4,99 €
Ein Klassentreffen 20 Jahre nach der Reifeprüfung ist selten eine reine Freude; wenn aber dann noch ein Mann, dessen Vergangenheit untadelig schien, in die Klemme gerät, ist das Schlimmste zu befürchten. Und es tritt auch ein.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 187
rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.
Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.
Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire
Hansjörg Martin
Schwarzlay und die Folgen
Ihr Verlagsname
Ein Klassentreffen 20 Jahre nach der Reifeprüfung ist selten eine reine Freude; wenn aber dann noch ein Mann, dessen Vergangenheit untadelig schien, in die Klemme gerät, ist das Schlimmste zu befürchten. Und es tritt auch ein.
Hansjörg Martin (1920–1999) war ursprünglich Maler und Graphiker. Nach dem Krieg arbeitete er als Clown, war Bühnenbildner und Dramaturg, dann freier Schriftsteller. Er schrieb Kriminalromane und Kinder- und Jugendbücher.
Oberstudiendirektor Dr. Rudolf Lampel
wird unversehens von seiner Vergangenheit eingeholt.
Ella Stahn
erfährt es zu spät, um eingreifen zu können.
Isabella Stahn
beschließt, ihr Taschengeld aufzubessern.
Adolf de Vries
hat den Mund gehalten. Bisher jedenfalls.
Liliane
heißt eigentlich Herta und versetzt Landwirte in Erregung.
Okko Okkinga
mußte vorsichtshalber entmündigt werden.
Oskar Notteboom
zieht, wie er meint, die Konsequenzen.
Oberstudiendirektor Doktor Rudolf Lampel – zu seiner Charakterisierung muß hier gleich gesagt werden, daß er den Titel ‹Oberstudiendirektor› nicht ausstehen kann, während er auf den ‹Doktor› Wert legt, was bei dem Namen Lampel, der an ‹Hampel› erinnert und entsprechende Assoziationen auszulösen geeignet ist, ja durchaus verständlich ist – Doktor Rudolf Lampel also erwacht von einem ungewohnten Geräusch.
Ein Hahn kräht.
Laut, schrill und richtig wie im Kinderbilderbuch: Kikerikiii … mit einem etwas ins ö gleitenden, langen i am Schluß. Ganz nahe kräht das Tier – und nun wieder: Kikerikiii …
In einiger Entfernung antwortet jetzt ein anderer Hahn, noch weiter weg gleich darauf ein dritter. Und da kräht wieder der erste. Es muß direkt unter dem Fenster sein.
Doktor Lampel blinzelt. Das Licht tut weh. Er bewegt sachte den Kopf. Die Bewegung tut auch weh. Er versucht sich zu orientieren. Sein Blinzelblick fällt auf einen Klaviersessel, an dessen drei geschwungenen Beinen der Zahn der Zeit und mehrere Generationen Holzwürmer genagt haben. Auf dem rissigen Kunstlederpolster des drehbaren Sitzes steht eine Weinflasche. Das Etikett hat ein nicht ganz stilsicherer Grafiker heraldisch verziert. ‹Uerziger Schwarzlay› sagen die Frakturbuchstaben zwischen dem sich krümmenden Geschnörkel.
Das Weinglas neben der Flasche ist schmutzig. In fettigen Fingerabdrücken bricht sich graues Morgenlicht. Der Rand zeigt Lippenstiftspuren.
Doktor Lampel schließt angewidert die Augen und versucht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Das ist schwierig. Seine Erinnerungen sind verfitzt wie ein Wollknäuel, mit dem eine Katze gespielt hat. Und dieser verdammte Hahn schreit ihm immerzu dazwischen. Aber allmählich findet er doch den Faden:
Ja … In drei oder vier Autos sind sie von Doornstein aus losgefahren, als das Klassenfest zu zerbröckeln begann … Ja, richtig!
Wenn er nur nicht so einen infernalischen Brummschädel hätte! Und brennenden Durst – wie nach ungenügend gewässertem Matjes … Gibt es hier Wasser? Was ist das überhaupt für ein Raum?
Eine Art Künstlergarderobe oder so was. Am Rahmen des hohen, narbigen Spiegels über dem Waschbecken stecken staubige Wachspapierblumen; über die rechte obere Ecke ist unordentlich eine blonde Perücke gestülpt. Wo hat er diese langen blonden Haare … Ach so, ja … Auf der Konsole vor dem Spiegel reihen sich Fläschchen und Döschen und Büchschen in verschiedenen Größen, Formen und Farben. Rechts daneben hängt ein lachsfarbener, gesteppter Morgenmantel und – Doktor Lampel stutzt – eine aus Lederriemen geflochtene Peitsche.
Es ist kalt. Es riecht nach erloschenen Zigarren, Moder, altem Bier und Misthaufen. Lampel fühlt sich so elend, daß er am liebsten die Decke über den dumpf schmerzenden Kopf ziehen würde, wenn nur diese Decke nicht so schmierig wäre.
Kikerikiii … schreit der Hahn.
Er hat in dem Auto von Adolf de Vries gesessen. Vorn neben de Vries, aber die Ohren nach rückwärts gespitzt und die ganze Aufmerksamkeit bei den dreien, die hinten in dem großen Wagen saßen: rechts Hermann Frohböse, den alle ‹Kätzchen› nannten, seiner Miau-Stimme wegen … Ein mittelmäßiger Schüler seinerzeit, aus kleinen Verhältnissen; heute irgendwas Mittleres bei irgendeiner mittleren Behörde … Links der Sohn des Ehepaares Everding. Wie er heißt ist Lampel entfallen. So ein etwas molliger Bursche. Ganz die Mutter. Adele Sonntag oder Sonnwald, nein, Sonntag hieß sie damals als Schülerin. Sie trug noch lange Zöpfe zum Abitur … Sie hat Sigurd Everding, ihren Klassenbruder, geheiratet. Ja. Und in der Mitte Isabella.
Isabella Stahn …
Doktor Lampel stöhnt. Er öffnet die Augen, die er im Bemühen, sich zu erinnern, geschlossen hatte, und zwinkert, um den Schmerz zu mildern, den ihm das kalte Licht verursacht, das durch das schmutzige Fenster fällt. Dann richtet er sich auf.
In seinem Kopf dreht sich ein flinkes kleines Schwindelkarussell. «O Gott …» stöhnt er und beißt sich auch schon auf die Zunge.
Es war eine irrsinnige Fahrt gewesen durch die nasse, neblige Nacht. Neben ihm sein ehemaliger Schüler und Pensionsgast Adolf de Vries: Damals, vor zwanzig Jahren, ein stiller, grobschlächtiger, unbeholfener Bauernjunge aus der Marsch; heute ein großer, bärtiger, immer noch langsamer, aber gerissen-langsamer Nachtclubbesitzer – und zwar Besitzer einer ganz gewissen, recht ungewöhnlichen Art von Nachtclub. Es waren fünf oder sechs; zwei oder drei hatte er ihnen vorführen wollen … Und hinten also der angetrunkene Frohböse, heute noch ebenso subaltern wie seinerzeit als Abiturient: «Aber jawohl, Herr Doktor!» – «Bitte sehr, Herr Doktor!» – «Danke schön, Herr Doktor!» – «Meinen Sie nicht auch, der Adolf soll vorsichtiger fahren, Herr Doktor?»
Vor dem Fenster klappern Holzschuhschritte vorüber. Ein Hund schlägt an, bellt mit überschnappender Stimme, ist wieder still. Ein paar Hühner gackern weinerlich.
Doktor Lampel sieht nach der Uhr. Halb drei. Halb drei? Er hält sie ans Ohr. Sie steht. Er zieht sie auf.
Alles ist in Unordnung.
Wie bin ich denn nur hier in dieses … dieses Kabuff geraten? überlegt er. Hat mich de Vries hergeschafft? Oder Ella? War ich denn so betrunken? Seit Jahren bin ich nicht mehr so betrunken gewesen … Kein Wunder nach dem Schreck, bei der Angst. Dieses Mädchen! Ein so schönes Mädchen – aber … Sie hat sich ja nichts anmerken lassen während der Autofahrt durch die Nacht. Sie hat mit Frohböse herumgealbert, und den jungen Everding – richtig, Uwe heißt er; kann kaum älter sein als sie – den Uwe hat sie ganz und gar durcheinandergebracht. Und mich – na! Der Angstschweiß ist mir ausgebrochen! Bei jedem ihrer Worte hab ich gedacht: Jetzt! Jetzt fängt sie an! Jetzt nimmt sie dich in die Zange. Jetzt zeigt sie dir, daß sie’s ernst meint … Aber sie hat mich nur schmoren lassen. Auch später, in dieser schummerigen, schauderhaften Bar – auch da hat sie mich nur auf kleiner Flamme … Dieses … dieses Biest. Dieses verdammte kleine Luder. Dieses … Kein Wunder, daß ich so viel und so schnell getrunken habe; kein Wunder, daß es schließlich bei mir ausgesetzt hat … Aber wie bin ich denn bloß hier reingekommen? Und wo sind die anderen?
Doktor Lampel steht auf. Er steht langsam und vorsichtig auf und vermeidet es, den schmerzenden, sonderbar aus dem Gleichgewicht geratenen Kopf schnell zu bewegen. Er spürt seine Kniegelenke, als wären sie mit kleinen, kantigen Kieselsteinen gefüllt. Schwerfällig tappt er die drei, vier Schritte zum Spiegel, der über dem schmutzigen Waschbecken hängt. Er hält sich an der kalten Porzellankante fest und hebt den Blick.
Durch die Parfum- und Gesichtswasserflaschenbatterien schimmert ihm im grauen Frühlicht ein graues Gesicht entgegen. Ein zerklüftetes Gesicht wie verwitterter Schiefer. Wirres weißgraugelbliches Haargezipfel über der hohen, blassen, quergefurchten Stirn und um die eine Spur zu großen Ohren. Tiefe Schatten unter den trüben Augen und in den scharfgekerbten Falten um den Mund.
Angewidert von diesem Gesicht verzieht Lampel die schmalen, rissigen Lippen. Er hat gewiß kein strahlendes Jünglingsantlitz erwartet, aber auch nicht so einen Blick in die Vergänglichkeit – noch dazu in die eigene.
«Das macht das Licht», sagt er mit rostiger Stimme halblaut zu sich selbst und wendet sich ab. Er weiß, daß er sich belügt und nimmt zugleich gedanklich Reißaus vor dem Selbstbetrug. Aber er dreht doch den Lichtschalter neben dem Spiegel und schaut, als die grelle Birne brennt, ein zweites Mal in das fleckige Glas. Aber das bringt nichts; das Gesicht, nun seitlich angeleuchtet, ist eher noch runzliger.
Draußen kräht der Hahn.
Lampel dreht den Schalter wieder aus und tappt zur Tür. Das alles hat keine drei Minuten gedauert. Die Tür gibt nicht nach.
Er erschrickt. Er hat plötzlich das Gefühl, in einer Falle zu sitzen. Vor dem kleinen Fenster – das stellt er jetzt erst fest – sind Gitterstäbe … Aber er könnte ja die Scheibe einschlagen und um Hilfe rufen. Schließlich – dies ist das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts; da gibt es keine Graf-von-Monte-Christo-Verliese mehr. Und er ist ja nun auch wirklich kein Graf von Monte Christo. Wer sollte ihn denn einsperren wollen! Und warum? Zudem – wo Hähne krähen und Holzschuhe klappern, sind auch Menschen. Er rüttelt noch mal kräftig an der Tür.
Sie springt so jäh auf, daß er sie fast ins Gesicht kriegt. Sie hat nur geklemmt, die Tür.
Dahinter dehnt sich Dunkelheit. Ein Schwall schaler, abgestandener Luft dringt in die Kammer oder Garderobe oder was das ist. Bei dem Geruch fällt Lampel plötzlich ein, daß sie alle zusammen an zwei oder drei aneinandergerückten Tischen gesessen haben in diesem Nightclub Trocadero … Wo, zum Kuckuck, kommt eigentlich das Wort Trocadero her? Er erinnert sich, daß es ihm in der letzten Nacht schon nicht eingefallen ist, daß es sogar irgendeinen Streit darum gegeben hat – mit Adolf de Vries? Trocadero … Was Spanisches natürlich – oder? Egal. Völlig gleichgültig.
Jedenfalls waren sie einigermaßen verblüfft gewesen: Nightclub Trocadero in Döhnshagen – in einem Dorf, das aus zwei Dutzend Häusern besteht, einer windschiefen Kirche und einer Kneipe. Döhnshagen am Rand des großen Moores … Lampel hat das Dorf schon vorher gekannt. In der Kirche soll sich vor etwelchen Jahrhunderten irgendein Stammeshäuptling bis zum letzten Mann gegen die einfallenden Truppen eines Nachbarhäuptlings verteidigt haben oder so ähnlich; Lampel hat nicht viel Sinn für die Geschichte des Landes. Er hat überhaupt nicht viel Sinn für Geschichte, obschon das eines seiner Fächer ist. Deutsch, Religion und Geschichte.
Seitdem er Oberstudiendirektor ist und das Johannes-Fabricius-Gymnasium in Doornstein leitet, unterrichtet er nur noch Deutsch in der Oberstufe. Religion ist heutzutage ohnehin so eine Sache, und Geschichte auch. Man weiß in beiden Fächern nie, wie der Wind gerade weht und wo alle die Fettnäpfchen stehen, in die man als Lehrer treten kann.
Bevor er in den großen, dunkel-muffigen Raum geht, wendet sich Lampel noch mal um, dreht den Wasserhahn auf, läßt sich das Wasser, das zuerst lau fließt, aber schnell kälter wird, über die Hände und Handgelenke laufen; er bückt sich, bildet eine Schale aus seinen Händen, taucht das Gesicht in die Schale, prustet, trinkt einen tiefen Schluck und wirft sich noch zwei Hände voll Wasser an die Stirn und in die Augen. Es wird ihm sofort sehr viel wohler.
Wasser ist was Wunderbares, stellt er fest und hat auch schon wieder die Kraft, sich über die Binsenweisheit seiner Feststellung zu amüsieren. Zu einem Lachen reicht es noch nicht, aber er lächelt schon ein bißchen. Und als er jetzt zum drittenmal in den Spiegel schaut, findet er, daß es nicht so schlimm ist mit den Spuren der Vergänglichkeit.
Bei der Suche nach einem Taschentuch zum Abtrocknen – den graublau-gestreiften Lappen neben dem Waschbecken will er nicht benutzen – gerät ihm ein knisternder Zettel zwischen die Finger. Er faltet ihn mit gerunzelter Stirn auseinander und kippt ihn so, daß das Licht darauf fällt. SECHSTAUSEND, steht da in Druckbuchstaben; darunter J. St. 46 Dortmund. Dann eine sechsstellige Zahl und dahinter Dresdner Bank (Bar abheben, Postanweisung).
«Das ist ungeheuerlich!» murmelt Lampel, zerknüllt den Zettel, läßt ihn zu Boden fallen und tupft sich mit dem Taschentuch, das nach Zigarre und Schweiß riecht, die Wassertropfen vom Gesicht. Dann hebt er den zerknüllten Zettel sorgfältig wieder auf, wobei er erneut gegen einen kleinen Schwindelanfall balancieren muß, steckt ihn in die Brusttasche seines Jacketts und wiederholt: «Ungeheuerlich!»
Und nun werden seine Bewegungen plötzlich hektisch. Er verläßt die vergitterte Kammer, dringt in den dunklen Raum vor und ertastet sich einen Lichtschalter. Rotes Licht flammt auf über der kleinen Tanzfläche und in den Nischen, in die der frühere Gasthofsaal eingeteilt ist. Lampels Schritt dröhnt, als er über das Parkett geht.
Dort, in der Nische haben sie gesessen – ja! Und hier vollzog das Mädchen mit den langen weißblonden Haaren seine Entblößungsszene – ‹Striptease› sagt man heute ja wohl … Und wo ist die Tür?
Da ist die Tür. Aber sie ist natürlich verschlossen.
Lampel haspelt zur rechten Seite des Saales, wo ein Tageslichtstreifen durch einen halboffenen Vorhang fällt. NOTAUSGANG liest er und Toiletten. Hinter dem Vorhang streckt sich ein schmaler Gang, und da ist auch ein unvergittertes Fenster, dessen Scheiben aus Milchglas sind. Lampel probiert den Wirbel. Das Fenster geht auf …
Sein Blick fällt in einen verwilderten Bauerngarten. Zwischen Schutt, zerbrochenen Bierkisten und Flaschenscherbenhaufen blühen Bauernrosen und Lupinen. Dichtes Wacholdergebüsch schließt den Garten ab. Einen Moment überlegt der Oberstudiendirektor, ob er zurückgehen und das Licht im Nightclub löschen soll, aber es drängt ihn nach draußen. Und da sowieso alles in Unordnung ist, läßt er es mit einem Achselzucken sein, klettert hinaus, zieht immerhin das Fenster hinter sich zu und geht quer durch Gras, Blumen und Unkraut auf die Stelle im dichten Gebüsch zu, die Durchlaß verspricht. Er hat noch eine niedrige Mauer aus Feldsteinen zu überwinden, wobei er sich die zerknautschte Hose dreckig macht.
Dann steht er auf einem Feldweg, und im gleichen Augenblick schlägt halblinks hinter ihm die Kirchturmuhr, viermal dünn und scheppernd, dann fünfmal voll und hallend.
Fünf Uhr. Lampel stellt seine Armbanduhr und zieht sie auf. Er klopft sich den gröbsten Dreck von den Knien und folgt dem Weg, der hinter dem Gebäude nach rechts an einem sumpfigen Teich entlang in die Felder führt. Der Himmel ist grau. Es muß geregnet haben in der Nacht; Laub und Gras sind naß. Lampels leichte Schuhe haben die Nässe schon beim Gang durch den verwahrlosten Garten nicht abgehalten. Er spürt, daß er feuchte Strümpfe kriegt. Er fröstelt. Aber sein Kopf wird leichter, wenn seine Gedanken auch noch durcheinanderpurzeln wie spielende junge Hunde.
Nach Hause! denkt er. Möglichst ungesehen nach Hause … Ein heißes Bad und ins Bett, und die Erklärung, die Gudrun gewiß fordern wird, erst mal aufschieben … Es sind etwa acht Kilometer von Döhnshagen bis Doornstein. Er kann, wenn alles gutgeht und wenn er den Weg durch den Wald bald findet, vor sieben zu Hause sein. Dann schläft sie noch. Ein Glück, daß er so zeitig erwacht ist. Der Hahn sei gepriesen!
Nach zehn Minuten steigt der Weg ein wenig an, nur ein paar Meter. Von der kleinen Erhöhung aus kann Lampel die Landstraße sehen und das Dorf und den Wald jenseits der Straße. Er verläßt den Weg und läuft zwischen einem Saatfeld – Getreidesaat, schon kniehoch – und einem Kartoffelacker auf die Straße zu, überquert sie hastig und rennt fast über eine schmale Wiese zum Waldrand. Dort, im Schutz eines dicken Buchenstammes, bleibt er stehen und überlegt, welche Richtung er einschlagen muß.
Ein Glück, daß er früher manchmal mit Schülern an Wandertagen hier in der Gegend war. Wenn da das Dorf liegt und da die Straße … Ja: dann braucht er eigentlich nur am Waldrand entlang nach Westen zu gehen, um die große Sandgrube zu erreichen, wo sie immer Rast gemacht haben; an deren Nordrand verläuft der Weg nach Doornstein … Lampel lächelt. Die alte Pfadfinder-Schulung, denkt er; daß ich die noch mal so gut würde gebrauchen können, hätte ich auch nicht geglaubt!
Und weiter. Es ist mühselig, am Waldrand zu laufen. Immerzu muß er verfilztes Unterholz umgehen. Die Schuhe drücken. Irgendein Tier erschreckt ihn, als es raschelnd davonflitzt. Aber das Ganze nimmt immer mehr den Charakter eines Abenteuers an. Und der Achtundvierzigjährige fühlt einen Anflug von Lausbubenlust und Freiheit und wird fast fröhlich. Auch das Frösteln ist weg; der Kopf wird allmählich klarer, und den schlechten Geschmack zwischen den Zähnen spuckt er aus.
Doch dann, wie eine Wolke vor die Sonne, schiebt sich der Gedanke an den Zettel in seiner Brusttasche vor seine keimende Fröhlichkeit und die Erinnerung an das Mädchen, dieses bildschöne, bösartige Mädchen … Aber er verdrängt die Angst. Das wird sich schon irgendwie lösen lassen, zum Kuckuck – das wäre ja gelacht! Natürlich kann er es Gudrun nicht sagen, und es ist durchaus unklar, wie er die 6000 aufbringen soll, ohne daß sie es merkt. Aber da findet sich sicher ein Weg – das woll’n wir doch mal sehen!
Wie gut der Wald riecht. Wie herrlich ruhig es hier ist. Man müßte viel öfter mal so losgehen … Aha, da ist ja die Sandgrube schon!
Von links, also von Süden, führt eine Fahrspur heran, keine Straße, zwei Räderrillen am Rand einer offenen Rinderweide. Wahrscheinlich holen sich die Leute aus der Gegend auf diesem Weg den Sand zum Bauen oder für die Spielkisten ihrer Kinder; die eigentliche Zufahrt ein Stück weiter westlich ist mit einem morschen Schlagbaum gesperrt, weil die Sandgrube stillgelegt ist. Der Besitzer hat ein Schild neben den Schlagbaum gestellt:
UNBEFUGTEN IST DER ZUTRITT VERBOTEN!
Doktor Lampel versteht nichts von Sandgrubenausbeutung. Es ist ihm auch völlig gleichgültig, aus welchen Gründen diese hier nicht mehr genutzt wird. Er hat sich, wenn er früher an den Wandertagen mit seinen Schülern hier rastete, auch keine Gedanken darüber gemacht. Keines der Kinder hat ihn gefragt. Also brauchte er sich nicht mit der Sache zu beschäftigen. Er hat sich – gewissermaßen gedankenlos – über den wundervoll verwilderten Einschnitt in die im übrigen eher langweilige Landschaft gefreut. Langweilig, wenn man von den bizarren, herrlichen Himmeln absieht, die sich meistens, nicht heute, aber sonst sehr oft über den Wiesen und Weiden wölben. Und er hat die Kinder in den Klüften und Schluchten, an den Steilhängen und am kleinen Grundwassersee, der sich am tiefsten Punkt gebildet hat, gern spielen und toben lassen, obschon das vielleicht nicht erlaubt und möglicherweise nicht ganz ungefährlich war … In den Aufsätzen, die nach solchen Wandertagen obligatorisch waren, fand er stets die Bestätigung, daß Rast und Spiel an und in der Döhnshagener Sandgrube unbedingt zu den Höhepunkten zählten.
Ganz früher, als junger Studienrat, damals noch mit Kordsamtknickerbocker oder Kniehose aus Baumwollrips, zu denen er dunkelgrüne Wickelgamaschen zu tragen pflegte – ganz früher also, ehe die Bandscheibe sich bemerkbar zu machen begann, hatte er immer mitgespielt, war unter dem Hallo der Schüler auf dem Hosenboden die Hänge hinuntergeschlittert und hatte sich im Gestrüpp versteckt. Er hatte sogar, wenn die Witterung es erlaubte, mit ihnen im kühlen, klaren und sehr tiefen Wasser des sichelförmigen Sees gebadet. Aber später dann, mit zunehmendem Alter und, wie gesagt, wachsender Bewegungsbehinderung durch die verrückten Rückenwirbel, setzte er sich nur mehr am Rand der Sandgrube in den Schatten der schönen Birkengruppe, beobachtete und beaufsichtigte von da die losgelassenen, lärmenden Kinder und ruhte sich, an der Zigarre ziehend, aus.
Das ist lange her. Lampel rechnet, während er in der Wagenspur auf die Sandgrube zugeht … Zehn Jahre? Meine Güte, wie die Zeit vergeht!
Er ist später noch einmal hier gewesen, mit Gudrun; aber das war ein mißglücktes Unternehmen, weil die Gattin keinen Geschmack an Ausflügen fand, bei denen sie mehr als fünfhundert Meter laufen mußte. Ganz im Gegenteil zu Ella, der es nie weit genug gewesen war …
Da fällt ihm ein, daß er hier auch mit der Unterprima gewesen ist, in der Ella war. Und er erinnert sich an die bittersüße Verzauberung, die ihn bei der Beobachtung des Mädchens befallen hatte.
Kurz danach hatte es angefangen mit ihnen beiden. Er Ende Zwanzig, sie siebzehn – der Lehrer und die Schülerin … und die ganze unheimliche Heimlichkeit … und … und …
Es hat sich so viel verändert seitdem. Aber hier hat sich nichts verändert. Die Birken sind größer geworden, ja, und das Brombeergebüsch ist noch dichter als damals. Aber das Wasser ist noch ebenso klar und still, und die Farben sind dieselben: weißgelb und hellgrün und dunkelgrün und braunrot.
Nur ihren Müll luden früher die Leute nicht hier ab. Da liegt … Lampel stutzt: Da liegt ein Stück Stoff. Und ein Schuh. Und … Er zwinkert erschrocken: Da liegt ein Mensch!
Lampel sieht sich um. Er läßt langsam und sorgfältig die Augen wandern, prüft Abhänge, Busch und Baum und wendet den Blick zögernd wieder zu der Stelle, an der er die liegende Gestalt entdeckt hat. Ein nackter Körper, halb von Sand bedeckt, weiß gegen den körnigen Kies, ganz unbeweglich, schlafend … Schlafend?
«Nein!» sagt Lampel laut. Niemand antwortet, nur eine Elster kreischt drüben am Waldrand. Er geht auf den Körper zu. Es ist eine Frau. Sie liegt da mit offenen Augen, und nun erkennt Lampel die Liegende.
«Um Himmels willen!» Dann ruft er mit heiserer Stimme: «Hallo!» und noch einmal lauter, nach einem Räuspern: «Hallooo …»
Aber die Liegende rührt sich nicht. In ihren großen grauen Augen spiegelt sich der Himmel.
Sie ist tot.
«Willst du nun eigentlich Pfingsten da hin, Muz?» fragte Isabella unvermittelt.
Muz, ihre Mutter, Frau Ella Stahn, hob verwirrt den Blick von dem Roman, in dem sie las. «Wohin?» fragte sie zurück.
«Na, nach Doornstein – zu diesem komischen Klassentreffen. Du hast mir doch die Einladung gezeigt: Festabend und Tanz im Gasthof Zur Linde, Familienangehörige willkommen; am Sonntag gemeinsamer Ausflug mit Essen und Kaffeetafel und geselligem Beisammensein und all solche wunderschönen Sachen … ‹Liebe Ehemalige› stand oben drüber, und ein ‹Festkomitee› hatte unterschrieben …»
«Ja, ja, ich weiß», sagte Ella Stahn. «Das heißt, ich weiß noch nicht, ob ich hinfahre. Seit über neunzehn Jahren bin ich nicht dort gewesen. Es reizt mich schon, die alten Leutchen wiederzusehen, Freundinnen und Freunde. Zu erfahren, was sie tun, was aus ihnen geworden ist … Die Hälfte würde ich wahrscheinlich nicht wiedererkennen. Da sind Doppelkinne gewachsen und Bäuche und Bärte … Warum fragst du, Bella? Willst du mitkommen?»
«Ich? Was, zum Teufel, soll ich dort, Muz? Ich kenne da keine Menschenseele, außer aus deinen Erzählungen. Ich würde mich zu Tode mopsen unter lauter alten Leuten, die in Erinnerung machen und damit, was sie seitdem alles erreicht haben. Ich kann mir das richtig vorstellen: Meine Frau macht jedes Jahr ihre Kur in Kissingen …
Nein, Ibiza kam für uns nicht in Frage. Wir haben an der Costa Brava gebaut: das schaff ich mit dem großen Wagen leicht in anderthalb Tagen … Nee, Muz, ohne mich! Da würde ich mich zu Tode …»