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Ärger für Ghostwriterin Kea Laverde: Erst raubt ein Einbrecher all ihre Unterlagen und stirbt kurz darauf bei einem Verkehrsunfall; dann wird ihr Kunde, Andy Steinfelder, der nach einem Schlaganfall an Aphasie leidet und seitdem nicht mehr sprechen kann, des Mordes beschuldigt. Doch wer die gerechtigkeitsliebende Ex-Journalistin einschüchtern will, sollte sich warm anziehen: Während die Polizei noch ermittelt, geht Kea den Dingen selbst auf den Grund. Gegen den Willen von Hauptkommissar Nero Keller nimmt sie im winterlichen München den Kampf gegen ihre unsichtbaren Feinde auf. … Ein mysteriöser Unfall … Ein dreister Diebstahl … Eine kämpferische Ermittlerin Ghostwriterin Kea Laverde in ihrem ersten Fall.
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Seitenzahl: 388
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Friederike Schmöe
Schweigfeinstill
Kea Laverdes erster Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2009 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 07575/2095-0
Alle Rechte vorbehalten
3. Auflage 2010
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/Korrektorat: Katja Ernst/Susanne Tachlinski
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von tac6 / www.photocase.com
ISBN 978-3-8392-3424-2
Bibliografische Information
der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Für Ilse
Sogar das Licht steht
Ganz unbewegt und kreisrund
Die Winterstille
Yaha
Ein Tag wie ein Fremdling.Der erste graue Schimmer des Tages quälte sich durch die Lamellen der Jalousien. Irgendwo musste es so etwas wie Licht geben. Ich zog die Beine an und fühlte dem Hämmern in meinem Kopf nach. Ich hatte einiges getrunken. Das Piranha ist kein Ort für Mineralwasser. Wie viele von Carlos durchtriebenen Drinks ich intus hatte, wusste ich allerdings nicht mehr. Das war Teil des Samstagabendspiels. Hier draußen gab es nicht viele Vergnügungen, aber das Piranha gehörte ohne jeden Zweifel dazu. Die Leute kamen aus Fürstenfeldbruck, Starnberg, sogar aus München. Wegen der Cocktails, die im Piranha einen legendären Ruf hatten. Und natürlich wegen der Musik und der Leute, die man kennenlernte, ganz locker und ohne Verpflichtungen.
Ich rollte mich aus dem Bett und blieb ein paar Minuten auf dem Bettvorleger hocken, bis sich das Schwindelgefühl legte. Schließlich rappelte ich mich auf und wankte aus dem Schlafzimmer auf der Suche nach ein paar Aspirintabletten.
Aus der Erinnerung heraus fällt es mir schwer zu sagen, ob ich überrascht war, als ich den Mann hinter meinem Herd stehen sah. Ich musste überrascht gewesen sein, denn ich kannte den Kerl nicht und er war auch hundertprozentig nicht mein Typ. Fönfrisur und Slippers, so was kam mir nicht ins Haus. Ich war mir sicher, auch in seinem Gesicht Verblüffung gesehen zu haben, als ich stehen blieb, die Hand noch an der Klinke zur Küchentür. Er hielt die Espressokanne in der Faust, als brauche er ein Wurfgeschoss. Sah mich von oben bis unten an. Ich wurde mir schmerzlich meiner 80 Kilo bewusst und der Tatsache, dass ich nur einen String und ein T-Shirt trug.
Ich nahm ja ganz gerne mal einen Mann mit nach Hause. Nur für eine Nacht. Etwas Festes war nichts mehr für mich, besser, eine Frau kam allein im Leben zurecht, dann gab es keine Enttäuschungen. Aber für die Erotik tat ein Mann schon gut, und deswegen hatte ich mir angewöhnt, samstags im Piranha nach geeigneten Exemplaren Ausschau zu halten. Ein wenig Intelligenz konnte nicht schaden, und selbstverständlich mussten es Männer sein, die Spaß an runden weiblichen Formen hatten. Wer mit einem Telegrafenmast ins Bett wollte, bitte, sollte er, aber dafür war ich nicht die richtige Kandidatin. Ich war auch nicht traurig, wenn ich einige Wochen lang keinen Kerl fand, der meinen Ansprüchen genügte. Aber den Fuzzi, der nun die Espressokanne abstellte, sie aufschraubte und mit wichtiger Miene den Kaffeesatz in die Spüle klopfte, hatte ich garantiert nicht mit nach Hause genommen.
»Morgen«, deklamierte er und grapschte sich die Dose mit dem Kaffeepulver. »Espresso?« Er grinste mich an. Hatte sich in diesem Moment schon wieder gefasst, hatte wohl die Absicht, sich davonzumachen, bevor ich aus den Federn kroch, aber nicht ohne ein anständiges Dope. Routiniert schraubte er die Kanne zusammen und stellte sie auf den Herd. Ich rückte sie weg, bis mir einfiel, dass ich eine gute Dosis Koffein vertragen würde. Also schob ich sie wieder zurecht.
»Hau ab.«
»Na, komm schon.« Er grinste. Kurze Stummelzähne schwebten für einen Augenblick über seiner Unterlippe. Nein, danke. Mit diesem Knallkopf hatte ich nicht geschlafen, nicht einmal im Traum. »War es nicht schön mit mir?«
Ich war noch zu weggetreten, zu ausgelaugt von der Nacht in der Bar, den Drinks und der Musik. Sonst hätte ich etwas gemerkt. Aber in meinem derangierten Zustand war ich zu k. o., um ihn hochkant rauszuschmeißen. Ich hockte mich auf einen meiner Barhocker und lauschte der Espressomaschine, die leise zu summen begann, bis der Kaffee sich brausend wie die Brandung des Mittelmeeres in die obere Hälfte der Kanne ergoss.
Er steckte den Kopf in meinen Kühlschrank und beäugte die ausgeweideten Fächer. »Keine Eier?«
»Fehlen dir welche?«
Er warf die Kühlschranktür zu und fühlte sich wie der Held in einem amerikanischen Film. Sorry, Darling. Für Eier mit Schinken reicht es nicht mehr.
»Verpiss dich!«, sagte ich, während ich mir eine Tasse angelte. »Und fang bitte keine Diskussion an.«
Er mimte den Enttäuschten. Ich griff in die Dose mit den Zuckertütchen, die ich in Cafés immer mitgehen lasse, und schleuderte ein paar in seine Richtung. »Zisch ab!«
Er schien einen Moment zu überlegen, zuckte die Achseln, griff nach einer Aktentasche und machte sich auf den Weg. Die Haustür schlug zu. Draußen schnatterten die Gänse los. Sie mochten keinen unbekannten Besuch. Ich rührte Zucker in den Espresso und kippte die erste Tasse. Goss den zweiten ein, während ich auf den Motor lauschte, der röchelnd ansprang. Mein Besucher gab Gas. Ich sollte mir die Autonummer merken, nur für den Fall, dachte ich, aber ich war zu müde und brauchte ein Aspirin. Oder zwei. Rasch rutschte ich vom Barhocker und ging ins Bad, wo ich meinen übel zugerichteten Erste-Hilfe-Schrank abtastete. Glücklich schüttelte ich zwei Brausetabletten in mein Zahnputzglas und gab Wasser dazu. Ich liebte das Sprudeln von Brausetabletten in Zahnputzgläsern. Es inspirierte mich. Doch seit diesem Tag würde das sanfte Schäumen für immer überwuchert sein vom Kreischen und Knallen eines Autounfalls.
Ich riss das Badezimmerfenster auf und beugte mich hinaus, konnte aber nichts erkennen als die schlammige Auffahrt zu meinem Haus und den maroden Schuppen am oberen Ende, an dem der Nebel leckte. Ich war im Sommer eingezogen und hatte nach und nach das Haus renoviert und Stall und Auslauf für die Gänse hergerichtet. Da war noch keine Zeit geblieben, den Schuppen zur Garage umzufunktionieren oder eine hübsche Zufahrt zu pflastern. Ich rannte in die Küche, schnappte mir auf dem Weg dahin Jeans und Pulli, quälte meine nackten Füße in die eiskalten Gummistiefel, die vor der Haustür auf mich warteten, und hopste die vier Stufen runter in den Schlamm.
Ein Haufen qualmendes Blech klebte wie eine Bienenwabe an dem Betonpfeiler unten an der Straße. Noch heute mache ich mir Vorwürfe, dieses hässliche Teil, eine Altlast der Vorbesitzer, nicht weggerissen zu haben. Der klobige Betonklotz, an dem einst ein automatisches Tor befestigt war, sah scheußlich aus und war völlig nutzlos. Aber ich brauchte meine finanziellen Reserven, um den Kredit für den Hauskauf abzubezahlen und eine vernünftige Heizung, neue Fenster und allerhand anderen Kram einbauen zu lassen. Der Pfeiler stand ziemlich weit unten auf der Prioritätenliste.
Ich schlitterte die Auffahrt hinunter. Feiner Regen nieselte aus den Nebelschwaden. Langsam ging ich um den demolierten Wagen herum. Als ich direkt neben dem Pfeiler stand, sah ich Stummelzahn in die Augen. Er hatte Pupillen wie eine Katze und Blut auf der Stirn. Sein Kopf sah seltsam verdreht aus. Kein Wunder, denn er schlummerte irgendwo zwischen Steuerrad und Motorhaube. Eine Windschutzscheibe gab es nicht mehr, ihre Überreste knackten unter meinen Stiefeln. Ohne nachzudenken tastete ich nach seinem Hals, um den Puls zu fühlen.
Null.
Ich wich zurück. Mein Bewusstsein hatte ein paar Minuten lang die Geräusche ausgesperrt, aber nun forderten sie Einlass in das Vakuum zwischen meinen Ohren. Gänseschnattern. Ein Auto weit hinten, an der Kreuzung nach Ohlkirchen. Das Heulen des Dezemberwindes oben im Wald. Ich taumelte ein paar Schritte und übergab mich in Sichtweite meines Schlafzimmerfensters. Wischte mir den Mund ab und schleppte mich ins Haus.
Juliane sagte immer, mit einem Klecks Fond de Teint im Gesicht und einer schicken Klamotte kommst du durch. Egal wie und wo und was, aber zieh dir die Lippen nach, Herzchen!
Genau das tat ich, nachdem ich den Notruf gewählt und die Situation erklärt hatte. Ich stellte mich vor den Spiegel im Bad, band mir das wirre Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und trug einen Hauch von Grundierung auf mein Gesicht, das die blassgrüne Farbe eines Krankenhausnachthemdes angenommen hatte. Ein Kater allein war schon schlimm genug, aber in Kombination mit Weltschmerz und Schock vernichtend. Ich wählte einen rostroten Lippenstift, der zu meinem dunklen Haar passte, tuschte die Wimpern und suchte mir einen sauberen schwarzen Pullover vom Wäscheständer. Schwarz gab Klarheit und stand mir. Die Jeans behielt ich an, stülpte ein paar dicke, schwarze Wollsocken über meine halb erfrorenen Zehen und zog Turnschuhe an.
Ich würde durchkommen.
In der Küche heizte ich den Herd vor und kramte meine letzte Tiefkühlpizza aus der Truhe. Jeder weiß, dass Polizisten nie zum essen kommen, und ich hatte selber noch nicht den Hauch eines Frühstücks genossen. Ich goss den kalten Espresso weg und setzte neuen auf. Da kamen sie schon. Hielten draußen auf der Straße. Ein Zivilwagen, ein Van, zwei Streifenwagen, ein Notarztwagen. Also ging es los.
Ein baumlanger Mensch mit braunem Strubbelhaar und einem Dreitagebart stand schon unter der Tür. Seine Füße steckten in schicken italienischen Lederschuhen. Das sah toll aus zu seinen verwaschenen Jeans und dem Rollkragenpulli. Das spießige Cordjackett machte den Eindruck jedoch schnell zunichte. Hinter ihm warteten zwei Uniformierte. Er hielt mir eine Hand hin, sagte »Hauptkommissar Nero Keller« und musterte mich von oben bis unten. Jetzt zehn Kilo weniger auf den Hüften zu haben, hätte meinem Selbstwertgefühl Auftrieb gegeben. Ich straffte die Schultern.
»Kea Laverde«, stellte ich mich vor und bat ihn in die Küche, wo ich die aufgebackene Pizza gerecht in Viertel teilte und sie den Polizisten anbot. Jeder wusste, dass Polizeibeamte viel zu wenig verdienten, sich die Uniformklamotten von ihrem Gehalt kaufen mussten und seit der Polizeireform auch noch mehr arbeiteten als je zuvor. Sie bedankten sich artig, die beiden Uniformierten und Herr Keller. So eine Tiefkühlpizza war ja nicht üppig. Jeder schluckte zweimal, und das war’s. Die Uniformierten gingen, der Hauptkommissar blieb neben mir auf dem Barhocker sitzen und stellte Fragen.
»Sie kannten den Mann nicht?«
»Überhaupt nicht.« Ich scharrte mit den Füßen. Natürlich dachte er wer weiß was und lag richtig damit. Oder zumindest nicht ganz falsch.
»Wissen Sie«, beeilte ich mich zu erklären, »ich habe einfach meinen Spaß daran, ab und zu einen Mann mit heimzunehmen. Für eine Nacht.« Ich wollte hinzufügen, dass ich über 18 sei, hielt es aber für überflüssig. Meine 38 sah man mir an. Gut, vielleicht schätzte er mich auch auf 36. Auf weniger garantiert nicht. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass er zur anderen Seite gehörte. Zu den Leuten mit althergebrachten Moralvorstellungen, die immer Spießer bleiben würden, auch wenn sie auf tolerant machten.
Er warf mir einen Blick zu, aus torfbraunen Augen. »Schon o. k.«, sagte er. »Es ist also niemand gewesen, der üblicherweise im Piranha verkehrt?«
»Nein. Wissen Sie, das Piranha ist das Ziel in Ohlkirchen. Wer am Samstagabend nach Ohlkirchen fährt, will dorthin. Salsa und Merengue tanzen, kubanische Drinks schlürfen, Leute kennenlernen.«
Kellers Blick verfing sich im Winterdunst vor meinem Fenster.
»Wir werden uns im Piranha umsehen«, sagte er. »Mit wem haben Sie dort gestern geredet?«
Der stellte Fragen! Geredet! In dieser Bar konnte man ab 22 Uhr abends nicht reden. Man brüllte oder hielt die Klappe. Im Übrigen gab es Carlos Privatgemach, wo ich schon ab und zu mit einem Mann ein paar hübsche Momente hatte, auf einem violetten Sofa. Aber ich wollte Carlo nicht zu sehr ausnutzen.
»Im Piranha wird nicht viel geredet«, erklärte ich. »Das ist ein Tanzclub.«
»Und mit wem haben Sie getanzt?«
Auch so eine Frage. Man tanzte eben einfach.
»Meine Freundin Juliane Lompart war bis zum Schluss mit von der Partie, dann fuhr sie mich heim.« Ich sagte Julianes Adresse auf, verschwieg dem Hauptkommissar aber, dass Juliane 76 war. Seniorinnen vermutete er sicher nicht im Club, er fand, ab 60 sollten die Leute die Abende vor dem Fernseher verbringen und Wetten, dass …? schauen. Es stand auf seiner Stirn. In Blockbuchstaben.
»Carlo Fidelio kennt mich. Er ist der Barkeeper.« Mir fiel ein, dass ich Carlo unbedingt fragen musste, ob er Stummelzahn im Club gesehen hatte. »Ansonsten kannte ich ein paar Leute vom Sehen. Aber es waren nicht viele Ohlkirchener da. Das Piranha ist ein Club, wohin die Leute von außerhalb kommen. Die Musik ist gut, die Cocktails sind legendär.«
»Frau Lompart fuhr Sie heim? Kam sie mit ins Haus?«
»Nein. Sie setzte mich ab und fuhr weiter. Sie spielt meistens Taxi. Macht sich nicht so viel aus Drinks.« Außer aus dem einen kubanischen, fügte ich im Stillen hinzu, aber den trank sie nur in ihren eigenen vier Wänden.
Keller kritzelte alles in ein Notizbuch. Mir fielen seine großen Hände auf. Ziemlich muskulöse Hände.
»Heute Morgen kamen sie in Ihre Küche und sahen einen Fremden.«
»Ja.« Das Gesicht, die Fönfrisur, die Stummelzähne. Und jetzt räumten sie das, was von ihm übrig war, in einen Zinksarg. »Entschuldigung!« Ich stürmte ins Bad.
Dort beruhigte ich mich. Ich hatte anderes gesehen und am eigenen Leib verspürt. Hatte lange nicht daran gedacht, aber es gab diese Schnittstellen im Leben, da bewegte sich irgendetwas, und schon geriet das mühsam erarbeitete Gleichgewicht aus den Fugen. Ich betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Bisschen blass, trotz des Make-ups. Zu viele Erinnerungen. Ich löste das Haargummi, kämmte mich und fasste die Strähnen zu zwei lockeren Zöpfen zusammen. Erinnerungen und neue Ereignisse stießen bisweilen wie tektonische Platten der Seele gegeneinander. Dann folgten Erdbeben, Fluten, Chaos. Ich wollte nicht an damals denken. Nicht jetzt, solange die Bullerei bei mir im Haus war. Dieses Haus sollte eine Zuflucht sein, eine Parzelle der Sicherheit. Dieses Refugium gab ich nicht auf, obwohl es mir im Augenblick eher wie eine Kältekammer erschien. Ich tupfte Creme auf das Bläschen an meiner Lippe. Verfluchter Herpes. An einem Stück Blumendraht baumelte über mir eines meiner Lieblingshaikus von Takako. Die Einsamkeit, ach – ist Tag für Tag das Leben – von Wandergänsen. Wie wahr. Genervt ruckte ich an meinen Jeans. Diese Hüftjeans waren nichts für mich. Wenn ich nicht aufpasste, sah man die Narben, da musste der Pulli nur einen halben Zentimeter verrutschen.
In der Küche saß noch einer in Zivil und guckte mich neugierig an. Ein Riese, rund wie ein Baumkuchen, mit Vollbart, in dem ein mikroskopischer Rest Eidotter hing.
»Hauptkommissar Peter Jassmund«, sagte er. »Sie hatten wirklich keinen angenehmen Sonntagvormittag.«
Konnte man so sagen. Jassmund brachte Sonne herein in seinem ausgeleierten Sweatshirt und den Mephisto-Tretern. Seine Stimme tönte voll, sein Lächeln sah ehrlich aus. Ein klein wenig mitleidig, genau die Mischung, die ich jetzt brauchte. Er griff ungeniert in den Obstkorb und suchte sich eine Mandarine, die noch nicht kompostiert aussah. »Ich darf doch? Unser Frühstück ist schon eine Weile her.«
Unser Frühstück? Schwul sahen sie nicht aus. Frühstückten Polizisten zusammen? Unter Kollegen? Mit dem Rechtsmediziner, der Spurentechnik und dem Staatsanwalt?
»Das Piranha ist bekannt. Ich wollte schon länger mal hin. Gute Musik, gute Drinks.« Er warf einen Seitenblick auf seinen Kollegen und marschierte durch meine Küche.
Hier ist es an der Zeit, etwas über mein Haus zu sagen. Ich meine, vor einigen Jahren hätte ich mich kaputtgelacht, wenn jemand mir prophezeit hätte, dass ich mir jemals ein Eigenheim zulegen würde. Aber die Zeiten änderten sich. Irgendwann wurden die meisten Nomaden sesshaft. Jahrelang war ich umhergeirrt wie ein Zombie. Schließlich hatte ich einen Kredit aufgenommen und dieses Haus gekauft. Es war in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einer Talfalte zwischen Ohlkirchen und Starnberg gebaut worden, als man flache Bungalows schick fand. Der Eigentümer hatte es in den 90ern aufgegeben. Danach hauste eine WG darin, in der einiges an Drogen konsumiert wurde. Jedenfalls waren die Bewohner nicht in der Lage, die nötigen Renovierungsarbeiten zu verrichten. Die Bude verkam, und schließlich zog die WG aus und das Haus fiel der Bank in den Rachen.
Mir war es eigentlich komplett egal, wo ich vor Anker ging. Hauptsache, ich hatte große Fenster nach Westen und Abendsonne. Meine Wahl fiel auf das Münchner Umland. Vielleicht, weil auch meine Vorfahren durch einen Winkelzug der Geschichte hier angesiedelt wurden. Die kniffligen Weichenstellungen meines Lebens wurden von einem übergeordneten Stellwerk vorgenommen, auf das ich keinen Einfluss besaß. Strandgut konnte schließlich auch nicht bestimmen, an welcher Küste es verrotten wollte.
Als ich im Sommer einzog, richtete ich zunächst die Wohnräume her: drei Zimmer, eine riesige Wohnküche und ein Bad. Mit dem Keller beschäftigte ich mich nur en passant, indem ich ein paar Mausefallen aufstellte. Zwei Zimmer bekamen neue Böden und einen vernünftigen Anstrich. Eines davon war mein Schlafzimmer, durch das man gehen musste, um ins Bad zu kommen, das andere das Arbeitszimmer. Das dritte war noch Baustelle. Der Parkettboden hatte Löcher, es rieselte von Wänden und Decke. Ich hatte mir vorgenommen, ab dem Frühjahr auch dieses Zimmer zu renovieren, aber ein paar Monate brauchte ich Pause vom Dielenschleifen, Pinseln und den vielen Fahrten zum Baumarkt. Auch die Außenansicht meines Eigenheims war nicht gerade Nummer eins der Charts. Der flüchtige Betrachter sah den Verfall. Der Putz bröselte grau, und das gesamte Grundstück, bis auf den Gänsefreilauf, bestand jetzt im Winter aus Schlamm. Das Gärtnern würde ich noch lernen müssen.
Mein Bruder Janne hatte mir bei den schwersten Arbeiten geholfen, sofern seine schnippische Ehefrau es ihm gestattete. Sogar sein ältester Sohn Theo hatte mitgepinselt. Der schönste Raum war die Wohnküche. Janne und ich hatten die Wand zwischen Diele und Küche herausgebrochen und dadurch den Raum auf stattliche 35 Quadratmeter vergrößert. Ich lebte quasi in der Küche. Sie beherbergte außer Barbrett, Kühlschrank, Herd und der üblichen Ausrüstung an Schränken ein rotes Sofa und einen Couchtisch voller Bücher und Zeitschriften. In passender Entfernung thronte mein Fernseher. Und ein CD-Spieler. Ein ziemlich guter. Die CDs stapelte ich sorgfältig in Regalen, die ich höchstpersönlich in die Wand gedübelt hatte. Alles war säuberlich sortiert. Ich liebte Musik und hing an allen meinen Aufnahmen.
»Jazz?«, fragte Jassmund, der vor den CD-Regalen stehengeblieben war, und schenkte ein neuerliches Lächeln her.
»Jazz, Klassik, Swing, Hip-Hop, Reggae, Romantik, Alte Musik, Chansons. Was Sie wollen.«
»Eine ziemliche Bandbreite!« Jassmund nahm eine CD aus dem Regal. Die Andrew Sisters. »Rum and Coca Cola! Ich liebe den Song.« Jassmund sang ein paar Takte, richtig sonor, und machte Tanzschritte. Trotz seines Übergewichts sah das anmutig aus. Täuschte ich mich, oder nistete ein Lächeln in den traurigen Torfaugen seines Kollegen?
»Ich singe im Polizeichor. Wir wollen ein kleines Ensemble gründen, für das Alternativprogramm.« Jassmund lachte. »Mal sehen, ob etwas daraus wird.« Er legte die CD zurück. »Was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Ghostwriterin.«
Niemand wollte etwas dazu wissen. Entweder waren die beiden noch nicht richtig eingearbeitet an diesem nassen Sonntag, oder sie hatten eine besonders ausgebuffte Vernehmungstechnik.
»Ist das Ihr Arbeitszimmer?« Jassmund wies auf die halb offen stehende Tür. Ich nickte. Arbeitszimmer bedeutete für mich tatsächlich nur eins: ein Zimmer zum Arbeiten. Ich hielt mich dort auf, wenn ich schrieb, für ein Buch recherchierte, Rechnungen ausdruckte, mit Verlagen telefonierte. Ansonsten nicht. Es war schwer genug, Job und Freizeit auseinanderzuhalten, wenn man im eigenen Haus seiner beruflichen Tätigkeit nachging.
»Ja.« Ich stieß die Tür auf und machte eine Handbewegung, die den beiden Polizisten signalisieren sollte: Schon o. k., geht rein, hier hängt keine Leiche über dem Aktenschrank. Die Jalousien waren noch heruntergelassen. Ich schob mich an Jassmund vorbei, um sie aufzuziehen, auch wenn draußen nur schimmeliges Grau über der Landschaft lag und der Nebel die Sonne ausbremste.
»Ziemlich aufgeräumt, im Gegensatz zu meinem Schreibtisch«, stellte Jassmund fest.
Ich kniff die Augen zusammen und schaute genauer hin. Aufgeräumt. So konnte man es nennen.
Wo normalerweise mein Laptop thronte, ganz das Zentrum des Schreibtisches, streckte mir die neue Schreibunterlage die Zunge raus. Ich riss die Schubladen auf. Die CD-Mappe – weg. Der Behälter für meine Datenstifte – verschwunden. Sämtliche Notizbücher, die ich in der untersten Schublade stapelte – durchwühlt. Alle, in die ich bereits etwas eingetragen hatte, fehlten. Nur die jungfräulichen hatte mein Besucher übriggelassen. Ich ging zum Aktenschrank.
»Die Digitalkamera ist auch weg«, flüsterte ich.
Jassmund und Keller standen im Raum wie Außerirdische, die das Kommando über das Raumschiff übernehmen wollten.
»Ihr Ausweis, Geld, Papiere?«
Ich war ein ordentlicher Mensch. Was mit meinem Beruf zu tun hatte, war vernünftig sortiert und eingeräumt, auch Krankenversicherungsnachweise, Dokumente von der Bank, Ersatzschlüssel, sogar mein altes Studienbuch. Ich brauchte also keine Minute, um zu überprüfen, ob etwas fehlte.
»Alles da. Nur …« Das Adrenalin schoss ein und machte mich wild. »Dieser Scheißkerl …«
»Warten Sie!«, sagte Jassmund in seinem Bariton und ich fragte mich, warum der Mann nicht zur Oper gegangen war. »Ich sehe nach.«
Keller spülte die Espressokanne aus, suchte nach der Dose mit dem Kaffeepulver, fand sie schließlich im Kühlschrank, gab ein paar Löffel ins Sieb und schraubte das Maschinchen zusammen. Wahrscheinlich merkte er, dass ich erst weitermachen konnte, wenn ich die nächste Dosis Koffein intus hatte. Er ließ mich in Ruhe, guckte stattdessen aus dem Fenster.
»Halten Sie Geflügel?«, fragte er erstaunt.
Jetzt musste ich erklären, weshalb ich zwei Gänse besaß.
»Ja. Waterloo und Austerlitz.«
Er schaute so verblüfft drein, dass ich lachen musste.
»Ich nenne sie Loo und Litz. Die Namen habe ich mir ausgedacht, um zwei Kerle zu ärgern, mit denen ich mal was hatte. Der eine war Franzose, der andere Österreicher.«
»Jetzt schleppen die armen Gänse zwei sperrige Namen mit sich herum«, stellte Keller nüchtern fest, während er sich auf einem Barhocker niederließ. Er musste denken, dass mein Leben in zwei Kategorien aufgeteilt war: Männer und Sonstiges. Andere Menschen warteten mit komplexen Hobbys auf. Für mich gab es nur das Schreiben. Da bedeuteten die Gänse wenigstens ein klein wenig wirkliches Leben.
»Die waren ursprünglich von einem Kunden als Bezahlung gedacht. Ich war dumm genug, einem Kunden die Memoiren zu schreiben, der mir zwei Gänse anstatt einer Banküberweisung zustellte.«
Keller kritzelte Notizen in sein Büchlein.
»Beschreiben Sie mir die anderen Gäste.« Der Espresso fauchte, und er goss zwei Tässchen voll. Die Männer fühlten sich an diesem Sonntag bei mir außerordentlich heimisch.
»Sie meinen, im Piranha?«
Er dachte vermutlich, ich wäre geistig retardiert. Sah mir zu, wie ich meine Portion Espresso in einem Zug leerte, und ich wurde mir wieder meiner 80 Kilo bewusst. Vollweib, sagte Juliane über meinen Typ. Juliane behauptete, sobald nur eine Frau im Zimmer wäre, hätten die Kerle keine Vergleichsmöglichkeit mehr. Sie bewundern dich, egal, wie viel Speck dir auf den Hüften schwabbelt, Herzchen. Ich war mir da nie so sicher. Jedenfalls verschüttete ich Espresso, als ich mir die nächste Tasse einschenkte, und machte in den traurigen Augen des Hauptkommissars vermutlich einen verdächtigen Eindruck. Aber was hatte ich getan? Der Furzknoten war definitiv selber gegen den Pfeiler gerast. Vielleicht gab es ein Gesetz, das Pfeiler an Auffahrten verbot.
Wir schwiegen beide. Er auf dem Barhocker am Fenster, ich hinter dem Herd, die Hände tief in den Jeanstaschen. Schließlich legte ich los. Erzählte, wen und was ich gestern gesehen hatte: Carlo Fidelios Glitzerjackett, Julianes Mieder, das Stroboskoplicht, ein paar Leute aus der Umgebung, Stammgäste wie ich. Auch das Musikprogramm konnte ich aufsagen, was mich beruhigte, denn dadurch bewies ich mir, dass ich durch Alkoholkonsum und den Schock am frühen Morgen nicht dement geworden war. Die Koksspuren auf dem Klo im Piranha ließ ich weg.
»Sie beobachten sehr genau«, sagte Keller schließlich.
»Sie denken, wenn ein Zeuge zu genau beschreibt, was er gesehen hat, stimmt etwas nicht«, erwiderte ich. »Dann hat er sich das vorher zurechtgelegt. Habe ich aber nicht.«
Keller legte seinen Stift auf mein Barbrett.
»Ich habe ständig mit den Erinnerungen von Leuten zu tun. Manche haben schon Probleme, sich ihre eigene Haarfarbe zu merken«, fügte ich hinzu. »Andere erinnern sich an die Farbe des Brautkleides ihrer Tante Agathe bei deren dritter Eheschließung.« Und im Übrigen sind Erinnerungen nichts als Täuschungen, wollte ich hinzufügen, offizielle Lügen und hübsche Fassaden. Ich ließ es bleiben. Als Ghostwriterin gewöhnte man sich daran, zu lügen. Dass sich die Grenze zwischen Wahr und Falsch so einfach nicht ziehen ließ. Alles, was ich erzählte, war Fiktion. Meine Biografien inszenierten die Leben meiner Kunden. Die Erinnerungen eines jeden Menschen verfärbten sich. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollten.
Endlich kam Jassmund zurück. Sofort wurde die Stimmung gelöster. Ohne abzuwarten, griff er sich Kellers mittlerweile leere Espressotasse und schenkte sie sich voll. Ich ahnte es. Meine Sachen waren nicht mehr da. Sonst hätte er sie unter dem Arm hier reingetragen.
»Bertram Kugler«, sagte er, »so heißt der arme Teufel. Die Unterlagen, die Sie vermissen, sind nicht im Wagen.«
Das war’s dann wohl. Sie würden mich für verrückt erklären und ihrer Wege gehen, um ein Protokoll zu schreiben.
»Kennen Sie jemanden dieses Namens?«, forschte Jassmund. Er hatte wasserblaue Augen.
»Nein.«
»Woran arbeiten Sie zurzeit?« Das kam von Keller.
»Meine Kunden laufen unter Beichtgeheimnis. Diskretion ist mein Lebensunterhalt. Wenn sich jemand in meiner Branche verquatscht, kann er den Job vergessen.«
Er sah mich auf eine Weise an, die meinen Wunsch, mich zu verteidigen, ins Absurde steigerte. Ich durfte ihm nichts über meinen augenblicklichen Auftraggeber sagen. Sollten sie mich vorladen, mit einem richterlichen Beschluss oder was auch immer die Polizei dafür brauchte, aber bis die Abbruchkante erreicht war, würde ich dicht halten.
»Meine Spezialität sind Ratgeber«, sagte ich. »Rhetorik, Gedächtnistraining, Zeitmanagement. Meine Kunden sind ziemliche Cracks auf ihrem Gebiet, aber sie haben keine Zeit, ihre Bücher selber zu schreiben. Und die meisten haben auch keine Ahnung, wie man ein Buch plant, gliedert, schreibt und verkauft. Das ist alles meine Aufgabe.«
Keller sah mich weiter an.
»Eigentlich haben diese Typen es gar nicht nötig, Ratgeberliteratur zu schreiben. Sie verdienen in ihren Jobs gutes Geld, und so ein Buch gibt ja auch nicht viel her, aber für das Renommee in der Branche macht es sich gut, eine Publikationsliste vorweisen zu können. Sogar dann, wenn sie nur ein einziges Buch enthält.« Ich hatte den dringenden Wunsch, in mein Arbeitszimmer zu gehen und zu schreiben, solange mein Gedächtnis noch genug Infos über meinen momentanen Auftraggeber auszuspucken imstande war.
»Sie schreiben also keine Autobiografien?«
»Doch. Sicher.« Ich biss mir auf die Unterlippe. »Manchmal.«
»Sportstars, Börsenmakler, Politiker?«
»So ungefähr. «
»Haben Sie noch anderswo eine Kopie Ihrer Unterlagen?«
Ich schüttelte den Kopf. Keller glaubte mir nicht. Ich glaubte mir selbst nicht, und dennoch hielt ich seinem Blick stand.
Von der Vortreppe aus beobachtete ich, wie die Polizei ihre Siebensachen zusammenpackte und abfuhr. Jassmund und Keller stiegen in den Zivilwagen, Jassmund winkte mir zu, als er den Motor anließ, während Keller stur vor sich hinstarrte. Ich hörte die Motoren immer leiser werden, bis sie hinten bei der Kreuzung nach Ohlkirchen verklangen. Hier draußen in den Hügeln schärften sich die Ohren und wurden präzise wie Radarschüsseln. Näherte sich ein Auto oder entfernte es sich? Nahm es den Weg nach Ohlkirchen oder in die andere Richtung? Was für ein Wagen war es? Mein Gehör hatte in den vergangenen Monaten schnell gelernt, die Geräusche zu sezieren. Als ich noch in der Stadt gewohnt hatte, waren meine Ohren zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Lärm angefüllt gewesen.
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