Sondereinheit Themis: Hinter Gittern - Kerstin Rachfahl - E-Book

Sondereinheit Themis: Hinter Gittern E-Book

Kerstin Rachfahl

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Beschreibung

"Pit, ich weiß, es ist nicht leicht für dich. Vertrau mir, ich weiß, was ich tue und bitte akzeptiere die Situation, wie sie ist." Pit kann es nicht fassen. Trotz aller vorliegender Beweise, wird Alexander Egbert aus der U-Haft entlassen. Bevor er mit Natasha darüber reden kann, verschwindet sie. Von Sorgen aufgefressen, ist er erleichtert, als sie wieder zu Hause auftaucht. Zu früh, denn kurz darauf, klingelt es an der Tür und Natasha wird wegen Mordes an Alexander Egbert verhaftet. Hat Natasha ihr Vertrauen in das Rechtssystem verloren und Alexander Egbert ermordet? Oder steckt hinter all dem ein ganz anderer teuflischer Plan?

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Sondereinheit Themis: Hinter Gittern

Kerstin Rachfahl

Impressum

Deutsche Erstausgabe Juli 2020

Copyright © 2020 Kerstin Rachfahl, Hallenberg

Lektorat, Korrektorat: Martina Takacs

Umschlaggestaltung: neptunian art

Kerstin Rachfahl

Heiligenhaus 21

59969 Hallenberg

E-Mail: [email protected]

Webseite: www.kerstinrachfahl.de

Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Das Team und Familie Abel

Generalmajor Karl Hartmann

Ist der Gründer und Chef der Einheit. Er war lange Zeit Polizist und ist dann zum Militär gewechselt.

Oberst Ben Wahlstrom

Ist der Personalverantwortliche der Einheit. Er war schon immer Soldat und ist mit der Fotografin Johanna Rosenbaum, die immer nur Hanna genannt wird, liiert. Er leitet die Einsätze.

Major Tobias Wagner (TJ)

Ist der Länder Analyst der Einheit. Er ist auch Springer, wenn mal einer ausfällt. Auch er leitet Einsätze. Er ist mit Tamara, kurz Tami verheiratet. Sie ist ein IT-Security Consultant und arbeitet ab und an für die Einheit. Aus erster Ehe bringt TJ drei Kinder mit in die Ehe und mit Tami hat er eine Tochter.

Kriminalkommissar Paul Gerlach

Ist der IT Wizard in der Einheit. Eigentlich gehört er zum BKA, doch oft arbeite er exklusiv für Hartmann.

Kriminalhauptkommissarin Natasha Kehlmann

Ist die Verhörspezialistin und Hauptfigur in der Reihe. Früher Wettkampfschwimmerin und Polizistin aus Leidenschaft.

Kriminalhauptkommissar Peter Abel (Pit)

Ist der Leiter des Teams. Er erstellt die Trainingspläne für alle und kennt keine Gnade, wenn es um die Leistungsfähigkeit aller geht. Sein Spitzname kommt von Pitbullterrier, weil er sich gerne in etwas festbeißt.

Odin von Lichtenfels (Smart)

Ist der Diensthund in der Einheit und wird von Pit geführt. Er ist unglaublich klug, weshalb er auch seinen Spitznamen hat. Zusammen mit Pit und Natasha bildet er ein Dreierteam.

Kriminalhauptkommissar Kevin Steuber

Ist der Fahrer des Teams. Er kann alles fahren, egal ob auf Vierrädern, Zweiräder, dem Wasser oder in der Luft. Außerdem kann er auch alles kurzschließen.

Stabsfeldwebel Chris Neumann

Ist der Kommunikationstechniker der Einheit. Seine Aufgabe ist es, den Kontakt zu halten und den Input bei einem Einsatz zu liefern. Er bildet mit Kevin ein Zweierteam.

Kriminalhauptkommissar Mark Becker

Ist der Entschärfer und Spotter (Beobachter für einen Scharfschützen) im Team. Egal um was für Sprengsätze es geht, er weiß, wie er sie deaktiviert. Nur nicht, wenn es um seine Partnerin geht.

Oberleutnant Carolina Herrmann (Caro)

Ist die Scharfschützin im Team. In den ersten drei Monaten bei der Einheit war sie die Partnerin von Pit, dann hat sie zu Mark gewechselt.

Kriminalhauptkommissar Römer

Ist der Forensiker im Team. Er kennt sich mit allen Themen der Forensik aus, ist aber kein Spezialist für ein Teilgebiet. Er beurteilt einen Tatort und zieht daraus Schlüsse oder weiß, was untersucht werden muss.

Kriminalhauptkommissarin Gabriella Santinos

Ist die Fassadenkletterin im Team. Einem Affen gleich, kommt sie überall hoch. Sie bildet ein Team mit Bodo, der einzige, der mit ihrem Temperament und Agilität umgehen kann.

Leutnant Zoe Dübbers

Ist die Nahkampfspezialistin im Team. Eine echte Ninja-Kämpferin, die mit Carolina liiert ist. Sie legt jeden Mann flach, sehr zum Ärger der Männer.

Oberleutnant Ulf Clemens

Ist der Sanitäter im Team. Die tödlichste Waffe und der Lebensretter bilden ein Zweierteam und sind das einzige rein militärische Duo in dem Team.

Familie Abel

Dr. Kain Abel, Mediziner, arbeitete in der Forschung und lehrte, Sportfanatiker, Peters Vater, kommt nur im kostenlosen Zusatzkapitel »Mia« auf meiner Autorenwebsite vor.

Dr. Lydia Abel, Allgemeinärztin, inoffizielles Oberhaupt der Familie, mit dem sich keiner anlegt. Kommt nur im kostenlosen Zusatzkapitel »Mia« auf meiner Autorenwebsite vor.

Yvonne Kramer, Peters älteste Schwester, verheiratet mit Robert, zwei Kinder: Charlotte und Tim.

Die Zwillinge: Dr. Carina Abel, Ärztin der Inneren Medizin, war Stammzellspenderin für ihre Zwillingsschwester, als diese Leukämie hatte, Dr. Cecilia Abel, Psychotherapeutin, auf Gewaltopfer spezialisiert. Zwei Jahre älter als Peter.

Angela Abel, fünf Jahre jünger als Peter und damit das Küken, leitet die Stiftung der Familie.

Inhalt

1. Kater

2. Bei der Staatsanwältin

3. Carolina

4. Geständnisse

5. Alexander Egbert

6. Freilassung

7. Mord

8. Vernehmung

9. Zweifel

10. Die Frage ist, wieso

11. Im Gefängnis

12. Einer für alle, alle für einen

13. Der Wahrheit auf den Grund gehen

14. Spekulationen

15. Nachforschungen

16. Klarheit

17. Unerwartet

18. Hinter Gittern

19. Nachforschungen

20. Befragungen

21. Aufgeflogen

22. Abgründe

23. Krisensitzung

24. Im Untergrund

25. Die Schlinge zieht sich zu

26. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

27. Frei

28. Begegnung

Nachwort

Bücher von Kerstin Rachfahl

Über die Autorin

1

Kater

Pit blickte auf die Uhr – kurz vor acht. Freya lag vor der Wohnungstür, den Kopf auf den Pfoten, die Hinterbeine lang ausgestreckt, die Augen geschlossen. Smart konnte von dem Platz auf seinem Kissen aus den gesamten Wohnraum, Küche und Flur im Blick behalten – kein schwieriges Unterfangen, da Pit das Loft, das mal aus einem einzigen großen Raum bestanden hatte, nur mit wenigen Trennwänden unterteilt hatte.

Natasha hatte nicht gesagt, wie lange sie fortbleiben würde. Nicht, dass er ihr den Freiraum nicht gönnte. Schließlich konnte er sich prima selbst beschäftigen, was er in den letzten Jahren ja auch getan hatte. Nur weil man in einer Beziehung war, hieß das ja nicht, sich auf einmal völlig auf den anderen zu fixieren.

Dumm nur, dass keiner der anderen aus dem Team Lust gehabt hatte, eine Gaming-Runde einzulegen. Kevin war mit Marla verabredet, nachdem sie ihn die letzten Tage nicht zu Gesicht bekommen hatte, Bodo und Gabriella wollten ins Kino gehen. Er runzelte die Stirn. Keiner von beiden hatte ihn eingeladen. Chris meinte, er bräuchte Ruhe, nachdem er es in den letzten Tagen trotz seiner Verletzung übertrieben hatte. Ulf fragte er erst gar nicht, weil Yvonne, Pits älteste Schwester, sich bereits am Telefon beschwert hatte, dass ihre Schwester Carina, die ältere der Zwillinge, mal wieder ein dienstfreies Wochenende hatte und nicht plante, freiwillig Stunden in der Familienstiftung abzuleisten. Hätte ihm jemand das vor vier Monaten erzählt, er hätte ihn für verrückt erklärt. Ausgerechnet Carina, der Workaholic in der Familie, die immer allen ein schlechtes Gewissen eingeredet hatte, wenn man einen Tag auf der Couch verbrachte.

Freyas Kopf schoss hoch, sie sprang auf, wedelte mit dem Schwanz und kratzte an der Tür. Smart erhob sich ebenfalls von seinem Kissen und dehnte und streckte sich, bevor er gemächlich zur Tür tapste.

»Hallo, ihr zwei Süßen, habt ihr mich vermisst?« Natasha ließ ihre Sporttasche von der Schulter gleiten und begrüßte die Hunde.

»Hast du schon was gegessen?« Pit wartete geduldig, bis er mit Begrüßen an der Reihe war, und zog ihr die Mütze vom Kopf.

Ihre Haare waren noch feucht und rochen nach Honig, statt nach Minze. Sie küsste ihn – viel zu schnell und viel zu flüchtig, drehte sich aus seiner Umarmung, schälte sich aus ihrer Jacke und zog die Schuhe aus.

»Nein, und ich habe mordsmäßigen Hunger«, verkündete sie, schnappte sich ihre Tasche vom Boden und ging in den Waschraum.

»Ich hätte noch Gemüseauflauf von heute Mittag.«

»Perfekt.« Sie tauchte wieder aus dem Waschraum auf und steuerte auf die Küche zu.

Smart folgte ihr und ließ sich wieder auf seinem Kissen nieder. Freya rollte sich neben ihrem Kumpel zusammen. Pit beobachtete, wie Natasha sich den Auflauf aus dem Kühlschrank holte, den Wasserkocher auffüllte und ihn anschaltete. Die lose Teeblattmischung duftete, als sie sie in das Teesieb für die Thermoskanne füllte. Es war eine neue Mischung in einer neutralen weißen Packung, die sie vor drei Tagen mitgebracht hatte und jetzt literweise trank.

Er lehnte sich gegen die Küchentheke und verschränkte die Arme.

Nachdem sie den Auflauf in die Mikrowelle gepackt und diese angeschaltet hatte, holte sie sich aus einem der Regale ein kleines Fläschchen mit einer dunklen Flüssigkeit und träufelte zwanzig Tropfen in ein Schnapsglas mit Wasser. Auch damit hatte sie erst vor zwei Tagen angefangen. Es war ein pflanzliches Mittel für den Magen, das sie vor jeder Mahlzeit einnahm. Sie kippte die Flüssigkeit in einem Zug hinunter, verzog das Gesicht und schüttelte sich.

»Natasha, bist du …«

»… schwanger?«

Pit hatte das Gefühl, jemand hätte ihm einen Knock-out-Schlag verpasst und ihm gleichzeitig in die Magengrube geboxt. In seinem Kopf rauschte es. Nach der Kälte kam die Hitze. Die Mikrowelle machte Ping, die Uhr an Natashas Handgelenk vibrierte und signalisierte, dass der Tee lange genug gezogen hatte.

Sie ignorierte beides und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Das wolltest du gar nicht fragen, hm?« Sie presste die Lippen zusammen, und ihre Augen fingen an zu glänzen.

Bevor er denken, sich bewegen oder Luft schnappen konnte, schoss sie bereits an ihm vorbei in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Schwanger?«, wisperte er, nachdem das Wort wie ein Echo wieder und wieder durch seinen Kopf gehallt war. Eine Unmenge von Bildern spulte sich wie in einem Film vor ihm ab: die morgendliche Übelkeit, die Heißhungerattacken, die dunklen Ringe unter ihren Augen, Sex … Verdammt, er hatte bei ihr ja auch nie ein Kondom verwendet. Sonst hatte er es immer getan und rechtzeitig abgebrochen. Sicher ist sicher, klar. Aber bei ihr?

»Schwanger.« Diesmal glitt ihm das Wort fester über die Lippen. Vater, hallte es nun in seinem Kopf wider, und er merkte, wie sich langsam ein Grinsen auf seine Lippen stahl. Er blickte hinunter auf Freya, die, kaum war die Tür ins Schloss gefallen, aufgesprungen war und ihn jetzt mit vorwurfsvollem Blick ansah. »Hey, du musst mir schon einen Moment geben, und keine Sorge, du bleibst weiterhin ihre weltbeste Hündin.«

Er klopfte, bekam aber keine Antwort. Nach ein paar tiefen Atemzügen öffnete er die Tür. Sie lag zusammengerollt auf ihrem Bett, ein Kissen vor dem Bauch. Er legte sich mit etwas Abstand hinter sie und stützte den Kopf auf einer Hand ab.

»Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du wegen des bevorstehenden Termins mit der Staatsanwältin nervös bist. Ich dachte, deshalb wolltest du allein zu deinen Eltern fahren und hast ein dreistündiges Training im Schwimmbecken absolviert.«

»Keine Sorge. Ich bin nicht schwanger.«

»Du weinst.«

»Verdammt, ja. Ist das so schlimm?«

»Hat Dr. Hofmeister dir deshalb die Einschränkung beim Training eingetragen?«

»Ja.«

»Und du warst heute nicht nur bei deinen Eltern.«

»Nein.«

»Sein Eintrag, das war bei deinem Termin vor vier Tagen.«

»Es war nur ein Verdacht – eine Möglichkeit, die er sicher ausschließen wollte.«

»Er hat aber keinen Schwangerschaftstest durchgeführt.«

Sie drehte den Kopf zu ihm. »Woher weißt du das?«

»Weil ein solcher Test bei deinem gesundheitlichen Zustand direkt geflaggt worden wäre, und glaub mir, es wäre mir aufgefallen.«

»Er hat mir einen Termin bei einer Studienkollegin organisiert. Ich glaube, er mag sie sehr.«

»Dr. Hofmeister mag jemanden?«

»Sie wurde nach dem ersten Staatsexamen ungewollt schwanger und hat das Kind behalten. Er hat ihr damals geholfen.«

»Hast du mir deshalb nichts davon erzählt, weil du selbst die Entscheidung treffen wolltest?«

Sie drehte sich komplett zu ihm um, faltete die Hände unter ihrem Kopf. Ihre Augen fixierten ihn. Die Haut auf ihren Wangenknochen war gerötet. Ihm wurde klar, dass sie zwar mit ihm zusammen war, jedoch nicht auf die Langfristigkeit ihrer Beziehung vertraute. Ja, sie gingen seit vier Jahren zusammen in Einsätze und mussten sich blind aufeinander verlassen. Ja, sie lebten seit drei Jahren als Freunde zusammen, und seit Kurzem waren sie ein Paar, doch das bedeutete nicht, dass sie verinnerlicht hatte, welche Gefühle er für sie hatte. Konnte er es ihr verdenken, wenn sie diese Entscheidung allein treffen wollte? Er dachte an die unzähligen Diskussionen in seiner Familie mit seinen vier Schwestern zurück. Am Ende sind wir es, die die Verantwortung für ein Kind tragen, weil es unser Körper ist, in dem es wächst, bevor es auf die Welt kommt. Egal, wie oft er argumentierte, dass ein Mann notwendig sei, damit ein Kind entstehen konnte, und daher in letzter Konsequenz genauso verantwortlich und entscheidungsberechtigt über dessen Leben sein müsse. In seinen Augen waren seine Eltern das beste Beispiel dafür, wie man gemeinsam die Verantwortung für die Kinder übernahm. Seine Mutter, eine Ärztin, die die Arbeit mit den Patienten liebte, war nach jeder Geburt eines ihrer Kinder und selbst der Zwillinge wieder zurück in ihren Job gegangen. Sein Vater, ebenfalls Arzt, der sich jedoch in der Wissenschaft wohler fühlte, hatte von zu Hause aus gearbeitet. Annette, ihre Haushaltshilfe, hatte gekocht, geputzt und die Wäsche gemacht, sodass seine Eltern sich auf ihre Arbeit konzentrieren und die verbliebene Zeit mit ihren Kindern hatten verbringen können.

»Ja. Für dich ist es leicht zu sagen, dass du ein Kind möchtest oder nicht, aber für mich … Die Entscheidung zu treffen, ob ich das, was da in mir wächst …« Ihr Blick schien sich nach innen zu richten. Die Muskeln in ihren Wangen arbeiteten. »… beende oder auf die Welt bringe, ist gleichermaßen beängstigend und hat weitreichende Konsequenzen für mein Leben zur Folge. Ich liebe meinen Job.« Tränen traten in ihre Augen. »Ich kann mir nicht vorstellen, etwas anderes zu machen. Ich weiß nicht, ob ich es jemals kann.«

Jetzt liefen die Tränen, und er musste sich beherrschen, um sie nicht in die Arme zu nehmen. Über seine nächsten Worte dachte er lange nach, bevor er sagte: »Ich habe mir nie Gedanken gemacht, ob ich Kinder möchte oder nicht. Es stand für mich nie zur Diskussion. Ich liebe meinen Job auch, und wenn man mit all dem konfrontiert ist, was auf dieser Welt abgeht, finde ich den Gedanken, Vater zu sein, beängstigend. Du hast gesagt, dass du nicht schwanger bist, aber – es könnte sein? Ich meine, woher kommen deine Heißhungerattacken, die Stimmungsschwankungen und die Übelkeit sonst?«

»Stress.«

»Kannst du eine Schwangerschaft ganz sicher ausschließen?«

Sie blinzelte, runzelte die Stirn. »Dr. Meyer hat einen weiteren Bluttest und eine Ultraschalluntersuchung gemacht, und beides war negativ.«

»Ich habe nicht verhütet.«

»Ich nehme nicht die Pille.«

»Hast du deine …?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Weinst du, weil es dir weiterhin Angst macht und du trotzdem glaubst, dass du schwanger bist?«

Sie schloss die Augen, schüttelte stumm den Kopf, und er fragte sich, ob ihr bewusst war, dass sie die Hand auf ihren Bauch gelegt hatte.

»Ich bin es nicht. Ich kenne meinen Körper. Es würde sich anders anfühlen. Ich weiß nicht, warum ich heule.« Sie setzte sich auf, presste die Fäuste auf die Augen. »Ich hasse es, zu heulen.«

Er setzte sich ebenfalls auf, hob einen Arm. Erst als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit an ihn lehnte und den Kopf auf seiner Brust ablegte, atmete er tief durch. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht und legte seine Wange auf ihrem Kopf ab. Dass er sie im Arm hielt, reichte ihm nicht. Er brauchte noch den anderen Arm, um sie festzuhalten. Es war beängstigend, wie sehr er ihre körperliche Nähe benötigte, als wäre er erst dann vollständig.

2

Bei der Staatsanwältin

Kalt und nüchtern, das waren die ersten Begriffe, die Natasha durch den Kopf schossen, als die Staatsanwältin den Besprechungsraum im Amtsgericht Moabit betrat. Saskia Görcke stellte die Aktenordner auf den Tisch, setzte sich und öffnete die mitgebrachte Kladde. Ein in einer unlesbar aussehenden Handschrift vollgeschriebener Notizblock und jede Menge weiterer dicht beschriebener Blätter verteilten sich auf dem runden Buchenholztisch. Natasha war gespannt, warum die Staatsanwältin mit ihr allein sprechen wollte. Ihrer Ansicht nach hatte sie alles gesagt und war nur allzu bereit, ihre Aussage vor Gericht zu wiederholen.

Die grau bezogenen Stühle mit Metallbeinen sahen alles andere als bequem aus. Natasha, die bisher gestanden hatte, setzte sich gegenüber von Frau Görcke, die mit der Fingerspitze ihre Brille auf dem Nasenbein hochschob, in den Blättern wühlte, eines ansah, es wieder ablegte und den Vorgang wiederholte.

Natasha betrachtete die Frau vor sich, die ihrer Ansicht nach für diesen Fall viel zu jung war. Sie konnte absolut nicht nachvollziehen, weshalb die Berliner Staatsanwaltschaft ausgerechnet Görcke den Fall Egbert übertragen hatte. Die ergänzenden Ermittlungsarbeiten zogen sich bereits fast fünf Monate hin. Wäre es nach ihr gegangen, hätte der Prozess gegen Alexander Egbert nicht nur längst begonnen, sondern wäre mittlerweile beendet. Der Täter wäre zu lebenslanger Haft verurteilt – nicht nur wegen kaltblütigen Mordes, sondern auch wegen Menschenhandels, Vergewaltigung, Missbrauchs von Minderjährigen, Korruption … Die Liste ließe sich unendlich lang fortsetzen. Wenn jemals ein Mensch es verdient hatte, hinter Gittern zu sitzen, dann Alexander Egbert.

Endlich schien sich Frau Görcke sortiert zu haben. Ihre veilchenblauen Augen in dem schmalen Spitzmausgesicht, umrahmt von der Nerd-Brille mit schwarzer, eckiger Fassung, richteten sich auf sie.

»Kriminalhauptkommissarin Kehlmann, es gibt da einige Fragen, die ich mit Ihrer Hilfe gern beantwortet bekäme.«

»Schießen Sie los.«

»Ist es korrekt, dass es von Ihnen Videoaufnahmen im Internet gibt, die sie bei einer sexuellen Interaktion mit mehreren Männern zeigen?«

Natasha erstarrte. In ihrem Magen bildete sich ein eiskalter Klumpen. Die Haare an ihren Unterarmen stellten sich auf. Ihr Mund wurde trocken. »Ich verstehe nicht, was das mit dem vorliegenden Fall zu tun hat.«

»Also lautet Ihre Antwort Ja?«

»Ja.«

»Ist es ebenfalls korrekt, dass Sie damals eine anonyme Anzeige wegen Vergewaltigung erstatteten?«

»Wenn Sie sich die Videos aufmerksam angeschaut haben, sollten Sie bemerkt haben, dass ich während des Geschlechtsakts nicht bei Bewusstsein war.«

»Sie meinen bei dem ersten? Oder bei allen?«

»Ich war gefesselt, mir waren die Augen verbunden worden, ich wurde geschlagen und gebrandmarkt. Sehen Sie das als einen freiwilligen Akt von Sex an?«

»Sehen Sie, Frau Kehlmann, es geht mir nicht darum, Ihre persönlichen Vorlieben beim Sex zu beurteilen oder infrage zu stellen. Meine Aufgabe ist es, bei der Ermittlung zu einem Verbrechen alle Aspekte zu betrachten. Ich suche nach Beweisen, und zwar unabhängig davon, ob sie die Schuld oder die Unschuld eines Tatverdächtigen bekunden. Ich bin dem Grundsatz der Objektivität verpflichtet.«

Natasha ließ sich in den Stuhl zurückfallen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich fasse es nicht. Halten Sie ihn für unschuldig?« Sie beugte sich wieder vor, spürte ohnmächtige Wut in sich aufkeimen. »Alexander Egbert hat Bianca Franke vor meinen Augen die Kehle durchgeschnitten, der Mutter meiner besten Freundin Marietta. Vorher hat er mir erzählt, dass er Marietta vor einen Zug geworfen habe, sodass es damals aussah, als hätte sie Selbstmord begangen. Letzteres ist ein Geständnis, Ersteres ein Mord vor einer Zeugin.«

»Frau Kehlmann, können wir uns wieder auf die vorliegenden Fragen und Fakten konzentrieren?«

Natasha biss die Zähne zusammen und atmete ein paar Mal tief durch, bis sich der rote Schleier in ihrem Gehirn lichtete. »Was war Ihre letzte Frage?«

»Ob Sie eine anonyme Anzeige wegen Vergewaltigung erstatteten.«

»Ja.«

»Warum anonym?«

Natasha stieß Luft durch den Mund aus. Sie starrte auf ihre Finger, die sie unbewusst ineinander verknotet hatte.

»Brauchen Sie einen Moment Zeit? Möchten Sie das Gespräch verschieben?«

Sie hob den Kopf, musterte die Staatsanwältin vor sich. Alexander Egbert kam aus einer Familie, die in den höchsten gesellschaftlichen Schichten Deutschlands verkehrte. Er konnte auf ein Netzwerk an politischen und wirtschaftlichen Kontakten zurückgreifen, nicht nur in Deutschland, sondern international. Sie hatte sich nicht mehr mit dem Fall beschäftigt, weil sie davon ausgegangen war, dass all das der Vergangenheit angehörte und er für seine Taten nun endlich würde büßen müssen. Wie leicht man sich irren konnte.

»Nein. Die Anzeige erfolgte anonym, weil ich nicht wusste, wer mich vergewaltigt hatte. Sie haben die Videos gesehen. Die Männer trugen Masken, ich war bei allen bis auf den letzten bewusstlos, und anhand eines Penis lässt sich ein Mann leider nicht eindeutig identifizieren. Vielleicht sollten wir den Aspekt in Zukunft bei unserer Ermittlungsarbeit mehr berücksichtigen.« Sie wich dem Blick der Anwältin nicht aus, sondern hielt ihm stand.

Frau Görcke senkte den Blick auf ihre Notizen. »Bei der Untersuchung damals wurden unter anderem DNA-Spuren sichergestellt, die mit der DNA von Alexander Egbert übereinstimmen. Ihre Freundin Marietta Franke hingegen hat sich damals nicht untersuchen lassen und auch keine Anzeige erstattet. Wissen Sie warum?«

»Nein. Damals dachte ich, sie hätte Angst und würde sich schämen.«

»Es gibt nur von Ihnen Videos im Internet, nicht von Ihrer Freundin.«

»Mir wurde damals angedroht, dass die Videos, sofern ich meine Anzeige nicht zurückziehe, im Internet veröffentlicht würden. Es bestand für die Täter kein Grund, Videos von Marietta zu veröffentlichen.«

»Verstehe. Also wurde sie ebenfalls vergewaltigt?«

Natasha hörte Razvans Stimme in ihrem Kopf:

»Weshalb hätte ich Marietta K.-o.-Tropfen einflößen sollen, wo sie doch allzu gern für Alex und seine Freunde die Beine breitgemacht hat, weil es ihn angetörnt hat, ihr dabei zuzusehen.«

Er hatte die Wahrheit gesagt. Auch seine Warnung war ernst gewesen. Dafür hatte er mit dem Leben bezahlt. Nein, sie bedauerte seinen Tod nicht. Schließlich war Razvan derjenige gewesen, der die Geschäfte für Egbert geleitet und dafür gesorgt hatte, dass dieser immer Mädchennachschub für seine abartigen sexuellen Praktiken erhielt.

»Das weiß ich nicht. Hören Sie, Frau Görcke, ich verstehe wirklich nicht, was dieser alte Fall mit dem vorliegenden zu tun hat.«

»Haben Sie mir nicht zugehört? Eine der DNA-Spuren von Ihrer Vergewaltigung damals kann eindeutig Alexander Egbert zugewiesen werden.«

Natasha starrte die Anwältin an. »Soll das heißen, Sie wollen den damaligen Fall in den Prozess miteinbeziehen?«

»Meine Aufgabe ist es, alle Fakten zu sammeln und dem Richter vorzulegen, damit er sich ein Bild davon machen kann, ob er den Prozess gegen Alexander Egbert eröffnet oder nicht. Herr Egbert verfügt über weitreichende Kontakte, und sein Strafverteidiger ist der beste und teuerste, wenn es um Sexualdelikte geht.«

»Sie werden ihn für den Fall von damals anklagen?«

Die Staatsanwältin seufzte, nahm die Brille ab, rieb sich das Nasenbein und setzte sie wieder auf. »Frau Kehlmann, das Problem, das wir haben, sind Sie.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Sie sind keine neutrale Zeugin. Sie sind befangen. Zwischen Ihnen und Alexander Egbert gibt es eine Beziehung …«

»Beziehung? Drehen Sie jetzt völlig durch?« Der eiskalte Blick der Anwältin brachte sie zum Schweigen.

»Gehen Sie bei Verhören von Tatverdächtigen genauso vor?«

Natasha hob die Hand. »Geben Sie mir einen Moment.«

»Mir wurde gesagt, dass Sie gut in Ihrem Job sind. Dass sie Menschen zum Reden bringen, auch wenn sie gar nicht reden wollen. Dieser Razvan Ciobanu wollte ein Geständnis ablegen.«

»Und wurde in der U-Haft ermordet.«

»Warum um alles in der Welt glauben Sie dann, es würde leicht werden, Alexander Egbert vor Gericht zu bringen?«

»Weil wir ihn auf frischer Tat geschnappt haben? Mit einer Leiche und dem Messer. Verflucht noch mal, er hatte den gesamten Boden mit einer Plastikplane ausgelegt. Der Mann ist krank.«

»Und die einzige Zeugin dieses Mordes sind Sie, Frau Kehlmann. Sie und Alexander Egbert waren ganz allein in dem Raum. Es gibt keine Spuren an der Waffe, weder von ihm, noch von Ihnen.«

»Ich war an das Bett gefesselt.«

»Ja, aber ab wann?«

»Er hat mir K.-o.-Tropfen verabreicht und mich aus Frau Frankes Wohnung entführt.«

»Hat er das?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»In Ihrem Blut wurde keine bewusstseinstrübende Substanz nachgewiesen.«

»Weil sie nach einer gewissen Zeit im Blut nicht mehr nachweisbar ist. Aber die Wohnung, der restliche Tee in der Tasse … Der Tatort wurde untersucht.«

»Ja, und auf der Tasse fanden sich die DNA-Spuren von Ihnen und Frau Franke. Es gab keine Spuren von einem Kampf in der Wohnung. Wie würden Sie in einer solchen Situation als Strafverteidigerin vorgehen?«

Die Tür von Oberst Wahlstroms Büro war geschlossen, was anzeigte, dass er nicht gestört werden wollte. Kurz überlegte Natasha, ob sie es als Zeichen deuten sollte, es sich noch mal zu überlegen. Nein. Entschlossen hob sie die Hand und klopfte.

»Herein. – Kehlmann, ich hoffe für Sie, es ist etwas verdammt Dringendes.« Oberst Wahlstrom war nicht allein in seinem Büro.

Generalmajor Hartmann erhob sich, schloss die Tür hinter ihr, legte ihr eine Hand auf die Schulter und schob sie in Richtung Stuhl. »Setzen Sie sich«, forderte er sie auf, nicht in demselben Befehlston wie Wahlstrom, sondern freundlich, aber bestimmt. Mann, musste sie beschissen aussehen. Sie setzte sich, weil sie spürte, dass ihre Knie tatsächlich nachgaben. Hartmann setzte sich auf die Schreibtischkante.

»Jetzt sagen Sie mir bloß nicht, dass Sie schwanger sind.«

»Ben«, kam es tadelnd von Hartmann.

»Ich muss kündigen.«

»Atmen Sie erst mal tief durch und erzählen Sie uns, was passiert ist.«

Natasha schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. »Nein. Meinetwegen stehen Sie vor dem Ausschuss. Weil ich eine Geisel mit der Waffe bedroht habe. Ich bin in eine Wohnung eingebrochen. Nein, ich brauche gar nicht zu kündigen. Sie müssen mich feuern.«

»In eine Wohnung eingebrochen?« Hartmann hob fragend die Augenbrauen und sah zu Wahlstrom hinüber.

Der räusperte sich. »Kehlmann, hören Sie auf, dramatisch zu sein. Themis besteht aus über einhundert Männern und Frauen, Sie sind lediglich eine davon. Wir stehen nicht Ihretwegen unter Beschuss, und das wissen Sie. Also, was hat Sie derart aus dem Konzept gebracht?«

»Mich würde der Punkt mit dem Wohnungseinbruch genauer interessieren.«

»Hartmann!«

»Ben?«

»Nichts Dramatisches. Es hatte mit dem Fall Egbert zu tun. Kehlmann ist in Ciobanus Wohnung eingedrungen, das wars. Sache erledigt.«

»Ohne einen Durchsuchungsbeschluss?«

»Sie glaubte, eine junge Frau sei in Gefahr. Immerhin war eines der Mädchen, die bei ihm wohnten, kurz zuvor in ihrem Beisein gestorben.«

»Er wird uns einen Strick daraus drehen«, murmelte Natasha.

»Wer?« Die Frage kam von beiden.

»Alexander Egbert. Ich war heute Morgen bei der Staatsanwältin Saskia Görcke, die für die Anklage zuständig ist. Sie sagt, er habe den besten Strafverteidiger, der alles zerpflücken und infrage stellen würde.«

»Und wie will er das machen? Immerhin hat er vor Ihren Augen der Mutter seiner Exfreundin die Kehle durchgeschnitten.«

»Ben«, mahnte Hartmann, als müsse er sie vor seinen Worten schützen.

»Sorry.«

»Eben nur vor meinen Augen«, versuchte sie die Bilder, die Wahlstroms Worte heraufbeschworen hatten, zu verdrängen.

Einen Moment herrschte Stille im Raum. Hartmann begriff die Bedeutung ihrer Aussage schneller.

»Verstehe. Frau Görcke geht davon aus, dass der Strafverteidiger Ihre Glaubwürdigkeit infrage stellen wird. Es gibt keine Spuren an der Mordwaffe. Sie beide verbindet eine Vergangenheit. Er war der Freund Ihrer besten Freundin. Sie könnten eifersüchtig gewesen sein oder Rache im Sinn gehabt haben.«

»Kehlmann, Sie wollen nicht ernsthaft behaupten, dass Egberts Strafverteidiger die Geschichte von damals herauskramt, um seinen Mandanten herauszuboxen?«

»Erst mal geht es ihm wohl darum, Egbert aus der U-Haft zu bekommen. Er wird argumentieren, dass die Beweislast nicht ausreicht, dass er eine Familie hat, fest in der Gesellschaft verankert ist und es daher nicht angemessen ist, ihn weiterhin in der Justizvollzuganstalt zu belassen«, erwiderte sie und frage sich, woher ihre Ruhe kam. Sie hätte wütend sein müssen wie zuvor bei der Staatsanwältin.

»Ach verfluchte Scheiße!«, rief Wahlstrom und sprang von seinem Bürostuhl auf. »Nicht genug damit, dass wir uns mit dieser dämlichen politischen Kacke und einem digitalen Angriff auf unser Land auseinandersetzen müssen – nein, jetzt kommen noch Psychopathen auf freien Fuß, die auf frischer Tat ertappt wurden.«

»Bisher sitzt er in U-Haft«, erwiderte Hartmann ruhig. »Frau Görcke ist zugegebenermaßen eine sehr junge, jedoch kompetente Staatsanwältin, die für ihre extreme Genauigkeit bekannt ist. Sie wird alles dreimal überprüfen und – da bin ich mir sicher – am Ende eine Beweislage für den Prozess vorlegen, die Alexander Egbert lebenslänglich hinter Gitter bringt.«

»Ja, und was passiert, wenn Sie das mit dem Wohnungseinbruch herausfindet? Sie oder der Strafverteidiger? Wie glaubwürdig ist meine Aussage dann? Und vergessen Sie nicht, dass Egbert am Ende nicht nur eine Bisswunde hatte, sondern auch eine gebrochene Nase und einen ausgeschlagenen Zahn.«

»Dafür hat Kriminalhauptkommissar Abel einen Eintrag in seine Personalakte erhalten. Der Hund hat nur getan, wozu er ausgebildet wurde: einen Angreifer zu entwaffnen, sobald einer von Ihnen sich in unmittelbarer Gefahr befindet. Exakt das war der Fall. Der ganze Sachverhalt wurde überprüft und von den eintreffenden Ermittlungsbeamten des LKA am Tatort festgehalten, nachdem man Sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Ihre Verletzungen wurden dokumentiert, und das alles sind Beweise, die gegen Alexander Egbert sprechen.«

Er hatte recht. Sie wusste, was im Bunker unter dem Nachtklub vorgefallen war, und sie hatte es sich nicht ausgedacht, weder den Mord, noch sein Geständnis, seine Schläge oder ihre Angst, als ihr klar wurde, dass er sie mit dem Messer töten würde. Dennoch …

»Nein. Ich muss die Konsequenzen ziehen.«

»Welchen Job genau wollen Sie denn kündigen, Kriminalhauptkommissarin Kehlmann? Den in der Sondereinheit oder den beim BKA?«

3

Carolina

Darüber hatte sie nicht nachgedacht. Sie war Beamtin aus Überzeugung und wollte den Polizeidienst nicht quittieren. Aber welche Wahl hatte sie? Wenn sie bei der Sondereinheit Themis kündigte, weil sie eine Grenze überschritten hatte, dann galt dieser Umstand gleichermaßen für ihren Arbeitsvertrag beim BKA.

Hartmann nickte zufrieden über ihr Grübeln. »Oberst Wahlstrom, wären Sie so nett und würden mir und Kriminalhauptkommissarin Kehlmann kurz Ihr Büro überlassen?«

Wahlstrom musterte Hartmann mit schmalen Augen. Einen Moment wirkte er unentschlossen, dann bewegte er sich und ging hinaus.

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, stöhnte Natasha auf, verschränkte die Hände in ihrem Nacken und baute Druck auf, indem sie den Kopf nach hinten gegen die Hände presste. Jeder einzelne Muskel in ihrem Nacken und den Schultern war verspannt. Die Dehnung brachte das Blut zum Zirkulieren und verschaffte ihr so Erleichterung. Was für einen verfluchten Mist sie doch verzapft hatte!

»Besser?«

Sie öffnete die Augen. Hartmann hatte sich den zweiten Besucherstuhl herangezogen. Er trug ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen.

»Wie können Sie so verdammt ruhig bleiben? Ich erzähle Ihnen, dass ich meine Glaubwürdigkeit als Zeugin eingebüßt habe und rechtswidrig in eine Wohnung eingebrochen bin. Sie müssten mich umgehend suspendieren und aus der Einheit werfen – und ein internes Verfahren gegen mich einleiten.«

»Kehlmann, ich glaube, Sie vergessen manchmal, dass Sie am Ende auch nur ein Mensch sind, der Fehler macht.«

»Fehler, die unsere Rechtsstaatlichkeit infrage stellen?«

»Was genau hat Sie bewogen, in die Wohnung von Razvan Ciobanu einzubrechen?«

»Ein Mädchen war vor meinen Augen gestorben. Zuvor war es misshandelt worden. Er war ihr Zuhälter gewesen, und Estera – so hieß das Mädchen – hatte nicht als einzige für ihn angeschafft. Wahlstrom schickte mich nach Hause, doch ich konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Ich reichte Urlaub ein und entschied mich für eine Observation auf eigene Faust. Als ich am nächsten Tag seine Wohnung beobachtete, fuhr er mit einem Mädchen im Wagen vorbei.« Sie machte eine Pause. »Ich weiß nicht, weshalb mir diese blöde Idee kam, seine Wohnung zu durchsuchen. Ich denke, ich wollte wissen, wer Estera gewesen war und wo sie gelebt hatte. Sie sollte nicht nur ein Name in einer Akte sein.«

»Was hätten Sie gemacht, wenn Sie die Leitung der Abteilung Sexualdelikte im LKA innegehabt hätten und ein sechzehnjähriges Mädchen, offensichtlich abgemagert und misshandelt, wäre ohne ersichtliche Fremdeinwirkung urplötzlich mit Schaum vor dem Mund gestorben?«

»Ich wäre zur Staatsanwaltschaft gegangen und hätte einen Durchsuchungsbeschluss gegen den Mann erwirkt, bei dem das Mädchen wohnte. Erstens war er nicht erziehungsberechtigt und hätte damit für mich ganz klar im Verdacht gestanden, ihr Zuhälter zu sein. Sie hatte Panik. Ich meine, letztlich ist sie am Ende genau deshalb gestorben. Zweitens wäre für mich zu dem Zeitpunkt die naheliegendste Erklärung für ihren Tod Drogenmissbrauch gewesen, oder aber die inneren Verletzungen angesichts der Gewaltspuren an ihrem Körper hatten tödliche Folgen.«

»Stattdessen hat Polizeikommissar Klingenthal eine Untersuchung gegen Sie angestrebt, warum?«

Sie sah ihn einen Moment verwirrt an. Sie war sich sicher, dass Hartmann den Grund dafür kannte. »Weil er korrupt war und ein Handlanger für seinen Neffen Alexander Egbert?«

»Korruption. Auch bei uns in Deutschland bleiben wir davon nicht verschont. Was genau haben Sie in der Wohnung von Ciobanu gemacht?«

»Ich bin durch die Räume gegangen und habe festgestellt, dass neben Estera noch drei weitere Mädchen bei Ciobanu lebten. Ich fand in mehreren Zimmern Kokain und eine P30 in Ciobanus Nachttischschublade. Zuletzt fotografierte ich Geschäftsunterlagen in seinem Arbeitszimmer.«

»Sie haben also keine Beweise entwendet oder falsche platziert?«

»Nein!«, protestierte sie entrüstet, stockte und spürte Hitze in ihre Wangen steigen. Hartmann hob fragend die Brauen.

»Estera trug, als sie starb, einen einzelnen Ohrring. Der zweite fehlte. Ich fand ihn in ihrem Zimmer und nahm ihn in einer Asservatentüte mit.«

»Wie sind Sie in die Wohnung gekommen?«

»Eine Nachbarin machte mir die Haustür auf. Den Code seiner Wohnungstür habe ich mithilfe einer Software geknackt.«

»Ich werde Sie jetzt nicht fragen, woher Sie die Software haben und wer Ihnen das beigebracht hat«, kommentierte Hartmann trocken.

»Ich habe Ihnen gesagt, dass es ein rechtswidriger Einbruch war.«

»Ohne Frage, und es gibt für mich keine Entschuldigung für Ihr Verhalten. Hat Ciobanu den Einbruch angezeigt?«

»Nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

»Demnach wurde die Nachbarin dazu auch nie befragt?«

»Nein. Es war auch nicht das erste Mal, dass sie eine Frau oder ein Mädchen ins Haus gelassen hat.«

»Was haben Sie ihr gesagt, damit sie Ihnen die Tür öffnet?«

»Dass ich sein Personal Trainer sei.«

»Verstehe. Was Sie getan haben, ist genau das, was unsere Strafprozessordnung verhindern soll. Dass Bürgerrechte durch die Willkür einer Polizeibehörde eingeschränkt und verletzt werden. Sie enttäuschen mich, Frau Kehlmann. Gerade von Ihnen hätte ich etwas anders erwartet.«

Natasha senkte den Kopf. Die Worte taten weh, weil sie selbst von sich enttäuscht war. So viel zum Thema, dass auch sie nur ein Mensch war und Fehler machte. Sie hatte sich falsch verhalten, und wenn es herauskam, würde es ein schlechtes Licht auf die Polizeibehörden werfen. Auf der anderen Seite hatte sie das Gefühl, eine Last losgeworden zu sein, etwas, das ihr offensichtlich schon längere Zeit auf der Seele brannte, ohne dass es ihr bewusst gewesen wäre.

»Sie leisten in dieser Einheit wertvolle Arbeit, Frau Kehlmann, und Sie sollten nicht vergessen, dass Sie zu dem ersten Team dieser Einheit gehören und somit ein Vorbild für die anderen darstellen. Aber keiner von Ihnen steht über dem Gesetz, und ich möchte, dass Sie sich in Zukunft exakt an jeden einzelnen Paragrafen halten. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, aber  …«

»Wenn Sie kündigen, wirft das jede Menge Fragen auf. Sie haben vorhin selbst erwähnt, dass Egbert einen exzellenten Strafverteidiger hat. Glauben Sie mir, diese Sache wäre für ihn genau der Ansatzpunkt, um einen Prozess zu verhindern oder zumindest Ihre Glaubwürdigkeit und Handlungsweise infrage zu stellen.«

»Und was soll ich machen?« Sie hob den Kopf.

»Ihren Job.«

»Ich verstehe nicht.«

»Es gibt jede Menge Arbeit für Sie.«

»Ja, aber  …«

»Sie haben Ihre Lektion gelernt und am eigenen Leib erfahren, wo es hinführt, wenn Sie sich nicht an die Gesetze halten. Sie riskieren, dass ein Mörder, Zuhälter, Vertreiber von Kinderpornografie und Gewaltverbrecher auf freien Fuß kommt. Ich denke, das ist Strafe genug, zumal Sie selbst zweimal Opfer dieses Mannes waren. Sehen Sie zu, dass es nicht ein drittes Mal passiert.«

Tot. Frustriert beendete Natasha das Szenario. Nicht nur hatte sie die Angreifer nicht ausgeschaltet – nein, sie hatte auch eines der Opfer mit einem Streifschuss erwischt.

»Wow, das war selbst für deine Verhältnisse schlecht.«

Carolina stand hinter ihr und besah sich das Ergebnis auf dem Monitor. Natasha kontrollierte den Lauf ihrer Waffe, ließ das leergeschossene Magazin herausgleiten, schob ein volles ein, sicherte die Waffe und steckte sie in das Schulterholster.

»Seit wann arbeitest du deinen Frust im Schussraum ab, statt im Schwimmbad?«

»Ich dachte, damit bekomme ich meine gewalttätigen Gedanken in den Griff.«

»Und, fühlst du dich besser?«

»Nein.«

»Ich hab gehört, du hattest heute Morgen einen Termin bei der Staatsanwältin?«

»Mann, wo hast du nur immer deine Informationen her?«

Carolina grinste. »Du bist nicht die Einzige, die sich das fragt, aber es bleibt mein Geheimnis.«

»Der Raum gehört dir.«

»Ich hatte nicht vor, zu üben.«

»Weshalb bist du dann hier?«

»Wegen dir. Was hältst du von einem Latte Macchiato Karamell und einem Schokomuffin?«

»Bei einem Chai Latte und Banana Bread bin ich dabei.«

Natasha biss in den Kuchen, kaute und verdrehte die Augen. Fett und Zucker. Manchmal brauchte es diese Kombination, um die Welt wieder ein Stück weit freundlicher werden zu lassen.

»Hmm, ich habe noch Hoffnung, dass Pit dich nicht völlig verdorben hat.«

»Du würdest dich wundern.«

»Sag mir Bescheid, wenn du es dir mal anders überlegst.«

»Caro! Zoe ist die Liebe deines Lebens. Warum flirtest du ständig?« Carolina senkte den Blick und begann ihren Schokomuffin zu zerkrümeln. Natasha schob ihren Teller zur Seite. »Da liegt also der Hase im Pfeffer. Es geht um die Babygeschichte.«

»Zoe redet kein Wort mit Ulf. Ich habe noch nie erlebt, dass sie derart lange auf ihn sauer ist.«

»Und warum?«

»Ulf hat ihr den Kopf gewaschen wegen Mark.«

Natasha runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, welche Rolle Ulf und Mark in einem Konflikt zwischen Caro und Zoe spielen mochten.

»Sie will kein Baby oder Kind adoptieren.«

»Sorry, wenn ich gerade auf dem Schlauch stehe, aber soweit ich weiß, braucht man immer noch männliches Sperma, um  …« In dem Moment machte es Klick bei ihr. »Ihr wolltet nicht ernsthaft Mark  …?« Sie schüttelte den Kopf. »Carolina, dafür gibt es Spermabanken.«

»Weißt du, durch welchen Prozess man gehen muss, um eine künstliche Befruchtung durchzukriegen?«

»Und du glaubst, es wäre besser, wenn Zoe und Mark miteinander schlafen, um ein Kind zu …« Sie hielt inne, überlegte, ob sie das Wort »produzieren« wirklich verwenden sollte, und entschied sich dagegen. »… zeugen?«

»Nein. Genau das ist mein Problem. Egal, was ihr von mir denkt, ich bin nicht blind. Ich weiß, dass Mark glaubt, er würde mich lieben, und darauf hofft, dass ich eines Tages auf Männer stehen werde. Ist schon seltsam, oder? Als wäre lesbisch zu sein nur eine Phase oder eine Frage des richtigen Partners.«

»Was es nicht ist.«

»Ich verlier sie, Natasha. Es ist wie eine fixe Idee, die sich in ihrem Kopf festgesetzt hat. In unserer Wohnung wimmelt es von Schwangerschaftsbüchern und Babyzeitschriften, und sie will unser Homeoffice renovieren.«

Natasha dachte an die Sozialarbeiterin, die sie vor ein paar Tagen im Wartezimmer der Frauenärztin getroffen hatte. Sie hatte ein T-Shirt mit der Aufschrift »Baby on Board« getragen, mit einem Pfeil, der auf den noch kaum sichtbaren Bauch zeigte. »Vielleicht braucht sie nur ein wenig Zeit?«

Carolina schüttelte den Kopf. »Du kennst Zoe. Wenn sie ein Ziel vor Augen hat, gibt es nichts, was sie davon abhalten würde, es zu erreichen. Sie boxt es durch.«

»Auch auf Kosten eurer Beziehung?«

Die selbstbewusste blonde, nordische Fassade zerbrach. Caros blaue Augen füllten sich mit Tränen. Noch nie hatte Natasha ihre Kollegin weinen sehen. Sie legte ihr eine Hand auf den Arm.

»Ach verflucht, hast du ein Papiertaschentuch?«

Natasha kramte in ihrer Jackentasche und reichte ihr die Packung.

»Würdest du mit ihr reden?«

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.« Natasha erinnerte sich nur allzugut an ihre erste Begegnung mit der Nahkampfspezialistin in ihrem Team. Zoe sprühte nicht gerade vor Freundlichkeit und Herzenswärme.

»Verstehe.«

»Ich habe noch vor Kurzem gedacht, ich wäre schwanger.«

»Nicht nur du. Bei deinen Symptomen waren Ulf und Zoe sich verdammt sicher, und weil du die Pille nicht nimmst. Aber ich sagte ihnen, keine Chance, Pit ist bezüglich Verhütung derart penetrant, damit er nicht genau in diese Falle …« Sie hielt inne. »Sorry, ich meine …, ich glaube nicht, dass er  …«

Natasha verzog amüsiert den Mund.

»Ähm,  … oder du … Ach Mist, verrätst du mir, wie ich aus dieser Nummer wieder rauskomme?«

Natasha schwieg. Das hier war mal eine ganz neue Carolina. Sie genoss es viel zu sehr.

»Abgesehen davon ging es mir früher ähnlich. Ich habe auch nichts mehr bei mir behalten. Ich wollte keinen Busen und keine weiblichen Rundungen haben. Es hat lange gedauert, bis ich meine Essstörung überwunden hatte. Das war auch der Grund, weshalb ich von Pit wegmusste. Sein Kontrollzwang – das war ein Trigger, der irgendwann zu einem Rückfall geführt hätte.«

»Du wurdest missbraucht?« Natasha hatte unwillkürlich die Stimme gesenkt.

»Mein Vater.«

4

Geständnisse

Auf einmal ergab Carolinas Verhalten bei den Ermittlungen gegen Razvan Ciobanu, die am Ende zur Verhaftung von Alexander Egbert alias Azazela geführt hatten, einen Sinn. Sie war die Einzige im Team gewesen, die daran gedacht hatte, ihr etwas anzuziehen, damals in dem Bunker.

»Das erste Mal an meinem achten Geburtstag. Er sagte, er hätte noch ein ganz besonderes Geschenk für mich. Und es endete erst mit seinem Tod.« Die Tränen waren weg, genauso die Verletzlichkeit. Sie schob herausfordernd das Kinn vor.

Natasha stellte ihre Frage lieber nicht, weil sie im Zweifel war, ob sie die Antwort hören wollte. Stattdessen fragte sie: »War das der Grund, weshalb du zum Militär gegangen bist?«

»Und weshalb ich die beste Scharfschützin wurde. Ja. Mein Zielobjekt ist in 99,9 Prozent aller Fälle ein Mann. Auf wen hast du vorhin zu schießen versucht?«

»Alexander Egbert.«

»Er ist reich. Er hat Kontakte. Er hat einen Strafverteidiger, der auf Sexualdelikte spezialisiert ist.«

»Wir waren allein in dem Raum, als er Bianca Franke ermordete.

---ENDE DER LESEPROBE---