Skyline Deluxe - Marianne Le Soleil Levant - E-Book

Skyline Deluxe E-Book

Marianne Le Soleil Levant

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Ein fotorealistisches Märchen für Erwachsene. Ein Buch wie ein Gedicht. Dem träumerischen Freigeist und Musiker Tom erscheint auf Geschäftsreise beim Hotelfrühstück in Bangkok eine Japanerin am übernächsten Tisch. Er findet sich fasziniert von ihrer unerklärlichen Anziehungskraft auf ihn. Seine hilflosen Versuche einen Kontakt herzustellen, verhindern ihren selbstbewussten Auftritt nicht. Der wundersame Gleichklang als Paar zweier Individuen unterschiedlichsten Hintergrunds in einer speziellen Konstellation mündet aus dem konsequent liebevollen Vortasten in eine intensive Liaison auf allen Ebenen. Der ekstatische Encounter kondensierten Gefühlserlebens in der komfortablen Umgebung eines Fünf-Sterne-Ambientes lässt ihre liebevolle Zuneigung rasant aufblühen. Einfühlsame, persönliche Gespräche wechseln mit philosophisch, weltanschaulichen Diskursen ab, zärtliche Übersteigerung schmückt profane Alltagshandlungen des Kennenlernens und die erotische Erkundung ihrer körperlichen Vereinigungen kommt in deren Heftigkeit nicht zu kurz. Sie haben viel Spaß und nicht wenige komödiantische Szenen garnieren den Verlauf. Die so plötzlich Vertrauten sind auf ihre jeweils eigene Art sanft und frech, unbeholfen und lustig. Im Komplementär der gleichsam toleranten, wie strengen asiatischen Gesellschaft und die sich nicht weniger ergänzenden Vorteile des Wohlstandes mit seinem Anspruch anständiger Korrektheit taumeln sie in freundschaftliche Romantik getränkt durch ihre weltfremde amour fou. Das Glück hat einen Haken. Beide kennen ihn. Es war ihre Idee. Er war einverstanden. Skyline Deluxe ist eine metaphysische Liebesgeschichte, deren Handlung in Echtzeit verläuft. Irre sexy. Extrem klug. Super interessant. So sehr romantisch. Total amüsant. Und ganz schön lustig.

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Marianne Le Soleil Levant

Skyline Deluxe

Eine romantische Novelle über das Abenteuer eines erotischen Experimentes in der Wissenschaft der Liebe

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Skyline Deluxe

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Quellennachweis und Bibliographie

Impressum neobooks

Skyline Deluxe

Eine romantische Novelle über das Abenteuer

eines erotischen Experimentes in der Wissenschaft der Liebe

Marianne Le Soleil Levant

empress - literature and poetry division of empyreal music

1

Das Frühstücksbuffet war reichhaltig und bot wirklich alles, was man an geschmacklicher Orientierung der Gäste erwarten konnte. Neben den frisch für jeden Gast nach Wunsch zubereiteten Eierva­riationen: Omelette, Rührei, Spiegelei und was sich an möglichen Abweichungen oder Kombinationen erdenken und dem Eierbrater vermitteln ließ. Mit den üblichen Zutaten nach Wahl: Tomate, Käse, Schinkenstreifen, Zwiebeln, etc. Die Champignons waren dazu noch Zeichen der gehobenen Klasse. Zu den ebenso gängigen Früchten und Müsli Cerealien aller Art gab es natürlich auch eine standardisierte Auswahl für den Hotelanspruch angepasster Thai-Speisen, dazu heißes Gemüse, Speck, Nudelgerichte und Salat.

Viele Säfte gängiger Früchte, wie selbstverständlich Orangensaft, Ananassaft, aber darüber hinaus eben Beerensaft, sowie Apfelsaft, welcher zu den kostspieligeren gehörte. Nicht zuletzt klares Wasser. Und der Kaffee oder eine Auswahl an Tee wurde am Tisch serviert. Eine schöne Sache, da man in weniger erstklassigen Hotels damit schon eine gewisse Lauferei zum Auffüllen der Tassen beziehungs­weise Gläsern initial mit dem Essen hatte. Schließlich balancierte man schon mit den Tellern in der Gegend herum.

Wirklich eindrucksvoll war sogar für Bangkok die Auswahl an hochwertiger Frischwurst, die sich ansonsten gerne in den Grenzen vielleicht zweier landestypischer Sorten hielt, viel öfter noch durch den allgegenwärtigen Bacon, also Speck amerikanischen Stils, einen furchtbaren Pressschinken oder zum Dritten glitschige Press­fleischwürstchen ersetzt wurde, aber hier wirklich feine Varianten echt überseeischer Qualität einschloss. Trotzdem gab es für die, welche das mochten, im Sud gewärmte Würste nach Hot-Dog-Art. Man hoffte auf höhere Qualität. Nicht zu vergessen die fünf Sorten echten Käse. Darunter Gorgonzola. Guter Gorgonzola.

Wer hätte das gedacht?

Tom holte sich schon zum zweiten Mal davon. Nicht dass er den Rest des Angebotes übersah, jedoch entbehrte er diese Art der Geschmacksorientierung schon einige Zeit und es war in Thailand auch nicht so bald mit weiteren Chancen zu rechnen, an Gorgonzola, noch dazu in dieser Qualität, zu geraten. Insgesamt bedauerte er es sehr, zum Frühstück im allgemeinen nicht viel zu essen, auch wenn er das in Thailand normalerweise etwas ausdehnen konnte. An diesem Buffet wäre er gut und gerne drei Stunden gesessen, aber zu viel Nahrung am Morgen machte ihn träge.

Zweifellos genoss er die Atmosphäre des Fünf-Sterne-Hotels ungemein. Es war in BangRak bei Silom bestens gelegen und Tom konnte sich stets an den Standard aller Unterkünfte, die er im Land des Lächelns bewohnt hatte, gut genug erinnern, um diese Klasse angemessen zu würdigen. Normalerweise war er mit weit weniger zufrieden und dazu gab es meist auch noch ausreichend Gelegenheit.

Das Fräulein am Frühstückscounter, die ihn nach der Zimmer­nummer gefragt hatte, war eine fröhliche Eurasierin und wirkte für die ansonsten auch mal leicht versteifte Oberklasse höchst locker. Freundlich amüsiert sah sie freigebig über Toms morgentypische Ungeschicktheit hinweg. Eigentlich war er einfach das Fünf-Sterne-Niveau nicht gewöhnt und wenngleich er sehr wohl wusste, wie man sich zu verhalten hatte, merkte man ihm besonders vor dem ersten Kaffee seine mangelnde Routine an.

Es hat kaum Sinn, Hotelangestellten etwas vorzumachen.

Nachdem er sich mit seiner ersten Portion noch glaubte, ins Freie an den Pool setzen zu müssen, suchte er sich nun einen Platz in der Mitte des klimatisierten Raumes mit Blick auf die Stadt aus einer der Fensterfronten und trotzdem guter Übersicht über mehrere Tische. Schon am Vormittag drückte die Hitze auf Bangkok.

Das euphorisierte seinen Kreislauf nicht.

Genauso sehr, wie er es in seiner üblichen Morgentrance mochte, in eine mehr oder weniger indifferente Ferne zu blicken, in diesem Fall die Gebäudemischung aus atemberaubendsten Wolkenkratzer­konstrukten, chinesischen Bauten und mindestens so zweckgebun­denen, wie durch Smogerosion verwitterten Zweistöckern einfach­ster Art und Weise mit Standardfenstern und Blechdächern, und darüber seine Gedanken schweifen zu lassen, kam er immer wieder auf das anwesende Publikum zurück. Hier tauchten natürlich alle Sorten menschlicher Besucher auf. Unrasierte Einzelgänger, welchen die vergangene Nacht und sehr wahrscheinlich auch die vorangegangenen in Gesicht und Haltung zum Ausdruck verhalfen, schienen es hier eilig zu haben, wieder woanders hinzukommen, nicht ohne irgendwie trotzdem die selbstverständlich kostenfrei zur Verfügung stehende, englische Presse in Anspruch genommen zu haben. Man fragte sich, wozu dieser, offensichtlich durch sein schulterfreies Trägershirt und die kurzen Hosen, deren Musterung sie eindeutig als aus dem Fundus des Touristenmarktes stammend, und ihn selbst damit ziemlich sicher als solchen auswiesen, eine zwar unter Seinesgleichen gängige, aber der exklusiven Umgebung entgegen eine Unansehnlichkeit bot, in seinem genusssüchtigen Trieb die dahingehenden Möglichkeiten der Stadt auszunutzen, die neuesten Meldungen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik kennen wollte. Für eine Rasur nahm er sich offenbar schon länger nicht die Zeit. Die Zeitung zurücklassend war er bereits nach weniger als 20 Minuten wieder verschwunden. In etwa ähnlich gering energetischer Körperbeugung, wie er erschienen war. Nur irgendwie schneller in der Bewegung. Nicht sehr schnell.

Irgendwie war das Hotel voller Japaner.

Tom war das schon am Nachmittag aufgefallen. Alte, Junge, Familien, mehrere Generationen groß, Männergruppen, nicht nur japanische. Ein paar Deutsche. Ehepaare, mit und ohne Kind. Gemeinsam reisende Frauen. Das waren oft Deutsche.

Darunter eine Dreiergruppe, die ausführlich die Tagesplanung im Sinne eines sogenannten Pool-Tages diskutierte.

In fast klischeehafter Gründlichkeit musste anscheinend bei Deutschen auch diese Entspannungsperiode gut vorbereitet und einvernehmlich abgesprochen sein. Durchgesprochen.

Wie sollte man auch das Herumliegen am Pool quasi planlos dem Zufall überlassen?

Es stellte sich heraus, dass der weibliche Generalstab allen Grund hatte, die Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, da es sich offenbar um den Abreisetag handelte und man damit natürlich Vorsicht walten lassen müsse, den Blick auf die Uhr nicht aus den Augen zu verlieren. Jedenfalls wolle man sich keinem weiteren Stress oder Zeitdruck hingeben, sondern nun dem Ende der Reise entgegen abschalten. Eben deshalb wollte man die verbleibende Zeit, genauer gesagt deren Nutzung, bestens eingeteilt haben.

Der wahrnehmbare Organisationseifer der Damen untermauerte die Überzeugungskraft des Ansinnens in Toms Verständnis nicht. Wenn er dabei an die entspannte Gelassenheit der Thai sogar während konkret gerichteter Tätigkeiten dachte, schien ihm der vergleichsweise angestrengte Perfektionswillen der drei Mädchen allein in der reinen Planungsphase leicht überzogen. Dabei kam der bei Frauenfreundinnen immer wieder aufkommende, unbedingte Wunsch hinzu, eine irgendwie demokratiesinnige Vollkommenheit im Übereinkommen aller abgestimmten Verlaufsereignisse her­stellen zu müssen. Eine spätere Abweichung davon schien kaum vorstellbar. Sicher nicht ohne neuerlichen Disput mit abschlie­ßendem Votum. Einmal blickten sie konspirativ zu Tom herüber. Vielleicht hatte er zu unvorsichtig oft auf sie gestarrt und ließ sie eventuell vermuten, er hätte Interesse an ihrem Gespräch. Sie konnten nicht wissen, dass er Deutsch verstand. Sie dachten wohl eher, er hinge typisch männlichen Wunschvorstellungen angesichts dreier Frauen nach. Zu oft mussten sie das auf ihrer Reise bei anderen allein reisenden Männern erlebt haben. Tom hielt allesamt für nicht sonderlich attraktiv und bemühte sich um einen ungerühr­ten Gesichtsausdruck. Ausdrücklich ungerührt. Darüber verging deren Verdacht etwas irritiert. Womöglich verspürten sie durch seine zu betonte Abwendung als Indiz seinen Spott über das tatsächlich belauschte Gespräch. Ihm war es nicht wichtig, was sie dachten.

Eine Gruppe arabisch wirkender junger Männer. Unangemessen wieder die Trägershirts und kurzen Hosen. Waren das nicht Moslems? Kleidete man sich als solcher nicht züchtiger?

An anderen Tischen bequem, aber standesgemäß gekleidete Europäerinnen. Eher wohlhabend. Die Geschäftsleute waren wohl schon weg. So früh stand Tom nicht auf.

Zwei junge Japanerinnen in Shorts hüpften zum Tisch ihrer deutlich älteren Verwandten, vielleicht Eltern und einem jungen, der ihr Bruder zu sein schien. Sehr fröhlich machten sie sich sogleich auf den Weg zum Buffet und kamen mit aufgetürmten Tellern zurück. Auffällig waren die wirklich echt zu kurzen Hot-Pants und unter den engen T-Shirts fehlenden BHs. Für hiesige Verhältnisse und vielleicht überhaupt eine zu billige Optik. Tom hatte nichts dagegen und da es sich nicht um Thai handelte, fand auch hier die sprichwörtliche Toleranz Anwendung. Wen interessierte schon, wie japanische Mädchen herumliefen. Sie waren ja in Obhut der Verwandtschaft. Bald schon entfloh die Bagage gemeinsam an den Pool und machte Digitalfotos von sich in den Stühlen. Der alte Herr streng blickend, kicherten die Mädchen in den Shorts dafür ständig. Die Dame mit fürsorglichem Blick um alles bemüht, die erfreuliche Situation zu bewahren, und der Sohn aufrichtig eifrig dem folgend.

Tom holte sich jetzt auch eine Zeitung. Schon der Comics wegen.

Obwohl er beim Betreten des Restaurants die gefalteten Zeitungen im Tresen der Empfangsdame wahrgenommen hatte, fragte er nun blöd, ob es eine Zeitung gäbe. Er hatte einfach vergessen, wo sie waren. Das angenehme Fräulein lächelte über seine leichte, Tageszeit bedingte, geistige Unpässlichkeit, die ihr nur zu bewusst war und gab ihm mit einer dezenten Kopfbewegung einen kollegialen Wink zur Auffrischung seines Gedächtnisses. Da fiel es ihm auch gleich wieder ein und es war ihm etwas unangenehm, ertappt worden zu sein. Natürlich durfte sich die jüngere Hotelangestellte keineswegs ein Urteil oder Bewertung des älteren Gastes erlauben. Ein kurzer Blick der neuerlichen Verständigung zwischen den beiden sagte ihm schnell, wie wohlwollend das Personal seine Pflichten, eben mögliche Fehlleistungen der Gäste auszugleichen und für deren absolutes Wohlbefinden zu sorgen, dabei so professionell zu sein, die Kleinigkeiten auch sofort wieder zu vergessen und sich weiter den angenehmen Seiten des Lebens zuzuwenden. Ihre Reaktion einer dem Anlass entsprechend kaum wahrnehmbaren Kenntnisnahme seines anfragenden Blickes, ob er sich doch derlei geringen Irrtum ohne Hohn fürchten zu müssen, erlauben dürfe, wobei er sich gerne für den unnötigen Aufwand seiner kleinen Dummheit entschuldige, folgte die deutliche Wiederaufnahme des Gespräches mit ihrer Kollegin in eifrigem Ton, was eindeutig bestätigte, die amüsante Bagatelle sei durchaus in seinem Sinne bereits vergessen, besser übersehen und liebens­würdig als Zeichen seiner Liebenswürdigkeit verbucht worden.

Diese Kommunikation lief in Sekunden ab und basierte einerseits auf den in diesem Land bekannten Konventionen über menschliche Eigenschaften und deren bestmögliche Behandlung sowie vielmehr über ein wirklich gesundes, nonverbales Verständnis zwischen den Menschen, das gerade in dieser Klasse und ihrer bewusst angenehmen, sanften, bedrohungsfreien, freundlichen, ruhigen, von Stressreizen freigehaltenen Atmosphäre herrschte. Man unterstellte einfach keine bösen Absichten und fand dann einig zu klarer Sicht der Dinge. Tom liebte es, in einer Position unantastbarer Anerkenn­tnis, bei mitfühlender Akzeptanz seiner Schwächen zu agieren und gestand dies allen anderen nur allzu gerne zu. Das war so komfor­tabel und begründete wiederum diese wunderbare Atmosphäre frei von unerwarteten Schrecken, wegen umfassendem Verständnis und Konsenswillen auf Basis einer gegenseitigen Gelassenheit, dem anderen seine Freiheit zu gewähren. Jegliche Furcht schwand dahin, denn wenn man sicher sein konnte, dass alle oder nur die meisten mitmachten, würde alles trotzdem auftauchende Übel letztlich ver­schwinden. Bis dahin war man schließlich in der Überzahl.

So sah die Lösung wohl aus.

Das Ereignis hatte sein Bewusstsein über die eigentypische Morgentrance wiedererweckt. Vorsichtig kehrte er mit seiner Zeitung an den Tisch zurück und versuchte, beim Niedersetzen nicht daran zu stoßen, damit nicht auch noch Kaffee verschüttet würde. Jetzt wirkte er wieder ein wenig zwangsneurotisch bei der Neuausrichtung seiner Frühstücksgeschirre. Schließlich brauchte er Platz für die Zeitung. Wahrscheinlich war das alles ganz normal, nur dass Tom sich ein bisschen beobachtet fühlte. Er schloss unbewusst von seiner Beobachtungsneugier darauf. Dabei wollte er einerseits nicht auffallen und andererseits standesgemäß wirken. Er war einfach ein bisschen unsicher. Das lag an der Morgentrance. Der Kaffee wirkte noch nicht richtig. Letztlich schwankte sein Zustand zwischen einem sehr souveränen Genuss sich in diesem Oberklasse-Rahmen bewegen zu können, von dem ausgezeichneten Essen gar nicht zu reden, und den Kreislaufeffekten seines Schlafdefizits.

Wenn er erst sitzen, sich in das englischsprachige Blatt vertiefen und sich notfalls dahinter verstecken konnte, wäre das Problem gelöst, bis er soviel Kaffee intus hatte, dass sein Kreislauf ihn wieder trug.

Der Hangover-Typ vom Nachbartisch war schon länger weg und inzwischen war auch die japanische Familie vom übernächsten Tisch an den Pool verschwunden. Der Tisch neben ihm war nun frei und so war der Blick nach links durch nichts versperrt, als Tom zum ersten Mal, von der Zeitung gelangweilt wieder in die Runde, nach neuen Gästen spähte. Es waren nur vielleicht fünf Minuten seit seiner Rückkehr von der Zeitungsexpedition vergangen. Für Tom ausreichende Traumäonen um zu sich zu finden, in dem er alles um sich herum über die Comicseite und Kaffee vergessen hatte.

Links am übernächsten Tisch, wo die Familie gesessen hatte, war sie. So unscheinbar. Ganz und gar unscheinbar. So unscheinbar, dass Tom sie nur als am übernächsten Tisch sitzende Gestalt wahrgenommen hatte, als sie bei seinem Wiederplatzierungsmanö­ver in sein Blickfeld geriet.

Er war sehr konzentriert auf seinen inneren Rückzug, jetzt Zeitung lesen zu wollen, gewesen. Wieder eine Japanerin.

Ungewöhnlich unscheinbar.

War sie denn wirklich schon dagesessen, als er zurückgekommen war oder erst angekommen, während er gelesen hatte? Tom konnte sich nicht erinnern. Er war nicht sicher. Sie war so unscheinbar, man nahm sie kaum wahr, selbst wenn man hinsah. Es kam ihm wie Absicht vor, nicht präsent zu sein. Sie saß da und war doch eher nicht anwesend. Wesenlos. Das traf es gut. Sie war so scheinbar ohne eigenes Wesen, dass sie abwesend wirkte. Nein, nicht geistig. Diese Frau war ganz ruhig und irgendwie sachlich. Sie hob sich nur nicht ab von ihrer Umgebung als menschliches Wesen.

Tom merkte, dass er zu lange hinüber gesehen hatte und wandte sich seiner Zeitung zu. Er las aber nicht, konnte sich nicht konzentrieren, sondern dachte an die Japanerin. Ihre unscheinbare Wesenslosigkeit. Er blickte kurz zu ihr hinüber und gleich wieder weg. Es musste schon auffallen. Eigentlich sah er auf ihre Schenkel. Es sollte so aussehen, als senkte er den Blick in Gedanken zu Boden. Warum aber nach links? Er genoss den Anblick ihrer Schenkel. Sie turnten ihn an. Übermäßig rasch und intensiv. Tom wollte die Innenseite der Schenkel lecken, das drängte sich ihm auf. So eine starke Vision hatte er schon lange nicht mehr, bei einer fremden Frau.

Sie trug eine Shorts, dem Klima schuldig, aber doch ebenso sehr kurz wie von der Art dem Zweck eines erotischen Reizes widerstrebend. Die Shorts war nicht eng und hatte ein gleichgültig schwaches Marineblau als Farbe, welches, obwohl zweifellos nicht ausgewaschen, nicht kräftig war. Eine elegante Blässe einer an sich intensiven Farbe. Die Farbechtheit stabil, da kostspieliger Färbe­technik des Haute Couture Herstellers geschuldet. Der seltsame, blasierte Anspruch, Shorts und Farbe jedem Verdacht vulgärer Anzüglichkeit zu entledigen, führte zu einem lebenslang formechten Design, zeitlos und akkurat genähte Langeweile in passgenauer Hausfrauenart. Für reiche Hausfrauen, deren Hausarbeit Dienst­boten zugute kam. Bequem und gewagt. Spätestens ab 40. Eine Sexualität leugnend. Was man von einer blauen Shorts an Frauenhintern erwartet, würde von jeder in Handarbeit und Schere abgeschnittenen Billigjeans, ausgefranst und einer bereits durch Reinigung angegriffenen, aber aktuell leicht jeder Verschmutzung trotzenden, jedoch bald verblichenen Färbung in Totalblau erfolg­reicher erfüllt, solange sie Gesäße um die 20 bekleidete.

Es ging dabei nicht um die Hose. Oder deren noble Perfektion.

Tom wunderte sich, dass es solche Shorts überhaupt gab.

Sie sollten nicht sexy sein, nur kühl. Dafür waren sie aber echt kurz.

Er hatte sich geirrt. Schon ein normal kräftiges Blau hätte die Wirkung ihrer Schenkel getötet. Ihre transparente Helligkeit wäre erschlagen, vielmehr deren Wahrnehmung in den reizvollen Details durch die Macht des platten Blau überdeckt. Sie trug diese Shorts, weil sie nicht von ihren Beinen ablenkten. Sie waren nicht blau. Sondern Eisfarben. Es war das blasse Blau gefrorenen Wassers. Transparent wie ihre Haut. Nicht durchsichtig, sondern dicht gewebt aus bläulich durchsichtigen Fasern. Klar durchsichtigen für die Nähte. Sehr teuer, sehr kühl und echt kurz.

Ihre Schenkel lagen so frei seinem Blick ausgesetzt unter dem Frühstückstisch. Unbeweglich. Unbewegt.

Sie ruckten nicht, sie machten keine Verlegenheitsbewegung oder auch nur eine Muskelspannung. Sie lagen auf der Sitzbank wie abgelegt, ohne sich unter ihrem eigenen Gewicht zu verformen. Die Beine ruhten auf den Fußsohlen. Ihr Hintern in der Shorts. Schlank. Sie war schlank. Die Haut ihrer Schenkel faszinierte ihn. Natürlich faszinierte ihn die Haut der nackten Schenkel einer jungen Frau, aber das war anders. Die Haut war unerwartet. Sie war gar nicht asiatisch. Eher sommersprossig. Hell. Sie fleckig zu nennen, wäre ungerecht, aber es waren feine Muster gleichmäßig über die Schenkel zu sehen. Es sah wohl außer Tom niemand die Schenkel unter dem Tisch und er wusste, dass er längst wieder zu lange hingesehen hatte. Es war höchst unschicklich, doch mochte er seinen Blick nicht abwenden und hätte gerne noch Minuten auf die Schenkel gesehen.

Nun tat er so, als sei das Heben des Blickes zu ihrem Gesicht beiläufig und nur natürlich, um wieder zu seinem Tagblatt zurückzufinden. Das war reichlicher Blödsinn. Er hoffte einfach, es fiele nicht auf. Er bewegte den Blick langsam, als könne er gar nichts bestimmtes ansehen und ruhte wieder zu lange auf ihrem Profil. Tom war enttäuscht. Sie war nicht hübsch. Er sah weiter hin, als mochte er nicht glauben, dass sie nicht hübsch sei. Sie musste hübsch sein. Sie war es nicht. Sie war und blieb unscheinbar.

Schlimmer, sie hatte eine seltsame Nase. Sicher keine asiatische Nase. Vielleicht war sie gar keine Japanerin und er dachte das nur wegen der sonst so vielen Japaner im Hotel. Chinesin vielleicht. Da gab es ja ganz unterschiedliche Typen. Haut und Nasen. Er hatte keine Ahnung davon.

Die Nase war länglich und nach unten gebogen. So als sei sie gegen eine Glastür gelaufen. Nur dass sie nicht plattgedrückt, sondern schmal war. Toms Enttäuschung war keine Enttäuschung. Er war verwundert. Er erwartete ein hübsches Gesicht, weil ihn die schlanken Schenkel trotz der gemusterten Haut so anzogen. Nun fand er diese Frau ohne konventionelle Schönheitsmerkmale. Er sah jetzt wieder nach vorne durch das Fenster auf die Häuserschluchten und Straßen, nur um an die Frau zu denken. Er sah wieder hin.

Es musste auffallen. Sie sah nicht zu ihm herüber.

Gerne hätte er ihr Gesicht von vorne gesehen. Sie war nicht attraktiv im konventionellen Sinne. Das war schon klar. Aber anziehend. Sie zog ihn an. Jedenfalls verspürte Tom eine immense Anziehung, die ihn selbst verwirrte. Sie war eine Attraktion seiner Sinne. Er hatte ja ausreichend Glück bei Frauen und war die Zuneigung sehr schöner Mädchen gewohnt. Sicher ging es ihm nicht um Äußerlichkeiten, aber er fand auch sonst keinen ersichtlichen Grund, von dieser Frau derart in den Bann gezogen zu werden. Sie schien sich nicht gerade für ihn zu interessieren.

Man konnte spekulieren, er habe seit der Trennung von Constanze vielleicht ein zu starkes Defizit an weiblicher Anerkennung erlitten und daher einen angespannten und somit leicht reizbaren Testos­teronspiegel, der ihm irgendwelche Attraktivität oder erotische Signale in fremden Frauen vorzugaukeln geeignet war. Aber das empfand er gar nicht so. Er stellte nur immer wieder fest, die Japanerin habe eben nichts an sich, was ihn erfahrungsgemäß erregte, außer eben die Schenkel. Die wiederum fand er trotzdem nicht eigentlich spektakulär, vielmehr komisch. Bei alledem blieb aber die wirklich unbestreitbare Anziehung, die von ihr ausging, ohne dass sie selbst eine auch nur annähernde Aufgeschlossenheit zeigte. Im Gegenteil schien sie einfach nur zu frühstücken ohne großartige Pläne gleich welcher Art zu hegen. Vielleicht war ihr Tag bereits einem Buch am Pool gewidmet. Jedenfalls keiner Affäre. Dabei war Toms Perspektive bisher nicht viel ungewöhn­licher gewesen. Bei allem Single-Dasein lag eine Intention, dies ausgerechnet in Bangkok auszuleben, so fern, wie es einem Großteil der männlichen Besucher selbstverständlich erschien. Deswegen war er nicht hier. Dabei sprach auch das wieder gegen die bemerkenswerte Anziehung durch diese unscheinbare Person. Hätte es sich wirklich um eine hormonelle, gegebenenfalls rein hormonelle Reaktion gehandelt, die ihm dazu Verliebtheit einzureden versuchte, hätte das bei unzähligen willfährigen, thailändischen Karamell-Girls so viel leichter, einfacher und besser geklappt. Aber natürlich kannte Tom das Spiel zu gut, als dass er sich dem auch nur ansatzweise aussetzen wollte.

Mit Hormonstau ließ sich das nicht erklären.

Er sah wieder hin. Sie bewegte sich auch ganz ruhig. Fast als befürchte sie, mit zu heftigen Bewegungen einen Lufthauch zu verursachen, der irgendjemandem auffallen konnte. Furcht strahlte sie aber nicht aus. Es wirkte wie Zurückhaltung, auch nicht wie Rücksichtnahme. Sie war unscheinbar. Ja, es war eine absichtliche Unscheinbarkeit, die sie bewusst und sicher betrieb, aber unscheinbar.

Der Anschein einer Forcierung sollte nicht aufkommen.

Eine offensive Komponente, ein Ausdruck persönlichen Willens in die Welt schien ausgeschlossen. Ihr Blick war immer gerade, wenn er sich nicht auf den Teller senkte, wenn die Gabel sorgsam ein weiteres Stück Nahrung aufnahm. Sie führte es zum Mund und aß. Offenbar aß sie nur. Dachte dabei nur ans Essen. Bemerkte sie deshalb Toms unzulässig aufdringliche Blicke nicht? Überhaupt machte die Person keines dieser Anzeichen der unentwegt ständigen Nervosität so vieler Zivilisationsmenschen. Auch nicht des grobfrohen Dranges vieler Naturmenschen. Tom dachte, man konnte gut durch sie hindurchblicken, sie übersehen, hinnehmen, so unscheinbar war sie, wäre da nicht diese unerklärliche Anziehung auf ihn. Er blickte wieder auf ihre Schenkel. Jetzt spürte er noch stärker den erotischen Wunsch sich ihr zu nähern. Sie war schlank und hatte eine gerade Gestalt. Vielleicht trainierte sie. Diese helle verschiedenfarbige Haut, war auch in ihrem Gesicht. Anders, feiner, nein, anders. Sie hatte keine großen Wimpern oder große Augen. Schwarze Haare. Doch eine Japanerin. Superschmale Lippen. Lippen wie Schnüre. Sie nahmen die Nahrung von der Gabel auf. Weiter nichts. Sie sah nicht zu Tom.

Er mochte diese Frau.

Ich kenne die Frau nicht. Was habe ich nur? Ich denke wirklich, ich mag sie. Ich möchte sie unbedingt kennenlernen.

So dachte er. Wenn seine Ratio ihm vorhielt, er sei hier in keiner Disco und könne in einem Fünf-Sterne-Hotel nicht einfach die anderen Gäste anmachen, genauso wie die Vernunft ihn erinnerte, dass er nicht zu Abenteuern nach Thailand gekommen war und er schließlich null Informationen hatte, wer sie war, was und wie lange sie es hier tat, die Sache angesichts ihrer Unscheinbarkeit und insgesamt eigentlich nur komisch war und er einfach nicht spinnen sollte, blieb vor allem übrig, dass er das zugegebenermaßen sehr verwirrend fand, aber sie unbedingt kennenlernen wollte.

Da fiel ihm auf, dass er ihr Alter nicht einschätzen konnte.

Darin war er noch nie gut gewesen. Und dann bei Asiaten, jetzt einer Japanerin. Hm. Er sah hin. Er sah weg.

Sie sah noch immer ganz genauso aus. Langsam musste er das sein lassen. Ihre Schenkel wirkten jung, vielleicht Ende Zwanzig, die Haut verzerrte das Bild, vielleicht war sie Ende Dreißig oder älter und daher die Muster, aber die Haut war straff, na ja vom Training, ihr Gesicht sprach eher für Ende Dreißig, Anfang Vierzig, aber nur weil er dachte, die Asiaten sehen doch sowieso immer jünger aus. Sogar das Alter war unscheinbar. Viel schwieriger war, den Kontakt aufzunehmen. Sie war immerhin alleine. Schon die ganze Zeit. Kein Mann, kein Freund, nicht mal andere Frauen. Tom fand wirklich und ganz ohne Häme, fast analytisch und in seiner neu gefundenen Zuneigung vielleicht mitfühlend, sie sei einfach zu unscheinbar, um anderen Menschen aufzufallen. Ihr Interesse zu wecken, Neugier oder den Wunsch an ihr teilzuhaben. Diesen ganzen vielen Menschen, mit ihren wichtigen, aufregenden, tollen, schnellen, wilden Leben. Einem dieser erfolgreichen Männer als Zierde konnte sie schlecht dienen. Eine Dienerin war sie nicht. Sicher nicht. Sah man genauer hin, stellte man fest, dass sie fein und überlegt präsentiert war. Tom hatte das indirekt schon verstanden, denn es war als Störung des Bildes hervorgetreten. Die Shorts war nicht für Touristen, sondern Casual Wear. Das Oberteil belegte das erst recht. Es war unscheinbar, aber von hoher Qualität, die nicht auftragen durfte. Die Haare waren schlicht geschnitten. Ja, es gab keine Highlights in ihrem Gesicht hervorzuheben. Die Haare mussten nur passen. Aber sie waren perfekt. Nicht zu lang, nicht zu kurz. Das hatte kein Wald- und Wiesen-Friseur verantwortet. Vielleicht ein verkanntes Hinterhofgenie. Nichts stand weg oder hoch oder war uneben. Die Schnittkanten so exakt, als wären sie mit Laserlicht vor nur wenigen Minuten ganz frisch erzeugt und gelegt worden. Wahrscheinlicher ein kostspieliger Edelcoiffeur, der ein meisterliches Gefühl für die Verhältnisse im Gesicht, den Ohren, der Halslänge, aller Dimensionen und der geometrischen Balance zur Gestaltung der Haartracht entwickelte.

Vielleicht war das Geheimnis ihrer Unscheinbarkeit, dass nichts an ihr störte. Sie fügte sich in das Ambiente ein wie ein Chamäleon. Ein Mensch, der im Restaurant sitzt, ist zwar da, fällt aber noch lange nicht auf. Tom machte sich zu viele Gedanken. Wie sie jetzt kennenlernen? Sie tat ihm nicht den Gefallen, den Kopf zu wenden, so dass er den seinen neigen und lächeln konnte, um ein Feedback zu erhaschen. Sie lächelte nicht. Nicht einmal unverbindlich.

Kein Augenflirt. Nichts. Sie sah ihn nicht an. Einfach gar nicht.

Es waren eben nicht alle Menschen so neugierig wie er und blickten sich in einem Frühstücksaal um. Vielleicht war sie nicht zum ersten Mal hier und hatte das Interesse am Ambiente und anderen Gästen seit langem verloren. Sicher an übernächtigten, weil den mannigfaltigen Irrwegen Bangkoker Entertainment Angeboten verfallenen Westeuropäern. Manch einer der anwesenden Japaner guckte jedoch durchaus in die Umgebung seines Tisches. Wenn sie Geschäftsfrau war, konzentrierte sie sich mutmaßlich auf anste­hende Besprechungen oder war mit wie auch immer gearteten eigenen Gedanken bei sich. Blödsinn, Geschäftsfrau in Shorts. Da müsste sie schon einen freien Tag haben. Aber wie eine Japanerin ansprechen? Tom hatte nicht die dünnste Ahnung. Keine Erfahrung mit Damen dieser Nationalität und im übrigen selten das Problem, nicht die Aufmerksamkeit der Weiblichkeit auf sich zu ziehen. Es handele sich um eine ziemlich förmliche Gesellschaft. Eher distanziert im Umgang mit Unbekannten. Auf äußerste Höflichkeit bedacht. Ritualisierte Umgangsformen, die diese Distanz wahren sollten. Irgendwie streng. Soviel hatte er mitbekommen. Fröhlich konnten sie wohl sein. Verhalten heiter. Um weder anzuecken, noch jemandem zu nahe zu treten. Die Gesellschaftsstruktur stark hierarchisch. Stolz. Die Oberschichten bestimmt besonders steif. Vielleicht waren junge Japaner da lockerer. Gerade wegen der Regelstrenge rebellisch. Avantgardistisch. Ein Teenager war diese Frau offenbar nicht mehr. Auch keine Studentin. Künstler sind tendenziell aufgeschlossener. Nicht alle, wie er überzeugt war. Immer wieder wunderte Tom sich über engstirnige Kollegen.

Wenn sie tatsächlich eine Künstlerin ist, könnte das eine Erklärung für die Unscheinbarkeit bieten. Mancher entwickelte die Demut, seine eigene Person weit hinter die Kunst selbst zu stellen. Allerdings waren, seiner Erfahrung nach, viele besonders eitel, weil sie sich etwas auf ihr Talent einbildeten. War es nicht ein Gottesgeschenk? In Japan legte man doch Wert auf Demut. In Asien war die Person doch eher zweitrangig. Sich wichtig tun, galt als unfein. Eine schöpferische Seele könnte ein guter Grund für seine spontane Zuneigung so intensiver Ausprägung zu dieser Fremden sein. Ähnliche Gemüter zogen sich durch deckungsgleiche Schwingungen an. Eine Art Telekinese. Sie könnte dann im Geist über ein aktuelles Werk versunken sein. Wenn es aber diesen Gleichklang zwischen ihrer beiden Wesen gibt, musste sie das auch spüren und doch irgendwie reagieren. Oder war ihre Aufmerk­samkeit wirklich so andächtig auf eine andere Angelegenheit gesammelt? Meine Güte, zu viele Gedanken. Reagierte sie vielleicht einfach wie Frauen anderer Nationen, aller Nationen, die nicht gerade im technologischen Rückstand archaischem Totemkult huldigten? Sie war doch in Thailand. Im Fünf-Sterne-Hotel. Also Kosmopolitin. Hatte sie heute noch ein Rendezvous? Dann wäre sie doch hergerichtet und geschminkt. Würde sich nicht zurück­genommen präsentieren. Wartete sie einfach auf ihren Ehemann oder eine andere lang vertraute Person? Eine gute Freundin?

Tom sinnierte. Nein, sie wartet nicht. Ihr Verhalten zeugt von einer Pragmatik das Frühstück zu vollziehen, welche deutlich macht, sie werde den Saal nach Abschluss des Mahles genauso profan verlassen, da sie danach hier nichts mehr verloren hätte.

Ein Besteck fallen lassen? Sie war ja am übernächsten Tisch. Warum sollte sie sich bücken? Nein, man hob kein Besteck vom Boden auf. Das tat das Personal und man bekam frisches. Sie würde keine Reaktion zeigen. Wäre nur blöd. Ansprechen, im Sinne, was sie heute vorhätte, war plump. Ihm zu plump. Man hat ja auch so seinen Stolz. Und einfach plump. Er wollte ihre Intelligenz nicht beleidigen. Komplimente kämen nicht in Frage. Sie müsste eine Oberflächlichkeit unterstellen, den Vorschub von Allgemeinplätzen durchschauen. War sie doch offenkundig nicht auf optische Wirkung aus. Seine spezielle Begeisterung, bezogen auf ausge­rechnet diese, von ihm festgestellte und daher vor allem ihn persönlich berührende Unscheinbarkeit könnte einer Unbekannten kaum anders als verquer, fast gezwungenermaßen seltsam vorkommen. Womöglich eher beleidigend. Die Glaubwürdigkeit von etwas wie: „Hallo, ich finde Sie so wundervoll unscheinbar“, war eindeutig so minimal, wie es unmittelbar blöd klang.

Komplizierte Darlegungen mussten scheitern. Es wäre schnell peinlich. In einem öffentlichen Raum schier unerträglich. Vor all den anderen Japanern furchtbar. Bei all den Problemen entdeckte er jetzt ein neues. Was, wenn sie bald ginge?

Das war die Lösung! Sie musste schließlich auch wieder gehen. Sie sah, wie er schon eruiert hatte, nicht nach endlosem Frühstück aus und es war eh bald Schluss damit. Er würde gehen und an den Aufzügen warten. Wie zufällig. Ein Telefonat oder Email auf dem Smartphone vortäuschen, bei ihrem Erscheinen wegen der Ab­lenkung vom Telefon beim Betreten des Lifts stolpern und so ein Missgeschick zur Kontaktaufnahme herstellen, höfliche Entschul­digung anbringen. Da konnte man sich vorstellen und vielleicht den Namen erfahren. So beginnt ein Gespräch.

Alter Trick. Funktioniert. Wahrscheinlich sogar bei Japanern.

Japanerinnen.

Guter Plan.

Ab sofort keine verfänglichen Blicke mehr in ihre Richtung und dezent das eigene Frühstück abwickeln, um dann über die Wiederaufnahme gelassenen Zeitungslesens eine zeitliche Puffer­zone aufzubauen, die sich am Fortgang des ihren orientierte, damit er nicht zu früh zu den Liften aufbrach. So eine Tageszeitung konnte man schließlich so lange lesen, wie man wollte und jederzeit weglegen, wenn man zum Beispiel zu einem festgesetzten Zeitpunkt, aber nicht früher als nötig, quasi zu einem Termin aufbrechen sollte.

Das wäre auf gewisse Art sogar den Tatsachen entsprechend. Genial.

Die hochflexible Tätigkeit des Zeitungslesens bot zusätzlich die Möglichkeit, unauffällig in Bewegung zu bleiben. Beim Umblättern den Stand der Dinge ohne augenscheinliches Interesse zu recher­chieren. Er studierte Abschnitte vorgeblich bewandert. Abschnitte des Wirtschaftsteiles. Die eine und andere Meldung schien es ihm auch angetan zu haben. Dann belustigte er sich über die geliebte Comicseite, um sympathisch zu wirken, sollte es doch zu einer unbemerkten Wahrnehmung seitens der Angebeteten kommen.

Geschickt erkannte er an der abnehmenden Nahrung vor ihr und darauffolgenden Zurechtlegung des Besteckes auf dem Teller den kurz bevorstehenden Abschluss ihres Morgengedecks. Beinahe wäre ihm der Lesestoff ausgegangen. Seine Nervosität quälte Tom dabei, seine Szene zu vollenden. Bei einer so zierlichen Person wäre ein Nachschlag unwahrscheinlich. Sie würde nicht verweilen und Löcher in die Luft gucken. Da würde er sich zu sehr täuschen. Dem ernsthaften, wie unwillkürlich mechanischen und dadurch in seiner Einbildung echt wirkenden Blick auf seine Armbanduhr, es hingen für einen Frühstücksaal, des bevorstehenden Tages wegen zweckmäßig Uhren an den Wänden, fügte er das sportliche Zusammenfalten der Zeitung hinzu, woraufhin er im Vergleich zu seiner vorangegangenen Wissbegierde, die Umgebung betreffend etwas sehr teilnahmslos aufstand und zielstrebig den Saal verließ. Das könnte reell in plötzlicher Eile Erklärung finden.

Inzwischen war er erst richtig nervös geworden. Er hatte vergessen, der Dame am Eingang freundlich zuzunicken. Das geschah nicht aus Zeitdruck. Er durfte sich ja wohl nicht umdrehen. Im Gang versuchte er zu schlendern, was dem jüngst verstrichenen Hand­lungen widersprach. An den Aufzügen druckste er herum. Wie lange konnte man da lungern, ohne komisch zu wirken? Ohne einen der Knöpfe zu drücken, gedrückt zu haben. In Richtung des Saales durfte er nicht schauen. Erst mal nicht. Wenn es die sprichwörtlichen Kohlen zum Sitzen gab, so stand Tom auf brennenden Spießen. Sekunden dehnten sich. Minuten blähten sich zu Dekaden. Andere Hotelgäste, ein japanisches Paar, erschienen, erfassten den nicht aktivierten Anforderungsknopf, sahen verdutzt zu Tom, der eigene Verwunderung vortäuschte und Gesten vollführte, die eine Zerstreutheit zur Ursache des Versehens veranschaulichten. Er wedelte mit seinem Mobiltelefon. Daran hielt er sich unbewusst fest. Die Nervosität war reichlich echt und ungelegen. Aus Toms Warte verstanden. Lächeln. Der Mann hatte den Knopf inzwischen betätigt. Höllische Sekunden verstrichen bis der Aufzug kam. Tom suchte vermeintlich etwas auf dem Bildschirm des Fernsprechgerätes. Das Paar stieg ein. Tom blieb zurück, was ihm noch weit entgeistertere Blicke des Paares durch die sich schließende Metalltür verschaffte.

Eine fröhliche alte Europäerin, Portugiesin oder Spanierin flitzte heran, setzte eine ironisch enttäuschte Miene auf, lächelte ihn an und trat in einen gleich anschließend ankommenden Fahrstuhl ein, den vier Personen zügig verlassen hatten. Drei schnatternde Thai Teenies aus besserem Hause und ein ernster, sachlich leger gekleideter Amerikaner mittlerer Jahre, Halbglatze, leicht untersetzt.

Keiner davon nahm Tom zur Kenntnis. Die Portugiesin machte weiter lächelnd auffordernde Bewegungen, ihr in dem Lift Gesellschaft zu leisten. Wie es aller Logik zu Folge sinnvoll erschien. Tom winkte freundlich ab. Die Türen schlossen sich auch diesmal, ohne ihren Zweck an ihm erproben zu dürfen. So als Tür wollte man einfach durchschritten werden. Wieder konnte die kleine alte Frau ihr Minenspiel der Betrübtheit aufführen, lächelte aber durch den letzten Spalt abermals. Tom zögerte. Seine zum erfolgreichen Einstieg in die gewünschte Kontaktaufnahme notwendige Haltung schmolz dahin, wie Eis in der Mittagshitze der Stadt. Er drückte den Knopf. Bevor noch jemand kam. Die unendlichen Zeiteinheiten begannen. Er hielt es nicht mehr aus und drehte den Kopf nach rechts.

Während sie auf ihn zukam, sah sie ihm direkt in die Augen. Unverblümt offen und eisengerade. Ihre Gesichtszüge blieben regungslos. Sympathisch und verbindlich, aber ohne erkennbare Emotion. Tom versuchte eine auszumachen und war doch ein bisschen erfahren mit der scheinbaren Ausdruckslosigkeit asiatischer Gesichter. Man musste nur die Signale zu deuten wissen. Die Mimik der Asiaten unterschied sich von der extrovertierten, europäischen Version. Trotzdem existierte eine. Vielleicht könnte er ein minimales Lächeln, ein klitzekleines Hochziehen der Mund­winkelenden nachweisen, das einem Gesicht diesen sympathischen Ausdruck verlieh. Oder bildete er sich das ein. Wunschdenken. Wenn, waren es allerhöchstens o,o2 mm ihrer Mundwinkel.

Immerhin auf beiden Seiten zusammengerechnet fast ein halbes Zehntel.

Diese Gedanken hätten sie wirklich amüsiert und ihr einen deutlicheren Ausdruck guter Laune abgerungen, dessen Lächeln sie nicht verhindern wollte oder hätte können. Die Konzentration des Blickes auf den jungen Mann, der bemüht war wieder auf das Display seines Smartphones zu schauen, ließ sie nichts dergleichen erahnen.

Tom war irritiert. Sie kam auf ihn zu. Er drückte auf den Liftknopf. Zu seinem Glück öffnete sich die Tür, der bereits zuvor erfolgten Betätigung geschuldet, praktisch im folgenden Moment. Allerdings war das nicht sein Plan. Er hatte mit einer Anfahrt aus den höheren Stockwerken gerechnet und wollte in der Zeit seine Stolperszene einleiten. Nun trat er wie selbstverständlich, jedoch, um nicht durch eine unbegründbare Verzögerung seltsam zu wirken, zwangsläufig in die Aufzugstür, den Blick weiter scheinbar auf das Telefon­display gesenkt und höflich zu ihr, wie zu jemand, der einem so angenehm wie bisher unbekannt erschien, hinüber schielend. Sie fixierte ihn ununterbrochen. Er hielt die Tür den Moment bis sie da war auf, sie trat hinein und vermeldete in einwandfreiem Englisch mit eindeutig amerikanischem Akzent und ganz unverfänglich: „Thank you for waiting.“

Tom war bis ins Mark gerührt. Der sanfte Klang ihrer Stimme schenkte ihm eine liebevolle Flut an Zuneigung. Er hatte versucht, noch ein wenig den Gleichgültigen durch die Telefonstarrerei zu spielen, brauchte jetzt aber einen verräterischen Moment zu lange, um sich zu fassen. Sie waren vorerst allein im Lift. Zu zweit. Tom blickte auf. Der Stolperplan war dahin. Er traute sich vorsichtig und langsam, in ihre Augen zu sehen. Er suchte noch immer das erlösende Lächeln. Wenn es denn da war, musste es sich um eine fünfzigprozentige Steigerung auf 0,03 mm der Mundwinkel handeln.

„I mean it“, sagte sie. Beinahe hätte er das Mobiltelefon fallen gelassen, der reinen Muskelentspannung wegen. Es musste am Kreislauf liegen. Tom war in einem Aufzug zum Himmel. Sie sah ihm weiter direkt in die Augen. Die Intimität des winzigen Fahrstuhlraumes war optimal. Man konnte nicht weg. Zu zweit. Keine Zeugen.

„Have you got any plans for this evening?“, fuhr sie fort. Die Tür ging auf. Die Gäste davor realisierten, dass diese Fahrt weiter nach oben gehen sollte, und hielten sich mit Einsteigen zurück. Sie wollten hinunter.

Die Tür schloss.

„I am free“, brachte Tom zum Glück knapp heraus und es war die richtige Antwort. „My room no. is 2324. Will you give me a call around seven?“ Ihrer beider Blicke waren irgendwie eingeloggt, aber Toms Verzauberung rührte einfach von ihrer wundervollen Stimme. „Sure“, antwortete er und lag auch damit richtig. Die Tür öffnete sich. 23. Stock. Sie löste den Blick und verschwand. Tom blieb selig zurück. 25. Stock. Aussteigen Tom.

Er schwebte durch den Flur in sein Zimmer als ihm einfiel, dass ihm nicht so recht klar war, wie er in ihrem anrufen sollte. Er sah auf eines der Telefone. Da stand die Lösung auf einem Aufkleber mit Nutzungserklärung und steigerte seine Stimmung erneut. Einfach die 8 vorwählen und die Zimmernummer. Unglaublich praktisch diese Fünf-Sterne-Hotels.

Nach endlosen Minuten weiter, horizontloser Blicke über Bangkoks Dächer, in welchen nur die Vision dieser unscheinbaren Frau erschien, fiel ihm ein, dass er an dem Tag ein Studio besichtigen wollte. Erst als er ihre wenigen, an ihn gerichteten Sätze und den Klang ihrer Stimme zigmal in seinem Geist wiederholt hatte und sich in der Erinnerung ihrer Schenkel und der Nase, ihrer inzwischen unbedingt liebenswerten Unscheinbarkeit ergehen konnte, dachte er daran, auf die Uhr zu sehen. Ziemlich übermannt von der leichten Fügung der Kontaktaufnahme, fand er sich immer noch nicht verliebt. Tom beglückte sich darüber, dass ihn sein Gefühl nicht getäuscht hatte. Er mochte diese Frau und sie mochte ihn. Gegen die Vernunft, gegen seine Gewohnheit, gegen seine Erfahrung über seine Neigung, aus heiterem Himmel. Er dachte jetzt an Freundschaft, was weit unrealistischer war, als reiner Sex. Kurz gesagt, ging seine romantische Seele mit ihm durch.

Das einzige, was wirklich klar sein mochte, weil es einigermaßen nachweislich erkennbar war, blieb der naheliegende Umstand, dass sein auffälliges Interesse an ihr, seine langen Blicke, natürlich nicht unbemerkt geblieben waren und die unscheinbare Dame als Alleinreisende, vielleicht alleinstehende Frau der Neugierde eines gutaussehenden, jungen Europäers nicht abgeneigt gegenüberstand. Tom war doch immer noch sehr naiv. Gerade Frauen betreffend. Der unverbesserliche Romantiker. Dann wieder nicht.

Wie hätte sie seine aufmerksame Beobachtung im Frühstücks­restaurant übersehen können? Hätte sie ja vielleicht blöd sein müssen. Ihre Konsequenz, diese vorerst zu ignorieren, war nicht als Abneigung zu deuten, sondern war taktisch oder zumindest begründet. Wirklich nicht abwegig. So viel verstand auch der in seinem selbstsüchtigen Narzissmus einfältige Tom. Er war zu klug, um sich von seinen sehnsuchtsvollen Träumereien blenden zu lassen und zu weise, um sich nicht seiner träumerischen Glückseligkeit hinzugeben, solange es ging.

Er hatte diese Frau kennenlernen wollen und es war entgegen seiner Bedenken so einfach passiert.

Im Moment war sein Glück perfekt.

2

In bester Laune duschte er sich, rasierte sich besonders gründlich mit dem vorhandenen Vergrößerungshohlspiegel, diese Fünf-Sterne-Badezimmer sind schon klasse, zog sich frisch an und ließ ein Taxi kommen. Das Studio lag in Sapan Quai, einem weit weniger gehobenen Stadtteil nördlicher Richtung. Dort waren sicher die Mieten günstiger. Seine Stimmung blieb ungebrochen, nachdem der Taxifahrer, welcher sich das angesichts der Hotelbestellung in der Auffahrt nicht getraut und daher erst jetzt den Taxameter eingeschaltet hatte, anfing, über die weite, bei dem Verkehr unpraktikable Strecke zu lamentieren, was sicher zu einem überhöhten Pauschalpreis für den Ausländer führen sollte, obwohl das natürlich nicht erlaubt war. Tom beschwichtigte ihn strahlend mit sauber ausgesprochenen Wohlwollensformeln im Sinne von Es gibt kein Problem, Alles wird gut, Gute Fahrt, gutes Geld, die den Fahrer einerseits in Zuversicht zu hüllen geeignet waren und ihn vor allem insofern einschüchterten, da die seltene Spezies, Thai sprechender Ausländer, den normalen Einheimischen immer wieder in Staunen versetzt und außerdem schon ein Zeichen von überdurchschnittlicher Güte ist. Angesichts Toms selbstbewussten Frohsinns, der dem Fahrer nicht verborgen, obwohl ihm dessen aktueller Anlass unbekannt blieb, tat dies sein übriges, einen abergläubigen Taxifahrer nun in willfährige Pflichterfüllung zu beruhigen. Tom gab ein großzügiges Trinkgeld. Immer gerne, er hatte nie seine eigene Zeit im Taxi vergessen. Der Fahrer zeigte seine Zufriedenheit dem ebenso sichtlich mit persönlichem Edelmut, wie finanziell gesegneten Fahrgast entgegen.

So ähnlich erging es Tom auch bei der Studiobesichtigung.

Der andauernde Herzensglanz seines frühmorgendlichen Erfolges wandelte auch hier die professionellen Schmeicheleien gegenüber dem potentiellen Kunden in echtes Ansehen und Tom hielt sich mit verbindlichen Zusagen zurück, da er sich einerseits nicht einwickeln lassen und die Sache in Ruhe überschlafen wollte und andererseits praktisch sein gesamtes Bewusstsein neuerdings stark von einer romantischen Vorfreude auf die Überraschungen des Abends vereinnahmt wurde. So nahm Tom die vielen technischen Details, die ihm als Vorteil des Studios dargelegt wurden, nicht einmal mit halbem Ohr wahr. Tatsächlich interessierte ihn das nie sonderlich. Das glaubten immer nur die Studiobesitzer, weil sich ein Großteil der Kunden deswegen wichtig machte, auch um nicht eingestehen zu müssen, davon eigentlich nichts zu verstehen, weswegen sie befürchteten, übers Ohr gehauen zu werden.

Vollkommener Quatsch. Der technische Standard reichte meistens aus. Entscheidend war die Zusammenarbeit und die Vibes zwischen ihm und dem Toningenieur. Sie luden ihn zu einem kleinen Jam ein, was sehr geeignet erschien, genau diesen Teil zu etablieren. Vielleicht merkten sie auch, dass Tom im Gedanken nicht so recht bei der Sache war, und versuchten ihn so, etwas auf ihre Seite zu ziehen. Nun war das Zusammenspiel wirklich das richtige, denn Tom konnte seine überaktive Gefühlswelt ausleben und musste nicht reden oder gar Zusagen treffen. Ein wenig delikat war es aber, als er die gut laufende Session so kategorisch abbrach, weil er einfach nicht zu spät ins Hotel kommen wollte und das Bangkoker Verkehrschaos nicht als berechenbar eingestuft werden konnte. Die Rush Hour begann früh und konnte Stunden dauern. Längere Strecken waren da einfach unkalkulierbar. Die Studiobesitzer waren verwundert, dass der entspannte Ausländer nicht weitermachen wollte und nur die mehrfache Versicherung, es stünde noch ein wirklich wichtiger Termin an und es läge wirklich nur daran, konnte seine Gastgeber überzeugen. Zu enthusiastisch wollte er auch nicht wirken, da er ihnen keine unnötigen Hoffnungen machen und sich die Entscheidung vorbehalten wollte. Sein eigenes momentanes Glück geriet dem Studio nicht zum Vorteil, da Tom es noch nie geschafft hatte, seine persönlichen Stimmungen aus dem Geschäft­lichen herauszuhalten, und deshalb wenigstens gelernt hatte, sein eingeschränktes Urteilsvermögen in solchen Fällen ruhen zu lassen. Natürlich konnte er ihnen die Geschichte des Tages nicht auf die Nase binden und was sollte es schon? Er würde sich melden. Das sagte man gerne, um nicht Nein sagen zu müssen. In Asien galt das auch. Tom meinte es ehrlich und würde sich melden. Es war kurz nach halb fünf, als er im Taxi zum Hotel saß. Zeit genug hoffte er. Es war sechs, als er anfing, sich Sorgen über eine verspätete Ankunft zu machen. Er fragte sich, ob er von seinem Mobiltelefon im Hotel anrufen und sich mit dem Zimmer verbinden lassen sollte, wenn er es nicht rechtzeitig schaffen würde. Er war nervös und da schwand die Glückseligkeit leicht dahin. Natürlich würde jeder in Bangkok eine kleine Verspätung verstehen.

Das Problem war bekannt.

Tom war kindisch. Das gehörte zu seiner Stimmung. Er verlor den sogenannten Realitätsbezug und gab sich ganz den wunderbaren Wunschbildern seiner Gefühle hin. Trotzdem funktionierte sein Denken. Er musste sich aber bemühen. Daher entschloss er sich, in den Skytrain umzusteigen, was auch den Taxifahrer erleichterte. Er suchte um diese Tageszeit lieber kurze Fahrten, anstatt im Stau zu stehen. Es gab eine Station der auf Trassen über den Straßen laufenden Stadtschnellbahn direkt vor dem Hotel. Nur vier Stationen von hier. Konnte kaum mehr als zwanzig Minuten dauern, aber das Taxi konnte leicht eine Stunde hängen.

Tom war nun etwas verhetzt, als er gerade in seinem Zimmer angekommen zum Telefon griff, um nicht zu spät zu sein. 232…. Ah ne, KLACK machte das Kunststofftelefon, als er fahrig auf die Gabel hieb, um abzubrechen. 82324. Tonwahlverfahren.

Pop Pu Piip Pu Pep.

„Hi, how are you?“, war da wieder diese samtweiche Stimme.

„To be true, a bit stressed from the traffic and Skytrain. Had an appointment in the city up north. Just didn´t want to miss out“, klang er strapaziert, aber straight.

„Hey, relax, take a shower, take your time. Don't worry, I'll get myself busy with emails until your next call. OK?“

Tom glaubte fast, ein erstes Lächeln zu hören. „Half an hour?“, schlug er unsicher fragend vor.

„Whatever you need. I'll wait until you call. Bye.“ Sie legte auf.

Tom war perplex. Inzwischen Mitte Dreißig hatte er bei all dem Erfolg in der Frauenwelt kaum Souveränität oder sich anderweitig entwickelt. Letztlich war er ihnen, seinen Gefühlen und allem, was damit zusammenhing, ausgeliefert. Wahrscheinlich war es die einzig richtige Art, damit umzugehen. Was hätte man schon an Einfluss nehmen sollen. Wozu das führte, konnte man bei all den anderen sehen.

Eine Frau, eine, die kaum zwei Minuten mit ihm in einem Aufzug gefahren war, sich aber wie eine Schulfreundin benahm, ihm dabei jede nur erdenkliche Zuversicht gebend. Er wollte so schnell wie möglich fertig sein und zu ihr. Dann setzte er sich doch erst mal hin. Diese Stimme. War es das, was er so an ihr mochte, auch wenn sie nicht so toll aussah, überlegte er kurz. War doch Unsinn. Er hatte ihre Stimme doch nicht gekannt. Konnte man schwerlich aus langen Beinen schließen. Stimmt, das war es zuerst. Die Schenkel. Er mochte ihre Schenkel. Ihre ruhigen gemusterten Schenkel, die ihm so überaus reizvoll schienen. Er versuchte, diese engelhafte Stimme mit den Bildern von ihr zusammenzuführen. Er befürchtete, sich ein idealisiertes Traumbild zu malen und beim Wiedersehen enttäuscht zu sein. Wenn sie das bemerkte, wäre sie sicher gekränkt. Das wollte er unter allen Umständen vermeiden. Er wollte sie keinesfalls kränken. Tom sah auf die Uhr. Es waren schon zehn Minuten verstrichen. Jetzt mal unter die Dusche. Erst noch: Durst. Er war wirklich in der anderen Welt. Deshalb brauchte er auch mehr als eine halbe Stunde. Dafür kam er wieder in die euphorische Laune. Er war jetzt wieder nervös, aber mehr aus Sorge, diese Freude könnte ihn verlassen. Er rief sie an.

„Hi, I am really hungry now. Are you ready?“, antwortete sie sogleich.

„Yes, I'm hungry, too. You wanna go to the restaurant?“

“No, let's go out. Just come to my floor with the elevator. I'll be waiting.“

Sie legte auf, klappte den Laptop zu und verließ das Zimmer Richtung Aufzug. Sie war längst fertig und hatte auf ihre Art Vorfreude genossen. Den ganzen Nachmittag hatte sie schon frei, war stundenlang im hoteleigenen Gymnastik- und Trainingsraum zugange und im Spa der Schlammbäder, Kräuterbehandlung und Gesichtsmasken unterzogen gewesen, danach in aller Ruhe nach oben gegangen, hatte sich geduscht und Make Up angelegt. Sich dann in eine schlichte Kombination aus feinster Seide gehüllt, die wenig Haut zeigte, aber ihre Brüste und langen Beine zur Geltung brachte. Ihre Brüste waren klein und fest, mit schönen Knospen. Der glatte Stoff war mit Wildseide-Fäden durchzogen. In einer engmaschig, gleichmäßig verteilten Unregelmäßigkeit zu ungefähr acht Prozent. Nur einzelne Fäden, die als solche kaum auffielen, aber insgesamt dem sandfarbenen Glanz der feingesponnenen Seide eine geheimnisvolle Indifferenz schenkten. Die Seide changierte bei jeder Bewegung in selbst nur gedämpfter Beleuchtung. Der Effekt war besonders auf dem eigens dafür entworfenen Bund schön sichtbar, der durch große Höhe und Breite, die Hüfte beim Gang mit sanften Wellenbewegungen umschmeichelte. Eine sehr raffinierte und teure Kreation, die sie zum ersten Mal trug.

Es machte ihr große Freude.

In seiner aristokratischen Eleganz für öffentliches Erscheinen geschaffen, beherbergte der Schnitt ein 4,7 Zentimeter langes Halfter. Eingenäht, eine winzige Einzelschusspistole für Damen unterzubringen, die sie zu tragen gewohnt war. Zuverlässig und einwandfrei gearbeitet konnte damit eine einzige Kugel eines Kalibers … ein Kügelchen abgeschossen werden. Dafür gab es kein Kaliber. Zur Selbstverteidigung im akuten Notfall war sie schlecht geeignet, einen Menschen zu töten. Vielleicht wenn man ihn direkt ins Auge traf. Es ging um Abwehr. Dazu taugte das Geschoss allemal, würde es doch durch Kleidung tief ins Gewebe eindringen, mindestens starke Schmerzen und mehr oder weniger Zerstörung verursachen. Unter der Achsel steckte sie durch eine Applikation kaschiert, die sich auf der anderen Seite aus Symmetriegründen wiederholte, im vorgesehenen Halfter. Teil der Kreation. Raffiniert und teuer.

Sie hatte die Idee nie gemocht. Eine Waffe zu tragen. Alle Roben für öffentliche Auftritte hatten diese Täschchen an verschiedenen Stellen. Die Hosen und Kleider. Sie trug immer diese Pistole, wenn sie in Japan das Haus verließ. Sie hatte es nie gemocht. Die Maßgabe stand auch nie zur Debatte. Die Pistole war nicht mit nach Thailand gekommen. Sie wollte darauf verzichten. Inzwischen hatte sie beschlossen, keine Waffenhalfter mehr in ihrer Kleidung zu haben. Sie würde sie nicht mehr tragen. Sie hatte es nie gemocht. Sie hatte es noch ohne ausprobieren wollen. Sie wusste es jetzt ganz sicher. So schwer es vielleicht durchzusetzen war. Es war Teil dessen, was passieren würde. Teil des Anfangs. Es hatte damit begonnen, diese Reise anzutreten.

Auch Tom hatte nun sogleich sein Zimmer verlassen. Er war aufgeregt. Als zwei Stockwerke tiefer die Tür aufging, sah er in ein Gesicht, das strahlend lächelte. Eine Frau, die er nicht sofort erkannte, aber gleich erkannte. Es war das unscheinbare Wesen von heute morgen. Aber sie sah aus wie das Covergirl der asiatischen Ausgabe von Harper's Bazar. Sie hatte dieselbe lange Nase und nur weil Tom sie ungeschminkt vom Morgen erinnerte, fand er im zweiten Blick die einfachen Züge in ihrem Gesicht wieder, so dass es ihm vertraut blieb. Schön war sie, sie war es am Morgen gewesen und jetzt entdeckte Tom erst wie ebenmäßig und symmetrisch ihre Erscheinung tatsächlich war. Wie als ging die Tür zum Himmel auf. Nur dass er nicht Einlass erhielt, sondern jemand heraustrat. Sie verstand sich zu schminken. Keine Silbe brachte er über die Lippen. Sie hätte ihn auslachen können, war aber weit davon entfernt. Kein Hauch eines Übels. Sie stellte sich neben ihn und sah ihm von der Seite ins Gesicht. Tom wandte ihr seines zu.

„Hey, wir müssen gleich durch die Halle“, sagte sie auf Englisch.„Versuch ein bisschen vorschriftsmäßiger zu erscheinen. OK?“, sprach sie ganz locker und berührte seine Finger an den Spitzen mit den Ihren.

„Wie soll das gehen, wenn du mich anfasst“, hatte er sich wieder gefunden.

„Ich lass gleich los, wenn die Tür aufgeht. OK?“, antwortete sie. „OK.“

Als Tom sie gesehen hatte, war sein erster Gedanke, verdammt, was muss die den jetzt dazwischenfunken, bis er sie vor Beendigung dieses Gedanken wiedererkannt hatte. Beim Frühstück war ihm die tiefere Schönheit, die atemberaubende Gleichmäßigkeit ihrer Gesichtszüge und des Körperbaus, der vordergründig nicht so idealen Merkmale wegen verborgen geblieben. Er dachte nicht an den klassischen Umstand, dass es diese feinen Gebäude sind, die sich am besten zu Schönheiten gestalten ließen. Ihre Nase gab der nur einen charakteristischen Akzent. Nicht, dass es fad würde.

„We order a taxi. You will do that. OK?“

Tom nickte ohne sie anzusehen.

Die Finger waren gerade das Schönste. Die Berührung.

Neben diesem spitzensüßen „OK?“, das sie dauernd an ihre Sätze hing und das so ehrlich um Einverständnis bittend klang.

Tom mochte diese Frau. Diese eigentlich fremde Frau.

Zum Glück wollte niemand während der Fahrt zusteigen und so öffnete sich die Tür am Ground-Floor und sie löste die Berührung, was Tom fast weh tat. In der Halle löste ihr Erscheinen strahlende Gesichter beim Empfangspersonal aus und man nahm beflissen Toms Wunsch nach einem Taxi entgegen.

Im Wagen fragte er, ob sie es toll fände, in einem der Dachrestaurants, vielleicht auf dem Millenium Hotel zu essen.

„Nein“, entgegnete sie, das sei nur sauteuer und sie fände eines der Restaurantboote auf dem Chao Praya viel schöner und unpräten­tiöser. Es wäre zwar schon ein bisschen spät dafür, aber sie würden einfach versuchen, noch eines zu erwischen. Einfach mal den Taxifahrer fragen. Tom fand die Restaurantboote super. Ihm wäre das aber nicht eingefallen. Viel zu aufgeregt. Sein letzter Besuch auf so einem Boot lag bald zwanzig Jahre zurück. Da war er noch Traveltourist. Dort könnten sie sich mit Ausnahme von Berüh­rungen ziemlich frei verhalten, reden, lachen und scherzen. Es war klar, dass es in der Öffentlichkeit, auch im Taxi, zu keinerlei Berührungen kommen dürfte. Das war Thailand. Berührungen wären zu intim, um schicklich zu sein. Unwissenden Ausländern würde das meiste verziehen werden und daran entwickelten besonders junge Touristenpaare vielfach Bedarf. Richtig, gerade für Mitglieder hoher Stände war vornehme Vermeidung von Intimitäten in der Öffentlichkeit. Der Taxifahrer wusste noch eine Anlegestelle für ein spätes und gutes Boot und einen Tisch bekamen die beiden auch. Bis sie sich am Tisch direkt an der Reling mit Blick auf Thonburi niederließen, sprachen sie nur mehr mit dem Personal und machten wie selbstverständlich den Eindruck eingespielten Einver­ständnisses. Man geleitete die sehr ansehnlichen Gäste zu einem schönen Platz.

Hier hielt man sie für ein Paar und so konnten sie sich ungezwungen benehmen. Ihre tiefen Blicke und die sanfte Sprache, bei lebhafter Kommunikation machte bei den fast ausschließlich chinesischen Gästen an den umliegenden Tischen einen guten Eindruck.

Sie setzte jetzt einen anhimmelnden Schimmer in ihr Augenpaar und wartete diesmal, was er sagen würde. Tom war gar nicht nach schnellen Worten. Er wollte sie gerne wieder ein wenig ansehen. Das hatte er ja schon am Morgen ausführlich betrieben und tatsächlich liebte er es allgemein, schöne Frauen anzusehen. Er überlegte noch, ob er ihr erst ein Kompliment machen oder nach ihrem Namen fragen sollte. Seinen zu nennen, kam ihm nicht in den Sinn. Den fand er ehrlich nicht so wichtig. Ein bisschen durcheinander war er auch immer noch. Er hoffte auch, sie würde doch noch etwas sagen, auf das er reagieren konnte.

Es erschien ihm ziemlich platt zu sagen, wie schön sie sei. Sie wusste wohl um ihre Selbstdarstellung, wenn sie sich so schminken konnte. Genauso, wie um ihre ungeschminkte, die unscheinbare Erscheinung. Tom war unsicher. Anschauen war so einfach.

Sie erlöste ihn und fragte: „Warum bist du erst weggelaufen?“

„Ich war zu überwältigt.“

„Das ist aber ein hübsches Kompliment.“ Sie lächelte.

Ihr Lächeln zeigte mehr von ihrem unscheinbarem Gesicht. Es war voller unschuldiger Freude über eine hübsche Sache. Wie von einem zehnjährigen Mädchen, das mit einer Freundin ein Eis essen geht. Auf dem Gesicht dieser erwachsenen Frau wirkte es entrückt. Tom war froh, spontan das Richtige gesagt zu haben. Noch immer war er das, was er damit gemeint hatte. Überfordert.

„Und dann hast du doch gewartet?“

„Ich hatte einen Plan.“

Sie lächelte jetzt zufrieden amüsiert. „Das ist ja interessant.“

Tom erzählte ihr von seinem Problem, sie, eine Japanerin, in dem Frühstücksrestaurant anzusprechen und seinem misslungenem Arrangement am Lift einen kleinen Zusammenstoß als Einstieg zu inszenieren. Er wollte ganz aufrichtig zu diesem wunderbaren Wesen sein. Etwas Persönliches erzählen, ohne sie mit seiner Lebensgeschichte zu langweilen. Dieser Plan hatte immerhin mit ihr zu tun. Er erwähnte seine charakteristischen Kreislaufzustände zu gewissen Tageszeiten und nicht zuletzt wie irritierend beein­druckend er sie an dem Tisch gefunden hatte. Tatsächlich legte er ihr seine Bezauberung so umfassend dar, wie er sie am Morgen erlebt hatte und es seiner Eloquenz entsprach. Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich dabei von fröhlicher Belustigung, über leicht staunendes Interesse, bis zu mildem Glanz in den Augen, als sie den Kopf nun leicht geneigt seiner Beschreibung ihrer Erscheinung lauschte. Das gefiel ihr wirklich.

„Hast du deshalb deine Zeitung zweimal gelesen? Oder so getan.“

„Du hast es gemerkt?“ Es war ihm nicht mehr peinlich. Musste es ja nicht. Ach zu offensichtlich. „Ich musste Zeit gewinnen. Es gab mir mehr Gelegenheit dich anzusehen. Das ist wahr.“

Selten hatte ihr und ihrem Äußeren ein Mann soviel detailverliebte Aufmerksamkeit geschenkt und diese auch noch in Worte gefasst. Sie fand sich ehrlich geschmeichelt und zupfte unter der Tischplatte am Fingernagel ihres rechten Daumens. Tom erwähnte auch das, was er unscheinbar nannte und wofür er kein passendes Wort in Englisch fand. Er wollte sie bestimmt nicht beleidigen, nicht einmal vor den Kopf stoßen und druckste herum.

„Ich weiß, dass ich keine Schönheit bin“, sagte sie ohne Eitelkeit.

„Du bist eine strahlende Schönheit“, sagte er überzeugend.

„Ja, heute, wenn ich mich schminke. Es ist auch deinetwegen. Ich weiß sehr wohl, dass ich keinem der Ideale entspreche und die Männerwelt mich eher als blass empfindet. Ich habe genug Männer kennen gelernt.“ Auch das kam ohne Bitterkeit. „Sie sind immer ganz Flamme, wenn sie mich in Schale und Make Up auf Parties treffen und von meinem Erfolg erfahren. Mit mir ungeschminkt können sie nichts anfangen.“ Tom verstand das aufs Wort.

„Es freut mich sehr, dass dir meine Unscheinbarkeit ...“, sie benutzte absichtlich das englische Wort insignificance,

„ … gefallen hat.“

„Sie hat mir nicht nur gefallen. Ich mochte dich. Mehr noch. Ich spürte eine unausweichliche Anziehung. Das war das Irritierende. Ich verstand nicht, warum ich dich, ohne dich zu kennen, so gern hatte. Ich fühlte mich unglaublich stark zu dir hingezogen, obwohl ich das an nichts Besonderem festmachen konnte. Es wäre eine Erklärung gewesen, wenn du eine Model-Schönheit wärst. Aber weil ich dich mochte, mochte ich auch deine Unscheinbarkeit.“ Auch er benutzte nun das englische Wort betont. „Ich mochte sie, weil es deine Unscheinbarkeit war. Erklären konnte ich es mir trotzdem nicht.“ Ihr Herz leuchtete.

„Du hast meine Schenkel angestarrt“, sagte sie.

„Außerdem bin ich ein Model“, setzte sie beiläufig hinzu.

Tom stutzte.

„Was denkst du über meine Schenkel? Es ist sehr unhöflich, die Schenkel einer Fremden im Frühstückssaal so anzustarren. Noch dazu in Thailand.“

Hatte er doch gewusst, dass das nicht unbemerkt geblieben sein konnte.

„Deine Hose war sehr kurz“, gab er trocken zu seiner Verteidigung an.

„Es ist in Bangkok schon am Morgen sehr heiß. Ich wollte anschließend an den Pool. Außerdem hätte es unter dem Tisch keiner gesehen, wenn er nicht extra hinsieht.“

Sie neigte bei dem Satz ihren Kopf und zog die Augenbrauen hoch. „Jedenfalls kein Grund, meine Schenkel immer wieder Ewigkeiten anzustarren.“

Sie sagte das mit der pragmatischen Logik der Lösung einer Rechenaufgabe. Ohne Vorwurf im Ton. Sie war keinesfalls böse deswegen, obwohl es wirklich sehr ungehörig war, eine Frau in der Öffentlichkeit so anzustarren. Sie wollte nur eine ehrliche Antwort und ihn ein wenig triezen. Bestimmt hätte sie der Erhalt von Komplimenten bei der Gelegenheit nicht weiter gestört.

Sie sah ihm stets in die Augen.

„Du hättest ja etwas sagen können, wenn es dich so sehr gestört hat“, startete Tom einen kläglichen Versuch. Er wusste sehr wohl, dass eine feine Dame solche Aufdringlichkeiten nicht mit einer Reaktion belohnen durfte.

„Am Anfang hat es mich sehr gestört. Dann komischerweise nicht mehr. Du hast mir auch ins Gesicht gesehen. Das heißt, ins Profil. Lange. Dann wieder auf die Schenkel. Das gab mir zu denken. Jetzt rück schon raus. Waren meine Schenkel auch unscheinbar?“

Tom durfte dezent lachen. „Im Gegenteil, sie erregten mich sehr.“

„Oh“, entkam ihr spontan. So ein lustiges Oh, weil es den tief klingenden Vokal in einem ziemlich hohen Ton ausspricht. Ein herrlich japanisches Oh. Ein süßes Oh.

Aber sie hatte sich gleich wieder im Griff.

„Was dachtest du, als du meine Schenkel anschautest? - … while you were looking at my thighs?“

Es verging ein Moment, während er sie zärtlich ansah, bevor Tom sagte: „Das kann ich dir hier nicht sagen. Vielleicht versteht doch jemand Englisch.“

„Sag's mir ins Ohr.“

„Glaubst du das geht?“

„Na gut, die denken wir sind ein Paar. Beide Ausländer. Halb so schlimm“, antwortete sie.

„Ich lache ein bisschen, dann denken sie, du hast einen Scherz gemacht.“

Tom lachte leise. „Wenn das mal gut geht. Vielleicht verrät uns deine Reaktion. Du weißt doch nicht, was ich gedacht habe.“

„Bilde dir nur nichts ein. Ich weiß ja jetzt, was ich zu erwarten habe. Du hast noch nicht gemerkt, dass ich eine erwachsene Frau ...“, sie unterbrach sich. „Ich denke, ich bin älter als du.“

„Wirklich?“

„Ja, aber das spielt keine Rolle.“

„Natürlich nicht. Es passiert nur zu leicht, dass man Asiaten wegen ihrer Zierlichkeit jünger schätzt. Außerdem habt ihr diese tolle Haut, die nicht zu altern scheint. Viel langsamer jedenfalls. Mehr Spannkraft.“

„Ach was, es war deine männliche Überheblichkeit, die dir einreden wollte, du seist der jungen Frau zwei Tische weiter auch an Erfahrung überlegen“, sagte sie streng.

„Sagen wir, es war mein Beschützerinstinkt.“

„Einverstanden. Erkläre mir jetzt den Unterschied. - Now explain the difference to me.“

Sie legte den Kopf nach rechts, sah ihm in die Augen und gab im Blick die Milde ihrer Vergebung zu verstehen.

Tom verstand und schwieg, denn der Unterschied war nicht groß genug, um eine Erklärung zu rechtfertigen. Er hatte sie voreilig, vielleicht von seiner Anziehung geblendet, jünger geschätzt. Vielleicht fünf Jahre. Jetzt dachte er ganz richtig, sie sei wohl eher fünf Jahre älter. Das erklärte so manches.

„Was ist jetzt mit meinen Schenkeln?“, lenkte sie forsch auf das Thema zurück.

Tom begann nun auf Befehl seine Faszination für die schlanken, regungslosen Beine zu schildern und sprach auch aus, wie er über ihre Haut und deren Musterung sinnierte.

„Meine Haut ist gemustert?“, fragte sie verwundert nach.