Signale und Grenzfälle - Helmut Ludwig - E-Book

Signale und Grenzfälle E-Book

Helmut Ludwig

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Beschreibung

Das eBook Pfarrer Helmut Ludwigs zeigt Menschen in Grenzsituationen. Alle Erzählungen sind der Wirklichkeit entnommen. Es sind harte Geschichten darunter. Sie wollen und sollen nachdenklich machen, erschüttern, auf rütteln und Fragen aufwerfen. Nicht jede Geschichte hat ein Happy-End. Manche bleibt offen, weil das Leben so oder so weitergeht. Viel Schuld und Versagen kommt in diesem Buch zur Sprache. Einige der Schicksalsberichte ähneln sich. Andere zeigen einmalige Lebensschicksale auf. Aber weil das Leben diese Berichte geschrieben hat, ist darauf verzichtet worden, sie zu harmonisieren oder künstliche Differenzierungen einzubauen. Man kann das eBook lesen und über die einzelnen Begebenheiten nachdenken. Man kann es aber auch als Arbeits- und Vorlesebuch für Jugendgruppen, in Gemeindekreisen, bei Heimabenden, kirchlichen Veranstaltungen oder – in Auswahl – als Beispielsammlung benutzen. Zur praktischen Arbeit mit diesem eBook dienen die kurzen Inhaltsangaben (mit Vorlesedauer), die Vorschläge für Diskussionen sowie ein Stichwortverzeichnis am Schluss des eBooks.

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Signale und Grenzfälle

Tatsachenberichte

Helmut Ludwig

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Helmut Ludwig

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-944187-44-0

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Helmut Ludwig (* 6. März 1930 in Marburg/Lahn; † 3. Januar 1999 in Niederaula) war ein deutscher protestantischer Geistlicher und Schriftsteller. Ludwig, der auch in der evangelischen Pressearbeit und im Pfarrerverein aktiv war, unternahm zahlreiche Reisen ins europäische Ausland und nach Afrika. Helmut Ludwig veröffentlichte neben theologischen Schriften zahlreiche Erzählungen für Jugendliche und Erwachsene.1

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Ludwig

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Vorwort

Der Bann

Der Mann ohne Gesicht

Die Missetat der Väter

Kein Fußballspiel

»Liebe Gemeinde …«

Jörg denkt über die Auferstehung nach

Bitte eines Schlaflosen

Telefon nachts um drei

Der dunkle Plan

Der Albtraum

Rufe in der Nacht

Gott kam nicht vor

»Spezialist für Eigentumsveränderung«

Zusammenreißen hilft nicht

Auf dem Abstellgleis

Lieber Herr X!

Licht fiel in ein verpfuschtes Leben

Leidenschaft

Advent in Zelle Ps 8

Keine Hoffnung mehr?

Inhaltsangaben, Diskussionsthemen und Vorlesedauer der Erzählungen

Unsere Empfehlungen

Vorwort

Das Buch zeigt Menschen in Grenzsituationen. Alle Erzählungen sind der Wirklichkeit entnommen.

Es sind harte Geschichten darunter. Sie wollen und sollen nachdenklich machen, erschüttern, aufrütteln und Fragen aufwerfen. Nicht jede Geschichte hat ein Happy-End. Manche bleibt offen, weil das Leben so oder so weitergeht. Viel Schuld und Versagen kommt in diesem Buch zur Sprache. Einige der Schicksalsberichte ähneln sich. Andere zeigen einmalige Lebensschicksale auf. Aber weil das Leben diese Berichte geschrieben hat, ist darauf verzichtet worden, sie zu harmonisieren oder künstliche Differenzierungen einzubauen.

Man kann das Buch lesen und über die einzelnen Begebenheiten nachdenken. Man kann es aber auch als Arbeits- und Vorlesebuch für Jugendgruppen, in Gemeindekreisen, bei Heimabenden, kirchlichen Veranstaltungen oder – in Auswahl – als Beispielsammlung benutzen. Zur praktischen Arbeit damit dienen die kurzen Inhaltsangaben (mit ungefährer Vorlesedauer der einzelnen Beiträge), die Vorschläge für Diskussionen sowie ein Stichwortverzeichnis am Schluss des Buches. Die Berichte gewähren Einblick in eine Arbeit, die sich weithin abseits der Öffentlichkeit in der Stille des Dienstes am Nächsten vollzieht. Es gibt viele Anstalten, Diakoniezentren und Heime in Deutschland. Sie sind oft Gettos des Elends und menschlichen Leides. Viele Menschen hinter Anstaltsmauern sind für uns draußen »nicht tragbar«. Von manchen wendet sich die Gesellschaft ab. Das vorliegende Buch wird gelegentlich schockieren. Das kann heilsam und nachdenkenswert sein. Manche Geschichten stellen die Frage nach der Sinnerfüllung des Lebens. Das ist vom Verfasser durchaus gewollt. Sollte sich durch den Umgang mit diesem Buch der eine oder andere Leser zum praktischen Dienst tätiger Nächstenliebe aufgerufen fühlen, wäre das das Schönste, was geschehen könnte. Gott braucht Menschen in seinem Dienst.

Der Verfasser hat Jahre seines Lebens in dem Dienst gestanden, den das Buch umreißt. Er verwaltete bis vor kurzem ein Pfarramt im Zonengrenzgebiet. Er wünscht dem Buch einen interessierten und engagierten Leserkreis und einen gesegneten Gebrauch in Gruppen und Kreisen, in Kirche, Gemeinschaft, Gemeinde- und Jugendarbeit.

 

Helmut Ludwig

Der Bann

Aus der Sprechstunde eines Anstaltsseelsorgers der Inneren Mission:

»Sie müssen mir helfen, Herr Pfarrer! Sie sind der einzige, der auf meinen Sohn vielleicht noch Einfluss ausüben kann, dem er abnehmen könnte, was ihm gesagt wird. Mir ist der Junge längst über den Kopf gewachsen. Er stiehlt alles mögliche und setzt das Diebesgut bei seinen Freunden in Geld um. An allem ist letztlich nur der fürchterliche Bann schuld, unter dem sich unsere ganze Familie befindet. Wir können nicht mehr beten, denken nur noch an die Voraussagen eines Wahrsagers!«

»Was für ein Bann, Herr Zimmermann? Wovon reden Sie? Sie können sich gern aussprechen. Aber reden Sie sich dann auch alles von der Seele herunter! Halbe Sachen sind hierbei nicht nützlich!«

»Ich bin froh, dass Sie mich anhören wollen, Herr Pfarrer. Aber wir brauchen schon ein wenig Zeit, wenn ich alles der Reihe nach erzählen soll. Wir gehören zu Ihrer Stadtgemeinde, die Sie neben Ihrer Anstaltsarbeit betreuen. Sie kennen doch unseren Jungen!«

»Reden Sie nur, Herr Zimmermann! Ich höre Ihnen zu, bis Sie alles von der Seele gesprochen haben.«

»Halte ich Sie auch nicht auf?«

»Sie halten mich nicht auf; denn es ist sicher wichtig, was Sie mir berichten wollen.«

»Ja, wir leiden seit langem darunter. Und an allem ist letztlich ein gewisser Herr Siebert schuld, ein Wahrsager, der meiner Frau damals, als wir noch gar nicht verheiratet waren, die Zukunft vorausgesagt hat. Wir leben noch heute, nach so vielen Jahren, unter dem Bann dieser Voraussage. Vieles davon ist eingetroffen, anderes nicht. Es klang zuerst alles so harmlos. Aber dann hat uns der Bann isoliert von Gott und allen guten Geistern. Und nun geht alles schief. Ich weiß nicht, was ich machen soll. – Aber ich wollte ja von Anfang an erzählen.

Es war im letzten großen Krieg. Ich diente – noch unverheiratet – bei der Luftwaffe. Meine spätere Frau tat als Luftwaffenhelferin bei einer anderen Einheit Dienst. Dorthin war auch jener Herr Siebert, den ich eingangs erwähnt habe, dienstverpflichtet worden. Es hieß, dass er früher als Wahrsager tätig gewesen wäre. Aber niemand wusste so recht, was an dem Gerücht dran war.

Meine zukünftige Frau arbeitete also mit diesem Herrn Siebert zusammen. Eines Tages war wieder Fliegeralarm. Sie und die anderen Kollegen rannten in den Luftschutzkeller und hörten kurz danach, wie draußen ein Bombenteppich über die Stadt herniederging. Da packte meine künftige Frau in ihrer Angst vor Tod und Untergang Herrn Siebert mit beiden Händen am Arm und fragte ihn, ob es stimme, dass er in die Zukunft schauen könnte. Und als er das durch Kopfnicken bejaht hatte, bat sie ihn, ihr doch zu sagen, ob sie den Krieg und die Bombenangriffe überleben werde.

Herr Siebert wollte zuerst nicht antworten, ließ sich dann aber doch erweichen und sagte, dass er keine Verantwortung für das übernehmen könnte, was er sehe und Voraussage. Er versank dann in einen merkwürdigen Trancezustand, während draußen die Bomben dröhnten und krachten, erzählte mir Jahre danach meine Frau. Und mitten im Untergangsinferno der Stadt prophezeite Herr Siebert meiner Frau die Zukunft. Er sagte ihr voraus, dass sie einen Luftwaffensoldaten heiraten werde, der blond sei, blaue Augen habe und eben der zu jener Zeit verherrlichte Germanentyp wäre. Wir würden einen Sohn haben, sagte Herr Siebert, ein blondlockiges Kind, und es stecke Großes in ihm.

Danach kam eine dunkle Zeit. Er sehe in ein finsteres Rohr, das kein Ende freigebe. Dann, nach langem Warten und innerem Winden, sagte Herr Siebert, er sehe doch einen Ausgang, ganz weit weg, ganz in der Ferne. Da scheine die Sonne wieder. Es müsse das Rohr so etwas wie eine Zeit der Enge und Trennung und Finsternis sein, bevor endlich die Sonne wieder lache. Während draußen die Welt im Bombenhagel unterzugehen

schien, wahrsagte Herr Siebert meiner Frau weiter. Wir müssten dem Kind freien Lauf lassen, dürften es nicht drängen und pressen. Es werde Großes in der Welt leisten. Und sein Vater werde später sein Manager und Reklamechef werden.

Nach Kriegsende würde uns ein Grundstück zum Kauf angeboten werden, auf dem früher ein Haus gestanden habe. Das Grundstück sollten wir kaufen und eine Fabrik darauf errichten. Es würde eine Goldgrube werden, auch wenn später ein anderer für uns das Gold dort scheffeln würde; denn ich wäre dann mit unserem Sohn auf Reisen um die Welt. Großes stehe uns bevor.

Dann erwachte Herr Siebert, von dem meine Frau heute noch sehr ehrfürchtig redet. Und es gab einen furchtbaren Schlag. Ein Bomben-Volltreffer hatte eingeschlagen. Die Decke des Luftschutzkellers kam herunter und begrub Herrn Siebert unter sich. Er wurde dabei von einem Eisenträger erschlagen. Das hatte er nicht vorausgesehen.

Meine Frau wurde durch die herumfliegenden Trümmer verletzt. Sie kam aus ihrer Ohnmacht erst wieder zu sich, als sie ins Lazarett eingeliefert wurde.

Dort hatte sie wochenlang Zeit zum Nachdenken.

Das Ergebnis war eine Zeitungsanzeige in ihrer Heimatzeitung unter der Rubrik »Heiratsanzeigen«. Sie suchte auf diesem Wege nach dem Mann, den Herr Siebert ihr beschrieben und vorausgesagt hatte. Dieser Mann war ich.

Aber hier muss ich noch einschieben, dass meine Frau am Beerdigungstag des erschlagenen Wahrsagers einen furchtbaren Blutsturz bekam. Es dauerte lange, bis sie wieder auf dem Weg der Genesung war.

Ich bekam eines Tages auf unserem Flughafen in Russland, auf dem ich damals stationiert war, eine wochenalte Tageszeitung zu Gesicht, die ich aus einem Päckchen meiner Mutter herausgekramt hatte.

Ich faltete das Knüllpapier auseinander und fand unter anderem die Ehe-Suchanzeige. Meine Kameraden machten sich lustig darüber und rieten mir, halb im Spaß, halb im Ernst, doch einfach einmal hinzuschreiben. Ich tat es und schrieb, dass ich so aussähe wie der Mann, der gesucht werde, und erbat ein Bild von der Inserentin, falls die Sache sich nicht längst erledigt habe. Das Bild kam. Ich schickte eins von mir. Einige Briefe flogen hin und her. Und schließlich ließen wir uns kriegsferntrauen, wie das damals üblich war. Der erste Punkt der Voraussage von Herrn Siebert, der um diese Zeit längst unter der Erde lag, hatte sich erfüllt, und der Tote gewann Macht über uns.

Ich lernte erst auf einem Heimaturlaub meine Frau kennen. Wir verstanden uns auf Anhieb. Als unser Sohn zur Welt kam, war er ein hübsches Kind und hatte lockige blonde Haare und blaue Augen wie ich. Meine Frau und ich sahen darin einen weiteren Punkt der Prophezeiung erfüllt. Und weil Herr Siebert nur von einem Sohn geredet hatte, beließen wir es dabei.

Meine Frau hatte mir längst von der Prophezeiung erzählt, und ich begann auch daran zu glauben.

Der Krieg ging seinem Ende entgegen. Ich kam in russische Gefangenschaft. Während andere beteten und hungerten, hielt mich Sieberts Prophezeiung aufrecht. Und der Hunger konnte mich nicht niederdrücken. Ich wusste, dass das die Zeit der langen finsteren Röhre sein musste, und wusste auch, dass am anderen Ende nach langer Zeit die Sonne wieder scheinen, das Glück uns wieder strahlen werde.

Es kam so, Herr Pfarrer!

Nach vierjähriger russischer Kriegsgefangenschaft wurde ich in die Heimat entlassen. Ich war zwar gesundheitlich sehr angeschlagen, war aber doch ungebrochen. Ich glaubte an nichts mehr als an die Prophezeiung des Herrn Siebert. Sein Bann reichte weit übers Grab hinaus bis nach Russland. Ich kam zurück. Wir bauten uns eine neue Existenz auf. Der Junge wuchs heran und machte Schwierigkeiten. Er hatte zu lange Zeit keinen Vater gehabt, war von der Mutter und den Nachbarn verwöhnt worden, die sich nicht genug damit tun konnten, immer wieder zu betonen, was für ein niedliches und hübsches Kind unser Sohn sei.

Das »niedliche Kind« wurde immer trotziger. Es bekam vor Wut manchmal richtige Anfälle, so dass wir uns fürchteten und lieber klein beigaben. Und Herr Siebert hatte ja auch gesagt, man müsse das Kind gewähren und heranwachsen lassen. Es stecke Großes in ihm.

Ich hielt bereits damals nach dem Grundstück Ausschau, das ich ja eigentlich gar nicht suchen durfte, das mir vielmehr angeboten werden sollte. Vielleicht wieder durch die Zeitung? Ich las jahrelang alles, was mit Grundstücken und Angeboten über zerbombtes Gelände zu tun hatte, in den Zeitungsanzeigen nach. Ich fand bis heute nicht das Richtige.

Der Junge aber machte immer größere Schwierigkeiten. Als er in die Schule kam, sagte der Lehrer, er habe keine Erziehung und sei verwildert, um nicht zu sagen verwahrlost. Meine Frau hat sich darüber schrecklich aufgeregt. Und ich hätte den Lehrer, der unseren Sohn so abschätzig beurteilte, am liebsten wegen Beleidigung angezeigt.

Um diese Zeit fand meine Frau die Geschäftsanzeige einer sogenannten Diplomastrologin in unserer Zeitung. Sie ließ sich von dieser für unseren Sohn ein Horoskop stellen.

Darin stand nun nichts mehr von Herrn Sieberts günstigen Prognosen. Im Gegenteil: Der Junge gerate daneben. Er werde durch einen schweren Unfall lebenslänglich behindert bleiben und werde uns überhaupt nur Schwierigkeiten bereiten. Sein Charakterbild stehe im Zeichen des Saturn und was der gleichen Dinge mehr waren. Wir waren empört.

Zu unserer Überraschung wünschte damals unser Sohn, in den Konfirmandenunterricht zu gehen, wohl weil seine Freunde das auch taten. Auf seine Weise gefiel ihm dieser auch, ja wir hatten den Eindruck, dass er richtiggehend aufblühte. Sie haben ihm irgendwie mehr imponiert als wir, Herr Pfarrer. Er hielt jedenfalls immer große Stücke auf Sie und das, was Sie den jungen Menschen erzählt haben. Einmal haben wir uns über das Gebet unterhalten, weil Sie in der Konfirmandenstunde darüber gesprochen hatten. Unser Sohn meinte, und wir waren erstaunt darüber, dass man aus dem Wahrsagezauber vielleicht nur durch die Kraft des Gebets herauskomme. Er wollte von uns wissen, wie man das anstellen müsse. Wir hatten das seit der Prophezeiung nie mehr getan; ich nicht einmal in der Gefangenschaft. Wir verwiesen ihn an Sie. Er wollte aber darüber mit Ihnen nicht reden. Und so unterblieb es.

Wenig später entdeckte ich, dass unser Sohn uns bestahl. Zuerst verschwand Geld, dann eine alte Uhr aus Familienbesitz und später manches andere mehr. Die Uhr war aus Gold. Er stritt den Diebstahl ab. Aber ich fand später Geld in seiner Jacke eingenäht.

Alles lief schief. Meine Frau war sicher, dass daran bloß die Diplomastrologin schuld sei.

Schließlich merkten wir, dass unser Junge trank. Immer öfter kam er abends betrunken nach Hause. Wir konnten ihm nicht mehr viel sagen, hatten bereits jede Einflussmöglichkeit auf ihn verloren.

Ich unterhielt mich mit meiner Frau über diese neueste Entwicklung. Aber sie verwies auf die Prophezeiungen von Herrn Siebert, antwortete, man müsse ihn in Ruhe lassen, ihn gewähren lassen, nicht pressen. Es stecke Großes in ihm … Inzwischen versuchte ich immer wieder, das rechte Grundstück, das zur prophezeiten Goldgrube werden sollte, zu finden. Ich fand schließlich etwas, auf das die Voraussage einigermaßen zu passen schien. Kaum hatte ich es gekauft, da wurde die Straßenverbreiterung im Zuge des Autobahnanschlusses durchgeführt. Und da ich mein neuerworbenes Grundstück nicht freiwillig wieder hergeben wollte, wurde es mir zwangsenteignet, damit die Zubringerstraße darauf gebaut werden konnte. Ich erhielt eine Entschädigung, die niedriger war, als was ich für das Grundstück gezahlt hatte. Es ging so vieles, zuletzt sogar alles schief.

Vor einigen Wochen nun passierte der schreckliche Unfall. Ich habe mir lange überlegt, ob ich noch zu Ihnen kommen dürfte. Aber schließlich sind Sie doch sein Konfirmator …«

»Was für ein Unfall, Herr Zimmermann? Doch nicht mit dem Jungen?«

»Doch, Herr Pfarrer! Ich habe es bewusst bis jetzt noch nicht gesagt, um erst das andere alles loszuwerden, diesen Bann, der an allem schuld ist. Mein Junge war betrunken und ist in der Dunkelheit unter ein Auto gekommen.

Es hat ihm …

Der Besucher stockte und musste neu ansetzen:

»Beide Beine sind ihm dabei abgefahren worden.

Bis vor kurzem lag der Junge noch unter Lebensgefahr in der Intensivstation unseres Krankenhauses. Aber seit ein paar Tagen geht es ihm besser. In den nächsten Tagen wird er Besuch empfangen dürfen. Er wird sich gewiss über Ihren Besuch freuen. Ob Sie dabei einmal über das Beten mit ihm sprechen könnten, wenn es sich ergibt, Herr Pfarrer?

Aus ist der Traum von dem Jungen, der etwas Großes wird und weit in der Welt herumkommt. Wie denn, Herr Pfarrer? Im Rollstuhl? Mit zwei Prothesen, die ganz oben anfangen?

Ich bin so verzweifelt, Herr Pfarrer, wie noch nie. Meine Frau sitzt zu Hause. Ich habe eine Nachbarin bei ihr gelassen. Sie droht den Gashahn aufzudrehen, wenn wir sie nur alleine ließen.

Ihr, unser Glaube an die Wahrsagerei ist zerbrochen. Aber der Bann ist noch immer da. Und ich habe Angst, dass er auch sie noch fordert.

Es ist furchtbar.

Herr Pfarrer! … Lange Pause, dann:

Herr Pfarrer, bitte beten Sie mit mir! Ich kann nicht mehr! Ich finde auch keine Worte mehr zum Gebet. Bitte, beten Sie mit mir, um Gottes willen!«

Dann brach Herr Zimmermann, der sich bis dahin mühsam aufrecht gehalten hatte, in sich zusammen und schluchzte wild und bis ins Tiefste aufgewühlt, wie der Pfarrer noch nie einen Mann hatte weinen sehen.

Sie begannen gemeinsam zu beten …

Der Mann ohne Gesicht

Versteckt in einer Buschlaube sitzt er auf der Bank und versucht mit Hilfe eines kleinen Taschenspiegels, den er ganz nah an das ihm verbliebene, fast blinde Auge hält und dann wieder weiter weg hält, die Vernarbungen zu erkennen, die sein ehemals ebenmäßiges Gesicht nun grausam entstellen. Dabei redet er halblaut vor sich hin. Erschütternde Selbstgespräche: »Warum laufen sie immer vor mir weg? In der vergangenen Woche hat eine Frau geschrien, als sie mich sah. Warum nur?«

Wir gehen auf ihn zu und grüßen ihn.

Der Mann ohne Gesicht fährt erschrocken auf: »Wer sind Sie? Ich kann Sie ja nicht erkennen, kann nur hören, wenn jemand kommt …«

Wir stellen uns vor.