Sommerzaubernacht - Sandra Gernt - E-Book

Sommerzaubernacht E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

„Bist du in der Lage, Hass und Zorn zu vergessen?“ Royk wird ausgeschickt, um das Heiligtum des Feuergottes wieder herzustellen. Um diese wichtigste aller Aufgaben erfüllen zu können, muss er mit Tasani zusammenarbeiten – einem Mann aus dem Volk der Amury. Seit Jahrhunderten schwelen Hass und Krieg zwischen ihren Völkern und es braucht mehr als Besonnenheit, damit zwei eingeschworene Feinde all dies vergessen und Hand in Hand arbeiten können. Es bleibt ihnen wenig Zeit, denn zur Sommersonnenwende muss das Werk vollbracht sein, oder ihre Welt, wie sie sie kennen, wird untergehen. Dies ist Teil 3 der Zaubernachts-Reihe Teil 1 trägt den Titel: Winterzaubernacht Teil 2: Frühlingszaubernacht Die Geschichten sind vollkommen unabhängig voneinander, es gibt keine wiederkehrenden Charaktere. Darum können sie einzeln gelesen werden. Ca. 32.000 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ungefähr 154 Seiten

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„Bist du in der Lage, Hass und Zorn zu vergessen?“

 

Royk wird ausgeschickt, um das Heiligtum des Feuergottes wieder herzustellen. Um diese wichtigste aller Aufgaben erfüllen zu können, muss er mit Tasani zusammenarbeiten – einem Mann aus dem Volk der Amury. Seit Jahrhunderten schwelen Hass und Krieg zwischen ihren Völkern und es braucht mehr als Besonnenheit, damit zwei eingeschworene Feinde all dies vergessen und Hand in Hand arbeiten können. Es bleibt ihnen wenig Zeit, denn zur Sommersonnenwende muss das Werk vollbracht sein, oder ihre Welt, wie sie sie kennen, wird untergehen.

 

Dies ist Teil 3 der Zaubernachts-Reihe

Teil 1 trägt den Titel: Winterzaubernacht

Teil 2: Frühlingszaubernacht

Die Geschichten sind vollkommen unabhängig voneinander, es gibt keine wiederkehrenden Charaktere. Darum können sie einzeln gelesen werden.

 

Ca. 32.000 Wörter

Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ungefähr 154 Seiten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

von

Sandra Gernt

 

 

Der Auftrag

 

R

oyk hatte keine Ahnung, was er erwarten sollte.

In die große Burg gerufen zu werden, Hauptsitz von König Liarg, Herrscher der sieben Länder – das bedeutete entweder, dass man eines schweren Verbrechens angeklagt oder zu einer besonderen Aufgabe berufen werden sollte. Zumal wenn man ein einfacher Handwerker und kein königlicher Gefolgsmann, Soldat oder Adliger war.

Er war sich keines Vergehens bewusst, was nicht unbedingt von Bedeutung war, angeklagt werden konnte man dennoch jederzeit. Besondere Aufgaben hingegen wären durchaus denkbar. Er hatte mitgeholfen, Burg Carnaith zu erbauen. Weniger als vier Jahre hatte es gedauert, dieses Wunderwerk aus dem Boden zu stampfen, ein Geniestreich des königlichen Architekten, Fürst Harris von Hardernach. Genau wie sein Vater und seine beiden älteren Brüder war Royk Maurer. In zwei Jahren, wenn er den siebenundzwanzigsten Winter vollendete und seit zehn Jahren als Geselle arbeitete, durfte er sich Meister nennen. Vielleicht wollte der König eine weitere Burg errichten? Im Norden, an der Grenze zu Taynsmark, waren die Landesfürsten rebellisch und unruhig, wie die Händler erzählten. Eine bemannte Festungsanlage als Stützpunkt könnte helfen, die Widersacher einzuschüchtern und für Frieden zu sorgen. Hier vor Ort hatte es schließlich recht gut funktioniert.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf war Royk darum halbwegs unbekümmert dem Ruf nach Carnaith gefolgt. Für ein, zwei Jahre in den wilden Norden geschickt zu werden, wo die Winter endlos und grausam, die Sommer unerträglich und die Menschen abweisend und wortkarg waren, das würde ihm nicht wirklich gefallen. Besser als eine Anklage wegen Betrugs oder Diebstahls war es auf jeden Fall.

Carnaith war ein überwältigender Anblick. Meilenweit entfernt noch konnte man die acht Türme sehen, die himmelhoch ragten. Zwanzig Schritt hohe Wehrmauern machten einen Angriff mit Steigleitern nahezu unmöglich – die Feinde könnten gar nicht rasch genug in die Höhe eilen, um die Verteidiger zu überwältigen. Vorher konnte man sie mit Pfeilen erschießen, die Leitern umstoßen oder kochende Flüssigkeiten über sie ausgießen. Es gab Todeszonen im Inneren. Freie Höfe, die keinerlei Deckung boten, von allen Seiten eingesehen und aus sicherer Höhe von Bogenschützen durch Schießscharten verteidigt werden konnten. Schwere Eisengitter konnten herabgelassen werden und den Zutritt zu den Wohntürmen abriegeln. Zudem war Carnaith auf festem Granit erbaut worden, es war unmöglich, die Mauer zu untergraben und mittels eines Tunnels einzudringen. Zu viele Festungen waren in vergangenen Zeiten an Belagerer verloren gegangen, weil wagemutige Angreifer an schlecht einsehbaren Stellen Tunnel gegraben oder die Wand erklettert und Zutritt über einen Kanalisationsschacht gefunden hatten. Im Schutz der Nacht oder an einem nebligen Morgen konnten dann drei, vier Feinde unbemerkt eindringen, die Wächter lautlos ermorden, die Zugbrücke herablassen, und schon war die Festung gefallen.

Die wichtigste Sicherheitsmaßnahme der Burg jedoch war die Lage am Fluss. Ein zehn Schritt hoher Wehrausläufer ragte bis fast in die Mitte der Brigga, der an dieser Stelle nahezu eine Viertelmeile breit und sehr tief war. Selbst während einer Belagerung könnte die Burg ohne Schwierigkeiten mittels Booten mit Nachschub an Vorräten, Waffen und Soldaten versorgt werden. Carnaith sollte die Sicherheit in Waitharn garantieren, dem Bund der sieben Länder. Seit der Erbauung hatte es keine Revolten in dem ruhelosen Reich gegeben. Selbst die Amury verhielten sich zurzeit still.

Drei Jahre währte der Frieden nun, der in erster Linie darauf beruhte, dass es nichts zu gewinnen gab, die Burg oder die umgebende Stadt anzugreifen.

Royk lebte dort mit seiner Familie, im Schutz der hohen Wehrmauern, die ebenfalls mehr als zwölf Schritt besaßen. Solch eine lange Phase der Ruhe, das hatte er Zeit seines Lebens nie kennenlernen dürfen. Auch sein Vater, seine Geschwister und Großeltern konnten es kaum fassen – ein Leben ohne Belagerung, ohne Kampf, ohne aufständische Fürsten, die die Souveränität des Königs nicht anerkennen wollten, das war wie ein Wunder.

Ein unruhiger Gedanke erfasste Royk, während er umgeben von zwei Wächtern eine endlose Treppe hinaufstieg, um im südwestlichen Turm zu seiner Audienz mit dem König zu gelangen. Vielleicht war der Frieden in Gefahr? Vielleicht wurde er herbeigeholt, um den Einberufungsbefehl … Nein, das war Unsinn. Würden Männer für den Kampf gesucht, dann wäre er als Maurermeister gewiss nicht der Erste, dem man es erzählte. Er war mitverantwortlich für dieses Bollwerk des Friedens. Für den weißgetünchten Stein, über den er beim Aufstieg seine Finger gleiten ließ. Aus den Gruben des Stai’har war der grau-weiße Granit herangeschafft worden, hunderte Meilen entfernt, da er die beste Qualität besaß. Viel bessere als das örtliche Gestein, und das war alles, was König Liarg interessiert hatte. Weder Kosten noch Mühen waren gescheut worden, da kümmerte es kaum, dass hunderte Schiffsladungen Baustoffe über den Fluss herangeschafft werden mussten.

All das finanzierte der König mit Steuern. Abgaben auf Fisch hatte er erhoben, darum scherzte man gelegentlich in den Gassen und Tavernen, Carnaith wäre aus Schuppen erbaut worden. Dabei wog die Metallsteuer deutlich höher – jedes Stück Eisen, jeder einzelne Nagel, jedes Werkzeug brachte Gold in die Truhen des Königs. Man fluchte, man schimpfte, viele Handwerker jammerten. Dennoch wurde gezahlt. Der Frieden kannte keinen Preis und sie liebten ihren König dafür, dass er ihnen Frieden geschenkt hatte. Keinem seiner Vorgänger war das jemals gelungen.

Die Wächter übergaben ihn einem anderen Paar schwerbewaffneter Soldaten, die die Tür des Audienzsaals hüteten. Während er dort drinnen angekündigt wurde, starrte Royk auf den mit Marmorfliesen ausgelegten Boden. Den fand man jeweils in der obersten Etage der beiden Wohntürme. Dort, wo der König arbeitete und mit seiner Familie lebte, sowie man einige Gasträume fand, wo bei Gelegenheit besonders edle und wertgeschätzte Besucher einquartiert wurden. Royk hatte an diesen Fliesen mitgearbeitet und suchte diese winzige Stelle, die man ausschließlich dann entdeckte, wenn man wusste, was man suchte – ja, da war sie. Ein Einschluss im Stein, der fast wie eine Blase aussah. Ein kleiner Fehler. Normalerweise hätte diese Fliese nicht verwendet werden dürfen, doch der Zeitdruck war enorm gewesen, darum hatte sein Vater ihn angewiesen, die Perfektion ausnahmsweise zu vergessen und die fehlerhafte Platte an eine unauffällige Stelle neben der Tür einzusetzen.

Es lenkte ihn von seiner sorgenvollen Aufregung ab, sich auf solche Nebensächlichkeiten zu fokussieren und er konnte auf diese Weise den Kopf tief gesenkt halten. Der verbliebene Wächter ignorierte ihn zwar, aber Royk wollte auch gar nicht riskieren, dass der gepanzerte Hüne ihn bemerkte.

Ob er wohl tatsächlich in den Norden geschickt werden würde? Lieber wollte er hierbleiben. Sein Vater wurde langsam alt. Die harte Arbeit forderte ihren Tribut. Tayk und Connar, Royks ältere Brüder, hatten ihre eigenen Familien gegründet und waren fortgezogen, wie es nach der Heirat traditionell üblich war. Es lag an ihm, den Vater im Alter zu versorgen, so war es ausgemacht. Das Recht auf Heirat und eigene Kinder wurde in den Handwerkerfamilien ausgehandelt, es war nicht unbedingt der Älteste, der verzichten musste. Da gab es hunderte Traditionen und Gepflogenheiten … Gerade dann, wenn man in der Königsstadt lebte und darum bloß geringe Chancen auf Frieden und hohes Alter hatte. Er war freiwillig bereit gewesen, zu verzichten, und es machte ihm nichts aus. Die Töchter der infrage kommenden Familien wurden wie Juwelen gehütet. Man hörte und sah sie nie, sobald sie die Reife erreicht hatten. Während seine Brüder es gut und richtig gefunden hatten, eine Braut übergeben zu bekommen, die sie nie zuvor auch nur ein einziges Mal gesehen hatten, viel Zeit und Geld für die entsprechenden Verhandlungen aufgewandt werden musste und nach der Heirat ein Fortzug ins Ungewisse, in ein völlig neues Leben anstand, war Royk ganz zufrieden damit, unveränderlich dort zu bleiben, wo er seit seiner Geburt gelebt hatte, im Haus seines Vaters.

Die Flügeltür öffnete sich.

„Tritt ein“, grollte der Wächter. Royk hielt den Blick tief gesenkt, achtete streng darauf, keinen der Männer versehentlich zu streifen, als er sie passierte. Er hatte schlechte Erfahrung mit dieser Sorte gemacht. Soldaten blickten verächtlich auf das einfache Volk herab. Vielleicht noch nicht einmal so sehr wie die Adligen, aber die ließen es sich weniger anmerken. Royk hatte jedenfalls schon aus geringeren Anlässen als eine unabsichtliche Berührung einen Fausthieb von den Wächtern erhalten. Natürlich würde ihm auf dem Weg hinein nichts geschehen, doch irgendwann würde er diesen Raum schließlich wieder verlassen.

Der Audienzsaal war hell, lichtdurchflutet. Die schützenden Fensterläden, die im Winter überlebenswichtig waren, um die bittere Kälte draußen zu halten, waren abgenommen und beiseitegestellt worden. Von allen Seiten strömte die warme Frühsommerwärme herein und dennoch war noch ein Hauch der winterlichen Kälte zu spüren, die im Gestein nistete. Es wurde nachts noch zu kühl, erst in einigen Wochen würde es heiß genug sein, um sich nach dieser Kälte zu sehnen. Dennoch gab es keinen Zweifel, dass der Siegeszug des Sommers unmittelbar bevorstand. Sämtliche Bäume standen in sattem Grün, die Feldfrüchte reiften, die Blumen auf den Wiesen vor der Stadtmauer leuchteten. Selbst hier oben hörte man das Lärmen der Jungvögel, Insekten waren allgegenwärtig. Er hörte Fliegen, die sich um die Reste einer Mahlzeit versammelt hatten. Eine Schale, die am Rand auf dem wuchtigen Holztisch stand, der den Raum beherrschte. Zwölf hohe Lehnstühle umgaben diesen Tisch. Sie waren bis auf zwei leer. An der Stirnseite thronte König Liarg, der ihm mit ausdrucksloser Miene entgegenblickte, lediglich mit einem schmalen, edelsteinbesetzten Eisenreif auf der Stirn geschmückt. Zu seiner Rechten saß Echart, der Hohepriester des Reiches. Ein fetter alter Mann, bartlos, mit kahlem Kopf und prächtiger Robe in traditionell-feurigem Rot.

Royk trat langsamen Schrittes näher, bis er das Gefühl hatte, dass es genügte, um sich mühelos unterhalten zu können. Er wollte den hohen Herrschaften seine minderwertige Gegenwart nicht zu dicht aufdrängen. Darum ging er dort, wo er stand, auf die Knie, beugte den Kopf und legte die rechte Hand offen auf das Herz.

„Mein König“, sagte er laut. „Möge das Feuer Aos ewig über Euch lodern.“

„Erhebe dich“, entgegnete König Liarg leise. Er war ein harter, zäher Mann in seinen Mittvierzigern, ein Krieger von Kopf bis Fuß, Sieger in zahllosen Schlachten. Jeden Tag unterwarf er sich harten Übungen an Pferd, Pfeil und Bogen, Schwert und Faustkampf. Im Morgengrauen stand er auf, gleichgültig, wie spät er in der Nacht zuvor ins Bett gegangen war, weil endlose Beratungen und Verhandlungen ihn aufgehalten hatten. Sein Bart war eisgrau, das Haupthaar hingegen noch größtenteils von dunklem Blond und streng zurückgebunden. Auch seine Kleidung war streng und schlicht. Auf Schmuck verzichtete er, von dem Stirnreif und einem Siegelring abgesehen. König Liarg forderte viel von seinem Volk. Zugleich gab er alles, was er an Kräften zu bieten hatte, um es zu beschützen und ihm zu dienen.

„Royk ist dein Name, ja?“, fragte er knapp. Auf das bestätigende Nicken hin fuhr er fort: „Du bist Maurergeselle in der Stadt, hat man mir erzählt. Sicherlich hast du an dieser Burg mitgearbeitet?“

„Ja, das stimmt, Herr.“ Royk starrte zu Boden und kämpfte um eiserne Selbstbeherrschung. Also doch. Ein Arbeitsauftrag. Ganz bestimmt würde er in den Norden geschickt werden!

„Erklärt ihm, worum es geht, Echart“, befahl König Liarg, während er sich selbst erhob, zu einem der Fenster schritt und in die Ferne blickte. Es geschah nicht oft, dass er einem Fremden den Rücken zuwandte, soweit Royk gehört hatte, zumal sich im Audienzsaal selbst kein Wächter befand. Er musste ihn als vollkommen unwichtig und ungefährlich einschätzen, was gut war. Zugleich schöpfte Royk Hoffnung. Wenn der Hohepriester das Bauvorhaben erklären sollte, ging es vielleicht um einen neuen Tempel zu Ehren des Feuergottes, oder der großen Erdgöttin. Das sollte ihn wohl nicht zu weit von zu Hause fortführen.

„Heiliger Vater.“ Royk verneigte sich tief und verharrte in der unbequemen Haltung, bis Echart ein Grunzen ausstieß und ihm damit signalisierte, sich aufzurichten.

„Man versicherte, du seist ein gottesfürchtiger Mann, der keinen Gottesdienst versäumt“, begann der Alte. Seine kratzige, hohe Greisenstimme ließ noch immer erahnen, mit welcher Kraft Echart einst vor der Gemeinde gestanden und gepredigt hatte.

„Mein Leben ist in Aos Klauen“, entgegnete Royk und fasste sich an die Brust. „Ao wird in meiner Familie hoch geehrt.“ Der Feuer- und Sonnengott, der die Gestalt eines Phönix‘ annahm, wurde in allen sieben Ländern von Waitharn angebetet. Ianna, die Erdgöttin wurde zumeist leiser bedacht, da sie sich den Menschen nie selbst zeigte.

„Gut, sehr gut. Genauso wurde es uns zugetragen, als wir nach einem geeigneten Mann fragen ließen“, murmelte Echart hörbar zufrieden. Verwirrt schaute Royk auf, begegnete für einen Wimperschlag dem Blick des alten Priesters. Dann wurde ihm bewusst, was er da tat und starrte rasch zurück zu Boden. „Als ehrfürchtiger, gläubiger Mann fällt es dir sicherlich nicht schwer zu begreifen, was ich dir jetzt enthüllen werde: Bei dem Erdbeben, das vorgestern zu spüren war und hier bei uns lediglich einige Tonschalen aus den Regalen fallen ließ, ist wesentlich Schlimmeres in den Bergen geschehen.“

Royk benötigte einen kurzen Moment, um die Worte für sich umzusetzen. Das Erdbeben war schon durchaus etwas heftiger als bloß ein kleiner Ruck gewesen. Es hatte Tote gegeben, mancherorts waren Feuer ausgebrochen. Dass nicht die halbe Stadt deswegen abgefackelt war, lag zum einen daran, dass es am helllichten Tag geschah und die Feuer sofort bekämpft werden konnten, zum anderen hatte es heftig geregnet und somit die Ausbreitung eingedämmt. Die Berge hingegen … Er blickte aus einem der offenen Fenster nach Südwesten, in dieselbe Richtung, in die auch der König schaute. Jenseits der Brigga, des großen Flusses, erhob sich eine mittelhohe Gebirgskette. Dort, etwa dreißig Meilen von Carnaith entfernt, befand sich das größte Heiligtum des Reiches. Sollte da etwas geschehen sein, das wäre eine kaum vorstellbare Katastrophe!

„Ich sehe an deinem Gesicht, dass du die Tragweite meiner Worte erfassen konntest, Royk“, sagte Echart. „Das ist wichtig, denn ja, das Unvorstellbare ist geschehen. Das Beben hat die Brücke von Aona zerstört. Sie muss bis zur Sommersonnenwende unbedingt und um jeden Preis wieder errichtet werden! Was uns sonst droht, das … das kann nicht einmal in Worte gefasst werden. Nun liegt die Brücke bereits in dem Bereich, der von Sterblichen nicht mehr betreten werden darf. Darum haben wir Priester Ao um eine Vision angefleht, und sie wurde uns gewährt. Zwei Männern wird es gestattet, Aonas Brücke zu betreten. Ausschließlich zwei. Wir haben uns umgehört, wer von den Handwerkern, die in Frage kommen, durch tadellosen Ruf, Charakter, Geschick und Frömmigkeit hervorsticht und der Priester deines Viertels hat für dich gesprochen. Er betonte, dass du ein besonnener Mann bist. Besonnenheit ist die wichtigste Eigenschaft von allen.“

Die Art, wie der Priester seine Worte formulierte, drang durch den Rausch der Freude und Aufregung. Konnte es wirklich sein, dass er auserwählt worden war, am großen Heiligtum von Aona zu arbeiten? So etwas widerfuhr einem Menschen höchstens ein einziges Mal in seinem Leben! Es wäre unendliche Gnade, eine unfassbare Ehre!

Aber was war mit Besonnenheit gemeint? War sein handwerkliches Geschick nicht so viel wichtiger?

„Ganz recht, Besonnenheit ist deine wertvollste Münze, Royk, und der Grund, warum wir uns für dich entschieden haben. Denn die Vision war eindeutig, dass nur einer der Männer aus unserem Volk stammen darf. Der zweite muss ein Amury sein.“

„Bist du dazu in der Lage?“, fragte König Liarg scharf und wandte sich zu ihm um. „Bist du in der Lage, Hass und Zorn zu vergessen? Alles beiseite zu drängen, was uns von den Amury trennt, um gemeinsam mit einem der ihren darum zu kämpfen, dass das Heiligtum von Aona rechtzeitig wieder heil wird? Sag es sofort, wenn du es nicht kannst, dann verschwenden wir keine weitere Zeit mit dir!“

Royk stand wie erstarrt. Als Kind war er einmal im Winter durch das Eis gebrochen, das sich auf der Brigga gebildet hatte und nur weil er sich an der Kante festklammern und um sein Leben brüllen konnte, wurde er von der Strömung nicht unter Wasser gezogen. Es wäre sein Tod gewesen. Nie würde er die unglaublich grausame Kälte vergessen. Die endlose Zeit, die es gedauert hatte, bis seine Brüder seine Not bemerkten und ihn retten konnten. Es hatte keine zwanzig Herzschläge gedauert, bis sie bei ihm waren, und es hätte kein einziger mehr sein dürfen, sonst wäre ihm die Kraft ausgegangen, sich noch länger zu halten. Ungefähr so wie damals fühlte er sich jetzt gerade auch. Als wäre er zurück im Eiswasser der Brigga, als würde eine gnadenlose Strömung an seinem Körper reißen und ihn fortzuschwemmen drohen, ihn mitziehen wollen, unter das Eis, in die Dunkelheit und den sicheren Tod hinein. Er konnte, er wollte nicht Seite an Seite mit einem Amury stehen!

Doch er wollte, er musste diesen Auftrag haben. Für den Lohn, Aonas Brücke betreten, das Heiligtum mit eigenen Augen zu erblicken und die Schäden des Erdbebens beseitigen zu dürfen, würde er alles ertragen. Selbst einen Amury!

Darum bezwang er sich, was mindestens so hart war, wie sich an einer scharfkantigen Eisfläche festzuklammern, neigte den Kopf, presste die rechte Hand gegen das Herz.

„Mein König, Ihr habt Euch nicht in mir geirrt!“, sagte er mit fester Stimme. „Ihr wurdet nicht über meinen Charakter getäuscht. Ich bin besonnen genug, um meine Gefühle zu kontrollieren. Ohne das Heiligtum kann unsere Welt nicht bestehen. Darum werde ich tun, was immer notwendig ist. Verfügt über mich, mein König!“

„Das werde ich, Royk. Genau das werde ich tun.“

Er war sich nicht sicher, ob dies ein feierliches Versprechen oder eine Drohung sein sollte. Der Tonfall war jedenfalls nicht eindeutig. Als er den Blick hochflattern ließ, begegnete ihm Entschlossenheit. Eines war gewiss: Sollte die Rettung Aonas scheitern, würde nicht König Liarg ihn dafür zur Verantwortung ziehen, denn sie würden allesamt sterben. Ihre Welt untergehen.

Nun, es war ganz einfach: Royk würde nicht scheitern. Er wusste selbst, was hier auf dem Spiel stand.

 

 

„Hast du das alles verstanden?“

„Das habe ich, mein Fürst. Ihr könnt Euch auf mich verlassen.“ Tasani verneigte sich tief vor Fürst Zechonté. Nichts an diesem Auftrag behagte ihm. Das Heiligtum des Feuergottes betreten – das war undenkbar, den Menschen verboten! In weniger als zwei Wochen den Schaden richten, den das Erdbeben verursacht hatte, dabei möglicherweise von Folgebeben getroffen und umherfliegenden Felsbrocken erschlagen zu werden, das war keineswegs der Tod, den er für sich selbst vor Augen hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---