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Königin Sophie Dorothea (1687-1757) war die Mutter Friedrichs des II. Sie wurde in das bedeutende Haus Hannover hineingeboren und heiratete den König von Preußen. Doch was bedeutete diese Machtposition für eine Frau im 18. Jahrhundert? Um ihre Ziele zu erreichen, bediente sich Sophie Dorothea nicht selten der Intrige, aber ihrem Sohn, dem Preußischen Herrscher, war sie stets eine treusorgende Beraterin. Sophie Dorothea gehört zu jenen starken Frauen der Geschichte, die nicht an den Widrigkeiten des Lebens zerbrachen, sondern daraus scheinbar immer wieder neue Kraft schöpften und ihre Zeit bedeutend prägten.
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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2014
ISBN 978-3-492-96666-5
© 2014 Piper Verlag GmbH, München
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: bpk Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte
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Vorwort
Sie macht es ihren Biografen wirklich nicht leicht. Gewiss, Königin Sophie Dorothea (1687–1757) aus dem Hause Hannover war Tochter, Schwester, Ehefrau und Mutter teils bedeutender europäischer Monarchen. Doch wer war sie selbst? Was steckte hinter der Fassade aus Hermelin und Goldbrokat, die sie so sehr liebte?
Leider hat uns Sophie Dorothea keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen, die einen Blick in ihr Innerstes ermöglicht hätten. Die noch vorhandenen Briefe verraten nur wenig von den wahren Gefühlen der Königin, denn es ging ihr hauptsächlich um die Durchsetzung ihrer ehrgeizigen Interessen. Und dabei war sie keineswegs zimperlich. Um ihre Ziele zu erreichen, bediente sich Sophie Dorothea nämlich einer etwas zwielichtigen Methode: Intrige und Verstellung. Doch kann man das einer Frau wirklich verdenken, die schon mit Lug und Trug aufgewachsen ist?
Bereits die Ehe ihrer Großeltern Ernst August und Sophie von Hannover kam unter äußerst dubiosen Umständen zustande. Sophie Dorotheas gleichnamige Mutter wiederum hinterging ihren Gemahl mit dem smarten Grafen Königsmarck und wollte für den Geliebten sogar die beiden Kinder im Stich lassen. Selbst Sophie Dorotheas eigene Ehe mit ihrem preußischen Cousin Friedrich Wilhelm (1688–1740) wurde von Großmutter Sophie und Tante Sophie Charlotte, Preußens erster Königin, auf hinterhältige Weise eingefädelt.
So hatte die 19-jährige Sophie Dorothea ihre erste Lektion bereits gelernt, als sie mit dem preußischen Kronprinzen vor den Traualtar trat: Um ans Ziel zu kommen, waren Offenheit und Ehrlichkeit eher hinderlich. Das galt auch für ihre eigene Ehe. Um sich gegenüber Friedrich Wilhelm behaupten zu können, der mitunter zu Anfällen rasender Eifersucht neigte, heuchelte sie ihm Liebe und Zuneigung vor, die sie in Wirklichkeit überhaupt nicht verspürte.
So wurde Sophie Dorothea hart gegen sich selbst und gegen andere. Nur für ihre (ältesten) Kinder wollte sie – wie wohl jede Mutter – »das Beste«, und das waren in diesem Fall die richtigen Ehepartner. Nachdem ihr Vater Georg Ludwig durch eine Laune der Geschichte 1714 englischer König geworden war, plante Sophie Dorothea die Verbindung von Kronprinz Friedrich (1712–1786) mit seiner Cousine, der englischen Prinzessin Amalie, während ihre älteste Tochter Wilhelmine (1709–1758) den nachmaligen Prinzen von Wales heiraten sollte.
Viele Jahre lang sah es so aus, als würde Sophie Dorotheas Wunschtraum tatsächlich in Erfüllung gehen. Als Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. jedoch aus politischen Gründen von England abrückte, war das ehrgeizige Projekt zum Scheitern verurteilt. Das aber wollte Sophie Dorothea nicht hinnehmen. Und so versuchte sie heimlich und hinter dem Rücken ihres Gemahls die englische Doppelhochzeit doch noch zu realisieren – mit katastrophalen Folgen …
Für die traurige Jugend des Kronprinzen Friedrich wird gemeinhin der strenge und cholerische Vater verantwortlich gemacht, »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. Doch auch Sophie Dorothea trifft ein Teil der Schuld, selbst wenn sie den Sohn nicht mit dem Rohrstock und üblen Beleidigungen traktiert hat. Aber sie trug durch ihre Heimlichkeiten maßgeblich dazu bei, dass sich der Vater-Sohn-Konflikt am Hohenzollernhof erheblich zuspitzte – bis hin zum missglückten Fluchtversuch des Kronprinzen im Sommer 1730.
Die bittere Enttäuschung darüber, dass sich ihre Lebensträume nicht erfüllten, hat sich Sophie Dorothea nie anmerken lassen. Sie wahrte stets »Contenance« und präsentierte sich als stolze und Ehrfurcht gebietende Königin. Wie es in ihrem Innersten aussah, wie sehr sie tatsächlich darunter gelitten haben mag, hat sie niemandem offenbart. Allem Anschein nach gehört Sophie Dorothea zu jenen »starken Frauen« der Geschichte, die nicht an den Widrigkeiten des Lebens zerbrachen, sondern daraus scheinbar immer wieder neue Kraft schöpften. Wie ihr das gelang, bleibt ein Geheimnis. Es muss daher wohl bei dem Versuch bleiben, sich Königin Sophie Dorothea vorsichtig anzunähern.
Sophie Dorothea und die liebe Verwandtschaft – frühe Jahre in Hannover
Aus »Fiekchen« wird »Olympia« oder: Der Mensch wächst mit seiner Aufgabe
Als die 19-jährige Sophie Dorothea (1687–1757) von Hannover mit ihrem Cousin, dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm (1688–1740), verheiratet wurde, hatte sie nicht gerade das »große Los« gezogen. Der junge Hohenzollernspross, im Umgang mit der Damenwelt ohnehin höchst unsicher, war mit der neuen Rolle als Ehemann völlig überfordert. Dementsprechend verfolgte er sein »Fiekchen«, wie er Sophie Dorothea nannte, jahrelang mit Misstrauen, Jähzorn und grundloser Eifersucht. Die einzige Möglichkeit, sich gegenüber ihrem schwierigen Gemahl zu behaupten, sah die Hannoveranerin in einem fatalen Gemisch aus Verstellung, Heuchelei und Intrigen, um hinter dem Rücken Friedrich Wilhelms zielstrebig ihren eigenen Weg gehen zu können. So aber wurde aus der verunsicherten Prinzessin, die 1706 an den Berliner Hohenzollernhof gekommen war, im Laufe der Zeit eine selbstbewusste, ja geradezu Ehrfurcht gebietende Fürstin, der – außer dem König – niemand zu widersprechen wagte. Sophie Dorotheas älteste Tochter, Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, beschrieb ihre Mutter später durchaus ambivalent: »Die Königin ist niemals schön gewesen, sie ist pockennarbig, und ihre Züge sind keineswegs klassisch. Ihre Haut ist weiß, ihre Haare dunkelbraun, ihre Figur ist eine der schönsten, die es je gab. Ihre edle und majestätische Haltung flößt allen, die sie sehen, Ehrerbietung ein; ihre große Weltgewandtheit und ihr großer Geist deuten auf mehr Gründlichkeit, als ihr eigen ist. Sie hat ein gutes, großmütiges und mildreiches Herz, sie liebt die schönen Künste und die Wissenschaften, ohne sich allzu sehr mit ihnen befasst zu haben. Jeder hat seine Fehler, sie ist nicht frei davon. Sie verkörpert allen Stolz und Hochmut ihres hannoveranischen Hauses. Ihr Ehrgeiz ist maßlos, sie ist grenzenlos eifersüchtig, argwöhnisch und rachsüchtigen Gemütes und verzeiht nie, wenn man sie beleidigt hat.« Am Berliner Hof wurde es üblich, hinter dem Rücken Sophie Dorotheas von »Olympia« zu sprechen, was der imposanten Erscheinung und dem Respekt einflößenden Wesen der Königin schon sehr nahe kam.
Diese ungewöhnliche Entwicklung von der eingeschüchterten Welfenprinzessin zur herrischen »Olympia« lässt sich wohl nur mit einer enormen inneren Stärke erklären, gepaart mit jenem dynastischen Stolz, der für das Welfengeschlecht so typisch war. Deshalb ist es zwingend erforderlich, zunächst einmal die Geschichte(n) der Familie kennenzulernen. Sophie Dorothea stammte schließlich nicht nur aus einem der ältesten und vornehmsten Adelsgeschlechter Deutschlands, ihre Wurzeln reichten auch bis zu den englischen Stuarts zurück, was ihr Leben als preußische Königin maßgeblich bestimmt hat. Widmen wir uns also als Erstes der »lieben Verwandtschaft«.
Trügerische Idylle
Das alte Leineschloss in Hannover, im Zweiten Weltkrieg zerstört und anschließend wieder aufgebaut, dient heute als Sitz des niedersächsischen Landtags und macht einen durch und durch friedlichen Eindruck. Und doch birgt dieser Bau, in dem Sophie Dorothea am 26. März 1687 das Licht der Welt erblickte, ein dunkles Geheimnis. In ihrer Familie wurde natürlich nie über das gesprochen, was sich hinter diesen dicken Mauern zugetragen haben soll, damals, als die kleine Prinzessin erst sieben Jahre alt war. Aber üblen Hofklatsch gab es natürlich auch in Hannover. Ahnte das Kind womöglich, dass er etwas mit ihrer Mutter zu tun hatte, die den gleichen Namen trug wie sie selbst? Im Januar 1695 waren alle Porträts von Kurprinzessin Sophie Dorothea (1666–1726) aus den Räumen des Schlosses entfernt worden, und auch sie selbst verschwand damals für immer aus Hannover. Niemand in der Familie hat jemals wieder von ihr gesprochen.
Sollte Tochter Sophie Dorothea trotz allem die Gelegenheit gehabt haben, sich heimlich ein Bildnis ihrer Mutter anzuschauen, dann blickte ihr eine hübsche junge Frau entgegen, eine etwas pummelige Schönheit mit dunklem Haar und rosigem Teint, den Blick sehnsüchtig in die Ferne gerichtet. Hatte diese unbestimmte Sehnsucht vielleicht etwas mit dem dunklen Geheimnis zu tun, das wie ein Fluch auf der Familie lastete? Doch schauen wir uns diese Familie zunächst einmal näher an.
Als Sophie Dorothea geboren wurde, schien die Welt in Hannover noch in Ordnung zu sein. Die jungen Eltern, Erbprinz Georg Ludwig von Braunschweig-Lüneburg (1660–1727) und seine Gemahlin, freuten sich sicher, dass der vierjährige Sohn Georg August nun ein gesundes Schwesterchen bekommen hatte, auch wenn ihnen ein zweiter Knabe gewiss lieber gewesen wäre. Ähnlich erging es wohl auch den Großeltern väterlicherseits, Herzog Ernst August (1629–1698) und Herzogin Sophie (1630–1714), einer geborenen Prinzessin von der Pfalz. Die beiden hatten sieben Kinder – sechs Söhne und eine Tochter –, und doch war Sophie Dorothea erst das zweite Enkelkind. Ein Mädchen, nun ja. Noch ahnte niemand, dass beide Kinder später einmal eine Krone tragen würden: der 1683 geborene Georg August als Georg II. von England und Sophie Dorothea an der Seite ihres Berliner Cousins Friedrich Wilhelm I. als preußische Königin. Aber bis dahin sollten noch viele Jahre vergehen.
Die Idylle im alten Leineschloss war trügerisch. Tatsächlich präsentierte sich die herzogliche Familie, die sich an der Wiege der neugeborenen Prinzessin versammelt hatte, keineswegs so einträchtig, wie es den Anschein hatte. Die jungen Eltern gingen sich nach Möglichkeit aus dem Weg, und auch zwischen den beiden Großelternpaaren herrschte eine angespannte Stimmung. Das lag vor allem an Herzogin Sophie, die nämlich mit der Mutter ihrer Schwiegertochter auf Kriegsfuß stand. Wie und warum – das ist eine lange Geschichte, die mit einem seltsamen Brauttausch angefangen hatte, viele Jahre vor der Geburt von Sophie Dorothea. Hauptakteur war damals der zweite Großvater der Prinzessin gewesen, Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg (1624–1705).
Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg – ein lebenslustiger Welfenherzog
Die beiden Großväter von Sophie Dorothea waren Brüder. Herzog Georg Wilhelm, der ältere von beiden, war einst ein ausgesprochen lebenslustiger junger Mann gewesen, der viel lieber die Welt kennenlernen wollte, als sich in der norddeutschen Provinz mit den Niederungen der Politik zu befassen. Vorzugsweise amüsierte er sich im sonnigen Italien, das ihm neben den zahlreichen kulturellen Reizen wie der Oper auch jede Menge schöner Frauen bot. In die kalte deutsche Heimat kehrte er nur sporadisch und eher widerwillig zurück. Das ging eine Weile ganz gut, und selbst seine Berater hatten Verständnis dafür, dass sich ihr vitaler Herzog erst einmal »die Hörner abstoßen« musste, bevor er in Hannover vom Ernst des Lebens eingeholt werden würde. Auf Dauer jedoch war ein solcher Zustand untragbar, schließlich hatte Georg Wilhelm inzwischen schon seinen 33. Geburtstag gefeiert. Die Landstände [Vertreter der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, der Stände. Im Zeitalter des Absolutismus war die Steuerbewilligung ihr wichtigstes Privileg.] setzten dem reisefreudigen Fürsten daher die Pistole auf die Brust: Entweder besann sich der Herr Herzog auf seine Pflichten, regierte sein Land, heiratete und sorgte für standesgemäßen Nachwuchs – oder man würde ihm den Geldhahn zudrehen. So musste Georg Wilhelm wohl oder übel einsehen, dass die Zeiten des dolce vita in bella Italia unwiderruflich zu Ende gingen. Jetzt rief die Pflicht.
Jedoch war Georg Wilhelm nur einer der zahllosen deutschen Duodezfürsten und keineswegs eine besonders »gute Partie«. Immerhin entstammte er dem Welfenhaus, das noch immer vom Ruhm der alten Zeiten zehrte. Nach ihren Anfängen in der Karolingerzeit hatten die Welfen unter Heinrich dem Löwen (wohl 1129–1195) den Höhepunkt ihrer Macht erreicht. Danach war es merklich stiller um sie geworden, zumal das Haus durch zahlreiche Erbteilungen zersplitterte. Erst im 17. Jahrhundert gab es dann nur noch zwei Hauptlinien, die verschiedene Teilfürstentümer des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel regierten. Georg Wilhelm beispielsweise regierte als Fürst von Calenberg 1648–1665 in Hannover, während sein älterer Bruder Christian Ludwig (1622–1665) ab 1648 als Fürst von Lüneburg im reicheren Celle zu Hause war.
Christian Ludwig wollte das Lotterleben seines lebensfrohen Bruders nicht länger mitansehen, zumal seine eigene Ehe kinderlos geblieben war und der Jüngere nun dafür sorgen sollte, dass die Thronfolge sichergestellt wurde. Diesem Druck, der von allen Seiten auf ihn ausgeübt wurde, konnte sich Georg Wilhelm nicht entziehen. Er fügte sich seinem Schicksal und plante nur noch eine letzte Reise, gleichsam einen »Junggesellenabschied« in Italien, auf den ihn sein jüngerer Bruder Ernst August begleiten sollte. Davor aber, im Herbst 1657, machte sich Georg Wilhelm pflichtbewusst auf die Suche nach einer standesgemäßen Braut, die wie er selbst protestantisch sein sollte.
Brautschau in Heidelberg
Der Weg führte den Georg Wilhelm auf Freiersfüßen von Hannover nach Heidelberg, in die Residenz des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz, der nach den Wirren des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) sein geschundenes Land wieder neu aufbauen musste. Bei ihm im Heidelberger Schloss lebte auch seine jüngste Schwester, die 1630 geborene Sophie, die mit ihren 27 Jahren allmählich eine »alte Jungfer« zu werden drohte. Interessenten gab es kaum, denn eine reiche Mitgift hatte sie nicht zu erwarten. Und doch bekundete Georg Wilhelm ein ernsthaftes Interesse an der zierlichen Prinzessin, Tochter des glücklosen »Winterkönigs« Friedrich V. von der Pfalz und seiner englischen Gemahlin Elisabeth Stuart. Als Schönheit konnte man Sophie allerdings nicht gerade bezeichnen. Weil im Barockzeitalter eher üppige Formen gefragt waren, entsprach die junge Pfälzerin, klein und mager, wie sie war, nicht unbedingt dem damaligen Frauenideal. Ihr Gesicht zierte eine etwas zu lange Nase, die sie dann später ihren preußischen Urenkeln vererbte – Friedrich dem Großen und einigen seiner Geschwister. Georg Wilhelm hatte auf seinen Reisen nach Italien gewiss attraktivere Frauen kennengelernt. Trotzdem fand er Sophie mit ihrem etwas sarkastischen Humor und der »spitzen Zunge« wohl nicht ganz unattraktiv. Zudem schwebte die unmissverständliche Drohung der Landstände wie ein Damoklesschwert über ihm, sodass er sich letztlich dazu entschloss, bei Kurfürst Karl Ludwig um die Hand seiner Schwester anzuhalten.
Zunächst einmal aber reiste Georg Wilhelm gemeinsam mit Ernst August nach Italien weiter. Anders als der Herzog selbst war sein jüngerer Bruder als Geistlicher vorgesehen und völlig unbelastet von irgendwelchen Regierungspflichten. Er verfügte somit über unendlich viel Zeit. Das Geld freilich war etwas knapp, denn Ernst August musste mit einer Apanage auskommen, zumindest so lange, bis er das Amt des Fürstbischofs von Osnabrück übernehmen konnte. [Nach den Bestimmungen des Westfälischen Friedens 1648 wurde dieses kirchliche und weltliche Amt im Wechsel von einem Katholiken und einem Protestanten übernommen.] Der Himmel wusste, wann es so weit sein würde, denn der aktuelle Amtsinhaber, Kardinal Reichsgraf Franz Wilhelm von Wartenberg (1593–1661), erfreute sich trotz seines fortgeschrittenen Alters noch bester Gesundheit. Besonders rosig waren die Zukunftsaussichten scheinbar nicht. Es sah so aus, als würde Ernst August, der jüngste von insgesamt vier welfischen Brüdern, wohl niemals ein eigenes Land regieren und nur als unbedeutende Randfigur in die Annalen des Herzogtums eingehen. Doch es kam ganz anders.
Ein ungewöhnlicher Brauttausch
Die Wintermonate verbrachten die beiden Welfenbrüder in gewohnt vergnüglicher Weise im sonnigen Italien. Und hier, fern der Heimat, verspürte Georg Wilhelm plötzlich nicht mehr die geringste Lust, Sophie von der Pfalz zu heiraten, so wie es nach seiner Rückkehr eigentlich vorgesehen war. Doch konnte er wirklich einen Rückzieher machen? Er hatte nicht nur seine feste Zusage gegeben, auch die Vorbereitungen für die Hochzeit waren längst in vollem Gange, Verträge wurden aufgesetzt, Gästelisten vervollständigt und vieles mehr. Georg Wilhelm war ratlos. Unmöglich konnte er die Verlobung lösen, ohne seinen guten Ruf als Gentleman ein für alle Mal zu ruinieren und obendrein auch noch die sitzen gelassene Braut zu kompromittieren. Dann aber hatte er die rettende Idee! Vielleicht konnte ihm Ernst August aus der Patsche helfen – und hatte möglicherweise Lust, Sophie von der Pfalz zu übernehmen!
Das war zweifellos eine tollkühne Idee, und als Ernst August davon hörte, wird er wohl zunächst gedacht haben, sein Bruder habe sich ein wenig zu lange in der südlichen Sonne aufgehalten. Warum um alles in der Welt sollte ausgerechnet er diese Sophie heiraten? Doch Georg Wilhelm dachte bereits weiter und wusste genau, wie er dem verdutzten Bruder den seltsamen »Brauttausch« schmackhaft machen konnte. Mit seinen persönlichen Zukunftsaussichten war Ernst August nämlich alles andere als zufrieden. So, wie es aussah, würde er sich zeitlebens mit dem kleinen Fürstbistum Osnabrück begnügen müssen. Und genau an diesem Punkt setzte sein Bruder den Hebel an und machte folgenden Vorschlag: Sollte Ernst August Prinzessin Sophie tatsächlich »übernehmen«, dann würde er, Georg Wilhelm, hoch und heilig versprechen, selbst niemals zu heiraten und somit auch keine legitimen Kinder in die Welt zu setzen. So würde nach seinem Tod Ernst August das Fürstentum Calenberg mit der Residenz Hannover erben und könne es wiederum seinen Nachkommen sichern – alles bliebe in der Familie. Gegen diese Lösung konnten wohl auch die Landstände nichts einzuwenden haben.
Es ist anzunehmen, dass sich Ernst August den Vorschlag seines Bruders gründlich überlegte, bevor er tatsächlich in den abenteuerlichen »Brauttausch« einwilligte. Aber irgendwann würde schließlich auch er heiraten müssen, und Sophie war eigentlich gar nicht so übel: witzig und klug, hervorragend erzogen und vielseitig interessiert – keine schlechten Voraussetzungen für eine Ehe. Und abgesehen davon: Ernst August wusste, selbst wenn er verheiratet sein würde, gab es noch immer genügend hübsche junge Frauen, die bereit sein würden, auch ohne Trauschein das Bett mit ihm zu teilen. Der Preis für das in Aussicht gestellte Fürstentum erschien ihm vergleichsweise gering.
Als die zwei Welfenbrüder im Frühjahr 1658 aus Italien zurückkehrten und erneut in Heidelberg Station machten, mussten sie die Karten auf den Tisch legen. Wir wissen leider nicht, wie man im kurfürstlichen Schloss auf die seltsame Offerte reagierte, aber von einem größeren Eklat ist zumindest nichts bekannt. Karl Ludwig wird gewiss froh gewesen sein, seine jüngste Schwester überhaupt unter die Haube zu bekommen – da war ihm ein Bräutigam so recht wie der andere. Und Sophie selbst? Sie hatte eigentlich keine andere Wahl, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Was wäre die Alternative gewesen? Hätte sie Ernst Augusts Antrag abgelehnt, dann wäre sie als sitzen gelassene Braut tatsächlich kompromittiert gewesen. Und so erklärte sie sich erhobenen Hauptes bereit, mit Georg Wilhelms jüngerem Bruder vor den Traualtar zu treten. Wie verletzt sie in Wirklichkeit war, hat die burschikose Pfälzerin niemandem verraten.
Das Problem mit dem »Zölibat«
Und so kehrten die Brüder schließlich zurück nach Hannover. Georg Wilhelm bekräftigte sein Versprechen und ließ sogar einen Vertrag aufsetzen, in dem er den Verzicht auf eine künftige Heirat noch einmal schriftlich bestätigte und versicherte, er werde bis zu seinem Tod »im Zölibat« leben – was immer der fidele Herzog auch darunter verstehen mochte.
Nachdem Ernst August und Sophie am 30. Oktober 1658 in Heidelberg geheiratet hatten, zogen sie zu Georg Wilhelm ins alte Leineschloss, wo sie in den nächsten drei Jahren zu Hause waren. Trotz der außergewöhnlichen Umstände wurde die Ehe recht glücklich. Am 7. Juni 1660 kam das erste Kind zur Welt, Georg Ludwig, Sophie Dorotheas Vater. Der kleine Erbprinz bekam in den nächsten Jahren noch sechs Geschwister, darunter seine einzige Schwester Sophie Charlotte, die spätere preußische Königin.
Nach dem Tod Franz Wilhelms von Wartenberg 1661 zog die Familie wie geplant nach (Bad) Iburg, die idyllisch am Rande des Teutoburger Walds gelegene Residenz des Fürstbistums Osnabrück. Hier erreichte Ernst August vier Jahre später die traurige Nachricht, dass sein ältester Bruder Christian Ludwig, der von Celle aus das Fürstentum Lüneburg regiert hatte, überraschend verstorben war. Das bedeutete, dass nun Georg Wilhelm als Nächstgeborener nach Celle wechselte, während Johann Friedrich (1625–1679), der dritte der welfischen Brüder, die Herrschaft über das Fürstentum Calenberg in Hannover antrat. Für Ernst August ergab sich damit die erfreuliche Aussicht, eines Tages das reichere Celle zu erben.
Doch dann verbreiteten sich in Bad Iburg beunruhigende Gerüchte, die das beschauliche Leben des Fürstbischofs und seiner Gemahlin Sophie nicht unerheblich störten: Georg Wilhelm, der frischgebackene Fürst, der bekanntlich geschworen hatte, den Rest seines Lebens im »Zölibat« zu verbringen, war den Reizen einer jungen Frau erlegen. Sie hieß Eleonore d’Olbreuse und war eine Hofdame des Landgrafen von Hessen-Kassel. Als solche galt sie zwar nicht als standesgemäße Partie, trotzdem klingelten bei Sophie und Ernst August die Alarmglocken. Zunächst freilich beruhigte man sich damit, dass Georg Wilhelm schon viele schöne Gefährtinnen gehabt habe, an denen er aber stets irgendwann das Interesse wieder verloren hatte. Doch diesmal war es anders. Die 24-jährige Eleonore, eine Hugenottin mit französischen Wurzeln, hatte das Herz Georg Wilhelms im Sturm erobert, als sich die beiden im Winter 1663/64 zum ersten Mal begegnet waren. Mit seinen knapp 40 Jahren war Georg Wilhelm auch kein junger Mann mehr, er hatte reichlich Erfahrungen gesammelt und wollte sein Leben nun in ruhigere Bahnen bringen. Und so stand für ihn fest: Eleonore d’Olbreuse war die Frau, mit der er dauerhaft zusammenbleiben wollte. Leider hatte die Sache einen kleinen Haken. Die schöne Hofdame war alles andere als ein leichtlebiges Flittchen und weigerte sich strikt, die Mätresse des Herzogs zu werden. Nur mit gültigem Trauschein wollte sie in Georg Wilhelms Schlafgemach einziehen. Damit befand sich der Fürst in einer unangenehmen Zwickmühle. Schließlich wollte er weder Eleonore verlieren noch seinen Bruder verprellen, dem er vertraglich zugesichert hatte, niemals zu heiraten. Was tun? Georg Wilhelm hatte auch diesmal wieder einen rettenden Einfall: Er bot seiner Eleonore eine sogenannte Gewissensehe an. Das heißt, man würde wie Mann und Frau zusammenleben und einander die Treue halten, ohne offiziell verheiratet zu sein. Damit verbunden war eine finanzielle Absicherung Eleonores, auch für den Fall seines vorzeitigen Todes. Nach langem Hin und Her und trotz vieler moralischer Bedenken ließ sich Eleonore schließlich darauf ein und kam im November 1665 nach Schloss Celle, einen etwas in die Jahre gekommenen Renaissancebau, den Georg Wilhelm aber gründlich modernisieren ließ.
Geburt einer Tochter
In Bad Iburg wurde die Nachricht von der »Gewissensehe« Georg Wilhelms verständlicherweise mit großem Unbehagen aufgenommen, auch wenn der Vertrag von 1658 dadurch unangetastet blieb. Doch konnte man sich wirklich auf ein Blatt Papier verlassen? Und was würde geschehen, wenn Eleonore ein Kind zur Welt brachte, womöglich sogar einen Sohn? In diesem Fall, so fürchteten Sophie und Ernst August, wäre der Vertrag wohl nur noch Makulatur.
Es kam, wie es kommen musste. Nur zehn Monate später, am 16. September 1666, schenkte Eleonore einem kleinen Mädchen das Leben, das man Sophie Dorothea nannte, die Mutter der gleichnamigen späteren preußischen Königin. Unmittelbar danach sorgte Georg Wilhelm dafür, dass seine Lebensgefährtin vom Kaiser zur Reichsgräfin erhoben und die neugeborene Tochter als ebenbürtig anerkannt wurde. Nur so durfte sie eines Tages auch in ein regierendes Fürstenhaus einheiraten. In Bad Iburg fürchtete man das Schlimmste.
Doch Sophie und Ernst August konnten schließlich wieder ein wenig aufatmen. Eleonore erlitt in den nächsten Jahren mehrere Fehlgeburten und brachte kein weiteres Kind mehr zur Welt. Dadurch wurde die kleine Sophie Dorothea zum Dreh- und Angelpunkt im Leben ihrer stolzen Eltern, reichlich bedacht mit Aufmerksamkeit und Liebe. Weil Eleonore keine repräsentativen Pflichten zu erfüllen hatte, konnte sie ihre Aufmerksamkeit uneingeschränkt der einzigen Tochter widmen und sie rundherum verwöhnen. Doch auch Georg Wilhelm, der Vater, las seinem geliebten Kind jeden Wunsch von den Augen ab, sodass sich die Kleine rasch daran gewöhnte, immer das zu bekommen, was sie gerade wollte. So etwas wie Verzicht hat Sophie Dorothea niemals lernen müssen.
Im Jahr 1675 brach Georg Wilhelm dann auch ganz offiziell das Versprechen, für immer »im Zölibat« zu leben, und trat mit Eleonore vor den Traualtar. Die beiden heirateten in der wunderschönen Kapelle im Südostturm von Schloss Celle, die heute auch für Besucher geöffnet ist.
Die Versicherung, dass Ernst August bzw. seine Nachfahren den Fürsten von Lüneburg eines Tages beerben sollten, änderte sich durch die Hochzeit nicht. Trotzdem blieben innerfamiliäre Spannungen nicht aus. Vor allem Herzogin Sophie, die von Georg Wilhelm verschmähte Braut, konnte ihre »Rivalin« Eleonore nicht ausstehen und ließ kein gutes Haar an der ehemaligen Hofdame. Der Stachel, der ihr seinerzeit durch den »Brauttausch« zugefügt worden war, saß tief und tat immer noch weh. Ebenso wenig Sympathie konnte Sophie für ihre kleine Nichte aufbringen. Zum Glück ahnte sie damals noch nicht, dass Sophie Dorothea später einmal ihre Schwiegertochter werden würde.
Herzog Ernst August von Hannover
Mit den Jahren wuchs Sophie Dorothea zu einer bildhübschen Prinzessin heran, der großen Freude ihrer stolzen Eltern. Es sah ganz so aus, als würde sie sich später einmal vor Bewerbern kaum retten können. Wer würde wohl eines Tages der glückliche Bräutigam sein?
Dann veränderte ein weiterer Todesfall erneut die Machtkonstellationen in der Familie. 1679 starb Herzog Johann Friedrich von Hannover, der zweitjüngste der welfischen Brüder, ganz plötzlich im Alter von 54 Jahren. Und damit geschah das Unerwartete: Ernst August konnte jetzt als regierender Herzog des Fürstentums Calenberg ins alte Leineschloss einziehen – und anfangen, an weiteren Karriereplänen zu »basteln«. Die neue Aufgabe verwandelte den früheren Lebemann nämlich in einen ambitionierten Barockfürsten, der nach noch Höherem strebte. Als Erstes setzte er die Renovierungsarbeiten am alten Leineschloss fort, die noch sein verstorbener Bruder in Auftrag gegeben hatte. Gleichzeitig ließ er einen Theaterflügel angliedern, um die dargebotene Kunst künftig auch in einer repräsentativen Umgebung genießen zu können. Bis zur Fertigstellung des Theaters fanden musikalische Darbietungen, Konzerte und Theateraufführungen im nahe gelegenen Ballhof statt, einem größeren Gebäude, das Mitte des 17. Jahrhunderts errichtet worden war, um sich beim Federballspiel zu vergnügen. Auch das bei Hannover gelegene Lustschloss Herrenhausen wurde während der Regierungszeit Ernst Augusts ausgebaut, zur ganz besonderen Freude von Herzogin Sophie. Sie ließ hier ihren berühmten Barockgarten anlegen, der noch heute zum Flanieren einlädt.
Trotz aller Bemühungen blieb Hannover jedoch eine Provinzstadt. Die englische Reisende Lady Montague, die 1716 vorübergehend an der Leine Station machte, schrieb damals an eine Freundin: »Hannover ist weder groß noch schön; allein das Schloss könnte einen weit zahlreicheren Hof fassen als der St. James Palast.«
Jetzt begann Ernst August, auch politischen Ehrgeiz zu entwickeln. »Nur« der regierende Herzog von Hannover zu sein genügte ihm plötzlich nicht mehr. Sein Ziel war es, die Würde eines Kurfürsten zu erlangen und damit in den Kreis der mächtigsten Männer des Heiligen Römischen Reiches aufzusteigen. Um dem illustren Zirkel anzugehören, mussten freilich bestimmte Bedingungen erfüllt werden. Das betraf vor allem die Primogenitur, also das ausschließliche Erbrecht des Erstgeborenen und die damit verbundene Unteilbarkeit des Landes. Das bedeutete in diesem Fall, dass nach dem Tod Ernst Augusts sein ältester Sohn, der 1660 geborene Georg Ludwig, den Thron besteigen würde. Noch aber war es längst nicht so weit. Lange und zähe Verhandlungen mit dem Kaiserhof waren nötig, um den Traum von der Kurwürde irgendwann einmal realisieren zu können.
Erbprinz Georg Ludwig war inzwischen zu einem jungen Mann im heiratsfähigen Alter herangewachsen, und es wurde allmählich Zeit, sich nach einer passenden Gemahlin umzusehen. Leider war Ernst Augusts Sohn ganz anders geartet als sein charmanter Vater. Nach dem Urteil der berühmten Liselotte von der Pfalz, einer Nichte von Herzogin Sophie, soll er eher »trocken und kalt wie Eis« gewesen sein. Aber das war natürlich kein Hinderungsgrund für eine vorteilhafte Heirat – und das bedeutete: Diese Ehe sollte vor allem Macht und Prestige des Herzogtums mehren. Lange brauchte man nicht nach einer passenden Partnerin zu suchen, zumal diese bereits zur Familie gehörte: Es war keine andere als die 1666 geborene Sophie Dorothea, Georg Ludwigs Cousine und Erbin des Fürstentums Lüneburg. Zwar war ohnehin ausgemacht, dass Ernst August und seine Nachfahren Georg Wilhelm einmal beerben sollten, aber man konnte ja nie wissen. Was würde zum Beispiel geschehen, sollte Sophie Dorothea in ein anderes Fürstenhaus einheiraten? Da wollte man doch lieber gleich den sicheren Weg gehen.
Vermutlich hatte Georg Wilhelm noch immer ein schlechtes Gewissen, weil er sein Versprechen gebrochen hatte, dauerhaft »im Zölibat« zu leben. Jedenfalls willigte er prompt in die Hochzeit seiner einzigen Tochter ein, obwohl er genau wusste, dass sie und ihr künftiger Ehemann grundverschieden waren: auf der einen Seite Sophie Dorothea, verwöhnt und kapriziös, stets gewohnt, von allen angebetet zu werden. Auf der anderen Seite Georg Ludwig, ein junger Mann, der kaum zur Liebe fähig schien, für den Frauen in erster Linie der sexuellen Befriedigung dienten. So war er auch schon früh Vater eines nicht ehelichen Kindes geworden. Doch das persönliche Glück der beiden musste hinter den politischen Zwängen zurücktreten. Am 2. Dezember 1682 heiratete das ungleiche Paar nur aus dem einzigen Grund: Georg Ludwig würde als künftiger Herzog eines Tages über Hannover und Celle herrschen und damit Macht und Ansehen seines Hauses vermehren. In Hannover brachte Erbprinzessin Sophie Dorothea ihre beiden Kinder zur Welt: 1683 zunächst den Sohn Georg August, vier Jahre später schließlich die Tochter, die den gleichen Namen erhielt wie ihre Mutter. Glücklich wurde die Ehe trotzdem nicht. Die junge Erbprinzessin sehnte sich nach Liebe und Leidenschaft, die ihr der Gemahl nicht zu geben vermochte.
Sophie Dorotheas Kinderjahre
Zusammen mit ihrem Bruder wuchs die 1687 geborene Sophie Dorothea überwiegend in den Gemächern des alten Leineschlosses auf, nur die Sommermonate verbrachte die herzogliche Familie im idyllischen Herrenhausen. So gewöhnte sich das Kind schon früh an eine prachtvolle Umgebung, ein luxuriöses Leben, aufwendige Feste und herausragende kulturelle Veranstaltungen. Als Sophie Dorothea zwei Jahre alt war, wurde 1689 das kurfürstliche Theater mit der pompösen Oper »Enrico Leone« eingeweiht, einer einzigen Verherrlichung des Welfenhauses in Erinnerung an den großen Vorfahren Heinrich den Löwen.
Doch Glanz und Glamour konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ehe des Erbprinzenpaares immer unglücklicher wurde. Georg Ludwig war seiner hübschen jungen Frau schon bald überdrüssig geworden und hatte eine andere Lebenspartnerin gefunden, mit der er offensichtlich besser harmonierte. Es handelte sich um die 1667 geborene Melusine von der Schulenburg, die ihn später auch nach England begleitete und drei gemeinsame Töchter zur Welt brachte.
Vermutlich haben sich damals im alten Leineschloss heftige Szenen einer Ehe abgespielt. Was Sophie Dorothea vom Streit ihrer Eltern mitbekommen hat, ist leider nicht bekannt, doch die frostige Atmosphäre wird der kleinen Prinzessin nicht entgangen sein. Es ist durchaus möglich, dass Georg Ludwig auch des Öfteren handgreiflich wurde. Körperliche Gewalt war damals selbst in Fürstenhäusern keine Seltenheit. Erst mit der Rokokozeit zogen allmählich verfeinerte Sitten in die Schlösser Europas ein.
Erfreuliches ereignete sich hingegen auf dem politischen Parkett Hannovers. Herzog Ernst Augusts langjährige Bemühungen um die Kurwürde wurden im Dezember 1692 doch noch von Erfolg gekrönt. Jetzt endlich war er Kurfürst von Hannover (diese Bezeichnung setzte sich rasch statt Braunschweig-Lüneburg durch), und Georg Ludwig würde ihm eines Tages im Amt folgen, während die jüngeren Söhne das Nachsehen hatten und sich mit einer Apanage begnügen mussten. Für die unglückliche Kurprinzessin Sophie Dorothea war die Rangerhöhung ihres Schwiegervaters freilich kein Anlass zur besonderen Freude. Sie versank zunehmend in tiefer Melancholie, sehnte sich nach Wärme, Liebe und Zuwendung, so wie sie sie einst bei ihren Eltern erfahren hatte. Selbst die beiden kleinen Kinder boten ihr keinen Trost, weil sie dadurch immer wieder an ihren ungeliebten Ehemann erinnert wurde. Anders als die Kurprinzessin selbst in ihrer Kindheit haben Sohn Georg August und Tochter Sophie Dorothea so etwas wie Geborgenheit und Nestwärme wohl niemals kennengelernt.
Skandal in Hannover
Anlässlich der neu erworbenen Kurwürde Hannovers wurde der traditionelle Karneval im alten Leineschloss zu Beginn des Jahres 1693 besonders ausgelassen gefeiert. Obwohl oder gerade weil sie vor den Trümmern ihrer Ehe stand, beschloss Kurprinzessin Sophie Dorothea, sich endlich wieder einmal richtig zu amüsieren. Während ihr Gemahl demonstrativ Zärtlichkeiten mit Melusine von der Schulenburg austauschte, flirtete Sophie Dorothea ihrerseits mit einem gut aussehenden jungen Mann namens Philipp Christoph von Königsmarck, den sie schon seit geraumer Zeit kannte. Der 1665 geborene Königsmarck war nach einem längeren Auslandsaufenthalt im Mai 1689 nach Deutschland zurückgekehrt und als Obrist in den Dienst Ernst Augusts von Hannover getreten. Sophie Dorothea verstand sich auf Anhieb ganz wunderbar mit dem smarten Grafen, und so wurde aus gegenseitiger Sympathie bald eine leidenschaftliche Affäre. Beide wussten natürlich, dass ihre verbotene Liebe niemals ans Licht der Öffentlichkeit kommen durfte, und bemühten sich um entsprechende Vorsicht. Sooft es ging, trafen sie sich heimlich, und wenn Königsmarck in den Sommermonaten zu seinem Regiment musste, schrieben sie sich zahllose Briefe, die sie durch ein Codesystem zu verschlüsseln suchten. Anhand dieser Korrespondenz lässt sich unschwer verfolgen, wie sich die beiden schon bald immer näherkamen. Spätestens ab März 1693 kann man nachlesen, dass ihr Verhältnis ganz ohne Zweifel eine erotische Komponente hatte, auch wenn Sophie Dorothea das später abgestritten hat. Vorerst konnte sich das verliebte Pärchen in Sicherheit wähnen. Enge Vertraute der beiden wie Eleonore von der Knesebeck, die treue Hofdame der Kurprinzessin, oder Königsmarcks ältere Schwester Maria Aurora fungierten als Postillons d’ Amour und versuchten, die verbotene Liebe zu vertuschen. Eine Zeit lang funktionierte das Versteckspiel ganz gut, doch Königsmarck fühlte sich nicht so recht wohl in seiner Haut. Immerhin riskierte er Kopf und Kragen. Dass er mit der Kurprinzessin die Ehe brach, war schließlich keine Privatsache, sondern ein gewaltiger Affront gegen seinen Dienstherrn und damit alles andere als ein Kavaliersdelikt. Das war natürlich auch Sophie Dorothea ganz klar bewusst. Weil ihnen in Hannover allmählich der Boden zu heiß wurde, planten sie, die Stadt zu verlassen und nach Dresden zu gehen. Dort regierte damals der Wettiner Friedrich August, genannt August der Starke, der mit Königsmarck seit Jugendjahren befreundet war und inzwischen auch dessen Schwester Maria Aurora zu seiner Mätresse gemacht hatte. Nachdem Sachsens Kurfürst seinem Freund Königsmarck einen lukrativen Posten in der Armee angeboten hatte, trafen der Graf und Sophie Dorothea unverzüglich die Vorbereitungen für eine heimliche Abreise aus Hannover. Die Kurprinzessin wusste, dass sie ihre beiden Kinder würde zurücklassen müssen, aber dieses Opfer scheint ihr die große Liebe zu Königsmarck offenbar wert gewesen zu sein. Die endgültige Trennung von Tochter und Sohn war für sie wohl kein allzu hoher Preis. Sophie Dorothea war jedenfalls bereit, ihn zu zahlen. In den vielen Briefen, die sie an den Geliebten geschrieben hat, ist nie von ihren Kindern die Rede gewesen. Nur ein einziges Mal erwähnt sie beiläufig, man habe ihr mitgeteilt, dass Königsmarck bei einem geselligen Abend mit der »kleinen Prinzessin« Kartenhäuser gebaut habe.
Unterdessen wurde in Hannover immer lauter über die heimliche Liebschaft getuschelt, denn trotz aller Vorsichtsmaßnahmen muss es irgendwo eine undichte Stelle gegeben haben. Briefe wurden abgefangen und von Leuten gelesen, für deren Augen sie ganz und gar nicht bestimmt waren. Das Codesystem konnte nämlich leicht entschlüsselt werden. Noch herrschte im alten Leineschloss angespannte Ruhe, doch hinter den Kulissen wurde bereits fieberhaft überlegt, was nun getan werden musste. Kurfürst Ernst August war nämlich ausgesprochen nervös geworden. Seine Schwiegertochter hatte ganz eindeutig einen Liebhaber! Wer weiß, wie lange sich die beiden schon kannten? Offenbar hatten sie sich schon getroffen, bevor Königsmarck in den Dienst Hannovers getreten war. Was also würde geschehen, sollte sich herausstellen, dass nicht Georg Ludwig, sondern dieser Königsmarck Vater von Sophie Dorotheas Kindern war? Für diesen Fall fürchtete Ernst August um die noch junge Kurwürde. Wie viel Kraft und Mühe hatte es ihn gekostet, in seinem Haus die Primogenitur durchzusetzen und den ältesten Sohn zum Alleinerben zu machen! Das alles würde womöglich wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, wenn Georg Ludwig überhaupt nicht der leibliche Vater seiner Kinder war. Ein solcher Verdacht durfte gar nicht erst aufkommen! Es gab daher nur einen Ausweg …
Die Fluchtpläne des Liebespaares wurden indes allmählich konkret. In der Nacht vom 1. zum 2. Juli 1694 kam Königsmarck noch einmal unter einem fadenscheinigen Vorwand ins alte Leineschloss, um heimlich Sophie Dorothea aufzusuchen und die Einzelheiten ihres Plans zu besprechen. Das war das letzte Lebenszeichen des Grafen. Seit dieser Nacht verliert sich von Philipp Christoph von Königsmarck jede Spur. Was war geschehen? Bis heute ist sein Verbleib ungeklärt, vermutlich aber wurde er von Vertrauten des Kurfürsten überwältigt, ermordet und anschließend in einem mit Steinen beschwerten Sack in die Leine geworfen, die gleich neben dem Schloss entlangfließt.
Noch am gleichen Tag verhaftete man Kurprinzessin Sophie Dorothea. Sie ahnte, dass man ihr auf die Schliche gekommen war, betonte immer wieder verzweifelt, sie sei unschuldig und habe mit Königsmarck kein intimes Verhältnis gehabt. Dass sie mit dieser Behauptung ihrem Gemahl und Schwiegervater in die Hände spielte, war ihr überhaupt nicht bewusst. Ernst August und sein betrogener Sohn dachten nämlich überhaupt nicht daran, Sophie Dorothea des Ehebruchs zu bezichtigen – schließlich hätte genau das ja den Verdacht geschürt, die beiden Kinder des Kurprinzen seien tatsächlich »Bastarde« des Grafen Königsmarck. Die Anklage bezog sich daher ausschließlich auf den geplanten Fluchtversuch, also auf böswilliges Verlassen. Das ließ sich eindeutig durch versteckte Briefe beweisen, die man bei der Durchsuchung von Sophie Dorotheas Gemächern entdeckt hatte. Die Kurprinzessin war entweder zu naiv oder zu sentimental gewesen, um die verräterischen Papiere rechtzeitig zu vernichten.
Während Hannover noch weiter über den Verbleib des Grafen Königsmarck rätselte, wurde Sophie Dorothea bereits der Prozess gemacht und die Ehe am 7. Januar 1695 geschieden – wegen böswilligen Verlassens. Um die Schwere des Falles zu dokumentieren, stellte man die 28-jährige Kurprinzessin auf der Wasserburg Ahlden an der Alten Leine unter Hausarrest. Dort lebte sie bis zu ihrem Tod 1726 und bekam nur hin und wieder Besuch von ihrer Mutter Eleonore. Die beiden Kinder aber durfte sie niemals wiedersehen.
In der kurfürstlichen Familie galt die »Prinzessin von Ahlden« künftig als persona non grata, über die kein einziges Wort mehr verloren wurde. Georg Ludwig und seine Schwester Sophie Dorothea mussten mit dem plötzlichen Verschwinden ihrer Mutter ebenso alleine fertig werden wie mit dem dunklen Geheimnis des alten Leineschlosses, das ihnen durch den Hofklatsch zugetragen wurde.
Unter der Obhut von Großmutter Sophie
Auch wenn ihre Mutter durchaus noch lebte, wuchs die junge Sophie Dorothea praktisch als Halbwaise auf. Georg Ludwig, der »alleinerziehende Vater«, hatte aber nur wenig Zeit und Lust, sich um das Befinden seiner kleinen Tochter zu kümmern, erst recht, nachdem er 1698 nach Ernst Augusts Tod selbst Kurfürst von Hannover geworden war.
Mit seinen diffusen Erinnerungen und quälenden Fragen zum Verbleib der Mutter musste das Kind alleine zurechtkommen. Es lässt sich nur darüber spekulieren, ob es nicht vielleicht einfacher gewesen wäre, den Tod der Mutter zu verarbeiten als ihr plötzliches Verschwinden vom Hof. Dann hätte Sophie Dorothea mit der Familie zumindest alte Erinnerungen austauschen und der Verstorbenen in Liebe gedenken können. So aber war es, als hätte die Mutter nie existiert. Stattdessen musste sich die kleine Prinzessin den Kopf darüber zerbrechen, welches schwere Vergehen die Mutter wohl auf sich geladen hatte, um so radikal vom Hof entfernt zu werden. Und bei jedem Blick in die Fluten der Leine wurde Sophie Dorothea wieder an das dunkle Geheimnis erinnert. Denn es ist kaum anzunehmen, dass die Prinzessin von den Gruselgeschichten verschont blieb, die bald nach Königsmarcks spurlosem Verschwinden im alten Leineschloss kursierten. Lag der Leichnam des Grafen tatsächlich an einer besonders tiefen Stelle auf dem Grund des Flusses? Oder hatte man den Toten womöglich eingemauert, vielleicht auch unter den dicken Holzdielen des großen Saales versteckt? Ob sich Sophie Dorothea wohl fürchtete, Königsmarcks Geist könne in der Nacht durchs Schloss spuken? Wenn ja, dann konnte sie auch über ihre heimlichen Ängste mit niemandem sprechen. Doch das junge Mädchen besaß offenbar eine innere Stärke, die es verhinderte, dass sie an den widrigen Ereignissen, die ihre Kindheit belasteten, zerbrach. Es sollten in ihrem Leben auch nicht die letzten sein.
Zusammen mit ihrem Bruder Georg August kam Sophie Dorothea nun in die Obhut ihrer Großmutter Sophie von Hannover, seit 1698 verwitwete Kurfürstin. Unterstützt von der bewährten Kinderfrau Anna Katharina von Harling (geb. von Offeln), kümmerte sie sich in robust-praktischer Manier um die beiden Enkel. Sie sorgte dafür, dass auch Sophie Dorothea eine standesgemäße Erziehung bekam und in höfischer Etikette ebenso unterrichtet wurde wie in Geschichte, Geografie, Religion und Fremdsprachen. Der lutherische Religionsunterricht hat die Prinzessin – wie die anderen Fächer auch – aber weder besonders interessiert noch inspiriert. Gelehrsamkeit war ihre Sache nicht.
Doch Großmutter Sophie sorgte auch für Abwechslung vom höfischen Alltag. Als 1697 Russlands junger Zar Peter der Große (1672–1725) während seiner Reise durch Europa auch in Deutschland weilte und im nahe gelegenen Coppenbrügge Quartier nahm, einem kleinen Ort zwischen Hameln und Hannover, beschloss die Kurfürstin, den Zaren um eine Audienz zu bitten. Dabei sollte es sich freilich um keinen Höflichkeitsbesuch handeln, vielmehr wollte Sophie ihre pure Neugier befriedigen und den Mann kennenlernen, der seit 1689 über das riesige Russische Reich herrschte. Russland – das war damals noch ein weitgehend unbekanntes Land, zumal es sich lange vom Westen abgegrenzt hatte. Für die meisten Westeuropäer waren die »Moskowiter« mehr oder weniger unzivilisierte Barbaren mit entsprechenden Manieren. Auch von dem jungen Zaren kursierten Schauergeschichten über seinen maßlosen Alkoholkonsum, sein ungepflegtes Äußeres, Abneigung gegen Messer und Gabel und andere Anekdoten, die in der höfischen Gesellschaft mit wohligem Schauer diskutiert und weitergetratscht wurden. Schließlich gelang es Sophie, auch ihre Familie zu einem Zusammentreffen mit Peter dem Großen zu überreden. Man wollte ihn in Coppenbrügge zum Essen einladen. Der junge Herrscher, der von der scheinbar freundlichen Geste völlig überrumpelt worden war, zögerte mit einer Zusage. Vielleicht ahnte er, dass er nur zur Schau gestellt werden sollte. Zum Schluss aber sagte er das Treffen doch noch zu, freilich nur unter der Bedingung, dass es »im kleinen Kreis« stattfinden sollte. Dieser »kleine Kreis« bestand aus Sophie, ihrer Tochter Sophie Charlotte, den Söhnen und Enkelkindern. Die zehnjährige Sophie Dorothea aber schien dem Zaren besonders gut zu gefallen. Jedenfalls küsste er sie zur Begrüßung herzhaft auf beide Wangen. Großmutter Sophie vergaß nicht, davon ihrer Verwandtschaft in Heidelberg zu berichten: Der Zar, schrieb sie, »nahm unsere kleine Prinzessin bei beiden Ohren und küsste sie zweimal; die Rüschenhaube litt große Not …« Dennoch waren die Hannoveraner voll des Lobes über den etwas ungehobelten Zaren. Erfreut erwähnte Sophie, dass er sich noch nicht einmal betrunken habe, »aber kaum waren wir aufgebrochen, als die Leute aus seinem Gefolge dies jedenfalls für sich nachholten«.
Zwanzig Jahre später sollte Sophie Dorothea als preußische Königin erneut die Gelegenheit haben, mit Peter dem Großen zusammenzutreffen, dann allerdings mit etwas unschönen Nebenwirkungen.
Zurück im alten Leineschloss, nahm der höfische Alltag seinen Lauf. Sophie tat gewiss ihr Bestes für die Enkelkinder, und doch konnte sie nicht vergessen, dass Georg August und Sophie Dorothea Nachkommen ihrer alten Rivalin Eleonore d’Olbreuse waren. Auch wenn inzwischen viele Jahre ins Land gegangen waren, so standen die beiden älteren Damen doch noch immer miteinander »auf Kriegsfuß«. Der Kontakt Sophie Dorotheas zu »Großmutter Celle« blieb daher auf wenige Besuche beschränkt. Fatalerweise konnte Sophie die Kinder ihres Sohnes auch nicht so lieben wie ihren preußischen Enkel Friedrich Wilhelm, den ihre Tochter Sophie Charlotte 1688 zur Welt gebracht hatte.
Tante Sophie Charlotte, die preußische Königin
Die 1668 geborene Sophie Charlotte war der ganze Stolz der kurfürstlichen Familie. Schon bei dem kleinen Mädchen mit dem schwarzen Lockenkopf hatte sich ein beachtliches intellektuelles Potenzial gezeigt. Spielend lernte die Welfenprinzessin Fremdsprachen, interessierte sich für Geschichte, Philosophie und bewies obendrein ein musikalisches Talent, mit dem sie später sogar im verwöhnten Versailles Bewunderung erntete. Ihr geliebtes Cembalo können Besucher von Schloss Charlottenburg in Berlin noch heute bewundern.
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