Spam aus der Kindheit - Silvo Lahtela - E-Book

Spam aus der Kindheit E-Book

Silvo Lahtela

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Beschreibung

Alle fünf Bände von "Identität unplugged" stellen die konkreten Auswirkungen des Kollektiven Unbewußten im Sinne C. G. Jungs auf die Gegenwart dar. Neben dem einleitenden Vorwort, das den Hintergrund der Gesamtausgabe skizziert, erzählt "Spam aus der Kindheit" detailliert und rücksichtslos, wie verdrängte Kindheitstraumata, spezifisch sexueller Mißbrauch, noch Jahrzehnte später das Leben von Erwachsenen prägen. Wobei der Fokus auf dem unsichtbaren Einfluß der Vergangenheit liegt, die tiefenpsychologische Programmierung von Menschen dargestellt wird und es nicht um billige und typische Schuldzuweisungen geht.

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Seitenzahl: 312

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Pressestimmen

Getrieben von den alten Fragen Thomas Manns – ,Wie bricht man durch? Wie kommt man ins Freie? Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling?‘ – , geht es ihm vor allem um eine Option auf Überschreitung: einfach heraustreten aus dem Geschaffe. (...) Lahtela hat eine wunderbare Brücke gebaut.

Die Zeit über Zeichendämmerung

Ein schonungsloser und eisiger Thriller.

Le Monde über AlpTraumTerror

Jede, wirklich jede dieser Geschichten verdient den Preis, den der Regisseur für sie ausgibt. (...) Sprachakrobatik ohne Fallnetz ist das. Das Besondere im Allgemeinen, das Prinzipielle im Außerordentlichen.

Süddeutsche Zeitung über Letzte Obsession

Doch seinLogbuch eines Dichters, das er nach Kriterien wie „Die Einsamen“, „Die Getriebenen“, „Die Demütigen“ oder „Die Hoffnungsvollen“ unterteilt, ist keine strenge Dokumentation. Vielmehr sind es künstlerische Verdichtungen.

Fokus über Nachtfahrten

Identität unplugged

Band 1 Spam aus der Kindheit

Band 2 Nachtmusik

Band 3 Zeitpeitschen

Band 4 Die eigene Stimme ist die fremde

Band 5 Jenseits der Apps

eine organic language unknown TM

Veröffentlichung

Vorwort

zur Gesamtausgabe von Identität unplugged

Wenn ein Musiker statt zur elektrischen zur akustischen Gitarre greift, sich dadurch von Technik unabhängiger macht, spricht man von „unplugged“. Nur er und das Instrument; der inspirierende Strom braucht die äußere Hilfe aus der Steckdose nicht mehr, sondern kommt jetzt direkt und dominant von innen. Das ist die allgemeine Vogelperspektive auf die hier unter dem Label „Identität unplugged“ veröffentlichten fünf Bücher. Zoomt man näher an sie heran, und riskiert einen Blick hinein, wird man als durchgehend roter Faden mit der dargestellten Wirklichkeit des Unbewußten konfrontiert.

Ein teilweise derart verborgener Faden allerdings, daß selbst ich ihn lange nicht sah. Was für den Leser eher eine gute Nachricht ist: Wenn ein Autor nicht genau weiß, warum er was schreibt, sondern tatsächlich aus dem Intuitiven, statt nur aus dem Rationalen schöpft, sind die Texte meistens deutlich unterhaltsamer, weil unberechenbarer. Absichtsvolle Literatur verspricht zwar wie ein braver Blindenhund psychische Geborgenheit, aber nur ein plötzlich im dunklen Wald auftauchender Wolf sorgt für das Kribbeln des echten Abenteuers. Alle hier publizierten Werke – ob Spam aus der Kindheit oder Nachtmusik, ob Zeitpeitschen oder Die eigene Stimme ist die fremde, oder ob Jenseits der Apps –, sind ohne Sicherheitsleine geschrieben. Weil eben im Kern vom Unbewußten getrieben, und beispielsweise nicht irgendwelchen Verlagsprogrammen verpflichtet, oder von der Sehnsucht des Egos nach Anerkennung bestimmt.

Da das Unbewußte nun ein recht diffuser Begriff ist, vor allem leicht mit den verdrängten Untiefen sexueller Bedürfnisse verwechselt wird, sei darauf hingewiesen, daß es hier im Sinne C. G. Jungs als Kollektives Unbewußtes verstanden wird. Nämlich als die Summe aller Menschheitserfahrungen, Archetypen genannt, deren schlummerndes und stets irgendwann ausbrechendes Potential das alltägliche Bewußtsein bis an seine Grenzen, und gerne auch darüber hinaus drängt. Die Psyche und das Leben jedes Einzelnen werden durch das aktivierte Kollektive Unbewußte korrigierend mit einer möglichen Ganzheit konfrontiert. Entweder entfaltet dann das Unbewußte Heilwirkung, indem die ungelebten und verdrängten Seiten integriert werden, der Mensch also vollständig wird, oder es zersetzt ihn langfristig von innen, indem die Neurosen und Psychosen als Symptome verdrängter Wirklichkeit die Oberhand gewinnen.

Ein wichtiges und völlig unterschätztes Merkmal dieser psychischen Energie des Kollektiven Unbewußten ist es, daß es sich der gewohnten Wahrnehmung entzieht, oder in den Worten Jungs: „Das Unbewußte ist wirklich unbewußt. Man sieht nichts!“ Hat man ein geschultes Auge, kann man zwar die realen Auswirkungen des Unbewußten an seinen Mitmenschen irgendwann recht gut erkennen. Hat man aber keine Erfahrung, ist es ein bißchen so, als würde man ohne Meßgerät einen Spaziergang durch einen radioaktiv verstrahlten Wald machen: Alles sieht normal aus, aber irgend etwas stimmt trotzdem nicht, ist anders als sonst. Intuitiv spürt man es – vielleicht fehlt das Zwitschern der Vögel – aber es läßt sich meistens nicht bewußt festmachen.

Der naive Blick folgert aus der scheinbaren Unsichtbarkeit des Kollektiven Unbewußten oft kurzschlußmäßig seine Nichtexistenz; Stichwort Hirngespinst. Übersieht dabei aber, daß es sich gerade bei tiefenpsychischen Prozessen um Phänomene handelt, die das menschliche Auge trotz der oft dramatischen Konsequenzen nicht direkt sehen kann. Durchaus vergleichbar der bei einem Reaktorunfall freigesetzten zellzerstörenden, praktisch unsichtbaren Gammastrahlung. Wem das als Beispiel zu extrem ist, kann auch einfach an simple Bakterien denken: Sie sind überall, jeder redet von ihnen wie von guten oder bösen Bekannten, – trotzdem sieht sie kein Mensch, wenn er an einem Stück Käse knabbert.

Für einen Autor nun, der ohne Absicht, aber deswegen um so stärker unter den Einfluß des Unbewußten geraten ist, bedeutet dessen Unsichtbarkeit jedoch ein ernsthaftes Kommunikationsproblem: Denn die Perspektive des Schreibens hat plötzlich völlig unabhängig vom jeweiligen Thema einen seltsam fremdartigen Fluchtpunkt, der für die meisten seiner Zeitgenossen zumindest auf den ersten Blick nicht mit dem gewohnten Sinn zu fassen ist. Wer in einem treibenden Eisbrocken aufgrund von Erfahrung und Intuition tatsächlich die Spitze eines Eisberges sieht, hat einen völlig anderen Blick auf die Welt als jemand, der eben nur das isolierte Phänomen wahrnimmt, in welcher Detailpracht auch immer. Diese paradoxe Perspektive, die das sichtbare „Teilchen“ im Vordergrund mit der unsichtbaren „Welle“ im Hintergrund synchronisiert, es zumindest versucht, findet sich unabhängig vom jeweiligen Thema in allen fünf Büchern von „Identität unplugged“.

Spam aus der Kindheit, der hier veröffentlichte erste Band der Reihe, ist beispielsweise keiner der typischen Texte über Kindesmißbrauch. Denn der Schwerpunkt liegt nicht darauf, die Tat als solche ans Licht zu zerren, zu beschreiben und zu verurteilen, sondern viel stärker auf den verborgenen und indirekten, aber folgenreichen Auswirkungen auf das spätere Leben, spezifisch auf eine Partnerschaft. Der sprichwörtliche Eisberg, der hier die Gegenwart rammt, ist nicht wie bei der historischen Titanic materiell unter dem Wasser des Meeres den Blicken verborgen, sondern unsichtbar aufgrund der vergangenen Zeit. Ähnlich lebensgefährdend ist er aber trotzdem.

Dieser authentisch vierdimensionale, die Zeit tatsächlich berücksichtigende Blick, der in der Gegenwart die Vergangenheit und Zukunft aufscheinen läßt, als würde man direkt die Strömung eines großen Flußes sehen, ist ebenfalls ein Archetyp des Kollektiven Unbewußten; also eine immer wieder neu aktivierte, im Gattungsgedächtnis der Menschheit gespeicherte Ur-Erfahrung. Unter seinem Einfluß bekommt das Bewußtsein aber beim ersten Vollkontakt nicht nur Einsicht und Durchblick, sondern landet in der Regel zunächst in einer labyrinthischen Unterwelt, wo es sehr schnell jede Orientierung verlieren kann. Neben frappierend klaren Erkenntnissen sind Fehlinterpretationen, Halluzinationen, Einseitigkeiten hier, wo man nicht mit den gewohnten dreidimensionalen Bällen, sondern mit der Zeit selbst jongliert, gang und gäbe. Es ist das Gütesiegel der authentischen Archetypen des Kollektiven Unbewußten, daß sie Verwirrung und Erleuchtung, Chaos und Ordnung zunächst immer als paradoxes Doppelpack liefern.

Um selbst mit gutem, in diesem Fall eben also auch mit schlechtem Beispiel voranzugehen: Die Klarheit von Spam aus der Kindheit liegt darin, daß es eine erstaunlich detailreiche Linie von der Vergangenheit in die Gegenwart zieht; die parallel auftretende Täuschung besteht darin, daß Kindesmißbrauch als faktisches Verbrechen eine zu große Eigenständigkeit bekommt: Es ist als Tat zwar eine sehr häufige Erscheinungsform des übergriffigen Egos, aber dieses kann alle möglichen Gestalten annehmen. So haben erwachsene Kinder von Alkoholikern praktisch die gleichen, klinisch in Studien erfaßten Symptome wie als Kind sexuell mißbrauchte Personen. Ob ein Vater seine Tochter im Suff unkontrolliert an den Haaren zieht und schlägt, oder ob er sie mit null Promille körperlich nüchtern vergewaltigt, in beiden Fällen ist das Sicherheitsgefühl des Kindes für alle Zeiten massiv verletzt. Und der Grund ist eben das übergriffige Ego des Vaters, und nicht, in welcher Form es sich spezifisch äußert.

Diese Relativierung von Mißbrauch als Variante und nicht als Wesen des Problems ändert nichts daran, daß das hier veröffentlichte Buch die unsichtbare Programmierung der Gegenwart durch die Vergangenheit, den Einfluß des Unbewußten auf eine sehr lebendige und authentische Weise darstellt.

Auch die weiteren Texte von „Identität unplugged“, obwohl thematisch deutlich anders orientiert, stehen unter dieser Spannung des Unbewußten. Der Roman Nachtmusik, der zweite Band, stellt in Form von zwölf Geschichten dar, wie „unsichtbare“ Musik, die Fahrgäste zufällig im Taxi hören, die tiefsten psychischen Schichten erreicht, Menschen völlig aufwühlt, und als Konsequenz sogar ihr Leben verändert.

Zeitpeitschen wiederum, der dritte Band, hat die Form eines Tagebuchs, ist in alltäglichen Situationen verwurzelt, die jedoch durch den Blickwinkel derart transzendiert werden, daß von Alltäglichkeit keine Rede mehr sein kann. Der dieses Buch begleitende Essay: „Der seriöse Charme der Astrologie“ beleuchtet als einen weiteren unausrottbaren Archetyp des Kollektiven Unbewußten die Tatsache akausaler Synchronizität von Ereignissen.

Der vierte Band, Die eigene Stimme ist die fremde, eine Novelle, erzählt, wie ein Yogalehrer sich sowohl von in der Familie akkumulierten Traumata als auch von esoterischen und ideologischen Scheinwelten befreit. Indem der Kontakt mit den Leichen im Keller, dem Verdrängten, gesucht und nicht vermieden wird; was ebenfalls eine dargestellte Auseinandersetzung mit dem Unbewußten bedeutet.

Schließlich kommt es im letzten Band, Jenseits der Apps, zu einer Gesamtschau, die die realen Auswirkungen des Kollektiven Unbewußten auf den Autor selbst darstellt. Auf eine sehr spezifische Weise, indem die jahrtausendealte Spiritualität des Ostens und die moderne Tiefenpsychologie des Westens als zwei Seiten der gleichen Medaille beschrieben werden: Als der Versuch des Menschen, zu sich selbst zu kommen. Damit es nicht zu transzendent und luftig wird, was bei einem solchen thematischem Höhenflug schnell passieren kann, sorgen viele biographische Details und Beispiele für die nötige Bodenhaftung.

Wobei diese Orientierung durch persönliche Erfahrung grundsätzlicher Natur ist, dergestalt, daß bestimmte konkrete Motive in allen fünf Büchern immer wieder leitmotivisch auftauchen. Etwa der Selbstmord des Vaters oder Musik als Trigger des Verdrängten. Diese inhaltlichen Wiederholungen sind aber eher so zu verstehen, wie die Verwendung von Fischsauce in der thailändischen oder von Olivenöl in der italienischen Küche: Sie geben zwar eine charakteristische Würze, aber definieren alleine und isoliert sicher nicht das gesamte Gericht. Aber für Allergiker natürlich dennoch wichtig zu wissen.

– Daß ich dem Ruf des Unbewußten fast tranceartig folgte, hatte jedoch den von mir nicht einkalkulierten Preis, das Schicksal scheint tiefschwarzen Humor zu haben, daß ich als Autor selbst sozusagen unbewußt wurde, medial völlig von der Bildfläche verschwand. Die Horizonterweiterung durch das Unbewußte gibt es offenbar nicht umsonst. War ich zuvor bei den verschiedensten, mehr oder weniger renommierten Verlagen veröffentlicht worden, sei es Suhrkamp oder Ullstein, wurde von Spam aus der Kindheit an jedes weitere Manuskript querbeet abgelehnt.

Bis auf die eine, allerdings sehr bezeichnende Ausnahme von Nachtfahrten: Ein Text, in dem ich über hunderte von Fahrgästen schrieb, die ich während eines Winters im Taxi transportiere, und der von Schwarzkopf&Schwarzkopf hauptsächlich deswegen publiziert wurde, weil der Verleger schon immer ein „Taxibuch“ machen wollte. Da für jeden halbwegs ernsthaften Autor nicht der Stoff (also Taxitouren z. B.), sondern immer nur die Gestaltung des Stoffs wesentlich ist, zeigt sich ironischerweise gerade in der Veröffentlichung dieses speziellen Buches indirekt die tief verwurzelte Geringschätzung von Literatur im Allgemeinen.

Was mich zunächst nicht groß kümmerte; in meiner Welt schreibt ein echter Autor so, wie ein Delphin schwimmt, ein Hund bellt, oder ein Baum wächst: Das heißt, er hat sowieso keine andere Wahl. Nach zehn weiteren Jahren und einem Haufen unveröffentlichter Manuskripte später kamen mir allerdings das erste Mal Zweifel, ob es sich bei meinem Autorenstatus als Vagabund ohne gültige Verlagsadresse wirklich nur um ein temporäres Phänomen handelte.

Ein sehr bekannter Literaturagent bemerkte Mitte der Nuller Jahre einmal auf der Buchmesse, daß mein Problem sei, daß der Buchhandel mir kein Etikett auf die Stirn pappen könne. Gut geschrieben seien meine Texte zwar fraglos alle, aber praktisch gesehen würden die Buchhändler im wahrsten Sinne des Wortes nicht wissen, in welches Regal meine Bücher im Laden zu stellen seien. „Regale“, – was mir wie ein eigentlich ganz guter Witz vorkam, Ikea und Literatur im gleichen Atemzug, meinte er natürlich vollkommen ernst. Und er kannte sich fraglos im Business aus. Meine spontane Reaktion damals war, daß ich gerade in der unberechenbaren „Labellosigkeit“ meine wahre Qualität sehen würde. Mit dieser Meinung war ich allein auf weiter Flur.

Was ich kaum glauben konnte, schrieb ich doch im Land und in der Muttersprache der Dichter und Denker. Und ging naiverweise davon aus, bei allem Verständnis für die Schwierigkeiten des Buchhandels beim Einsortieren – die ja nur eine Verkaufsstrategie und keine Wahrheit widerspiegeln –, daß eine Art Rest-Spiritualität im Bewußtsein der Menschen die grundsätzliche Grenze zwischen Kommerz und Literatur akzeptiert, und nicht ständig verwischt. Das heißt, daß ein stillschweigendes Einverständnis darüber besteht, daß es Autoren gibt, im Volksmund meist Dichter genannt, die im Ernstfall von ihren Texten, und nicht von Marketingfragen umgetrieben werden. So wie immer wieder Politiker auftauchen, die sich einen Dreck um Meinungsumfragen scheren. Weil sie eine davon unabhängige Haltung besitzen.

Nichts konnte falscher sein als diese Annahme. Ich erinnere mich an meinen ersten Verleger, Unseld Junior, der mir mit der Einladung zum Essen das sattsam bekannte Zitat servierte: „Der Verleger schaut mit einem Auge auf das Publikum, mit seinem anderen Auge auf den Autor. Mit dem dritten Auge aber, dem Auge der Weisheit, schaut er in sein Portemonnaie.“

Selbstverständlich macht auch ein Fischhändler auf dem Wochenmarkt pleite, wenn er regelmäßig auf seinen Aalen, Seelachsen und was es alles so gibt, sitzenbleibt. Aber diese praktische Vernunft mit Weisheit zu verwechseln, was ein waschechter Fischhändler eben aus wahrer Weisheit niemals tun würde, ist eine symptomatische Verwirrung der Begriffe. Sie entspringt der unbewußten Heiligung des Subjektiven, des Gewinnstrebens in diesem Fall. „Geilheit“ statt „Weisheit“ wäre im obigen Zitat zwar übertrieben, aber dennoch sehr viel zutreffender.

Mario Barths Witze, oder wer immer gerade aktuell für abendfüllende Unterhaltung sorgt, dürften sich fast jederzeit besser verkaufen als Rilkes Gedichte. Was natürlicherweise so ist, weil sich das Schöpferische im Ernstfall so wenig an Verkaufszahlen orientiert, wie umgekehrt die Unterhaltungsindustrie nicht besonders an irgendwelchen Wahrheiten interessiert ist. Es sind zwei verschiedene Welten, jede hat ihre Berechtigung, die manchmal sogar glücklich zusammenkommen, aber man kann sie nicht zur Ehe zwingen.

Versucht man es doch mit Gewalt, was eine deutsche Spezialität zu sein scheint, endet man nach der unvermeidlichen Scheidung entweder in der verstaubten Arroganz des Elfenbeinturms, oder in der spiegelbildlichen und gegenwärtig dominierenden Arroganz der Verkaufszahlen.

Was macht man also als deutschsprachiger Autor in dieser Lage, wo praktisch die gesamte offizielle literarische Welt jenseits der billigen Sonntagsreden – „wir drucken Autoren, keine Bücher“, Verlags-Werbesprech – wie gebannt auf das Verkaufsranking bei Amazon starrt, auf Bestsellerlisten aller Art, und geradezu besessen von Fragen des Marketings ist?

Man greift als Pazifist in Notwehr selbst zum Schwert. Jener Agent hatte auf eine eigenartige Weise recht. Wenn die Welt Wein ohne Etikett mißtrauisch nicht anrührt, weil sie grundsätzlich ein zusammengepantschtes, ungenießbares Gebräu statt einen Premier Grand Cru darin vermutet, ist es wohl an der Zeit, diesen Zustand zu ändern. Das, was mir immer sonnenklar schien, so sehr, daß ich es nicht für erwähnenswert hielt, dieses offene Geheimnis sei jetzt gelüftet. Der Sinn dieses Vorworts liegt auch darin, daß ich mir hier endlich selbst ein Brandzeichen, ein Label, einen Markennamen verpasse. Für alle Zeiten, in aller Demut, aber auch in aller Härte: Ich bin als Autor vom Unbewußten, das unfaßbar viele Gestalten annimmt, bestimmt. Der über das schreibt, was man nicht sieht. Auf gut Deutsch: Ich bin ein Dichter.

Für „Cathy“ und „Sofie“

und all die anderen

Time does not cure the effects of incest. Although the memories go underground, the consequences of the abuse flourish.

Sue Blume

Secret Survivors

Spam

Kuß

Keller

Schock

Kontakt

Schock 2

Sophie-Charlotte-Platz

Opfer

Geliebte

Geburtstag

Premiere

Paris

Luxus

Knockout

Betrunken

Musik

Sex

Kekse

No smoking

Bildchen

Bridge

Verachtung

Weltmeister

Marionetten

Familie

1. Mail \ Kuß.txt

Hi Cathy, es ist einer der wonnigsten Maimonate, die Berlin seit langem erlebt hat. Die Sonne scheint warm und mild, und dennoch fröstele ich oft am hellichten Tag, sträuben sich von einem Augenblick auf den anderen alle meine Härchen an den Armen. Die Wolken am wolkenlosen Himmel, die diese plötzliche Kälte unter der Haut verursachen, sind Erinnerungen; nein, nicht einmal das, es sind Fetzen von Erinnerungen.

Aber ich habe mich entschieden, ich will keinen Weg mehr zurück in den Stand der Unwissenheit, des Schweigens. Es ist zwölf Uhr mittag, ich bin weder betrunken noch im Fieberwahn, noch sonstwie umnachtet. Ich bin, auch wenn dir gelegentlich Zweifel kommen werden, bei vollem Bewußtsein. Die Zeit der Kompromisse ist vorbei, ich nehme jetzt mein Herz in beide Hände, und steige in die vermoderten und vermauerten Gruften meiner und anderer Vergangenheiten. Daß ich dem ungefilterten Anblick der üblen Dämonen, die dort hausen, und die mächtig und fett geworden sind, weil sie bisher in Ruhe gelassen wurden, Kakerlaken der Zeit, nicht gewachsen bin, und daß vielleicht irgendwer demnächst die Reste meines Hirns von diesem 17 Zoll Monitor abwischen muß, ein traditionelles Ende in unserer Familie, dieses Risiko muß ich in Kauf nehmen. Eine leichte Entscheidung, ich habe nicht wirklich mehr etwas zu verlieren.

Du kennst meinen Körper ein bißchen und weißt, daß er ziemlich durchtrainiert, auch durchlässig für Berührungen ist. Obwohl ich seit fast zwanzig Jahren Kampfkunst betreibe, Aikido, im Augenblick sogar täglich, in einem hyperagilen und extrem belastbaren Zustand bin – wie einer von diesen Gummibällen, die man leicht auf den Boden wirft und die dann zehn Meter hoch zurückspringen –, brachte mich gestern Abend eine stinknormale, eigentlich der Entspannung zum Schluß des Trainings dienende Partnerübung völlig aus der Fassung. Ich lag mit dem Bauch auf der Matte, auf meinem Gesäß kniete jemand, und massierte ziemlich hart und unsensibel meine Schultern. Plötzlich wurde mir eiskalt, verkrampfte und erstarrte ich für Sekunden, die Kehle war wie zugeschnürt, und zu den Schweißperlen, die von den Schläfen auf die Matte tropften, drohten sich Tränen zu mischen. Hilflos, absolut hilflos fühlte ich mich, der Mann, der über mir kauerte, hätte mich in diesem Moment erwürgen können, und ich hätte mich nicht gewehrt. Eine merkwürdige Hilflosigkeit für jemand, der in Selbstverteidigung geschult ist.

Diese totale Schocklähmung wurde ausgelöst durch eine harte Berührung an einer ganz bestimmten Stelle der Schulter, das zufällige Treffen eines Nervs triggerte eine Erinnerung: Ein auf den Bauch liegender Mädchenkörper von vielleicht sechs Jahren, über den sich der nackte Körper eines Mannes mit langen schwarzen Haaren so beugte, wie der ebenfalls dunkelhaarige Trainingspartner, der auf mir hockte, und mich massierte. Dann sah ich nur noch die Kinderbeine zwischen den haarigen Schenkeln des Erwachsenen herausragen. Das Mädchen rief leise, ein schwacher Ruf, der eine Zeit von ungefähr dreißig Jahren zurückgelegt hatte, bis er wieder an mein Ohr drang: „Nich, bitte nich!“

Dieser Schnappschuß aus der Vergangenheit verschwand, das Gefühl des Grauens nicht. Selbst beim Schreiben zucke ich noch instinktiv zurück, und bin in Versuchung, alles wieder der Vergessenheit anheimzugeben. Zumal ich nur die Spitze eines riesigen Eisberges gesehen habe; diese dunkle Masse aus Haß, Angst und Horror, die da aus dem letzten Jahrtausend auf mich zuschiebt, deren Weg ich kreuzen werde, wenn ich nicht allmählich ausweiche, hat die Macht, das weiß ich, mich zu zerquetschen.

Jetzt kommst du ins Spiel, Cathy. Auf eine seltsame Weise motivierst du mich, ohne daß du davon weißt, vor den dämonischen Fratzen meines Lebens nicht mehr die Augen niederzuschlagen. Als du vor einer Woche vor meiner Tür standest, wußte ich intuitiv sofort, daß mit dir die richtige Frau zum richtigen Zeitpunkt über meine Schwelle trat. Wie ein Blitz im Treppenhaus schlug dein Anblick ein, du wirktest so schön wie abgebrüht, gewinnend nach außen, verloren nach innen, wie ein wahlverwandtes Ebenbild für meine in Einsamkeit verwaiste und herumirrende Seele. Auch wenn wir uns nie wiedersehen: Deine durch zu viel Erfahrung nur wie abgeblendet strahlenden Augen, eine mich seltsam berührende Mischung aus Illusion und Desillusion, auch deine von einem Sommerkleid und einem Lächeln umschmeichelte und für zwei Stunden gemietete Erscheinung, vergesse ich nicht mehr. Und meine Lippen erinnern sich noch an deine Küsse; käufliche Küsse zwar, und doch die heißesten und innigsten seit langem. Eine ernüchternde Tatsache, wenn ein Callgirl leidenschaftlicher küßt als alle anderen Frauen. Aber genau solche nüchternen Wahrheiten mag ich im Moment wiederum sehr, sie scheinen an meinen Sohlen zu kleben wie der notwendige Dreck, auf den man trifft, wenn man wirklich unterwegs ist.

Ich bin durch so viele Lügen, fremde und irgendwann eigene, so ausgehungert nach Echtheit, so gierig nach Authentizität wie ein Verdurstender nach Wasser, daß ich es diesmal sofort gemerkt hätte, wenn du nur eine weitere menschliche Fata Morgana gewesen wärst. Zwar ist es dein Job, zu täuschen und vorzuspielen, und für die meisten Leute dürftest du als Hure genau das sein: eine emotionale Halluzination. Und wäre mein Zustand nicht so jenseits von Gut und Böse, ich würde den Leuten wahrscheinlich zustimmen, statt wie jetzt in dir einen Engel auf Zeit zu sehen, den mir der Himmel geschickt haben muß; ein perverser Engel von mir aus, und dem ich mich mit diesen Briefen per Mail anvertraue, wie ich mich noch nie jemandem anvertraut habe. Ja, „Briefe”, Plural, du hast richtig gelesen, es kommt etwas auf dich zu. Noch sind sie zwar ungeschrieben, aber ich bin schon schwanger von ihrem Inhalt, es ist nur eine Frage der Zeit. Mir ist natürlich klar, daß du mir deine Mailadresse nicht für solche seltsam anmutenden Bekenntnisse in Form angehängter Textdateien gegeben hast, sondern für unkomplizierte Dates, für sexuelle Schwarzarbeit an der Agentur vorbei. Aber manchmal verändern sich Ziele während des Reisens, und man muß improvisieren.

Vielleicht wirst du mich verstehen, vielleicht nicht, es ist fast egal, weil ich mir vorstelle, daß du mich verstehen könntest. Das reicht mir schon, innere Unabhängigkeit setzt eine gewisse Genügsamkeit voraus. Daß ich unter den vielen Töchtern des Landes, die Berlin bevölkern, oder sogar von allen Personen auf der ganzen Welt, ausgerechnet dich als unfreiwillige Vertraute ausgewählt habe, scheint auf den ersten Blick irrsinnig. Ich weiß natürlich, daß, selbst wenn ich blind irgend jemanden aus meinem Adreßbuch auswählen würde, die Chancen auf ein offenes Ohr größer wären als bei dir.

Aber es ist eben genau dein fremdes und distanziertes Wesen, das mit meiner Sprache zu gewinnen, mich maßlos reizt. Vielleicht ist es vermessen, aber ich kann dieser Versuchung nicht widerstehen; wenn es mir gelingt, eine Frau wie dich, die für Liebe Geld nimmt, mit einer Lovestory zu berühren; eine Frau wie dich, deren Seele zumindest jobmäßig ihren Körper verlassen hat, mit einer Geschichte von Seelenmord zu fesseln, – dann ist die Wahrheit und das Leben auf meiner Seite. Eine größere Herausforderung als eine solche Leserin ohne interessiertes Wohlwollen gibt es für einen Autor kaum. Da ich nichts mehr zu verlieren habe, kann ich genausogut gleich nach den Sternen als nach irgendwelchen Brotkrumen greifen.

Freunde, Bekannte, Verwandte, Ex-Freundinnen nicht zu vergessen, – sie alle kommen als Adressaten dieses Briefes nicht in Frage. Sie würden mich vermutlich zu leicht, zu schnell, zu billig verstehen. Oder so tun als ob, was noch unangenehmer wäre. Oder, Gott behüte mich vor dieser Erkenntnis, ich wäre ihnen gleichgültig. Schließlich wäre ich beim Schreiben befangen, unbewußt würde ich Rücksichten auf mir bekannte Empfindlichkeiten der Leute nehmen. Was zwar menschlich ist, aber auch verlogen und albern, wenn es um Wahrheit geht. Insofern, Cathy, bist du ideal.

Diese unvermutete Eigenschaft von dir, eine zukünftige, sei es auch nur eingebildete Vertraute meines Geistes, Empfängerin von Briefen zu werden, hatte ich instinktiv vorweggenommen, als ich dich zum ersten Mal vor einer Woche sah, das war die zunächst noch verborgene Offenbarung für mich, als ich dir lächelnd die Tür aufhielt und Champagner anbot. Und ich für einen Augenblick vergaß, daß wir kein Date hatten, sondern eine Geschäftsbeziehung zwischen Callgirl und Freier.

Seitdem ich dich getroffen habe, geht es mir insofern wieder gut, als daß mein Geist einen Hafen gefunden hat, wie irreal auch immer, dich, wo ich Anker werfen kann. Das ist mit Geld nicht zu bezahlen. Obwohl du also auf den ersten Blick eine Hure bist, für mich bist du zu meiner Muse transformiert, eine klassische Metamorphose, wie die von der Raupe zum Schmetterling. Eine Verwandlung, die nur deswegen kein Kitsch ist, weil es die Wahrheit ist. Solch ein Kompliment habe ich übrigens noch nie gemacht, eine Weltpremiere, was dafür spricht, daß du für mich etwas besonderes bist, nicht der zwanzigste „Ich liebe dich“ - Aufguß. Obwohl selbst der manchmal besser ist als gar nichts.

Ich sollte langsam das emotionale Warm-up beenden. Ich springe jetzt ins Wasser; eines, wo sich Vergangenes und Gegenwärtiges mit Zukünftigem seltsam mischt, es scheint ein trübes und gefährliches Wasser zu sein. Schützen kann mich nur meine Sprache, meine treueste Liebe, sonst nichts und niemand. – Okay:

Ich sprach am Anfang von einem üblen seelenzermalmenden Eisberg, der aus der Vergangenheit auf mich zuschiebt. Aber die angedeutete Wahl, altem Bösen auszuweichen, gibt es nicht wirklich, denn wohin soll ich noch fliehen, wenn auch die Gegenwart keinen Schutz mehr bietet? Im Gegenteil, seit zwei Monaten wache ich täglich in einem realen Alptraum auf. Öffne ich in meinem Bett nach wenigen Stunden schlechten Schlafs die Augen, möchte ich sie am liebsten wieder schließen, manchmal begleitet von dem Gefühl, daß es vielleicht schön wäre, nie wieder aufzuwachen. Es fing vergleichsweise harmlos damit an, daß meine Freundin mich sitzenließ. Sie war eigentlich ein bißchen mehr als meine Freundin, sie war lange meine Traumfrau.

Vor knapp vier Jahren lagen wir nachmittags im Bett, fest drückte Sofie mich, das ist ihr Name, ganz fest, und mit einem Blick sah sie mich an, der warm und weiblich war wie selten bei einer jungen und sehr ehrgeizigen Frau; und sie sagte: „Meine große Liebe, du bist die Liebe meines Lebens!“

Wäre es dieses Bild allein, und andere ähnlicher Art, für immer eingebettet in meinem Gedächtnis wie Bruchstücke vom Paradies, würde ich Sofie wohl nur jene bitterheißen Trennungstränen nachweinen, die aus echtem Verlust kommen, aber die dennoch von der Zeit getrocknet werden wie nasses Haar in der Sonne. Was bliebe, wäre die Erinnerung an eine Liebesgeschichte, die schön anfing und schnöde endete, nämlich so: „Ich trenne mich von dir. Ich will keine Kinder mit dir, und mit dir sein auch nicht.“

Zwischen beiden Bemerkungen lagen vier Jahre, die glücklichsten meines Lebens, wie ich bisher dachte. Eine Illusion, eine schöne zwar, aber eine Illusion, wie ich jetzt weiß. Nachdem die ersten lähmenden Schockwellen ihrer Worte verebbt waren, stand ich kurz davor, mich in mein neues Schicksal zu fügen: Wenn sie aufgehört hatte, mich zu lieben, dann war es auch eine Frage des Stolzes, dies zu akzeptieren und nicht verzweifelt nach Gründen zu forschen, die doch alle an der traurigen Tatsache gar nichts änderten.

Dieser abgeklärten Erkenntnis zum Trotz bin ich kurz nach der Trennung am hellichten Tag vor den Blicken der Passanten in die Fotokabine der U-Bahn-Station Adenauerplatz geflohen. Ich habe den Vorhang zugezogen, und überwältigt von Traurigkeit stumm vor mich hingeheult, – während ein Straßenmusiker draußen grauenvoll laut und kreischend russische Volkslieder sang.

Ich blockierte eine Weile die Kabine, opferte Münzen für Fotos, um länger sitzen bleiben zu können, hörte gedämpft wie unter Wasser zwei ungeduldige Mädchenstimmen: „Krass, dauert das wieder lange.” „Dabei sind die meisten sowieso viel zu häßlich für Fotos.“ Die Mädchen kicherten.

Als ich mich wieder unter die Leute traute, achtete ich weder auf die beiden Mädchen noch auf die Fotos, die der Automat auswarf. Es dürften die tristesten Porträts meines Lebens gewesen sein, mochten sie im Müll landen. Ich ging weiter, und dachte plötzlich, es war wie das Pfeifen im dunklen Wald, daß eigentlich alles halb so schlimm sei: Von einer Frau verlassen zu werden, kommt bei aller Liebe vor, und ein Mann sollte damit umzugehen wissen.

Umso mehr, wenn er 15 Jahre älter ist, was eine gewisse Verpflichtung zur Souveränität einschließt. Sofie ist gerade 25 geworden, ein Alter, in dem viele Metropolen-Ladys nach aller Erfahrung seelisch unzurechnungsfähig sind. Und wo man eigentlich nur mit einem Augenzwinkern zugucken kann, was sie so treiben. Dachte ich zunächst, und stellte mir vor, sie sozusagen an langer Leine laufen zu lassen, immer in der Gewißheit, daß sie sich irgendwann besinnen würde. Denn ganz umsonst, sinnlos dann fast, konnten die vier Jahre, davon drei ziemlich glückliche, wie ich noch dachte, doch nicht gewesen sein. Mir schwebte plötzlich das Modell Aikido vor: Der freie Fall, nichts festhalten wollen, was wegstrebt. Den körperlichen Aspekt praktiziere ich immerhin fast zwanzig Jahre, und weiß, daß es funktioniert. Das war die coole Variante meiner Gedanken.

Die andere Variante war etwas herber und selbstkritischer. Seitdem ich mich in Sofie verliebt hatte, war ich kaum mehr zum Training gegangen, hatte Videoabende mit meiner Herzdame vorgezogen. Meinen Lebensstil ihrem angepaßt, so daß das Modell Aikidomeister einen eher theoretischen Charakter bekommen hatte. Der typische Fall eines Verliebten, der unmerklich seine eigene Identität aufgegeben hat, und deswegen uninteressant für die Geliebte geworden ist. Aber diese alltäglichen, sogar belustigenden, und wegen ihrer Menschlichkeit tröstlichen Deutungen, daß einerseits Frauen in ihren Zwanzigern unberechenbar sind, als auch, daß ein Mann niemals zuviel seiner Zeit für eine Frau opfern sollte, führten beide in die Irre. Absolut in die Irre. Was mich daran hinderte, das Ende unserer Liebesgeschichte als zwar schmerzhaften, doch natürlichen Vorgang abzutun, lag an einer zeitverzögerten und magenumdrehenden Erkenntnis. Ich muß etwas ausholen.

Eine Woche nach unserer Trennung hatte ich als Taxifahrer für eine junge Polin eine alte zusammengerollte Schaumstoffmatratze die Treppen hochgetragen, und stand mitten in der Nacht in einer fremden und unwirtlichen Wohnung. Dort löste der Anblick eines altmodischen grauen Telefons mit Schnur zuerst eine Erinnerung, und dann die Gewißheit aus, daß ich nicht in einem Liebesfilm die Hauptrolle spielte, sei es auch die tragische, sondern den Komparsen in einem Horrorstreifen gab.

Die Altbauwohnung war unbehaust und verwahrlost wie meine nach Sofies Auszug, ich fühlte mich sofort auf eine morbide Weise Zuhause. Von einem dunklen Flur gingen vier trüb beleuchtete Räume ab, Türen standen offen, bis auf eine Küche alles schmuddelige Schlafzimmer. Ein armseliges Nuttenloch, doch für die Polin Zuhause und Arbeitsstätte in einem für die nächsten drei Monate, bis ihr Touristenvisa ablief. Die Umstände übrigens, in denen mir Gedanken kommen, sind oft ähnlich interessant, finde ich, wie die Gedanken selbst. Deswegen schildere ich dir das Drumherum, ein Wort gibt dann das andere. Wie auf einer Reise, wo man Umwege gehen muß, oder sich ziellos treiben läßt, um irgendwo anzukommen, gehört zu diesen Briefen, daß meine Sprache manchmal ihre eigenen Wege geht, und sich nicht nur darum kümmert, was ich von ihr will. Ich lasse sie, echte Freiheit fängt erst an, wenn man nicht nur Leute frei und entspannt herumlaufen läßt, sondern auch Sätze, wie seltsam oder zufällig sie manchmal auch anmuten mögen.

Während die junge Frau mich in der von einer nackten Glühbirne armselig beleuchteten Küche auszahlte, fiel mir also das graue Telefon auf dem Kühlschrank auf, und eine der letzten Bemerkungen ein, die Sofie für mich übrig hatte, an jenem Tag, als sie mir den Laufpaß gab: „Ich habe die Nummer von hier vergessen“. Dabei machte sie eine gleichgültige, fast verächtliche die Wohnung umfassende Geste, die noch vor wenigen Wochen auch ihre gewesen war, und wo sie im Geiste schon unsere ungeborenen Kinder herumtollen gesehen hatte. Du mußt wissen, Cathy, daß Sofie ein ausgezeichnetes Gedächtnis besaß, auch und gerade für solche spröden Dinge wie Telefonnummern, Namen, Adressen, selbst Formeln. Wenn Sofie etwas vergaß, dann mußte ihr Interesse an dem Vergessenen auf dem absoluten Nullpunkt sein.

Passend dazu fiel mir eine weitere ihrer Bemerkung ein, deren Kälte ich ebenfalls zunächst verdrängt hatte: „Es schmerzt mich eher, daß etwas zu ende geht, und bei dir ist es, daß ich gehe.“ Als Sofie diese Worte in eben dieser Betonung sprach, saß sie auf dem bunten Sofa, das wir gemeinsam bei Ikea gekauft hatten. Sie schaute aus dem Fenster an mir vorbei, und zog an einem Joint, den sie sich für die Trennungsaktion eingesteckt hatte; vermutlich, um alle anderen Gefühle besser betäuben zu können.

Auch ich saß auf dem Sofa; ich schwieg, in Sofies Worten steckte ein gleichgültiges und teilnahmsloses Gift, das mein Bewußtsein sich weigerte wahrzunehmen. Aber mein Unbewußtes reagierte: Ich packte mein T-Shirt mit beiden Händen, und zerriß es über meiner Brust. Begleitet von einem wie aus meinen Eingeweiden herausgewürgten Satz: „O Gott!“ Verzweifelt schaute ich auf den Boden, dann zu Sofie, aber Sofies einst warmherziger Augenausdruck war kalt, ihr Blick suchte nicht mich, sondern streifte die Wände entlang.

„Das Hemd hat doch über 200 Mark gekostet.”, sagte sie dann mit einer ungespielten und unbeteiligten Nüchternheit. Sie war nicht einmal zynisch, sie war gar nicht gegenwärtig.

Ich weiß noch, daß ich daraufhin in eine Art seelischer Totenstarre, Selbstbetäubung ohne Drogen, fiel. Zu kalt war Sofies Reaktion, es war wie die zeitlupenhafte Verwandlung eines Lebewesens in einen Leichnam, einen menschlichen Alptraum, und ohne daß ich irgend etwas dagegen tun konnte. Die wahre Bedeutung dieses Abends war nicht die Trennung, die ich Manns genug gewesen wäre zu ertragen. Nein, was mein Bewußtsein mit einwöchiger Verspätung heimsuchte, in der Bruchbude jener Taxikundin, war eben die Erkenntnis ihrer apathischen Gefühllosigkeit. Sie hatte nicht nur die Telefonnummer unseres gemeinsamen Zuhauses vergessen, nicht nur aufgehört, mich zu lieben, sondern mich aus ihrem Herzen und Hirn gelöscht, getilgt, vertrieben. So beiläufig und dennoch endgültig, wie man eine überflüssig gewordene Computerdatei in den Papierkorb schiebt.

Mochte ihr Geist durch Hasch getrübt sein, ziemlich wahrscheinlich sogar, denn Sofie war sonst nicht der Typ Frau, die altkluge Sätze wie oben absonderte, ihre Gleichgültigkeit, als hätte es unsere Liebe nie gegeben, war keine Einbildung, war Wirklichkeit. Als mir dies eine Woche später bewußt wurde, während ich der Polin das Wechselgeld herausgab – meine Hand zitterte plötzlich –, sprang mich die Erkenntnis an, daß etwas nicht stimmte, daß der Augenschein trog, wie nur je Augenschein täuschen kann. Ich habe schon einige harte Trennungen erlebt, und weiß, wie kränkend und lähmend im ersten Moment Verlassenwerden sein kann. Aber Sofies stocknüchterne und bürokratisch kaltblütige Abwendung von mir, ihrem einstigen Traummann, Göttergatten, Supermacker, Allerliebsten und über alles geliebten Schatz, löste bei mir etwas aus, was alle anderen Trennungen bisher nicht vermocht hatten: Eine tiefe Verstörtheit, die ich mit keinem pseudosouveränen Achselzucken mehr übergehen konnte.

Ein Gefühl zunächst nur. Das aber ähnlich intensiv und auf eine Realität hinweisend war wie jener faulige Gestank, der einst aus meinem Kellerverschlag das ganze Treppenhaus durchzogen hatte, und dessen Ursache eine halbverweste und madengespickte Ratte in einem verschimmelten Teppich gewesen war. Auch die Liebe zwischen mir und Sofie besaß gleichsam einen Keller, wo schon lange niemand mehr nachgeschaut hatte. Was ich dort fand, davon will ich im nächsten Brief erzählen. Bis dann.

2. Mail \ Keller.txt

Hi, Cathy. Nachdem in jener Wohnung deiner Kollegin mit einwöchiger Verspätung die Erkenntnis von Sofies emotionaler Abstumpfung bei mir eingeschlagen hatte, ich der Tatsache ins Auge sehen mußte, daß sie unserer Liebe nach vier Jahren innerlich gleichgültig den Hals umgedreht hatte, stellte ich das Taxi ab, und radelte nach Hause. Via Tankstelle, wo ich mir die Taschen mit kaltem Büchsenbier vollstopfte. Es war vielleicht zwei Uhr früh, als ich auf dem Sofa in meiner Wohnung hockte, die mir seit Sofies Auszug leblos wie ein Leichenschauhaus vorkam. Einerseits verzweifelt und völlig unglücklich, seelisch wie gelähmt, schwärmten meine Gedanken andererseits aufgeputscht und hellwach in alle Richtungen aus, eine reale und überzeugende Antwort auf die Frage suchend, wieso aus der Liebe meines Lebens ein derartiger tiefgefrorener Alptraum werden konnte.

Irgendwann, ich war schon leicht angetrunken, und kurz davor, zumindest für diesen Abend meine Gedanken einzustellen, starrte ich das sandbraune Zwergkaninchen im Käfig an. Das Tier, möglicherweise mehr aus Langeweile als aus Neugierde, schaute mit hochaufgerichteten Ohren zurück. Es war eigentlich Sofies Kaninchen. Und während ich murmelte: „Paula, dich hat sie auch völlig im Stich gelassen“, wurde plötzlich eine Assoziationskette ausgelöst, an deren Ende ich mich plötzlich wieder hellwach auf dem Sofa aufrichtete.

Nachdem wir vor anderthalb Jahren einmal auf das Kaninchen unserer Nachbarn aufgepaßt hatten, wollte Sofie, weil es „so süß“ sei, auch ein solches Tier haben. Also schenkte ich ihr eines; nach anfänglichem liebevollem Überschwang und dauernder zärtlicher Fürsorge verlor Sofie nach ungefähr zwei Monaten plötzlich jedes Interesse an dem Tier. Hauptsächlich deswegen, weil es jenseits des Käfigs nicht aufhörte, überall hin zu köteln und zu pissen, bevorzugt aufs Bett, so daß wir statt eines von Sofie erträumten pflegeleichten Schmusetierchens ein richtiges Miststück in der Wohnung hielten. Da Sofie fast über Nacht jede praktische Zuwendung einstellte – sei es Käfig säubern, sei es Füttern, sei es Spielen –, und ich es vor meinem Gewissen unverantwortlich fand, das lebendige Wesen wie einen überflüssigen Gebrauchsgegenstand im Tierheim abzugeben, hatte ich plötzlich wider Willen ein schweigsames und schreckhaftes Kaninchen in meiner täglichen Obhut.

„Wenn’s stirbt, mir egal. Mich ekelt das dumme Vieh an!“ Sofies gnadenlose Abwendung von dem vorher so sehr umsorgten und gehätschelten Tier hatte mich damals zwar irritiert, aber schließlich, dachte ich, sei es nur ein Kaninchen.

Als ich in jener Nacht biertrinkend auf dem Sofa saß, spiegelte das Schicksal, der bodenlose Fall des Kaninchens in Sofies Gunst plötzlich auf frappierende Weise meine eigene Situation. Denn nicht die Tatsache, daß Sofie damals vom Kaninchen genervt war, war ja das Seltsame gewesen, sondern die erbarmungslose Verachtung, die sie für das arme Tier plötzlich hegte, nur weil es nicht stubenrein wurde. Diese empathielose Gleichgültigkeit war genau dieselbe, die sie bei der Trennung von mir gezeigt hatte, und die mich jetzt erschütterte. Es mochte tausend nachvollziehbare Gründe für eine Scheidung von mir geben, vielleicht war auch ich auf irgendeine Weise für Sofies Vorstellungsgebäude nicht mehr „stubenrein”, aber ihre emotionale Teilnahmslosigkeit im Vergleich zur vorher so offensichtlichen Zuneigung war ein zu extremer Wechsel, um noch natürlich zu sein.