2,99 €
Sehend sind die, die mit Liebe die Welt betrachten und aus vollem Herzen leben. Die Welt von Sam steht Kopf, als ein kleiner Kobold in Form seiner Nachbarin in sein Leben tritt. Mit einer gehörigen Portion Humor, gnadenloser Offenheit sowie einem Geheimnis, weckte Emily nicht nur Sams Beschützerinstinkte. Er liebt seinen Job bei der GSG 9. Daneben gibt es in seinem Leben, nur noch Platz für seine temperamentvolle Familie. Aber ehe Sam sich versieht, steckt er mittendrin in einer Beziehung, die auf keinen Fall mehr sein soll als Freundschaft. Wenigstens eine Sache in der sich er und Emily einig sind. Wäre da nicht die Komposition der Melodie des Lebens, die neben Moll und Dur, auch noch so einige andere Zwischentöne parat hat. Gibt es am Ende ein gemeinsames Lied für Sam und Emily?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Copyright @ Kerstin Rachfahl, Heiligenhaus 21, Hallenberg
Lektorat: Martina Takacs, www.dualect.de
Schlusskorrektur: Anke Schlachter
Coverdesign: @sirjotajota
Blog der Autorin: www.kerstin-rachfahl.de
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte einschließlich des Rechts auf vollständigen oder teilweisen Nachdruck in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Mehr zu der Entstehung meiner Romane erfährst du auf meinem Autorenblog.
Deutsche Erstausgabe Dezember 2015
Copyright © 2015 Kerstin Rachfahl, Hallenberg
Lektorat: Martina Takacs
Korrektorat: Anke Schlachter
Umschlaggestaltung: @sirjotajota über 99 Designs
Kerstin Rachfahl
Heiligenhaus 21
59969 Hallenberg
E-Mail: [email protected]
Webseite: www.kerstinrachfahl.de
Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Vorwort
1. Kobold
2. Katja
3. Speedy
4. Tamara
5. Viola
6. Sophia
7. Emily
8. Laura
9. Sam
10. Emilia
Leseprobe
Nachwort
Bücher von Kerstin Rachfahl
Über die Autorin
Liebe kannst du weder erzwingen noch planen. Sie trifft dich vollkommen überraschend, und dann weißt du instinktiv, dass du es wenigstens versuchen musst.
Normalerweise verfasse ich kein Vorwort zu meinen Geschichten, und keine Angst – dieses ist nicht lang und auch keine Dankesrede.
Als ich anfing, »Im Netz der NSA« zu schreiben, meinen Thriller über Tamara Baumann, die IT-Security-Expertin, gab ich ihr zwei Brüder an die Seite: Samuel Roberto Maria Baumann und Jonas Baumann. Während Jo Tamaras Freundin Jessica Fiedler zur Frau bekam, ging Sam in der Geschichte leer aus. Anders konnte es auch gar nicht sein, denn so ist er nun mal; langfristige Beziehungen sind nichts für ihn.
Beim Schreiben des Romans verliebte ich mich in Sam. Auch nachdem ich das Buch beendet hatte, ließ er mich einfach nicht los. Ständig schlich er sich in meine Gedanken, denn eigentlich wollte auch er jemanden lieben, nur konnte er es einfach nicht.
Beim Joggen dachte ich häufig an Sam und hörte dabei meine Musik. Zu der Zeit hatte ich ein Lieblingslied: Dangerous von Sam Martin, besser bekannt aus dem Mix von David Guetta. Von dem Original gibt es eine supergeniale Piano-Version. Ich liebe den Klang eines gut gespielten Klaviers, diese Dynamik und die Leidenschaft, die man durch eine sensible Anschlagtechnik zum Ausdruck bringen kann. Und dann sah ich sie vor mir! Emily.
Ich musste wirklich abrupt die Bremse reinhauen und erst einmal tief durchatmen. – Emily hat sich darüber ganz schön schlapp gelacht, weil sie einfach ein sehr humorvoller Mensch ist.
Aber ist sie am Ende wirklich die Richtige für Sam und kann Sam seine Beziehungsangst überwinden? Finde es heraus in dieser Geschichte. Sam trefft ihr auch nochmal in der Sondereinheit Themis, genauso wie TJ und Tamara.
Und nun viel Spaß mit Sam und Emily.
Umständlich fummelte Sam den Haustürschlüssel aus der Hosentasche. Jede Verlagerung des Seesacks auf seiner Schulter jagte ihm Schmerzen durch die vom Trainingslager beanspruchten Muskeln. Mit leisem Stöhnen trat er schließlich durch die Haustür in den Flur des Mietshauses.
Er starrte auf den Aufzug.
Insgesamt gab es sechs Etagen mit je zwei Wohnungen, immer einer auf der linken und einer auf der rechten Seite des Gebäudes. Seine lag im vierten Stock.
Nur dieses eine Mal! Nur heute würde er den Aufzug nehmen. Immerhin hatte er in den zwei Wochen im Trainingslager wirklich alles gegeben. Im Endwettkampf der Spezialeinheiten hatte seine Gruppe den ersten Platz erreicht. Dafür würde er jeden Muskelkater ertragen. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Sie hatten nicht nur das KSK-Team, sondern auch gleich das Team der Navy Seals hinter sich gelassen. Sollte noch mal jemand eine dicke Lippe darüber riskieren, die GSG 9 könne nicht mit den militärischen Eliteeinheiten mithalten ...
Während er schon die Hand ausstreckte, um den Fahrstuhl zu rufen, hörte er im Kopf die Stimme seiner Schwester Tamara: Ha, du Machorambo! Zu schlapp, um die paar Treppen zu schaffen? Wusst’ ich doch, dass mein Bruder ein echtes Weichei ist.
Scheiße! Warum musste er sie auch immer ärgern! Andererseits würde sie es nie erfahren. Er seufzte abgrundtief. Im Grunde war es ja gar nicht seine Schwester, die zu ihm sprach; ihre Kritik war vielmehr eine Taktik, die er sich jahrelang antrainiert hatte, um seinen inneren Schweinehund zu bekämpfen, und die nun gnadenlos zuschlug. Ein letzter sehnsüchtiger Blick auf den Schalter des Aufzugs, dann biss er die Zähne zusammen und öffnete die Tür zum Treppenhaus. Er drückte auf den Lichtschalter und arbeitete sich in gefühltem Schneckentempo die ersten zwei Stockwerke hoch. Schon die Hälfte geschafft, motivierte er sich innerlich.
»Hi!«
Seine Reflexe reagierten schneller als sein Hirn. Der Seesack rutschte von der Schulter, die rechte Hand schnellte zur Waffe. Es dauerte keinen Atemzug, und er hatte die Stelle, von der die Stimme kam, im Visier.
Er ließ die Hand wieder sinken. Vor ihm saß ein kleiner grüner Kobold, oder zumindest war das der erste Begriff, der ihm zu dem Wesen einfiel, das auf halber Höhe zum Absatz vor der dritten Etage auf der Treppe hockte.
»Entschuldigung. Ich wollte dich nicht erschrecken. Du bist Samuel Baumann, stimmts?«
»Ja«, antwortete er einsilbig.
Während er die Waffe wieder in das Holster zurückschob, nahm er sämtliche visuellen Eindrücke auf. Der Kobold saß auf den Stufen, an den Füßen Flipflops. Und eigentlich war er eine junge Frau. Sie trug ein giftgrünes Longshirt mit leuchtend orangefarbenem Aufdruck: I can see you! Eine weite Stoffhose in Braun mit quietschgelben Längsstreifen vollendete ihr schrilles Outfit. Schwarze, lockige Haare umrahmten ein zartes, rundes Puppengesicht und reichten bis knapp über ihre Schultern. Die vorderen Strähnen waren zum Hinterkopf geführt und so gebändigt, dass ihr die Haare vorn nicht ins Gesicht hingen. Eine Stupsnase gab ihrer Miene einen vorwitzigen Ausdruck, und das energische Kinn zeugte von Eigensinn. Das Dominanteste an der Erscheinung jedoch war die Sonnenbrille mit überdimensionalen, runden, gespiegelten Gläsern, in denen er sich selbst sah. Sie verlieh ihr etwas Insektenhaftes.
»Warum läufst du die Treppe rauf, anstatt den Fahrstuhl zu nehmen?« Es war eine Stimme mit einem warmen Timbre, durch die pure Neugierde perlte.
»Vielleicht, weil es sich nicht lohnt, den Fahrstuhl zu benutzen.«
»Also, ab dem dritten Stock ist es in jedem Fall schneller, und da du im vierten wohnst ...« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich kann dich ja verstehen, ich nehme ja auch immer die Treppe, damit ich in Übung bleibe, aber du hörst dich ziemlich fertig an. Ehrlich gesagt stöhnst du, als würdest du jeden Augenblick zusammenbrechen.«
Er runzelte die Stirn. Sie kannte seinen Namen und wusste, in welcher Etage er wohnte. Sie duzte ihn einfach, als würden sie sich seit Jahren kennen oder als wollte sie eine Vertrauensbasis zwischen ihnen schaffen. Wäre die Figur vor ihm nicht so lächerlich gewesen – er hätte die Waffe wieder hervorgeholt. »Und du? Wieso sitzt du im Dunkeln im Treppenhaus? Noch dazu mit einer Sonnenbrille auf der Nase?«
Die Koboldfrau streckte die Hand aus. Ihre Finger waren außergewöhnlich lang und schlank, was ihm sofort ins Auge fiel.
»Ich bin Emily Lehmann und bin vorgestern in die leere Wohnung gegenüber von dir gezogen. Wir sind also Nachbarn. Es ist immer gut zu wissen, wer nebenan wohnt. Der Vermieter sagte mir, du würdest bei der Polizei arbeiten.«
»Aha. Ein Bild von mir hat er dir wohl auch gezeigt?«
Er ergriff die Hand, erstaunt darüber, wie fest sie zupackte. Nur wenige Menschen hatten so muskulöse Finger.
»Nein, wieso sollte er?«
»Woher weißt du dann, dass ich derjenige bin?«
Ein schelmisches Grinsen huschte ihr übers Gesicht. »Och, das ist eigentlich ganz simpel. Seit ich hier wohne, bin ich hier oben noch niemandem im Treppenhaus begegnet. Du musst mindestens im dritten Stock wohnen, sonst wärst du nicht nach dem zweiten weitergegangen. Du quälst dich hier hoch, statt den Aufzug zu benutzen, und da der Vermieter sagte, dass du im Einsatz bist ... Also wenn man eins und eins zusammenzählt ...«
»Okay, das klingt logisch. Aber du hast mir meine vorletzte Frage noch nicht beantwortet. Wieso sitzt du im Dunkeln im Treppenhaus? Ich habe nämlich niemanden mit Flipflops die Treppe hoch- oder runtersteigen hören, seit ich unten Licht gemacht habe.«
Das Licht ging aus. Er fluchte leise, tastete sich die Wand entlang, stolperte dabei über seinen Seesack und konnte den Sturz erst in letzter Sekunde aufhalten. Er drückte den Schalter und wandte sich wieder der Gestalt zu, die mit leicht schräg gelegtem Kopf zu lauschen schien. Langsam fing er an, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Er sah die Riemen einer Handtasche, die sich in einer Ranke des schmiedeeisernen Treppengeländers verfangen hatten und jetzt abgerissen auf die dritte Stufe herunterhingen. Er sah auch eine rote Spur, die das schmale Fußgelenk herab bis zum Knöchel lief und darunter in einer winzigen Pfütze auf den Fliesen endete.
»Du blutest.«
»Ist nicht so schlimm.«
»Darf ich mal sehen?«
»Lass mal, ich warte nur noch einen kleinen Moment, bis ich weiter die Treppe raufsteige. Geh einfach an mir vorbei. Oder versperre ich dir den Weg?«
»Nein, du sitzt ja schon ganz am Rand.« Er hob den Seesack auf, lehnte ihn an das Treppengeländer, nahm die vier Stufen in zwei Schritten und ging in die Knie, sodass er vor ihr hockte. »Darf ich?«
Sie seufzte genervt, was ihm ein Schmunzeln entlockte, weil es ihn an seine Schwester erinnerte. Die konnte es auch nie leiden, wenn man sie ihrer Meinung nach bemutterte.
»Wenn du es nicht lassen kannst.«
Vorsichtig rollte er das Hosenbein hoch. Was ihm zuerst auffiel, waren die blauen Flecken am Schienbein. Die Platzwunde am Knie blutete zwar, war aber nicht so tief, dass sie hätte genäht werden müssen. Ein paar Klammerpflaster würden reichen. »Wir nehmen wohl doch besser den Aufzug für die beiden letzten Etagen. Kannst du gehen oder soll ich dich zum Fahrstuhl tragen?«
»Ich bin blind, nicht gehbehindert!«
Sie duftete nach frischen Rosen, was im Kontrast zu ihren Klamotten stand, dafür aber zu dem Puppengesicht passte.
»Na dann auf.« Instinktiv unterdrückte er den Reflex, sie am Arm zu greifen und ihr hochzuhelfen. Ihre Hand ging tastend zum Treppengeländer und hoch bis zum Handlauf. Nur das gesunde Bein belastend zog sie sich hoch.
»Dieses blöde schmiedeeiserne Gitter! Ständig bleibe ich daran hängen!«, schimpfte sie, presste dann die Lippen fest zusammen, während sie den Flipflop von dem verletzten Bein abstreifte.
Vorsorglich blieb er bei ihr stehen, sodass er sie jederzeit auffangen konnte, falls sie stolperte. Es wäre wesentlich einfacher gewesen, sie auf den Arm zu nehmen oder wenigstens abzustützen.
Nach der ersten Stufe ließ sie sich zurück auf die Treppe fallen und rutschte die restlichen Stufen auf dem Hintern hinunter. Auf dem Absatz der zweiten Etage richtete sie sich erneut nur auf dem gesunden Bein auf. Das Knie musste eine kräftige Prellung abbekommen haben. Kein Wunder bei den harten Steinfliesen.
Nach der Aktion standen ihr Schweißperlen auf der Stirn. Zögernd ließ sie den Handlauf los und drehte sich erstaunlich zielgerichtet zur Treppenhaustür. Sie machte den ersten Hopser auf einem Bein mit Flipflop.
Sam riss der Geduldsfaden. Er legte ihr den Arm um die Taille, ohne auf ihren Protest zu achten, der ihren ganzen Körper steif werden ließ. Da sie keine Anstalten machte, sich an ihm festzuhalten, zog er sich ihren Arm über eine Schulter. Sie war nur ein paar Zentimeter kleiner als er. Entrüstet wollte sie sich aus seinem Griff drehen, doch er hielt sie fest. Er wusste, wie er mit dickköpfigen Frauen umgehen musste.
»Am besten schluckst du jeden Spruch runter, der dir auf der Zunge liegt. Entweder so, oder du wirst getragen, verstanden?«
»Erteilst du immer Befehle?«
»Ja. Vor allem bei sturköpfigen Kobolden.«
»Kobolden? Moment. Warte.«
Den verletzten Fuß belastend, zog sie den anderen Flipflop auch aus. Bei jeder Belastung des lädierten Beins stützte sie sich bei ihm ab. Es musste richtig wehtun, aber kein Laut kam über ihre Lippen.
Mit den Ellenbogen öffnete er die Flurtür, führte sie zum Aufzug und positionierte sie so, dass sie sich an der Wand abstützen konnte. »Warten und keine Dummheiten veranstalten!«
»Was hast du vor?«
»Meine Sachen holen – und deine Handtasche.«
Kaum war er zurück, öffnete sich auch schon die Aufzugtür. Sicherheitshalber blockierte er sie mit dem Seesack und half ihr in die Kabine. Genauso handhabte er es auch beim Ausstieg in der vierten Etage.
Sie wartete nicht auf ihn, sondern hüpfte, sich an der Wand abstützend, auf einem Bein in Richtung ihrer Wohnungstür.
Was für ein Sturkopf! Er kramte in ihrer Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel. An der Tür angekommen, schloss er für sie auf.
»Danke fürs Helfen«, presste sie heraus.
Was ich durchaus auch alleine hinbekommen hätte, hörte er sie förmlich in Gedanken hinzufügen. Genauso wenig würde er sich von ihr abwimmeln lassen.
»Den Rest schaff ich allein. Stell die Handtasche einfach auf der Kommode ab.«
»Klar. Ich bring meine Sachen nur eben weg und hol das Verbandszeug, dann versorge ich dir die Platzwunde.«
»Vielen Dank, aber ...« Den Rest hörte er nicht mehr, weil er in seiner Wohnung war, bevor sie weiter protestieren konnte. Ihren Schlüssel hatte er behalten.
Er hatte rasch geduscht. Weil er es vom Trainingslager her gewohnt war, dass zig andere ungeduldig auf die Freigabe der Dusche warteten, war er in weniger als vier Minuten fertig.
In ihrer Wohnung war es dunkel. Er drückte den Lichtschalter. Es standen nur wenige Möbel im kombinierten Wohn- und Esszimmer. Weder gab es Bilder an den Wänden noch Regale mit Büchern. Genauso wenig existierte irgendeine Form von Nippes, der hätte Staub fangen können. Dafür standen Blumentöpfe auf den Fensterbänken – Orchideen, Farne, Usambaraveilchen und andere Blattsukkulenten, die er nicht identifizieren konnte, die aber dem Raum eine gewisse Lebendigkeit verliehen. Von der Wohnungstür bis zur Küche, in der sein Kobold stand, waren in regelmäßigen Abständen Blutstropfen auf dem Boden verteilt. Sie stand vor der Spüle auf dem gesunden Bein, hielt ein feuchtes Küchenpapier in der Hand und versuchte das verletzte Bein zu säubern.
»Finger weg!«, rief er.
Sie richtete sich auf. »Du hast mir meinen Schlüssel geklaut.«
Auf den Esstisch stellte er, was er mitgebracht hatte: das Desinfektionsspray, die Jodsalbe, feste Watte zum Säubern der Wunde und die Klammerpflaster. Da er wusste, dass es über das weitere Vorgehen sowieso eine Diskussion geben würde, hob er sie kurzerhand hoch und setzte sie neben den Sachen auf den Esstisch. Dann zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich vor sie. Er hob ihren Fuß auf seinen Oberschenkel.
»Aua!«, fluchte sie verhalten, als der Hosenstoff das Knie berührte. »Bist du immer so penetrant nervig und versuchst deinen Willen durchzusetzen?«
»Ja. Gewöhn dich besser daran. Die Wunde muss ordentlich versorgt werden, damit sie sich nicht entzündet, oder soll ich dich ins Krankenhaus fahren?«
Damit brachte er sie tatsächlich zum Schweigen. Das ging leichter als gedacht.
»Zieh die Hose lieber aus. Sie stört nur beim Verarzten. Und gleich legst du dich direkt hin. Dein verletztes Bein braucht Ruhe.«
Sie rührte sich nicht. Er grinste. Schien, als wäre sein Kobold ein bisschen schüchtern. »Ich bin Polizist, und außerdem habe ich eine kleine Schwester. Es gibt also nichts, was ich nicht schon gesehen hätte. Du kannst ruhig deine Hose ausziehen, oder soll ich dir helfen?«
»Untersteh dich!«
Die Pluderhose besaß nur ein Gummiband an der Taille. Tapfer begann sie, sie herunterzuziehen, setzte dabei den zweiten Fuß auf seinen anderen Oberschenkel, stützte sich ab und schob sich die Hose unter dem Po durch. Das unverletzte Bein zog sie zuerst aus dem Hosenbein heraus, und Sam fing den Fuß gerade noch rechtzeitig mit der Hand ab, bevor sie ihn mit Schwung auf einer empfindlichen Stelle absetzen konnte.
»Huch! Tut mir leid, das war keine Absicht.«
»Keine Sorge, kleiner Kobold. Es ist nichts passiert. Aber lass das mit dem anderen Bein lieber mich machen.«
Sie zögerte kurz. Dann gab sie nach. Vorsichtig rollte er die Hose am Oberschenkel zusammen, führte den Stoff über das Knie und weiter runter bis über den Fuß.
Er nahm reichlich Watte, sprühte die Wunde und die umliegende Fläche großzügig mit Wundspray ein und säuberte den ganzen Bereich. Mit den Klammerpflastern zog er die Haut zusammen. Er verteilte Jodsalbe auf dem Wundbereich und bedeckte zuletzt die Verletzung mit einem Wundpflaster. Das gesamte Knie, sowohl vorne als auch hinten, schmierte er mit Pferdesalbe ein. Das war in seinen Augen das beste Mittel bei Prellungen. Damit die Salbe in Ruhe einziehen konnte, wickelte er zuletzt um den ganzen Bereich einen Verband, den er mit einer Klammer befestigte. Zufrieden betrachtete er sein Werk.
»So, das hätten wir erledigt. Hast du irgendwo eine Schüssel?«
»Ja, im rechten Unterschrank neben der Spüle, zweite Schublade. Links.«
Exakt dort fand er das Gesuchte. Er füllte die Schüssel mit warmem Wasser, nahm die Küchenpapierrolle mit und kehrte zu ihr zurück. Als er sich wieder setzte, folgte sein Blick unwillkürlich der Linie des wohlgeformten Unterschenkels und über das bandagierte Knie hinauf zum Oberschenkel. Ihm stockte der Atem. Sein Kobold mochte einen schlechten Stil haben, was die Klamotten betraf, aber bei der Unterwäsche verfügte die Frau über einen ausgezeichneten Geschmack. Sie trug einen schwarzen Seidenslip mit eingearbeiteter Spitze.
Als würde sie seinen Blick spüren, zog sie das T-Shirt weiter runter. »Was hast du vor mit dem Wasser?«
»Dein Bein sauber zu machen.«
Rasch konzentrierte er sich darauf, das verschmierte Blut vom Bein zu entfernen.
»Warum nennst du mich ständig Kobold?«
»Weil du so aussiehst.«
»Hmh, dann hast du eine seltsame Vorstellung von Kobolden. Weder habe ich eine Knubbelnase noch große Ohren.«
»Stimmt, aber dafür trägst du ein giftgrünes Shirt und eine braun-gelb gestreifte Hose. Zusammen mit der Brille und dem Rest – naja, eben ein echter Kobold. Fehlt nur die Mütze.«
Sie zog ihm das Bein weg. »Du lügst doch!«
»Warum sollte ich?«
»Oh nein, dieses verfluchte Miststück! Ich bring sie um!«
»Pass auf, was du sagst, sonst muss ich dich in Gewahrsam nehmen, um ein Verbrechen zu verhindern.«
»Steht auf dem Shirt was drauf?«
»Lass mal sehen.« Der Schalk saß ihm im Nacken. Er nahm den Stoffrand und zog das Oberteil glatt.
»Hey! Nicht anfassen!« Sie schlug ihm auf die Finger.
»Wie soll ich es dann lesen?«
»Blödmann! Also was steht da?«
»I – can – see – you.«
»Was?«
»Das steht auf dem Shirt.«
»Das ist doch ... Ich werde sie langsam und qualvoll umbringen!«, fauchte sie. »Diese blöde Kuh! Warum denke ich nicht auch sofort daran? Als ob sie mir schon jemals freiwillig geholfen hätte!«
»Nur so aus Interesse – falls ein weibliches Mordopfer in Form einer Akte bei mir auf dem Tisch landet. Wer ist sie?«
»Meine kleine Schwester Viola. Dieses Biest! Vermutlich hat sie mir den ganzen Schrank mit solchen Gags vollgestopft.«
»So wild ist es überhaupt nicht.«
»Ich sag nur Kobold!«
Er fing an zu lachen, weil ihre Mimik so lebhaft ihre Gefühle widerspiegelte. Verärgert verschränkte sie die Arme vor der Brust und zog die Nase kraus – etwas, das sie anscheinend häufig machte, wenn sie nachdachte oder ihr etwas missfiel. Es verpasste dem Puppengesicht ein unglaublich niedliches Aussehen.
»Ja, ja, lach du nur. Aber keine Sorge, spätestens morgen wird dir das Lachen vergehen.«
Er kannte diesen Unheil verkündenden Tonfall, der besagte, „Ich weiß, dass du tierischen Ärger bekommst“, nur allzu gut von seiner Schwester Tami. Am besten ignorierte er das. Hakte er nach, würde sie ihn nur zappeln lassen. Die meisten Menschen schafften es nicht, etwas anzudeuten und dann zu schweigen, wenn der andere nicht darauf einging. Anstatt sie also zu fragen, was sie damit meinte, nahm er die Schüssel und das besudelte Küchenpapier, schüttete das Wasser in die Spüle und warf das Papier in den Mülleimer.
»Willst du nicht wissen, warum?« Sie rutschte vorsichtig runter vom Tisch.
»Nein.«
»Wie du meinst.« Nur kurz belastete sie das verletzte Bein, sog scharf die Luft ein und presste die Lippen zusammen.
»Ab ins Bett mit dir und ausruhen! Schaffst du’s allein oder soll ich dich rübertragen?«
»Das kann ich allein.«
Natürlich. Was sonst? »Hast du noch Hunger?«
»Nein. Danke für deine Hilfe und den Verband.« Sie streckte die Hand aus. »Meinen Wohnungsschlüssel.«
Er ignorierte sie. Mit sicherem Blick fand er die Abstellkammer und kramte einen Wischmopp und einen Eimer hervor.
Sie stemmte die Hände in die Hüften und wandte den Kopf jeweils in die Richtung, in die er sich bewegte. »Was machst du da?«
»Wonach hört es sich an?«
Sie zog wieder die Nase kraus, also war das auch ein Zeichen für angestrengtes Nachdenken. »Nach einer Putzaktion.«
»Wieso fragst du dann, wenn du es weißt?«
»Hast du ein Helfersyndrom?«
»Wär ich sonst bei der Polizei?«
»Na ja, es soll ja Männer geben, die das Rumballern mögen.«
Er fing an, die Blutstropfen, die in weiten gleichmäßigen Abständen ihren Weg durch die Wohnung markierten, zu beseitigen. Dann ging er in den Flur, zum Aufzug und zuletzt runter in den zweiten Stock.
Zurück in ihrer Wohnung, packte er die Sachen wieder an genau dieselben Stellen, an denen er sie gefunden hatte. Er fragte sich, wie sie allein ohne Augenlicht die vielen alltäglichen Aufgaben im Haushalt bewältigte. Aus purer Neugierde öffnete er den Kühlschrank. Da waren ein großer Becher Joghurt, ein Liter Milch und ansonsten gähnende Leere. Etwas zu essen und der Kleiderschrank, das stand für morgen auf seinem Arbeitsplan. Bevor er ging, wollte er aber sichergehen, dass sein Kobold wirklich im Bett lag. Da ihre Wohnungen nur spiegelverkehrt und sonst genau gleich geschnitten waren, fand er ohne Probleme das Schlafzimmer. Alles war still, als er an der Tür lauschte. Leise drückte er die Klinke herunter und warf einen Blick in den Raum. Das Flurlicht schien in das Zimmer. Ihre Sonnenbrille lag auf dem Nachttisch neben einem Smartphone. Sie lag auf dem Bauch, das eine Bein angewinkelt, den Kopf halb unter das Kissen gewühlt. Er schlich näher zu dem Bett, wollte schauen, ob er unter dem Kissen das Stück vom Gesicht sehen konnte, das zuvor von der Brille verdeckt gewesen war. Anstelle der Sonnenbrille hatte sie eine Schlafmaske auf, die den Bereich um die Augenpartie abdeckte. Tief und gleichmäßig gingen ihre Atemzüge. Ein schalkhaftes Lächeln umspielte ihre Lippen und gab ihr auch im Schlaf den Touch eines Kobolds. Jedenfalls empfand er es so. Emily Lehmann. Witzig. Seine Mutter hieß Emilia.
Sturmgeläute an seiner Tür. Schlagartig war Sam wach. Er sprang aus dem Bett und zog sich hastig die Jogginghose an, bevor er zu der Sprechanlage an seiner Wohnungstür ging, um zu sehen, wer ihn so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. Die Kamera war auf den Hauseingang gerichtet, doch dort stand niemand. Er warf einen Blick durch den Spion und stöhnte leise auf. Mist, er hatte gedacht, das hätte er vor seiner Abreise endgültig geklärt. Ein weiteres Mal klingelte es – gleich mehrmals hintereinander. Die Worte seiner Nachbarin kamen ihm wieder in den Sinn. Wie blöd! Hätte er doch nachgefragt, was sie meinte, dann wäre er vorbereitet gewesen oder hätte dem Besuch aktiv entgegensteuern können. Warum musste dieser Kobold aber auch ausgerechnet zu den Menschen zählen, die die Klappe hielten, obwohl sie darauf brannten, einem etwas zu erzählen? Besser, er öffnete die Tür, bevor Katja mit ihrem Lärm das ganze Haus aufweckte.
»Hi.« Er lächelte zaghaft und fuhr sich mit den Fingern durch die verstrubbelten Haare.
»Wir müssen reden.« Sie stakste auf Stöckelschuhen an ihm vorbei in die Wohnung, schnurstracks auf die Küche zu. Der Minirock – einen Ticken zu kurz, wie er fand – gab den Blick auf ihre langen Beine frei. Zugegeben, ein aufreizender Anblick. Ihre Haare waren in einem dunklen Mahagoni gefärbt, in einem Stufenschnitt umrahmten sie ihr längliches Gesicht.
»Möchtest du einen Kaffee?«
»Ja, bitte.«
Er schaltete die Kaffeemaschine ein, füllte den Milchkanister auf und machte einen Milchkaffee für sich und einen schwarzen für sie. Die ganze Zeit fühlte er, wie ihr intensiver Blick ihm bei jeder Bewegung folgte. Kurz überlegte er, ob er ins Schlafzimmer zurückgehen und ein T-Shirt überwerfen sollte. Sein von der Arbeit durchtrainierter Oberkörper zog oft die Aufmerksamkeit von Frauen auf sich, wenn er es bei der Auswahl seiner Klamotten darauf anlegte. Heute hätte er ihn lieber verborgen, da er keine falschen Signale senden wollte, aber irgendwie wäre das albern gewesen. Immerhin kannten sie sich seit einer Ewigkeit und waren oft genug miteinander im Bett gewesen. Wenn ihn eine nackt kannte, dann Katja. Er setzte sich ihr gegenüber. Sie hatte die Jacke über die Stuhllehne gelegt, und durch die dunkelblaue, durchsichtige Bluse schimmerte der darunterliegende Spitzen-BH, sodass ihr üppiger Busen voll zur Geltung kam. Er fixierte seine Aufmerksamkeit auf ihr Gesicht. Auch dessen Vorteile waren sorgfältig in Szene gesetzt. Knallroter Lippenstift betonte ihre sinnlichen, vollen Lippen, die Nase war geschickt mit Make-up verkleinert, die dunkelblauen Augen mit Silber betont, die Wimpern künstlich verlängert und verdichtet.
Katja, die erste Eroberung seiner Jugend. Ihre Wege hatten sich immer mal wieder gekreuzt. Dummerweise war er bei der Feier zum dreißigsten Geburtstag seiner Schwester mit ihr ins Bett gestiegen. Zu dem Zeitpunkt war sie gerade frisch geschieden gewesen – von ihrem zweiten Ehemann. Schon als Teenager war sie nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, was ihm entgegengekommen war. Außerdem fand er, dass jede Frau genau wie ein Mann das Recht hatte, sich wechselnde Partner zu gönnen, wenn sie es so bevorzugte. Aus diesem Grund hatte er sich auch auf der Geburtstagsfeier keine großen Gedanken gemacht, sondern das angenommen, was ihm geboten wurde. Wenn er seitdem bei seinen Eltern zu Besuch war, schickte sie ihm oft eine SMS und fragte, ob er nicht Lust hätte, auf dem Weg zurück bei ihr vorbeizuschauen. Mit wenigen Ausnahmen hatten diese Besuche in ihrem Bett geendet.
Vor knapp drei Monaten hatte sie in Bonn vor seiner Haustür gestanden. Sie waren ausgegangen, hatten wie immer grandiosen Sex gehabt, und danach hatte sie ihm erzählt, dass sie einen Job in Bonn angenommen habe und gefragt, ob er ihr beim Umzug helfen könne.
Klar, wieso nicht? – Er war ein echter Volltrottel. In dem Moment hätten alle Alarmglocken in seinem Kopf schrillen müssen, aber stattdessen hatte er sie auf stumm geschaltet. Selber schuld, Samuel Roberto Maria Baumann, sieh gefälligst zu, wie du deinen Kopf aus der Schlinge ziehst. Das hatte er gedacht, als er endlich bereit war, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, denn das erklärte Ziel von Katja lag darin, ihm Handschellen anzulegen. Das jedoch würde nur über seine Leiche geschehen.
»Wusstest du, dass du eine Nachbarin bekommen hast? Sie war so nett, mich zu einem Kaffee einzuladen, nachdem ich stundenlang vor deiner Haustür auf dich gewartet habe. Ich war stinksauer auf dich. Du hättest mir sagen können, dass du erst abends nach Hause kommst. Das arme Mädchen ist blind. Furchtbar, so leben zu müssen.«
Er schwieg. Das war nur ein Einstieg, bevor sie zu dem eigentlichen Grund ihres Besuches kommen würde. Er dachte daran, wie der Kobold reagieren würde, wenn sie wüsste, dass jemand sie so bedauerte. Aber nun war klar, dass sie gestern wirklich diesen Besuch hatte andeuten wollen mit dem Ärger, der ihm bevorstand. Er fragte sich, was Katja ihr erzählt hatte, dass sie so sicher vorausgesehen hatte, was ihn erwartete. Katjas Finger strichen über den Tisch. Sie wich seinem Blick aus, nahm die Tasse und nippte an dem heißen Getränk.
»Warum bist du hier, Katja?«, fragte er sie ruhig. Es war nicht so, dass er der eiskalte Typ war. Normalerweise pickte er sich Frauen heraus, die genauso wie er an einer losen sexuellen Beziehung interessiert waren. Ihm hatte nie der Sinn danach gestanden, Herzen zu brechen. Im Gegenteil, genau das wollte er immer vermeiden. Hätte er Liebe in seinem Leben gewollt, dann hätte er mit Jessica etwas angefangen, der allerbesten Freundin seiner Schwester Tami. In ihrer Kindheit hatte sie mehr bei ihnen gelebt als bei ihrer Mutter. Inzwischen war sie mit Jonas, seinem jüngeren Bruder, verheiratet. Gemeinsam erwarteten sie ihr drittes Kind. Nach Luna, der Ältesten, und Tim, ihrem jüngeren Bruder, waren sie jetzt neugierig, welches Geschlecht in der Familie bald in der Überzahl wäre.
Katja atmete tief durch und sah ihm in die Augen.
Unwillkürlich zog sich sein Magen zusammen.
»Ich bin schwanger.«
Unmöglich. Das konnte nicht sein. Abgesehen davon, dass er grundsätzlich Kondome verwendete, gab es noch einen weiteren Grund, der definitiv dagegen sprach. Er hütete sich jedoch davor, es laut auszusprechen. Bei seinem Job war er darauf trainiert, mit schwierigen Situationen umzugehen.
»Im wievielten Monat?«
»Willst du nachrechnen? Was glaubst du? Dass ich mit jemand anderem geschlafen hätte? Es ist von dir, Samuel!«
Er atmete tief durch, bewahrte Ruhe. Der Fehler lag bei ihm. Anstatt ihr klar zu sagen, dass er sie mochte und den Sex mit ihr schätzte – mehr aber auch nicht –, hatte er nur gesagt, er sei nicht der Richtige für sie, und war ins Trainingslager abgehauen. Ihm hätte klar sein müssen, dass sie es anders sah.
»Wann hast du den nächsten Arzttermin?
»Wieso willst du das wissen?«
»Ich möchte dabei sein.«
»Aus welchem Grund?«
»Wenn es mein Kind ist, möchte ich ein Teil seines Lebens sein.«
Sie fixierte ihn, lehnte sich zurück. »Du schlägst mir nicht vor, dass ich es abtreiben soll?«
»Nein.«
Langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen. Er war beeindruckt von der emotionalen Hingabe, mit der sie ihre Lüge untermauerte. Er hatte das oft in Verhören erlebt. Es gab viele Signale, die zusammengenommen dabei halfen, herauszufinden, ob jemand log oder nicht. Die Gestik, die Mimik, die Wortwahl, die Wiederholung von Sätzen – es war ein feines Spiel, das Erfahrung bei der Interpretation erforderte. Er hatte das in einem Kurs von CIA-Trainern gelernt. Seitdem er das System anwandte, führten seine Verhöre zügig zu Ergebnissen, und oft war es dem Täter selbst gar nicht klar, dass er sich um Kopf und Kragen redete.
»Du bist bereit, die Verantwortung zu übernehmen?«
»Ja.«
Die Tränen liefen ihre Wange hinunter, sie lachte, wischte sie weg, sprang auf und fiel ihm um den Hals. Er achtete sorgsam darauf, wo er seine Hände platzierte. Als sie anfing, seine Wangen mit Küssen zu bedecken, nahm er ihr Gesicht sanft in seine Hände. Er wollte, dass sie ihm in die Augen sah und es endgültig kapierte.
»Ich sagte, dass ich ein Teil des Lebens meines Kindes sein möchte. Katja, ich mag dich. Der Sex mit dir ist großartig, und ich bin sicher, dass du wieder einen Mann findest, der dich heiratet und dir das gibt, was du brauchst. Nur bin ich nicht dieser Mann.«
Er konnte sehen, wie seine Worte langsam in ihren Verstand einsickerten und sie den Sinn dahinter begriff. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich, sie presste die Lippen zusammen, rutschte von seinem Schoß und holte aus. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, den Schlag abzufangen, aber er fand es nur fair. Hoffentlich half es ihr, mit der Enttäuschung und der Wut fertig zu werden.
Mit Schwung knallte Sekunden später seine Haustür ins Schloss, das Bild im Flur fiel auf den Boden. Zum Glück hatte er es sowieso nie sonderlich gemocht.
Er klingelte zuerst mehrmals an der Wohnungstür. Als niemand öffnete, nahm er den Schlüssel. »Emily?«
Nichts. Es gab keine Gardinen an den Fenstern, sodass das Morgenlicht durch die Räume flutete. Er blieb stehen, sah sich um, lauschte. Ob sie noch schlief? Während er noch überlegte, ob er einfach so in ihr Schlafzimmer gehen konnte, kam sie aus der Tür zu dem zweiten Zimmer, das er bei sich als Trainingsraum und Gästezimmer nutzte. Sie hatte die Haare zu einem unordentlichen Dutt festgesteckt, aus dem sich zahlreiche Strähnen lösten – lauter kleine Kringellocken, die ihr Gesicht einrahmten. Diesmal trug sie ein schwarzes T-Shirt zu einer gleichfarbigen Jeansbermuda. Sie hatte ein versonnenes Lächeln auf den Lippen.
»Guten Morgen.«
Sie schrie auf, duckte sich blitzschnell und legte die Hände schützend über den Kopf.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin’s, Sam.« Er nahm sie bei den Schultern.
Langsam richtete sie sich auf, ließ die Arme sinken und zog dabei seine Hände von ihren Schultern.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen, mich so zu erschrecken?«
»Tut mir leid, aber ich habe geklingelt. Du hast nicht aufgemacht.«
»Gib mir auf der Stelle meinen Schlüssel wieder!«, fauchte sie.
Er gab ihn ihr. Ihm war klar, dass er eine Grenze überschritten hatte, und wenn sie es darauf anlegte, konnte ihm das echten Ärger einbringen. Sie steckte den Wohnungsschlüssel in die Hosentasche und drehte sich zu der Tür um, durch die sie eben gekommen war, schloss sie ab, und auch dieser Schlüssel verschwand in der Hosentasche. Unwillkürlich fiel Sams Blick zu der Tür und er fragte sich, was sie dahinter verbarg. Immerhin war es offensichtlich, dass sie es vor ihm geheim halten wollte.
»Warum bist du hier?«
»Ich wollte dein Knie verarzten und dir außerdem meine Hilfe beim Sortieren deines Kleiderschranks anbieten.«
»Nett von dir, aber das ist mir viel zu gefährlich.«
»Gefährlich?«
»Nicht wegen dir, sondern wegen deiner Freundin.«
»Aha, ich verstehe.«
Sie legte den Kopf schief, zog die Nase kraus. »Das bezweifle ich. Hast du noch was von dieser Salbe, die du mir auf das Knie geschmiert hast? Oder kannst du mir sagen, was das ist? Es hat Wunder gewirkt.«
»Was hat sie dir erzählt?«
»Wer?«
»Katja. Sie hat gesagt, du hättest sie zum Kaffee eingeladen.«
»Ja, aber erst, nachdem sie eine Stunde vor deiner Tür gesessen hat. Puh, hat die eine Ausdauer.«
»Also?«
»Dass sie deine Freundin ist.«
»Und?«
»Wie sehr sie dich vermisst.«
»Und?«
»Das übliche Gelabere einer Frau, die sich selbst belügt, weil sie hofft, ihre Gefühle würden von dem Mann erwidert. Dabei weiß sie genau, dass er nur am Sex mit ihr interessiert ist.«
Er zuckte unter ihren Worten zusammen. Sie hatte es ganz sachlich gesagt, ohne eine Spur von Vorwurf.
»Frag mich nicht, wenn du keine ehrliche Antwort hören willst.«
»Bist du immer so direkt?«
»Ja. Das Leben ist zu kurz für viele Lügen. Ich denke, es ist besser, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, als sich etwas vorzuspielen. Sie ist entschlossen, dich festzunageln, aber das weißt du bestimmt schon. Jedenfalls möchte ich nicht, dass deine Freundin falsche Schlüsse zieht, wenn sie dich bei mir sieht.«
»Und ich bestimme selbst, was ich in meiner Freizeit mache. Wenn ich Lust verspüre, meiner Nachbarin, die frisch eingezogen ist, zu helfen, ihren Schrank zu sortieren, dann gibt es niemanden, der mich daran hindern kann.«
»Ach ja? Und was ist mit der Nachbarin?«
Er grinste, weil er das Zucken um ihre Mundwinkel sah. »Die darf selbstverständlich Nein sagen, aber dann erfährt sie nie, welche Klamotten ihre Schwester ihr noch so untergejubelt hat.«
»Deine Freundin war schon da?«
»Ja.«
»Sie ist wieder weg?«
»Ja.«
»Und du lebst noch? Okay. Du bist besser im Umgang mit heiklen Situationen, als ich dachte. Muss ich damit rechnen, dass sie mich abmurkst, wenn sie dich bei mir erwischt?«
»Nein. Die Sache ist endgültig geklärt.«
»Also gut, aber nur, weil ich keine Ahnung habe, wen ich sonst fragen kann. Das Schlafzimmer ist da.«
»Ich weiß.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Woher?«
»Deine Wohnung ist genauso geschnitten wie meine.«
»Hmh!«
Sie machte seltsame Klick-Laute, während sie zielsicher ins Schlafzimmer ging. Die Türen aller Räume – bis auf den einen, den sie zuvor abgeschlossen hatte – standen offen. Das Bett hatte einen Überzug, der mit Rosen bedruckt war. Es roch frisch nach einer Mischung aus Rosenholz und Vanille. Er sah sich nach der Quelle um und entdeckte einen Glasbehälter mit einer Flüssigkeit, in dem Holzstäbchen steckten. Ein Schiebetürenschrank nahm die komplette Wand neben der Tür gegenüber vom Bett ein.
»Stopp. Bevor wir das machen, musst du mir etwas hoch und heilig versprechen.«
»Hey, du erinnerst dich? Ich habe eine kleine Schwester. Du brauchst dir also keine Gedanken machen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich in Frauenklamotten rumwühle.«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist mir egal. Es geht um die ganz linke Tür des Schranks. Versprich mir, dass du sie zu lässt und unter keinen Umständen reinschaust!«
»Du weißt, wie das mit Verboten ist?«
Sie streckte die rechte Hand aus, tastete, fand seinen linken Arm, trat dichter an ihn heran. Ihre Fingerspitzen glitten über seine Brust zu seinem rechten Arm herunter, bis sie seine Hand fanden. Ein warmer Schauer rieselte bei der sanften Berührung durch seinen Körper. Diese langen, schlanken und so kräftigen Finger hoben seine Hand wie zu einem Schwur hoch.
»Versprich es mir.«
Er schluckte, sah in das Spiegelbild seines Antlitzes in der Sonnenbrille, die sie trug. »Ich verspreche es.«
Sie lächelte ihn an, ihr Gesicht dicht vor seinem.
»Danke.«
Er trat zum Schrank und öffnete die rechte Seite. Lauter T-Shirts mit langen und kurzen Ärmeln lagen da fein säuberlich sortiert. Überwiegend waren sie schwarz, doch es gab auch quietschgelbe, leuchtend orangefarbene und giftgrüne Shirts dazwischen. Im Fach darunter stapelten sich schwarze Stoffhosen sowie Jeans in langer und kurzer Variante. Auch hier gab es grelle Farbvarianten dazwischen.
»Wie willst du es eingeteilt haben?«
»Rechts immer die langen Varianten, links die kurzen. Alle Klamotten, die bunt sind, kannst du aufs Bett legen, dann packe ich sie in Plastiksäcke, damit ich sie in die Altkleidersammlung bringen kann. Oben die Shirts, unten die Hosen.«
Wie ein eingespieltes Team machten sie sich an die Arbeit. Sam las die Sprüche auf den reingeschmuggelten Klamotten vor. Sie waren oft witzig, doch in Anbetracht von Emilys Blindheit auch geschmacklos. Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn war dabei noch der harmloseste Spruch. Interessanterweise fand sie die Sprüche lustig, wohingegen sie die Farben ärgerten. Sie besaß ein ansteckendes Lachen.
»Warum Schwarz?«, hakte er nach.
»Weil es immer gut aussieht, du keine Ketchupflecken darauf siehst und es mir steht.«
»Dir steht aber auch grün und rot oder orange.«
»Genau, und wie soll ich sie auseinanderhalten?«
»Du kannst mehr Fächer machen, wo du die Farben sortierst.«
»Und wenn alles in der Wäsche ist, wie soll ich es nach dem Waschen auseinanderhalten?«
»Unterschiedliche Stoffe, unterschiedliche Farben? Oder du machst dir Knöpfe rein, Stickzeichen oder sonst etwas, was du fühlen kannst.«
»Und wer sagt mir, womit ich wie aussehe? Die Verkäuferin, die die Provision kassiert? Nein, danke.«
»Ich kann mit dir einkaufen gehen.«
»Du? Und woher weiß ich, ob du meinen Geschmack triffst?«
»Indem du mir sagst, was du gerne anziehst. – Fertig«, verkündete er und sah sich zufrieden den Schrank an. Alles lag ordentlich übereinander, wie mit dem Lineal gezogen. Die aussortierten Sachen hatte Emily in drei Plastiksäcken verpackt. Einer nach dem anderen wanderte in die Abstellkammer. Wenn Sam sie in der Wohnung beobachtete, vergaß er, dass Emily blind war, so sicher bewegte sie sich hier. Dabei schnalzte sie immer wieder mit der Zunge und wandte dabei den Kopf hin und her.
»Warum machst du das?«
»Was?«
»Diese Klickgeräusche.«
»Damit orientiere ich mich wie eine Fledermaus.«
»Du willst mich veräppeln.«
»Nein, ich war ein halbes Jahr in den USA, um es von Daniel Kish zu lernen. Er hat das Echoloten für Blinde sozusagen populär gemacht. Man braucht eine Weile, um es zu trainieren, doch es gibt einem unglaublich viel Freiheit.«
»Hast du keinen Stock?«
»Doch, der war eigentlich in der Handtasche. Er muss rausgefallen sein.«
»Dann mache ich dir jetzt einen Vorschlag. Du kochst etwas, und ich gehe auf die Suche nach dem Stock.«
»Da gibt es zwei Probleme.«
»Welche?« Gespannt wartete er auf ihre Erklärung für das einseitige Menü in ihrem Kühlschrank.
»Erstens habe ich schon viel zu viel von deiner Zeit in Anspruch genommen, zweitens kann ich nicht kochen.«
»Das Erste ist kein Problem, im Gegenteil. Du hältst mich davon ab, vor lauter Langeweile sinnloses Zeug zu machen.«
Sie lachte. »Du meinst, Fernsehshows anzuschauen oder vor einem Computer zu hängen und zu spielen?«
»So in etwa. Bei dem Zweiten muss ich nachhaken. Meinst du, du kannst gar nicht kochen oder bereitet es dir Schwierigkeiten, weil du blind bist?«
»Ich kann was bestellen. Was magst du? Chinesisch, italienisch oder Sushi?«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.« Er sah ihr an, wie sie sich innerlich wand.
Schließlich holte sie tief Luft. »Ich musste noch nie kochen.«
»Wie alt bist du?«
»Zweiunddreißig.«
»Und du hast noch nie in deinem ganzen Leben selber gekocht?«
Sie seufzte tief. »Nein.«
»Ich denke, dann ist es an der Zeit, dass du es lernst. Du kannst dich nicht für den Rest deines Lebens von Milch, Joghurt und Müsli ernähren.«
»Woher weißt du ...«
»Gib mir drei Stunden, und wir kochen bei mir. Schaffst du es ohne Stock zu mir rüber?«
»Klar, aber ...«
»Keine Sorge. Wir fangen mit etwas Leichtem an. Spaghetti Bolognese, das magst du doch, oder?«
»Ja, schon, aber ...«
»Bis später«, würgte er sie ein drittes Mal ab. Warum musste er sich auch ausgerechnet bei ihr derartig verplappern? So etwas passierte ihm sonst nie.
Er hatte gerade seine Wohnung sorgfältig aufgeräumt und alles mit kritischem Blick auf mögliche Stolperfallen überprüft, als es klingelte. Ein breites Grinsen huschte ihm über das Gesicht. Barfuß stand sie vor seiner Tür, die Haare lässig hochgebunden. Ein paar vorwitzige Kringel hatten sich schon wieder herausgewunden.
»Hi. Zuerst möchte ich wissen, wie du darauf kommst, dass ich mich von Milch, Joghurt und Müsli ernähre. Du hast in meinen Kühlschrank gespickt, gib’s zu.«
»Erwischt.«
»Bist du immer so neugierig?«
»Es ist Teil meines Jobs.«
»Hast du überhaupt noch Freunde, oder vergraulst du sie alle mit deiner Art?«
Er zuckte zusammen, weil sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Sein Freundeskreis beschränkte sich auf seine Kumpel von der GSG 9, Tobias, genannt TJ, der inzwischen in einer Sondereinheit – zusammengesetzt aus verschiedenen Spezialkräften von Polizei und Militär – arbeitete, sowie seine Schwester, seinen Bruder und Jessica. Bei den Affären konnte man wohl kaum von Freundschaft sprechen. Okay, dann waren da natürlich noch seine Cousinen und Cousins mütterlicherseits.
»Lass mich erst mal nach der Wunde sehen. Soll ich dich einmal in der Wohnung rumführen, damit du dich besser zurechtfindest?«
»Ja, bitte.«
Er griff nach ihrer Hand, aber sie entzog sie ihm und schüttelte dabei den Kopf.
»Es ist leichter, wenn ich mich einhaken kann.«
»Okay.«
Es war ein seltsames Gefühl, ihre Hand auf seinem Unterarm zu spüren. Wie ein Gentleman von früher lief er mit ihr die Wohnung ab und beschrieb ihr dabei jedes einzelne Detail von dem, was er sah.
Am Ende lag ein wehmütiges Lächeln um ihren Mund. »Weißt du eigentlich, dass du mit deinen Beschreibungen unglaublich präzise bist?«
»Und das macht dich traurig?«
»Irgendwie ja, weil du es mir so deutlich ausmalst, dass ich mir wünschte, ich könnte es sehen.«
Überdeutlich nahm er die Hand wahr, die mehr über seinem Arm schwebte als darauf zu liegen, und ihren Geruch nach Rosen. Vorsichtig entzog er ihr seinen Arm und trat einen Schritt zurück. »Findest du den Weg zurück ins Bad, damit wir dich verarzten können?«
»Jawohl, Herr Baumann.« Kurz zögerte sie, fing an zu klicken, um dann zielsicher die Badezimmertür zu finden. Sie setzte sich auf den Toilettendeckel, stellte das verletzte Bein auf den Badewannenrand. Ihre Füße waren schmutzig.
»Läufst du immer barfuß rum?«
»Soweit es geht, ja. Es ist ein zusätzlicher Sinn, der mir Informationen liefert. Wenn du einen deiner Hauptsinne verlierst, bist du süchtig nach allem, was dir sonst noch hilft, deine Umgebung wahrzunehmen. Zum Glück war ich schon immer ein eher kinästhetischer und auditiver Mensch.«
»Also warst du nicht immer blind?«
Schlagartig versteiften sich ihre Muskeln, sie zog leicht den Kopf ein, schob die Schultern nach vorne und kreuzte ihre Arme vor dem Bauch. Deutlicher konnten die Signale nicht sein, dass sie keinesfalls darüber reden wollte. Er akzeptierte es. Irgendwann würde sie ihm so sehr vertrauen, dass sie es ihm erzählen würde. Amüsiert von diesem Gedanken schüttelte er über sich selbst den Kopf. Geschickt wickelte er die Bandage ab. Die Wunde heilte gut. Er tastete das Knie ab. Oberhalb der Kniescheibe und an der Innenseite gab es Schwellungen.
Sie zuckte zusammen.
»Wie weh tut dir das?«
»Nicht so schlimm.«
»Vielleicht sollten wir doch ins Krankenhaus fahren, damit sie einen Ultraschall machen können.«
Sie zog das Bein weg. »Ich sagte doch, es ist nicht so wild!«
»Gib mir das Bein wieder. Und jetzt ohne zu lügen! Wir nehmen eine Skala von eins bis sechs, wobei sechs bedeutet, es tut richtig weh.«
Er fing mit dem Abtasten an, bewusst an den Stellen, die definitiv schmerzfrei waren. Sie schien wirklich etwas gegen Krankenhäuser zu haben, denn brav beantwortete sie seine Frage, bemüht, sich kooperativ zu zeigen.
»Vier.«
Er erhöhte den Druck eine Spur.
»Also gut, fünf, aber mehr wirklich nicht!«
»Ich schaue mir das morgen wieder an.«
»Mann, bist du ein Nervsack!«
Er nahm mehr von der Pferdesalbe und schmierte das Knie großzügig ein, reichte ihr dann eine originalverpackte Tube. »Die nimmst du mit und wiederholst das heute Abend. Ich bin kein Arzt, und ein Knie hat einige Stellen, an denen du bei Verletzungen langfristige Folgeschäden bekommst. Glaub mir, das macht keinen Spaß.«
»Hast du dir auch mal dein Knie verletzt?«
»Nein, sonst könnte ich meinen Job gar nicht ausüben. Aber meine Schwester hatte als Mädchen eine Verletzung am Knie.«
»Wie heißt deine Schwester?«
»Tamara, aber meistens nennen wir sie Tami.«
»Ist sie jünger als du?«
»Jupp, vier Jahre. Und ich hab noch einen Bruder, der fünf Jahre jünger ist als ich.«
»Also bist du das älteste Kind, so wie ich.«
»Hast du noch mehr Geschwister?«
»Nein, nur Viola, die ist sechs Jahre jünger als ich.«
»Wow, das nenne ich Abstand.«
Ein knurrendes Geräusch weckte seine Aufmerksamkeit.
Sie biss sich auf die Lippen, legte die Hand auf den Bauch.
»Das heißt wohl, wir sollten anfangen zu kochen?«
Gemeinsam gingen sie in die Küche, sie vorneweg und er folgte ihr, nicht anders herum. An zwei, drei Ecken stieß sie sich an, ansonsten klappte es prima. Kein Wunder, dass sie blaue Flecke an den Beinen hatte, und vermutlich nicht nur da. Er reichte ihr eine Schürze, die sie anzog. Als Nächstes reihte er die gesamten Zutaten auf der Küchentheke auf sowie alle Arbeitsmaterialien und Schüsseln. Zuerst erklärte er ihr den Gasherd. Konzentriert und aufmerksam lauschte sie auf jedes Wort. Nachdem sie die Funktionsweise verstanden hatte, probierte sie zweimal selbst aus, den Herd anzuzünden. Danach erklärte er ihr vorab die einzelnen Arbeitsschritte: Wasser aufsetzen und zum Kochen bringen, Herd abschalten, Tomaten mit einem Löffel kurz in das siedende Wasser halten, danach die Haut entfernen. Deckel auf den Topf, damit die Hitze im Wasser bleibt, nebenbei die Karotten schälen, die Selleriestangen putzen und alles Gemüse klein schneiden. Erst dann das Öl zum Anbraten des Fleischs in die Pfanne geben. Nach Hinzufügen des harten Gemüses das Wasser wieder zum Kochen bringen, einen Teelöffel Salz hineinschütten und die Spaghetti hineingleiten lassen, dabei darauf achten, dass es nicht überkocht. Zuletzt die Uhr auf acht Minuten stellen, die Tomaten zu dem Fleisch geben – und fertig.
Ohne zu zögern fing sie an. Kein einziges Mal bat sie um Hilfe. Er beobachtete, griff aber nicht ein. Stattdessen öffnete er einen Chianti, füllte zwei Gläser, reichte ihr eines davon.
Als sie anfing, das Gemüse zu schneiden, stellte er sich hinter sie, nahm die Hand, die das scharfe Messer führte, und die andere, mit der sie das Gemüse hielt. »Die Schneidfläche immer ein wenig schräg, weg von den Fingern, die das Gemüse halten.« Nach ein paar gemeinsamen Schnitten überließ er ihr wieder das Werkzeug, blieb aber stehen. Die Haare, die sich aus dem Dutt gelöst hatten, kitzelten ihn an seiner Wange.
»Mache ich dich nervös?«, fragte er.
»Nein. Super Tipp mit dem Messer, das funktioniert klasse.«
Er verkniff sich gerade noch rechtzeitig das »Schade« und schüttelte über sich selbst den Kopf. Er hatte nicht vor, sie ins Bett zu bekommen. Erstens entsprach sie nicht seinem Beuteschema, denn mit ihrer Behinderung war sie dafür viel zu verletzbar, zweitens war sie seine Nachbarin. Fange niemals etwas mit deiner Nachbarin oder Kollegin an, war eine seiner eisernen Regeln. Das Handy vibrierte in seiner Hosentasche. Er zog es raus, warf einen Blick auf das Display und verdrehte entnervt die Augen. Statt den Anruf anzunehmen, steckte er es weg.
»Du kannst den Anruf ruhig annehmen, ich komme allein zurecht.«
»Ich weiß. Darum geht es nicht.«
»Aha.«
»Was, aha?«
»Deine Freundin?«
»Nein.«
»Deine Schwester?«
Skeptisch kniff er die Augen zusammen. »Wie kommst du darauf?«
»Das ist leicht, deine Freundin ...«
»Exfreundin!«
»Exfreundin hat mir erzählt, dass sie mit deiner Schwester befreundet ist. Vermutlich hat sie sich nun an sie gewandt.«
Erneut vibrierte das Handy in der Tasche. Blöd, dass er es nicht ausschalten konnte, weil es auch sein Diensthandy war und er im Notfall erreichbar sein musste.
»Nimm es an, dann hast du es hinter dir«, riet sie ihm mit einem frechen Grinsen.
»Schlaumeier!« Aber sie hatte recht. Tami würde in keinem Fall Ruhe geben. Er wandte sich ein wenig ab, als er den Anruf annahm, blieb aber in der Küche, damit er im Notfall eingreifen konnte.
»Was willst du?«, versuchte er sie mit einem unwirschen Ton abzuwimmeln.
»Du bist ein Arschloch, echt Sam! Kannst du irgendwann mal erwachsen werden?«
»Seit wann lässt du dich vor den Karren von anderen spannen?«
»Seitdem du nicht die Finger von meinen Freundinnen lassen kannst.«
»Was hat sie dir erzählt?«
»Vor allem hat sie geheult.«
»Sie zieht alle Register.«
»Du meinst mit der Schwangerschaft?«
»Was hast du ihr gesagt?«
»Wow. Ehrlich Sam, du bist so ein Feigling, wenn es um Beziehungen geht! Du hast mich benutzt. Kein Wunder, dass sie am Ende einfach aufgelegt hat!«
»Schrei nicht so rum!«
»Du kannst froh sein, dass ich nicht persönlich vor dir stehe, dann würde ich dir eine echte Abreibung verpassen!«
»Also, was hast du gesagt?«
»Dass es nicht sein kann, weil du zeugungsunfähig bist.«
»Und dann hat sie aufgelegt?«
»Ja. Ich mache mir echt Sorgen.«
»Ich war immer ehrlich zu ihr.«
»Ja. Scheiße! Das heißt doch nicht, dass sich eine Frau keine Hoffnungen macht! Warum musstest du auch mit ihr immer wieder ins Bett steigen?«
»Hey, sie wollte mit mir ins Bett, dreh jetzt den Spieß nicht um.«
»Was jetzt?«
Leise vor sich hinfluchend, begann er im Raum herumzutigern.
»Samuel Roberto Maria Baumann!«
Er wusste, was sie von ihm wollte, aber er hatte absolut kein Bock dazu.
»Okay, dann rufe ich Mama an.«
»Das wirst du schön bleiben lassen«, knurrte er.
»Ich höre!«
»Okay, okay. Du hast gewonnen, ich schau heute Abend bei ihr vorbei.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
»Und du behältst dein gutes Stück in der Hose, ist das klar?«
»Keine Sorge, ich bin ja nicht blöd.«
»Daran zweifle ich ernsthaft, wenigstens, wenn es um das Thema geht.«
»Ich bin ein Mann.«
»Ach nee.«
»Und im Gegensatz zu dir kann ich mir weder finanziell noch beruflich solche Eskort-Leistungen erlauben wie du.«
»Arschloch!«
»Ich liebe dich auch.« Er legte auf, grinste, aber dann stöhnte er bei dem Gedanken, was ihm seine vermaledeite Schwester wieder eingebrockt hatte.
»Ich finde sie klasse.«
»Wen?« Verwirrt sah er Emily an.
Ihre Haare kräuselten sich durch die dampfende Flüssigkeit mehr und mehr. Ihre Wangen waren von der Hitze gerötet. In dem Moment begann das Wasser mit den Nudeln überzukochen. Er spurtete los, doch bevor er sie erreichte, hatte sie die Flamme heruntergedreht.
»Ups.«
»Du sollst auf das Essen achten, nicht die Telefongespräche andere Leute belauschen.«
»Ihr steht euch sehr nahe.«
»Ja.«
»Ich wünschte, ich hätte so ein Verhältnis mit meiner kleinen Schwester.«
»Sei froh, dass du es nicht hast. Es kann ganz schön lästig sein. Manchmal ist sie wie eine ekelhafte Zecke, die sich an dir festsaugt.«
Emily lachte herzhaft, und seine schlechte Laune verflog. Er nahm ein paar Rosmarinzweige und hielt sie ihr unter die Nase. Sie rührte die Soße.
»Rosmarin«, sagte er und nahm ein Blatt. »Mund auf!« Er legte es auf ihre Zungenspitze.
»Mhm, sehr aromatisch.«
»Weil er frisch ist.«
»Wie viel?«
»Versuch es selbst abzuschätzen. Oregano, Thymian und Salbei«, ließ er sie die nächsten Kräuter probieren.
Der Wecker für die Spaghetti schrillte gleichzeitig mit der Türklingel. Er verdrehte die Augen. »Soll ich besser das Wasser abschütten?«
»Nein. Ich schaffe das. Wenn das deine Ex ist vor der Tür, dann sag mir rechtzeitig Bescheid, damit ich flüchten kann, bevor sie mir an die Gurgel springt.«
»Ha, ha, ha.«
Mit einem mulmigen Gefühl ging er an die Tür. Sollte es tatsächlich Katja sein, die davorstand, hatte er ein ernsthaftes Problem. Die Klingel läutete Sturm. Er sah auf das Videobild. Mist, das hatte er total vergessen. Er drückte den Türöffner und machte gleichzeitig die Tür auf, um in den Flur zu gehen und seinen Kollegen abzufangen.
Ein Schrei, ein Scheppern. »Mist, verfluchter!«, hörte er Emilys Stimme.
Er sprintete zurück in die Küche, und dort stand sie vor dem Spülbecken und hielt sich den Unterarm. Der Topf mit ein paar restlichen Nudeln lag auf den Boden. Mit einem Topflappen hob er ihn auf und stellte ihn zurück auf den Herd. Rasch spülte er die Nudeln im Sieb ab, füllte sie in die Schüssel und stellte sie beiseite.
»Tut mir leid«, presste Emily zwischen den Zähnen hervor.
»Nichts passiert. Lass mal deinen Arm sehen.«
Er war gerötet. Er stellte das Wasser auf kalt, drehte den Hahn auf und hielt ihren Unterarm in den Strahl.
»Ich habe den Topf falsch abgeschüttet, und der ganze Dampf ist an den Arm gekommen.«
»Keine Sorge, das ist mir auch schon passiert. Deine Haut ist nur leicht gerötet, also halt den Arm weiter unter das Wasser. Ich hole Kühlgel.«
»Du bist ja voll gut ausgestattet.«
»Und wie ...«
Bei seinem zweideutigen Ton runzelte sie die Stirn.
»Sorry, manchmal kann ich einfach nicht anders.«
»Jetzt sag nicht, du hast unsere Verabredung vergessen, Snipes! Wir wollten auf die Rolle gehen, oder hat dich die rothaarige Furie erwischt? Oh, sorry, ich wollte nicht stören!«, brach sein Freund die Schimpftirade ab.
»Du störst nicht, Speedy. Das ist Emily. Emily, das ist Speedy, ein Kollege von mir. Ich hol dir eben die Salbe.« Er warf seinem Kumpel einen vielsagenden Blick zu, der eindeutig belegte, dass er selbstverständlich störe, was dieser schlichtweg ignorierte.
»Ist das das Spezialrezept von deiner Oma? Außerdem heiße ich nicht Speedy, sondern Markus. Hi, Emily.« Speedy streckte die Hand aus. Als spürte sie die Geste, streckte auch sie die Hand aus.
»Wenn du die Sonnenbrille abnimmst, siehst du garantiert besser«, witzelte er und nahm ihre Hand.
»Schön wär’s.« Emily lachte.
Es machte deutlich Klick bei seinem Kumpel. Sam verdrehte die Augen und ließ die beiden allein.
Als er zurückkam, lachten sie, wobei er fand, dass Speedy viel zu dicht bei seinem Kobold stand.
»Also, wieso die Sonnenbrille? Das habe ich noch nie verstanden.«
»Erstens, um meine Augen vor Sonnenlicht zu schützen, zweitens, damit andere Menschen vor dem Anblick nicht erschrecken. Drittens hilft es meinen Gesprächspartnern, weil sie so das Gefühl haben, ich sehe sie an, obwohl ich sie nicht sehe.«
»Darf ich mal ...«
Hastig wich sie vor Markus zurück und hielt ihre Sonnenbrille fest. »Nein!«
Speedy hob beschwichtigend die Hände, was sie natürlich nicht sehen konnte. »Sorry, manchmal überschreite ich Grenzen mit meiner Neugierde.«
»Nicht nur manchmal«, murrte Sam. »Es tut mir leid, ich hatte unsere Verabredung vergessen.«
»Kein Problem, ich habe riesigen Hunger. Wir können ruhig erst was essen, bevor wir losziehen. Kommst du mit, Emily?«
»Nein, danke. Außerdem würde ich nur stören, wenn ihr was aufreißen wollt.«
»Wer sagt denn so was?«, wiegelte Sam ab.
Sie drehte ihm den Kopf zu.
Sein Kumpel folgte der Bewegung und grinste ihn an. »Keine Sorge. Snipes hat garantiert nichts dagegen, nicht wahr?« Mit einem anzüglichen Grinsen und wackelnden Augenbrauen warf ihm sein Kumpel eindeutige Blicke zu.
»Klar könnte Emily mit. Sie ist übrigens meine Nachbarin.«
Markus kannte seine Regeln. »Oh!«
»Und du kannst deinen Charme gleich wieder einpacken und verschwinden. Ich muss nämlich heute Abend noch was erledigen, wozu mich Tami genötigt hat.«
»Nie die Freundin deiner Schwester vögeln!«
»Musst du gerade sagen. Pass bloß auf, Emily, dass er dich nicht einwickelt.«
»Bedeutet Nachbarin, dass ich vor ihm sicher bin?«
»Ja, vor Sam auf jeden Fall, denn der hat da so eiserne Regeln, die er blöderweise mit Katja verletzt hat.«
»Katja war zuerst meine Freundin, bevor sie Tamis Freundin wurde. Wir essen jetzt, bevor es kalt wird, und du machst die Fliege.«
»Okay, okay!« Speedy nahm Emilys Hand, drückte ihr galant einen Kuss auf den Handrücken und sagte: »Machs gut, schöne Frau, und lass dich bloß nicht von dem Typen verführen.«
Mit knallroten Wangen zog Emily ihre Hand hinter den Rücken.
Sam gab Markus eine Kopfnuss, bevor der reagieren und sie abwehren konnte. Sicherheitshalber brachte er ihn zur Tür.
»Hast du morgen Abend Zeit?«
»Ja klar, aber erst mal mache ich dich bei einem Zweikampf fertig, Speedy, für die dummen Sprüche. Und jetzt verschwinde endlich.«
»Sie ist echt süß!«
»Ich weiß! Bin ja nicht blind.«
»Schlechter Spruch.«
Er schloss die Tür, atmete tief durch, versuchte das Gefühl von Eifersucht beiseitezuschieben, das in ihm hochgekrochen war, als er Markus neben Emily hatte in der Küche stehen sehen. Es lag nur daran, dass sie seine Beschützerinstinkte weckte, mehr nicht, beschwichtigte er sich selbst. Auch von Tami hatten seine Kameraden immer die Finger gelassen.
Als einer der Bewohner das Haus verließ, nutzte Sam die Chance und schlüpfte mit einem freundlichen Lächeln ins Treppenhaus. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend lief er in den zweiten Stock hinauf. Vor der Tür von 2 d blieb er stehen, lauschte. Sie hatte zuvor auf sein Klingeln von der Eingangstür des Mietshauses nicht reagiert. Sam drückte die Klingel an der Wohnungstür. Nichts geschah. Er holte sein Handy aus der Hosentasche, wählte ihre Nummer, aber auch das hatte er bereits viermal gemacht und immer nur die Mailbox dran gehabt. Diesmal ging selbst die nicht mehr dran.
Er wählte Tamis Nummer. »Ich bin’s. Was hat sie gesagt?«
»Bist du da?«
»Ja, aber sie macht nicht auf.«
»Geh rein!«
»Dir ist klar, dass ich damit einen Riesenärger bekommen kann?«
»Ja, und ich würde es nicht sagen, wenn ich mir nicht echt Sorgen machen würde.«
»Versuch du zuerst noch mal sie anzurufen.«
Er legte auf, wartete, lauschte. Nichts. Sein Telefon klingelte.
»Bitte, Sam, geh rein.«
»Okay.« Ein prüfender Blick durch den Flur – er war allein. Aus weiser Voraussicht hatte er sein Werkzeug mitgebracht. Die Tür kostete ihn keine fünf Minuten. Die Sicherheitskette war nicht vorgelegt. Er schloss die Tür hinter sich.
»Katja?« Langsam ging er durch die Wohnung, rief immer wieder ihren Namen. Im Schlafzimmer fand er sie. Sie lag in einem seidenen Negligé auf dem Boden, neben ihr eine Packung Tabletten und eine umgekippte Flasche Weißwein.
»Verfluchte Scheiße! Katja!«
Er prüfte ihren Puls, konnte ihn spüren. Als Nächstes versuchte er sie wach zu bekommen. Ein leises Stöhnen kam über ihre Lippen, die Augenlieder flatterten. Er brachte sie in eine aufrechte Haltung, steckte ihr den Finger in den Hals, bis sie anfing zu würgen. Während er sie beim Erbrechen stützte, aktivierte er die Sprachfunktion seines Smartphones.
»Wähle Notruf.«
Als die Annahmestelle der Leitzentrale sich meldete, ratterte er präzise die notwendigen Daten herunter. Katja begann in seinen Armen zu zittern und zu schluchzen, immer wieder erbrach sie sich. Er rutschte mit ihr näher zum Bett, zerrte an der Überdecke, packte sie damit ein. Von draußen hörte er die Sirene des Krankenwagens. Er lehnte sie mit dem Rücken an das Bett und stand auf.
»Nein, bleib hier«, brachte sie mühsam über die Lippen.
»Ich bin gleich wieder da.« Ohne ihren Protest zu beachten, öffnete er die Wohnungstür. Sein Blick fiel auf das Schlüsselbrett. Er schnappte sich einen Bund mit zwei Schlüsseln, testete einen davon am Schloss. Er funktionierte. Er steckte den Schlüsselbund in seine Hosentasche, hörte die Klingel, drückte den Öffner für die Haustür. Erst dann ging er wieder zu Katja, die so dasaß, wie er sie verlassen hatte, und leise vor sich hinwimmerte.
Ihre Hand krallte sich an seinem T-Shirt fest.
»Schscht, es wird alles wieder gut.«
»Iiich. Will nicht oohne diich ...«
Er schwieg, zog stattdessen ihren Kopf an seine Schulter, streichelte ihr das Haar. Die Lippen zusammengepresst, starrte er auf die Wand, fühlte die Faust, die sein Herz umschloss. Genau das hatte er sein Leben lang vermeiden wollen.
»Hallo?«
»Hier im Schlafzimmer!«
Die Sanitäter kamen, gefolgt von dem Notarzt, ins Zimmer. Katjas Finger blieben in sein Shirt verkrallt. Der Arzt warf Sam einen Blick zu.
»Sie war ohne Bewusstsein, als ich sie fand. Das war vor zweiundzwanzig Minuten. Ich habe keine Ahnung, wie viel sie geschluckt oder wie viel Wein sie dazu getrunken hat. Als ich es geschafft habe, sie wach zu bekommen, habe ich ihr den Finger in den Hals gesteckt.«
»Ist das die Packung von den Tabletten, die sie geschluckt hat?«
»Vermutlich, aber sie sollten besser noch was von dem Erbrochenen mitnehmen.«
»Das hätte ich sowieso gemacht.«
»Klar, tut mir leid.«