpapiere. Damit konnte die Bank aus Düsseldorf sogar auf Hypotheken von Häuslebauern aus den USA wetten, deren Bonität von der Bank der kreditgebenden Bank als nicht gerade erfreulich bewertet wurde und die dafür auch höhere Zinsen zahlen. Die sogenannten Collateralized Mortage Obligations (CMO) waren geboren und verkauften sich am Markt wie geschnitten Brot.

Und das Risiko? Da diese Papiere ja mehr oder weniger breit gemischt waren, sollte sich gemäß den Verkaufsprospekten auch das Risiko breit streuen. Klar, es kann sein, dass zum Beispiel in Detroit ein weiteres Werk der Autohersteller geschlossen wird und es dort zu größeren »Kreditereignissen« kommt – so werden in der Branche euphemistisch Ausfälle genannt. Aber wenn man nun Hypotheken aus Detroit mit Hypotheken aus Louisiana, Delaware, North Dakota und Arizona in eine Tranche packt, verteilt sich das Risiko ja schließlich. Was soll da schon schiefgehen?

Aber das war noch längst nicht das Ende der »Innovationen«. Mit der Zeit wurden die Papiere noch komplizierter, man entwickelte Verbriefungen, deren ausgebende Zweckgesellschaft gar nicht mehr in Besitz der zugrunde liegenden Forderungen war, sondern die sich lediglich über Kreditausfallversicherungen (Credit Default Swaps, CDS) gegen ein Kreditereignis abgesichert hat. Dann verbriefte man auch noch CDS in CDO (Collateralized Debt Obligations), man konnte über Derivate auf die Wertentwicklung der CDO und CDS wetten, und am Ende wurden ABS, MBS, CDO und CDS mit anderen Derivaten – zum Beispiel Wetten auf steigende oder sinkende Zinsen – in synthetische Papiere verpackt, von denen niemand mehr wusste, um was es sich eigentlich handelt. Das Risiko dieser Papiere war schlicht nicht bestimmbar. Das wusste jeder. Aber da die Ratingagenturen das Spiel artig mitspielten und gemäß der Zauberformeln der beteiligten Finanzunternehmen diesen Papieren beste Ratings verliehen, war die Sache ja okay. Was sollte da schon schiefgehen?

Die Geister, die Larry Fink rief

Einer der ersten Zauberlehrlinge, der von den Geistern, die er rief, eingeholt wurde, war wiederum Larry Fink. Dabei lief in seiner Karriere zunächst alles rund. Seine Finanzinnovationen fanden reißenden Absatz, er war der neue Stern am Himmel von First Boston. Und das ließ er sein Umfeld auch wissen. Fink war einer dieser Wall-Street-Magier, die sich selbst als »Big Swinging Dicks« bezeichneten, wie es der amerikanische Finanzjournalist Michael Lewis in seinem Erstlingswerk Liar’s Poker2 so wunderbar zynisch beschrieben hat – arrogant und von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt. Ein »Master of the Universe« in einer Welt von Geld und Macht, wie Sherman McCoy, der Protagonist in Tom Wolfes 1987 erschienenen Buch Fegefeuer der Eitelkeiten, Gordon Gekko in Oliver Stones Wall Street oder Jordan Belfort in Scorseses Wolf of Wall Street. Wenn Fink heute auf diese Periode und sein seinerzeit arrogantes Verhalten angesprochen wird, versucht er sich in Psychologie. So erklärte er der Vanity Fair im Jahre 2010, als Jude sei er von den WASPs – also den weißen, angelsächsischen Protestanten aus dem Establishment –, die die Chefposten an der Wall Street innehatten, von oben herab behandelt worden. »Wir wurden ins Geschäft mit hypothekenbesicherten Papieren abgeschoben, weil man uns nirgendwo anders wollte.« Und diese Demütigung – es sollte nicht die letzte sein – musste er offenbar kompensieren. Doch ob diese Erklärung zutrifft, darf getrost bezweifelt werden. Ein Außenseiter war Fink nämlich ganz und gar nicht.

Während seiner Zeit bei First Boston brachte er Branchenschätzungen zufolge dem Unternehmen unterm Strich eine Milliarde US-Dollar ein. Sein größter Coup war ein Papier, mit dem First Boston Automobilkredite von General Motors in Höhe von 4,6 Milliarden US-Dollar verbriefen und am Markt platzieren konnte. Er wurde einer der jüngsten Direktoren bei First Boston und mit gerade einmal 31 Jahren das jüngste Vorstandsmitglied der Firmengeschichte. Doch im Jahr 1986 legte »Big Swinging Dick« Larry Fink eine epo­chale Bruchlandung hin.

Vom Star zum Trottel

Ironischerweise wurde Fink eines der ersten Opfer der Massenvernichtungswaffe, die er selbst mitentwickelt hat. Während Fink seine verbrieften hypothekenbesicherten »Securites« am Markt platzierte, lösten Ronald Reagans Deregulierungen des Finanzsystems ihren ersten Kollateralschaden aus. Der 1982 verabschiedete Garn-St. Germain Depository Institutions Act erlaubte es nun auch Sparkassen, an einem größeren Rad zu drehen und Hypothekenkredite zu vergeben, die nicht mehr festverzinslich waren, sondern deren Zinsen sich am allgemeinen Zinsumfeld orientierten – mehr als zwei Jahrzehnte später sollten diese Hypotheken mit variabler Zinsrate (Adjustable Rate Mortage – ARM) ihren Teil zu Finanzkrise beitragen. In Folge dieser Deregulierung konnten die Sparkassen immer mehr Hypothekenkredite vergeben und dank der von Fink mitentwickelten Verbriefungen gebündelt am Finanzmarkt platzieren.

Die Gefahr dieser Papiere liegt auf der Hand. Wenn es zu einer realwirtschaftlichen Krise kommt und die Ausfallrisiken für Hypotheken durch die Begleiterscheinungen wie Arbeitslosigkeit und Lohnkürzungen steigen, steigt mit dem Ausfallrisiko auch der Zins. Und hier beginnt eine desaströse Eigendynamik: Wer seinen Job verliert oder weniger Geld verdient, kann die nun höheren Zinsen erst recht nicht mehr bedienen. Die »Kreditereignisse« nehmen zu, immer mehr Hypotheken fallen aus und das Risiko wird noch höher bewertet, der Zins steigt noch weiter. Das Pendel schlug zu Beginn der 1980er-Jahre jedoch genau in die andere Richtung aus.

Was passiert mit den Finanzierungsmodellen, wenn eine Bank ihren Anlegern plötzlich sechs Prozent Zinsen auf ihre Einlagen zahlt und für ihre vergebenen Kredite nur drei Prozent Zinsen bekommt? Ökonomen sprechen hier von einer Fristentransformation. Genau dieses Problem traf die amerikanischen Sparkassen zu Beginn der 1980er-Jahre, als die Inflation und mit ihr die Zinsen plötzlich zurückgingen und die Immobilienpreise fielen. Schon wenige Monate nach der Deregulierung durch Reagan verzockten sich die ersten Sparkassen derart, dass sie pleitegingen. Im Laufe der nächsten Jahre sollten insgesamt 747 der damals 3 234 US-Sparkassen ihre Pforten schließen. Schon damals wurden die Verluste nach praktizierter Rettungslogik dem Steuerzahler aufgebürdet – nach Angaben des US-Rechnungshofs kostete die Sparkassen-Krise den amerikanischen Steuerzahler insgesamt 341 Milliarden US-Dollar.3

Indirekt war es jene Sparkassenkrise, die dem jungen Larry Fink mit seinen Finanzprodukten zum Verhängnis werden sollte. Da die Sparkassenkrise – wie jede andere Finanzkrise auch – die Realwirtschaft mit sich zog und die USA auf einen wirtschaftlichen Abschwung zusteuern ließ, senkte die Zentralbank den Leitzins. Lag der 1982 noch bei heute unvorstellbaren 19 Prozent, sank er binnen weniger Monate auf 8,5 Prozent. Für Fink war dies ein kolossales Problem, nutzten nun doch zahlreiche Immobilienbesitzer das günstige Zinsumfeld, um ihre alten Hypotheken mit hohem Zinssatz gegen neue, günstigere Hypotheken einzutauschen. Da Finks Papiere aber nicht die Hypotheken selbst, sondern nur die Zinszahlungen auf die Hypotheken abbildeten, fiel ihr Wert ins Bodenlose.

Auf alten Landkarten des späten Mittelalters wurden oft unbekannte Gebiete mit der lateinischen Textphrase »Hic sunt dracons« beschriftet – »Hier sind Drachen« oder im Englischen »Here be dragons«. Im Risikomanagement wird dieser Ausspruch heute gerne für die unbekannten Gefahren bezeichnet, die sich außerhalb der von den Spezialisten berechneten und kartierten Parameter befinden. Larry Fink hatte in seinem Rechenmodell nicht bedacht, dass es zu einer derartigen Leitzinssenkung kommen könnte, und stattdessen mit vollem Einsatz auf Finanzinstrumente gewettet, die von steigenden Zinsen ausgingen. Die Leitzinssenkung war für ihn ein unkartographiertes Gebiet, in dem in diesem Fall tatsächlich ein Drachen lauerte. Seine durch die Zinsänderungen ausgelöste Fehlkalkulation kostete seinen Arbeitgeber First Boston im zweiten Quartal 1986 100 Millionen Dollar – und ihn den Job.

Für Fink war dies ein traumatisches Erlebnis. Von einem Tag zum nächsten wurde er, wie er es selbst ausdrückt, »vom Star zum Trottel«. Die Kollegen, die ihn vorher auf den Fluren voller Bewunderung angesprochen hatten, machten plötzlich einen weiten Bogen um ihn. Gefeuert wurde Fink zwar nicht. Aber er war fortan bei First Boston eine Persona non grata. Später sagte er, seine Bruchlandung bei First Boston sei vor allem eine Folge davon, dass niemand so richtig verstanden hatte, welche Risiken in den Papieren schlummerten. Die Rechenmodelle waren ungenügend, und wichtige Parameter, wie der Leitzins, wurden darin nicht berücksichtigt. So lange man damit Erfolg hatte und Geld machte, habe dies niemanden gestört – als aber plötzlich Verluste eingefahren wurden, wendete sich das Blatt. »Wir wussten ganz einfach nicht, warum wir so viel Geld machten. Wir hatten keine Risikoanalysetools, um die Risiken zu verstehen.«4

Dass seine eigene Risikobewertung derart versagte, war für Larry Fink eine geradezu traumatische Erfahrung und sollte sein Selbstverständnis grundlegend ändern. Fortan war er geradezu davon besessen, die Risiken des Finanzmarkts besser zu verstehen und in eine neue Anlagestrategie umzuwandeln, bei der die Risiken für ihn und seine Kunden möglichst transparent sein würden.

Stein oder Kiesel?

Larry Fink sollte bald erkennen, dass nicht nur er und seine Kollegen, sondern vor allen ihre Kunden, die Pensionsfonds und Versicherungen, eigentlich keinen blassen Schimmer von den Risiken hatten, die im Finanzdschungel auf sie lauerten. Stattdessen verließ man sich blind auf die Finanzmagier in der Wall Street. Doch dass diese die Risiken vollkommen falsch einschätzten, wusste zu diesem Zeitpunkt wohl niemand besser als Fink selbst. Ihm wurde klar, dass er eine Marktlücke entdeckt hatte – und eine Möglichkeit, seinen angeschlagenen Ruf zu rehabilitieren.

Unter dem Dach von First Boston schien dies jedoch nicht möglich. Also schmiss er seinen Job und machte sich selbstständig. Sein Plan war es, ein Investmentunternehmen zu gründen, das sich voll und ganz auf Risikomanagement fokussiert. Da ihm dafür allerdings das nötige Kleingeld fehlte, machte er sich auf die Suche nach einem finanzkräftigen Partner. Den fand er ausgerechnet in Stephen Schwarzman, dem »König der Spekulanten«, dessen Unternehmen Blackstone heute als die größte und gierigste Heuschrecke der Wall Street gilt. Damit gingen zwei Alphatiere der Finanzbranche, die unterschiedlicher nicht sein könnten, eine folgenreiche Allianz ein. Auf der einen Seite der aufs Risiko fokussierte Larry Fink, der für sich gerne verklärend in Anspruch nimmt, doch nur die Altersvorsorge von Millionen Lehrern und Feuerwehrleuten abzusichern, und seine Kollegen an der Wall Street stets ermahnt, verantwortungsvoller zu handeln. Auf der anderen Seite Schwarzman, der jede Regulierung der Finanzmärkte für Teufelswerk hält und später Obamas Steuererhöhungen mit Hitlers Invasion in Polen vergleichen sollte.5 (Er ist übrigens auch sehr gut mit Donald Trump befreundet, Fink hingegen kritisierte Trumps Steuersenkungen und gilt als Unterstützer der Demokraten.)

Schwarzman hatte Blackstone 1985 zusammen mit seinem ehemaligen Chef bei Lehman Brothers, Pete Peterson, gegründet. Die Investmentfirma hatte sich erfolgreich auf Zusammenschlüsse und Übernahmen von Unternehmen spezialisiert und hatte ihren Sitz in einem noblen Wolkenkratzer in der Park Avenue. Fink war Schwarzman bereits wegen seiner Tätigkeit bei First Boston bekannt, und er war einigermaßen beeindruckt von dessen Fähigkeiten. Er stellte Fink, der auch gleich ein paar seiner ehemaligen Kollegen von First Boston mitbrachte, ein Büro in der Park Avenue 345 zur Verfügung und ein Startkapital in Höhe von fünf Millionen US-Dollar. Dafür sicherte er Blackstone 40 Prozent Anteil an Finks neuem Unternehmen, das zunächst als Blackstone Financial Management firmierte. Neben Fink gehörten Robert S. Kapito, Susan Wagner, Barbara Novick, Ben Golub, Hugh Frater, Ralph Schlosstein und Keith Anderson zum Team – die meisten Gründungsmitglieder sind heute noch in führender Position im Unternehmen tätig.

Der Zeitpunkt für die Unternehmensgründung erwies sich als günstig. Wenige Monate zuvor hatte es an den Börsen wieder einmal gekracht: Am Schwarzen Montag, dem 19. Oktober 1987, verlor der Dow-Jones-Index binnen eines Tages fast ein Viertel seines Wertes. Viele große Anleger, die auf Aktien gesetzt hatten, waren verunsichert – Finks Idee eines umfassenden Risikomanagements kam da wie gerufen. Bereits 35 Tage nach der Gründung des neuen Unternehmens konnte Fink den ersten Großkunden an Land ziehen, und schon nach vier Monaten warf das Unternehmen die ersten Gewinne ab. Schnell stellte sich heraus, dass die fünf Millionen von Schwarzman nun nicht benötigt wurden, und Larry Fink kündigte die Kreditlinie. Verärgert stellte er später fest6, dass Blackstone ihm ja eigentlich nur ein Büro mit Telefonanschluss zur Verfügung ­gestellt habe und dafür nun 40 Prozent der Firmenanteile besaß. Warum hatte er sich also überhaupt mit Schwarzman zusammengetan? Nach seinem Fiasko bei First Boston fehlte es ihm an Selbst­vertrauen, Schwarzman und Peterson glaubten hingegen an ihn, so Fink. Als Fink 2010 auf CNBC in einem Interview gefragt wurde, welches der schlechteste Handel seiner Karriere war, erzählte Fink der Inter­viewe­rin die Geschichte der Verhandlungen mit Schwarzman und Perterson: »Sie fällten die richtige Investmententscheidung. Ich nicht«. Mit anderen Worten: Sein größter Fehler sei es gewesen, damals für einen Moment nicht an seine eigene Großartigkeit zu glauben. Bescheidenheit zählt also ganz sicher nicht zu seinen zentralen Eigenschaften.

Bereits in den ersten fünf Jahren konnte Fink mehr als 53 Milliarden US-Dollar an Anlegergeldern akquirieren7, und auch Schwarzman drehte am ganz großen Rad. Blackstone legte in der Zeit seinen ersten Hedgefonds auf, baute das Private-Equity-Geschäft auf und übernahm die ersten Firmen aus der Realwirtschaft, die man dann restrukturierte und neu aufstellte; oder um es weniger euphemistisch auszudrücken – die man ausnahm, zerschlug und dann mit satter Rendite weiterverkaufte.

Da die Geschäftsmodelle der beiden Unternehmen grundverschieden waren, ergab eine gemeinsame Firma wenig Sinn. Über einem Streit mit Schwarzman zur Beteiligung von Mitarbeitern kam es schließlich zum großen Knall und einer schmutzigen Scheidung: Schwarzman verkaufte 1993 seine Anteile an Blackstone Financial Management für 240 Millionen US-Dollar an die PNC Financial Services aus Pittsburgh. Zu der Zeit war dies ein sehr lohnender Deal für Schwarzman, konnte er doch 240 Millionen US-Dollar Gewinn einheimsen, ohne dafür irgendetwas Relevantes getan zu haben. Der lachende Dritte war jedoch letztlich PNC – allein von 1994 bis 2014 bekam der Finanzdienstleister von BlackRock stolze 12 Milliarden US-Dollar an Dividenden ausgezahlt8. Der PNC-Anteil an BlackRock ist heute 16 Milliarden US-Dollar wert. Kein Wunder, dass Stephen Schwarzman den Verkauf der Anteile heute als »epischen Fehler« bezeichnet.

Die Scheidung war nun im Gange, es fehlte jedoch noch ein neuer Name für das ehemals gemeinsame Kind. Sowohl Fink als auch Schwarzman mögen zwar auf dem Gebiet der Finanzen sehr kreativ sein, bei der Namensfindung für das Unternehmen waren sie es mit Sicherheit nicht. In einem Interview mit CNBC erzählte9 Stephen Schwarzman, wie es zum Namen BlackRock kam. Demnach saß er mit Larry Fink zusammen, und der machte dann den Vorschlag, was Schwarzman davon halten würde, wenn Finks neues Unternehmen einen Namen hat, in dem »irgendwo ›black‹ vorkommt«. Obgleich externe Berater ihn gewarnt hatten, dass dann die Verwechslungsgefahr zu groß sein könnte, stimmte Schwarzman dennoch zu. Finks Vorschläge waren dann BlackRock (also »schwarzer Fels«) und BlackPebble (also »schwarzer Kiesel«). Nicht auszudenken, wenn der größte Finanzkonzern der Welt heute »Schwarzer Kiesel« hieße.

So einigte man sich auf BlackRock und vollzog die Scheidung. Hätte Schwarzman doch besser auf seine externen Berater gehört. BlackRock wird auch heute noch ständig mit Blackstone verwechselt. Sogar der englischsprachige Wikipedia-Eintrag von Black­stone ist mit dem Satz überschrieben – »nicht mit BlackRock Inc., einem Investmentunternehmen zu verwechseln«. Für das Alphatier Schwarzman, dessen Autobiographie den unbescheidenen Titel »Lektionen für das Streben nach Perfektion« trägt, sind dies sicher tausend kleine Stiche ins Herz. Das Mitleid sollte sich indes in Grenzen halten.

Larry Finks Namensgebung ist in gewisser Art und Weise sogar unfreiwillig komisch. Im Superman-Comic-Universum ist Blackrock nämlich ein mystisches Artefakt, das Schurken die notwendigen Superkräfte gibt, um im epischen Kampf um die Macht die Guten zu besiegen. Und auch das Unternehmen BlackRock hat durchaus das Zeug, seinen Besitzern – um es ein wenig mystisch zu überspitzen – die Macht im realen Universum zu verschaffen.

Zins und Risiko: Die Grundlagen des Finanzwesens

Zinsen werden in der öffentlichen Debatte oft als etwas »Mystisches« verklärt. Für die sogenannten Zinskritiker ist der Zins eine Art Konstruktionsfehler, ja geradezu die »Erbsünde« unseres Geld- und Finanzsystems. Würde man derlei Esoterik ernst nehmen, könnte man polemisch antworten: Dann müsste unser Geld- und Finanzsystem ja heute frei von Sünde und in trockenen Tüchern sein – denn in Folge der Finanzkrise und der wirtschaftlichen Verwerfungen, die von den politischen Reaktionen auf die Finanzkrise ausgelöst wurden, gibt es ja keinen Zins mehr. Doch das wäre genauso falsch. Daher ist es wichtig und für das Verständnis des Erfolges von BlackRock und anderen großen Finanzkonzernen unerlässlich, die Grundlagen von Zins und Risiko zu begreifen.

Aus Sicht des Kreditnehmers stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Für Unternehmen ist der Zins schlicht die Gebühr dafür, mit Hilfe von Fremdkapital Investitionen vornehmen zu können, um die eigene Ertragssituation zu steigern. Wenn ein Unternehmen mit Hilfe von Krediten Investitionen vornimmt, geht es davon aus, dass die aus diesen Investitionen resultierenden Mehreinnahmen höher sind als der Zins, den es für die Kredite bezahlen muss. Im Grunde ist dies eine ganz einfache Rechnung.

Privatleute ziehen mit Hilfe von Krediten meist Ausgaben vor, die ihnen einen wie auch immer gearteten Nutzen versprechen – sei es das neue Auto, für das man momentan noch nicht genug Geld hat, oder das Eigenheim. Die Alternative zum Kredit ist das klassische Sparen. Wer beispielsweise ein Haus bauen will, hat demnach zwei Möglichkeiten – entweder er spart und kauft sich das Haus, wenn er den nötigen Kapitalstock zusammengespart hat, oder er nimmt einen Kredit auf, mit dem er seine Investition vorzieht. »Kaufe jetzt, zahle später.« Für viele Privatleute ist die Kreditfinanzierung dabei die einzig realistische Variante, will man sein Eigenheim nicht erst mit Beginn des Rentenalters beziehen. Die Abzahlung einer Hypothek erstreckt sich häufig über mehrere Jahrzehnte. Natürlich ist das Vorziehen dieser Investition nicht kostenlos, ansonsten gäbe es wohl niemanden, der sein Geld über einen langen Zeitraum für eine solche Investition bereitstellt. Für die Möglichkeit, sein Eigenheim bereits zu nutzen, lange bevor man es komplett bezahlt hat, muss man – ebenso wie der Unternehmer – einen Aufpreis bezahlen.

Für den Kreditgeber stellt der Zins nicht nur einen Inflationsausgleich, sondern vor allem eine Risikoprämie und schlichtweg den Preis für das Warten dar. Sicherlich würde jeder Bürger seinen eigenen Kindern einen zinslosen Kredit geben, wenn sie dringend Geld bräuchten. Die »Bonität« und damit das Risiko, das Geld nicht in voller Höhe zurückzuerhalten, sind dabei zweitrangig. Wer aber würde einem Unbekannten zinsfrei Geld leihen, ohne zu wissen, ob man das Geld auch wiederbekommt?

Zum Wesen des Kredits gehört nun einmal immer auch der Kreditausfall. Die Investition des Unternehmers kann sich als unrentabel herausstellen, der Häuslebauer könnte seinen Job verlieren und den Kredit für das Eigenheim nicht mehr zurückzahlen. Beide Fälle sind keine Ausnahmen, sondern Berechnungsgrundlage des Zinses. Es ist vollkommen normal, dass ein Teil der Kredite nicht bedient werden kann. Um diese Ausfälle zu kompensieren, erhebt der Kreditgeber daher einen risikoabhängigen Aufschlag, der die Zinshöhe mitbestimmt. Gäbe es nur einen Einheitszins oder gar keinen Zins, würde wohl niemand sein Geld an ein ertragsschwaches Unternehmen oder eine Person mit Zahlungsschwierigkeiten verleihen.

Der Zins spiegelt also das Ausfallrisiko. Man kann ihn im weitesten Sinne mit den Versicherungsprämien einer Kfz-Haftpflichtversicherung vergleichen. Je höher die Wahrscheinlichkeit eines Versicherungsfalls, desto höher die Prämie. Daher kann ein stabiler Staat, der durch Steuereinnahmen und nicht zuletzt den Zugriff auf die Zentralbank zumindest in der eigenen Währung ja immer zahlungsfähig ist, sich zu sehr niedrigen Zinssätzen Geld leihen. Ein überschuldetes Unternehmen mit trüben Aussichten wird hingegen für zusätzliche Kredite einen sehr hohen Zinssatz bezahlen müssen, da in diesem Fall das Ausfallrisiko ja sehr real ist und der Kreditgeber damit rechnen muss, unter Umständen auf einen Teil seines Geldes verzichten zu müssen. Mit dem Ausfallrisiko steigt der Zins.

Was in der Theorie sehr einfach ist, ist in der Praxis für Banken, die Kredite vergeben, vermitteln oder gar mit ihnen handeln, jedoch ein großes Problem. Die Risiken, die mit einem Kredit verbunden sind, sind schließlich nicht immer transparent und letztlich eine Frage individueller Bewertung. Das gilt insbesondere, je komplexer die Finanzinstrumente werden und je weiter sie sich von den im letzten Kapitel beschriebenen »langweiligen Bankgeschäften« entfernen.

Das Risiko wird gehebelt

Werfen wir doch einmal einen Blick auf die in der Theorie wohl langweiligste Investitionsform, die Staatsanleihe. In der Öffentlichkeit genießen diese Papiere den Ruf einer konservativen, risikoarmen Finanzanlage. Lebensversicherungen und Riester-Produkte sind gesetzlich verpflichtet, einen Großteil ihrer Kundeneinlagen in Staatsanleihen aus dem Euroraum zu investieren, die von den Ratingagenturen eine Bestnote bekommen haben. Viele mögen sich noch an die drollige Schildkröte Günther Schild erinnern, mit der deutsche Staatsanleihen als seriöses und grundsolides Finanzprodukt beworben wurden. Noch immer spukt in den meisten Köpfen die Vorstellung, eine Bundesanleihe würde gleich bei der Emission von einem soliden Investor erworben und am Ende der Laufzeit eingelöst. Doch die Zeiten haben sich geändert.

Der Finanzsektor hat es mit seinen Innovationen geschafft, Günther Schild auf Speed zu setzen und aus den langweiligen Staatsanleihen Finanzprodukte zu designen, die hohe Renditen versprechen, aber dafür auch ein für den Anleger kaum zu bewertendes Risiko darstellen. Ein Beispiel für solche Papiere sind Zinsderivate wie der Euro-Bund-Future. Dieses Papier ist eine synthetische Bundesanleihe – ein Termingeschäft, bei dem Anleger auf steigende und fallende Zinsen für Bundesanleihen spekulieren können. Man muss nicht mehr im Besitz einer Staatsanleihe sein, sondern wettet nur noch auf die künftige Entwicklung dieser Anleihe. Aus Investition wird Spekulation. Aus einem geringen Risiko wird ein großes Risiko.

Mit Finanzprodukten, die sich auf solche synthetischen Papiere beziehen, lässt sich überproportional von den schwankenden Kursen für Staatsanleihen profitieren, da bereits mit kleinem Einsatz gigantische Geldmengen bewegt werden können. In der Sprache der Finanzmärkte nennt sich dies Hebel. Beim klassischen Anleihenhandel auf eigene Rechnung beträgt der Hebel immer 1:1 – geht der Kurs um zwei Prozent in die Höhe, hat der Spekulant zwei Prozent gewonnen. Ein Hebel von 10:1 heißt, dass Kursgewinne und -verluste sich mit dem Faktor 10 auf den eigenen Einsatz auswirken. Statt zwei Prozent gewinnt oder verliert der Spekulant dann 20 Prozent auf seinen Einsatz. Beträgt der Kursverlust zehn Prozent, ist der gesamte Einsatz weg. Streng genommen geht der Spekulant bei einem solchen Geschäft eine Wette auf die kommende Risikobewertung – den Zins – der zugrunde liegenden Papiere ein. Und diese hochriskanten Wetten sind keine Ausnahme.

Über Zertifikate wurde dieser Markt sogar für Kleinanleger – oder besser Kleinspekulanten – geöffnet. Der Online-Broker Onvista hat mehr als 4 600 verschiedene Zertifikate im Angebot, die sich als Hebelprodukte auf den Euro-Bund-Future beziehen. Einige davon haben einen Hebel von mehr als 200:1. Wenn der Kurs des Euro-Bund-Future sich um ein Prozent nach oben bewegt, verdoppelt der Spekulant seinen gesamten Einsatz, fällt er um ein halbes Prozent, ist der gesamte Einsatz futsch. Das Risiko dieser Produkte ist kaum zu beziffern. Die Institute, die solche Produkte anbieten, gewinnen jedoch in jedem Fall, spielen die Spekulanten doch mit ihrem eigenen Geld.

Die Hebelung (engl. Leverage) spielt heutzutage jedoch auch im normalen Bankgeschäft eine wichtige Rolle. Wer erinnert sich nicht mehr an die großspurige Ansage des ehemaligen Deutsche-Bank-Chefs Josef Ackermann, der 2003 für sein Institut eine Renditevorgabe von 25 Prozent verkündete? Jeder Mensch, der sich halbwegs mit Wirtschaft beschäftigt, weiß, dass eine Steigerung der Gewinne von 25 Prozent pro Jahr eine groteske Illusion ist. Wie kam Ackermann dann aber auf die Idee, eine derartige Rendite zur Zielvorgabe zu machen?

Ganz einfach, es liegt am Hebel. Die Deutsche Bank hatte seinerzeit eine Bilanzsumme von 2,28 Billionen Euro, verfügte aber nur über ein Eigenkapital in Höhe von 51,9 Milliarden Euro. Für jeden Euro, den die Deutsche Bank besitzt, hat sie demnach 44 Euro in ihrer Bilanzsumme – dies ist bilanzrechtlich das Fremdkapital, das für die Rendite, die sich ja nur auf das Eigenkapital bezieht, als Hebel wirkt. Wenn die Deutsche Bank damals für ihr Fremdkapital im Schnitt zwei Prozent Zinsen zahlte, musste sie auf ihre gesamte Bilanz »lediglich« drei Prozent Rendite erzielen, um letzten Endes auf eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent Rendite zu kommen – der immense Hebel von 43 Teilen günstigen Fremdkapitals auf einen Teil Eigenkapital macht dies möglich. Drei Prozent Rendite lassen sich auch ohne Hebel erzielen – jedoch keine Eigenkapitalrenditen von 25 Prozent.

Die Kehrseite des Hebels ist, dass er nicht nur die Gewinne, sondern auch die Verluste hebelt. Ackermanns großspurige Ansage sollte wenige Jahre später nur noch eine Fußnote aus einer Zeit sein, an die man bei der Deutschen Bank heute nicht erinnert werden will. Durch den Hebel brachten Verluste, die in Relation zur Bilanzsumme eigentlich überschaubar waren, das ehemalige Flaggschiff des deutschen Finanzwesens beinahe zum Kentern. War die Deutsche Bank im Jahre 2000 vor Ackermanns Amtsantritt noch 55,2 Milliarden Euro wert, betrug der Firmenwert zu seinem Abgang 2012 nur noch 30,6 Milliarden Euro. Heute ist der Wert des Unternehmens auf 13,5 Milliarden Euro gefallen und stellt als Riese mit tönernen Füßen eine immense Bedrohung für das Finanzsystem dar.

Was Ackermann und seine Anhänger, die leider auch in der Politik zahlreich waren, schlicht ignoriert hatte, war der Zusammenhang zwischen Zins und Risiko. Wer seine Ertragschancen und Renditen durch Hebelung verbessert, hebelt dabei immer auch gleichzeitig das Risiko. Das ist eigentlich ja auch logisch; umso erstaunlicher ist es, dass die Finanzmagier mit ihrem Bluff immer noch durchkommen.

Im Dschungel lauern Drachen