15,99 €
Lebensklug und voller Lust am Leben: Die gesammelten Gedichte Franz Hohlers sind auf der Suche nach dem kostbaren, flüchtigen Wesen der Zeit.
Fast fünf Jahrzehnte umspannt Franz Hohlers hier vollständig versammeltes lyrisches Werk. Eine bunte Sammlung aus Naturgedichten, Sprachspielen, "Verlesern" und lebensklug leichten Gedanken, die vor allem eines immer wieder neu zu erfassen versuchen: dieses kostbare, furchtbar flüchtige, aber auch abgründig komische Wesen der Zeit. In Franz Hohlers Gedichten scheint nicht nur das Voranschreiten der Jahre und Jahrzehnte auf, sondern eine ganze Biographie.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 121
FRANZ HOHLER
Sommergelächter
Gesammelte Gedichte
Mit einem Nachwortvon Nora Gomringer
Luchterhand
Vierzig vorbei
1988
Zwischenhalt
Vor kurzem bin ich
33 Jahre alt geworden.
Bedenkend
was ich hinter mich gebracht
in dieser Zeit
die über tausend Abende z. B.
die ich allein
auf einer Bühne stand
hab ich gemerkt
jetzt habe ich genug
und habe dann entschieden
ich nehme mir
ein freies Jahr.
Ich habe alles abgesagt
was mir im Herbst bevorstand
und stehe nun
noch etwas unvertraut
vor den Kalenderblättern
auf denen nichts mehr eingetragen ist.
Vielleicht passiert in dieser Zeit etwas
vielleicht auch nicht.
Ich habe mir für alle Fälle
ein Tramabonnement gekauft
telefoniere wieder
zwischen fünf und sieben
beharre auf dem Nachtstrom
für das Waschen des Geschirrs
und klebe Rückvergütungsmärklein ein.
Schon habe ich
den ersten Löwenzahnsalat
gemacht
der Sohn fand ihn nicht gut
und meine Frau
hat »interessant« dazu gesagt.
Das wird mich nicht dran hindern
mit Nesselsuppe fortzufahren
und wilden Majoran zu trocknen.
Zu Fuß wird wieder mehr gegangen
das steht fest
ins Auto steig ich nur noch
wenn es sein muss
also selten.
Im Übrigen benutze ich den Zug
versteht sich
und schrecke nicht
vor Postautos zurück
wenn mich die Lust ankommt
Bekannte beispielsweise in Schnottwil
zu sehen.
Allerdings
ich bleib dann über Nacht.
Ich steige gerne um
ich stehe gerne Schlange
und höre zu
was so gesagt wird von den Leuten
ich weigre mich
die Stunden sinnvoll zu verbringen.
Ich will auch die Prospekte lesen
die man ins Haus geschickt bekommt
auf denen man zum Kauf
von Sprachen aufgefordert wird
und Rasenkantenscheren
sowie das viele
Hektographierte, beidseits Engbedruckte
mit welchem man auf mein Gewissen pocht.
Die Träume
schreib ich wieder auf
und mache mir Gedanken
wenn Chinesenschiffe
darin zirkulieren.
Kann sein
dass meine lange Gegenwart zu Hause
Schwierigkeiten nach sich zieht
kann sein
dass ich die Lust verliere
aus dem Haus zu gehen
kann sein
ich komm mir vor
als wär ich arbeitslos.
Ich weiß es nicht.
Den Bart
hab ich mir wachsen lassen
vorsichtshalber.
Ich bin jetzt da.
Wenn jemand etwas will
dann soll er kommen.
Der Anfang des Tages
Wenn ich mich
morgens gegen 9 Uhr
an den Schreibtisch setze
und überlege
woran ich heute schreiben will
und keinen Anfang finde
und kein halbes Ende
zum Weiterfahren
und ein Gedichtbuch in die Hände nehme
und darin blättere
und halblaut ein paar Verse lese
und immer noch nicht weiß
was tun
dann schreckt mich plötzlich
die Sirene
der Chemischen Fabrik
mein Gott
denk ich
die haben jetzt schon Pause
und haben schon zwei Stunden
hinter sich
und ich
ich hab noch nichts getan
und während unten bei den Schwefelbergen
die Leute in die 9-Uhr-Brote beißen
spann ich ein Blatt in die Maschine
und werde langsam
aber unaufhaltsam fleißig.
Da soll noch jemand sagen
die Welt der Arbeit
habe keinen Einfluss
auf die Kunst.
Das Ende des Tages
Am Sonntagabend
als der Fernsehfilm zu Ende war
und Chaplin alt und halb erloschen
in der Stube saß
da waren wir so traurig
und die Buben so nervös
dass wir noch in den Garten gingen
und der Mond war eben
japanisch schön
heraufgestiegen hinter unserm Wäldchen
und wir tanzten
mit unsern drei und sechs und zweimal fünfunddreißig Jahren
durch das frischverschneite Gras
der Hecke nach und zu den Birken
und zu dem Kinderhäuschen und dem Kletterbaum
und über unser ganzes
nächtlich mildes Land
auf welchem binnen kurzem
7 Einfamilienhäuser stehen werden
preiswert
aber doch solid
und mit Komfort.
Nach dreißig
Der Vogel Angst
hat sich ein Nest gebaut
in meinem Innern
und sitzt nun manchmal da
und manchmal
ist er lange weg
oft kommt er nur
für einen Augenblick
und fliegt gleich wieder weiter
dann aber gibt es Zeiten
da hockt er tagelang
da drin
mit seinem spitzen Schnabel
und rührt sich nicht
und brütet
seine Eier aus.
Als es nach zehn Tagen wieder schön wurde
Der Zürichseefjord
gibt endlich seine Berge preis
Die Wolken
sind auf einmal nicht mehr da
Der Schnee
reicht bis zum Rand der Dörfer
Die Sonne
ist so strahlend kalt
die Häuser an den Ufern
haben jetzt so klare Schatten
als ob hier Island wäre
und der Pfannenstil
ein kleiner Hekla
der jederzeit
ein Maul voll Asche
auf unsre ölgeheizten Friedlichkeiten
speien könnte.
Wir wissen wenig
Von Zürich bis nach Stäfa
sei es
sagte mir der Spengler
neuerdings verboten
Eisenboiler einzurichten.
Zugelassen seien nur noch solche
aus Kupfer, Kunststoff oder aus Email
weil
habe ihm der Lieferant gesagt
das Wasser aus dem Zürichsee
zu aggressiv sei.
Das geht mir manchmal
durch den Kopf
wenn ich den Kindern
ihre Sirupgläser fülle.
Nachtleben
Jetzt spricht
meine Frau
zu unserm Sohn
der zittert und weint
und er hat
eine Mutter
die zu ihm spricht
und diese Mutter
ist meine Frau
und diese Frau
ist nicht meine Mutter
und das ist das
was uns trennt
meinen Sohn
und
mich.
Goldküstenexpress
Wenn
der Wagenführer
seinen Kopf dreht
sieht er hinter sich
sehr achtsam
durch die Scheibe blickend
zwei Buben
sowie
einen Mann
und wenn er
dazu lächelt
weiß ich
dass er mehr gesehen hat
zwei Träume
vom Erwachsenwerden
und einen Traum
vom Kindsein.
Zugunglück
Ich habe mir nachts um halb eins
eine Zeitung gekauft
um die Namen der Opfer zu lesen
in der Hoffnung
es sei jemand darunter
den ich persönlich kenne
aber nicht allzu gut.
So hätte ich mir
mehr Anrecht auf Trauer
gesichert
und ein Abglanz von Schrecken
wäre auf mich gefallen.
Leider kannte ich keinen
aber wenigstens
bin ich schon mit demselben Zug gefahren.
Verhaftung
Eines Nachts
wenn du heimgehst, vielleicht
wird dir der Tod
mit der Taschenlampe
ins Gesicht zünden
dich kurz mustern
und über die Schulter
zu seinen Männern sagen:
Dieser da!
Sprachlicher Rückstand
Immer noch
sagen wir dem
was am Morgen geschieht
die Sonne geht auf
obwohl seit Kopernikus klar ist
die Sonne bleibt stehn
und
die Welt geht unter.
Optische Täuschung
Ungeachtet seines Aussehens
sei Herr D. ein großer Könner
schrieb jüngst Herr H.
ein Kritiker
mit kurzen Haaren
und grauem Anzug
über einen Musiker
mit langen Haaren
und einer lila Jacke.
Es kommt auch vor
dass jemand aussieht wie Herr H.
und trotzdem etwas kann.
Ehe-Grammatik
Beim Satz
»Was machen wir?«
haben wir es
mit einem Scheinplural
zu tun
der in Wirklichkeit
aus zwei Singularen besteht
einem männlichen
und einem weiblichen.
Der männliche Singular lautet:
»Was mache ich?«
und der weibliche:
»Was machst du?«
Sonntag, 14. Februar
Rund um den Pfannenstil
hab ich heut viele Frauen angetroffen
die mit Boxerhunden
oder ganz allein
spazieren gingen.
An ihrem forschen Schritt
und den gepressten Lippen
war abzulesen
dass sie fest entschlossen waren
den Sonntag
zu genießen.
Stand der Nation
Und immer noch sitzen
die Kinder auf Klettergerüsten
junge Ehepaare
kaufen IKEA-Tische und rote Küchenstühle
und schreiben
auf ihren Deux-Chevaux
IDEFIX
oder
SCHNAEGGLI
vor der MIGROS-Parkgarage
stehen die Autos
und warten rauchend darauf
dass ein Rechteck frei wird
es besteht ja auch
kein Grund zur Besorgnis
bald
hat jeder Schweizer
seinen eigenen Schutzraum
und schon jetzt
ist der Sauerstoffanschluss
im Krankenzimmer
für jeden von uns
gesichert.
Karfreitag
Gilt dieser Nebel uns?
Und dieser trübe Schnee?
Als ob wir etwas dafür könnten
dass vor bald zweitausend Jahren
in Palästina jener Mann –
Wir waren nicht dabei.
Wir heizen nur die Häuser
zünden nur die Lampen an
und bringen unsre Freunde
zu den Flugzeugpisten.
Schöne Sätze
Der Schatten
ist die Schrift
der Sonne.
Die Krähen
sind die Möwen
Afrikas.
Kaum einer
denkt jetzt
außer mir
an Feendärme.
Des einen Freud
Für alle Fische
muss die Sintflut
ein Fest gewesen sein.
Sommerliches Pflichtsoll
So viele Karten
mit herzlichen Grüßen.
Jetzt dürfen wir
den ganzen Winter
wieder böse sein.
Match
Wir werden nicht Meister
den Schwachen.
Sie sind zu stark.
Urgefühl
Ohne mich
kann ich nicht leben.
Für e Mani
I jedem Lied vo dir
wo eine schtirbt
hets e Sinn
der Eskimo und dä mit der Nase.
Nume du bisch gange
und niemer weis worum
das isch e Värs
uf dä gits kei Rym.
Oder isch es wäge däm
das me sälber Freud het
solang me no läbt
das me schpilt mit de Chind
und nid wartet bis morn
das me lost und luegt
und glych no mängisch lacht?
Grad das wär aber
so vill liechter gsi
wenn du
nones Wyli doblibe wärsch
und is zeigt hättsch
wie me das macht.
zum Tod von Mani Matter, November 1972
schnäll
schnäll i Chäller
schnäll voruse
schnäll ufs Hüsli
schnäll i Migros
schnäll zum Coiffeur
schnäll zum Dokter
schnäll i d Schtadt
schnäll go poschte
schnäll go wäsche
schnäll go choche
schnäll go ässe
schnäll go schwümme
schnäll go laufe
schnäll go luege
schnäll go uftue
schnäll go grüesse
schnäll go bsueche
schnäll go hälfe
schnäll go läbe
s Läbe
Mängisch dunkts eim scho
dass s Läbe nüt anders sig
als es Gwitter
und mir
mir seckle derdur
und der eint breicht der Blitz
und der ander nit
und nienen e Hütte
wyt und breit.
dr Tod
Dr Tod
isch nid eine
wo eim uf d Schultere chlopft
und seit
chumm mit
sondern eine
wo eim i beidi Arme nimmt
und drückt
und drückt
bis me nüt meh anders
cha dänke
als
jo
i chume
Wanderers Nachtlied
Ueber allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch!
Johann Wolfgang Goethe
Oobe
Ueber allne Flüehne
wirds schtill.
Us allne Chräche
ghörsch nümm vill.
Der Tag isch verby.
Es Auto wyt ewägg
und denn nüt meh.
Wart no chli
s goht nümm lang
schlofsch du au y.
F. H.
Horaz
Carmen I, 9
Vides ut alta stet nive candidum
Soracte nec iam sustineant onus
Silvae laborantes geluque
Flumina constiterint acuto?
Dissolve frigus ligna super foco
Large reponens atque benignius
Deprome quadrimum Sabina,
O Thaliarche, merum diota.
Permitte divis cetera, qui simul
Stravere ventos aequore fervido
Deproeliantis, nec cupressi
Nec veteres agitantur orni.
Quid sit futurum cras, fuge quaerere, et
Quem Fors dierum cumque dabit, lucro
Adpone, nec dulcis amores
Sperne puer neque tu choreas,
Donec virenti canities abest
Morosa. Nunc et campus et areae
Lenesque sub noctem susurri
Conposita repetantur hora,
Nunc et latentis proditor intumo
Gratus puellae risus ab angulo
Pignusque dereptum lacertis
Aut digito male pertinaci.
Winter
Lueg wie der Etzel scho wyss isch
und d Wälder verschticke vor Schnee
und der Zürisee Ys a den Ufer noh het.
Legg no s paar Schitli ufs Füür
das es warm wird
und hol mer der Wy us em Chäller
es het no ne Schtäfner.
Der Räscht bsorgt der Vatter im Himmel
wo macht, das es einisch windet
und s andermol nit
wenns wohr isch.
Was übermorn chunnt, chanis glych sy
jetz hocke mer do und s isch schön
gib em Ursi e Kuss
solang das no jung bisch.
Denn gömer zämen is Bett
und schmuusen is einen ab
und dänken a nüt
und gäbenis warm.
Weisch was?
Hic tamen hanc mecum poteras requiescere noctem
fronde super viridi: sunt nobis mitia poma.
castaneae molles et pressi copia lactis.
et iam summa procul villarum culmina fumant
maioresque cadunt altis de montibus umbrae.
Vergil
Aber du konntest doch wohl noch die eine Nacht bei mir ausruhn
Auf einer Streu von Laub: Ich habe schon reife Äpfel,
Süße Kastanien auch und an Käselaiben die Fülle.
Siehe, schon steigt der Rauch von fern aus den Dächern des Dorfes,
Länger fallen bereits von den hohen Bergen die Schatten.
Heinrich Naumann
Weisch was? Blib doch hütt zobe bi eus und au über d Nacht.
Chönntsch im Kajütebett schlofe, mir miechten es Schmineefüürli
Cheschtene hätts no zum Brötle und Bärgchäs e gäbige Mocke.
Dunden im Dorf gseht me langsam der Rauch zu de Chemi us schtiige
Dussen ischs chalt, und ännet em See isch alles im Schatte.
F. H.
Horaz
Carmen I, 26
Musis amicus tristitiam et metus
Tradam protervis in mare Creticum
Portare ventis, quis sub Arcto
Rex gelidae metuatur orae.
Quid Tiridaten terreat, unice
Securus. O quae fontibus, integris
Gaudes, apricos necte flores,
Necte meo Lamiae coronam,
Piplei dulcis. Nil sine te mei
Prosunt honores: hunc fidibus novis,
Hunc Lesbio sacrare plectro
Teque tuasque decet sorores.
Worum i cha schaffe
Es chunnt mer no vill i Sinn
i bruuche nid schtundelang z hirne
und Aareschpaziergäng z mache
a trüebe Novämbersünndig.
Was färner dä Lamia agoht
wo sech ir zwöite Schtrophe so breitmacht
dä chönnemer rueig vergässe
samt dere Nymphe, wo au keine kennt.
Hütt isch es anders: Du bisch jo do
und alls woni mache
(das darfsch aber niemerem säge)
isch immer au nones bitzli für di.
Der Tod und das Mädchen
Das Mädchen
Vorüber! Ach, vorüber!
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh, Lieber!
Und rühre mich nicht an.
Der Tod
Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund, und komme nicht, zu strafen.
Sei guten Muts! ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen sehlafen!
Matthias Claudius
e gruusige Bsuech
s Meitli
Gang wyter!
Mach, dass furtchunnsch!
Haus ab, i will di nümm gseh!
I bi no jung und läbig.
Du Souhund!
Nei läng mi jo nid a!
I bi no lang nid dra.
dr Tod
Chumm, gimer d Hand, du schöns und saftigs Chind!
I ha di gärn und chumm nid zum di schtrofe.
Weni di schtreichle, vergissisch alls.
Chumm, mir wei mitnander schlofe.
F. H.
Jetzt geseht me der Mond schon nümm
Δέδυĸε μὲv ἀ σελάvvα
ĸαì Πληίαδεϛ∙ μέσαι δὲ
νύĸτεϛ, παρά δ’ἔρχετ’ ωpα∙
ἔγω δὲ μόυα ĸατεύδω.
Sappho
Der Mond und die Siebensterne
sind untergegangen. Mitter-
nacht ist und die Zeit vorüber.
Ich aber, ich liege einsam.
Emil Staiger
Jetz gseht me der Mond scho nümm
und d Schtärne si bleicher. D Zit
fürs Warten isch ume. D Nacht
isch verby, und i schlofen elei.
F. H.
Herbschtgedicht
dusse goht der Wind
e Flöige putzt der Grind
de Schpatze glänze d Schnäbel