Nachtmusik - Silvo Lahtela - E-Book

Nachtmusik E-Book

Silvo Lahtela

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Beschreibung

Alle fünf Bände von "Identität unplugged" stellen die konkreten Auswirkungen des Kollektiven Unbewußten im Sinne C. G. Jungs auf die Gegenwart dar. "Nachtmusik" ist ein Roman: Die Radiomusik, die ein Taxifahrer während seiner Nachtschicht hört, löst teilweise extreme Reaktionen bei seinen Fahrgästen aus. Vor dem "unmusikalischen" Hintergrund des Nachtlebens einer Großstadt wird in zwölf Storys davon erzählt, wie Musik, sei es Pop oder Klassik, psychisch mit den tiefsten Erfahrungen verschmolzen ist und Menschen völlig aufwühlen kann. Ob Mozart, der Terroranschlag des 11. September, ob neurotische, käufliche oder echte Liebe - "Nachtmusik" weicht Vollkontakten mit der Wirklichkeit nicht aus, sondern sucht sie und stellt sich ihnen auf menschlicher Augenhöhe.

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Seitenzahl: 268

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Pressestimmen

Getrieben von den alten Fragen Thomas Manns – ,Wie bricht man durch? Wie kommt man ins Freie? Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling?‘ – , geht es ihm vor allem um eine Option auf Überschreitung: einfach heraustreten aus dem Geschaffe. (...) Lahtela hat eine wunderbare Brücke gebaut.

Die Zeit über Zeichendämmerung

Ein schonungsloser und eisiger Thriller.

Le Monde über AlpTraumTerror

Jede, wirklich jede dieser Geschichten verdient den Preis, den der Regisseur für sie ausgibt. (...) Sprachakrobatik ohne Fallnetz ist das. Das Besondere im Allgemeinen, das Prinzipielle im Außerordentlichen.

Süddeutsche Zeitung über Letzte Obsession

Doch sein „Logbuch eines Dichters“, das er nach Kriterien wie die Einsamen, die Getriebenen, die Demütigen oder die Hoffnungsvollen unterteilt, ist keine strenge Dokumentation. Vielmehr sind es künstlerische Verdichtungen.

Fokus über Nachtfahrten

Identität unplugged

Band 1 Spam aus der Kindheit & Vorwort zur Gesamtausgabe

Band 2 Nachtmusik

Band 3 Zeitpeitschen

Band 4 Die eigene Stimme ist die fremde

Band 5 Jenseits der Apps

für Johanna

Kapitel

„Jeunehomme“, Mozart

„Badlands“, Bruce Springsteen

„Walkürenritt“, Wagner

„Romance“, anonym

Cellokonzert, op. 104, Dvorak

„Im Nin Alu“, Ofra Haza

„Lascia ch‘io pianga“, Händel

Streichquartett, op. 135, Beethoven

„Fire“, Kennedy/Hendrix

„Could i have this kiss forever“, W. Houston/E. Iglesias

Scherzo Nr. 3, Chopin

„Ave verum corpus“, Mozart

1

„Jeunnehomme“

Wenn die Räder eines Flugzeuges beim Starten die Bodenhaftung verlieren, dann mag es für die entspannten oder verkrampften Passagiere Minuten später vielleicht sogar Champagner geben, nur eines im Augenblick gewiß nicht mehr: ein Zurück. – In einen ähnlich unaufhaltsamen Steigflug geriet Oliver Sterns Bewußtsein jetzt, als die Streichinstrumente lautstark und mit explosivem Schwung den wuchtigen Melodiefetzen des Konzertanfangs durch den ersten Takt peitschten, und schon in diesen Sekunden alle kleinlichen Zweifel, nicht nur in der Musik, hinweggefegt schienen.

Weil das kleine, aber unwiderstehlich an die Ohren anbrandende Orchester – als würden Meeresgewalten in einem See toben –, mit diesem Beginn in Allegro und Forte nicht nur Temperament, sondern unmißverständlich auch geballte musikalische Macht demonstrierte, wirkte es um so mutiger, daß jetzt das Piano alleine einsetzte, mit selbstbewußt zarten Klängen das kaum halbgeborene Thema übernahm, von Anfang an mithalf, es als ein unverschämt wohlklingendes Kind, mit Genen aus Es-Dur, in die Welt zu bringen.

Angesichts des jubilierenden Rudels der Streicher, deren vereinigte, von Hörnern und Oboen unterstützten Bemühungen nicht nur Gemeinschaft und Harmonie, sondern auch Gruppenzwang und Gleichschaltung verkörpern konnten, war das sofortige und in aller Nacktheit sich Zeigen des Klaviers keine Kleinigkeit: Schnell verwandelte sich Individualität in Isolation, und wie im Tierreich, bei Wölfen beispielsweise, bestand für eine unangepaßte Solostimme immer das Risiko, bei irgendwie falschen Tönen von der Herde, vom Orchester tot- oder fortgebissen, zumindest übergangen zu werden.

Aber so wie ein Einzelner in einer Menschenmenge nicht untergehen muß, sondern gewillt sein kann, sich mit allen seinen Mitteln in der Masse lebendig zu behaupten, so waren auch die rasiermesserscharf genauen, die anmutig perlenden und berückend unbekümmerten Tastenklänge des Pianos keine Demutsgesten der Unterwerfung, sondern verströmten ein ansteckendes Gefühl von klingender Freiheit, und wärmten schon in diesen ersten beschwingten Takten über das Gehör das Herz.

Unwillkürlich hätte Oliver beinahe, voll von aufgewühlter Begeisterung, das Gaspedal bis zum Anschlag durchgedrückt, es als Taktstock mißbrauchend. Doch unterdrückte er den Impuls in seinem Fuß, schließlich befand er sich nicht auf leerer Autobahn, sondern auf einer von den Nachzüglern des abendlichen Berufsverkehrs belebten Berliner Straße kurz vor einer Ampelkreuzung.

Vom immer, Minute um Minute, Aufmerksamkeit fordernden Straßengeschehen abgesehen, einer oft unerfreulichen disharmonischen Angelegenheit aus Aggression und Stillstand, einem explosiven Gemisch aus Bewegungsmangel und psychischer Raserei, verhinderte auch die Tatsache, daß er einen Fahrgast im Taxi hatte, daß er öffentlich arbeitete statt privat zu genießen, jede völlige Hingabe an die Musik wie etwa im Konzertsaal oder Zuhause. So wirkte Oliver trotz seiner inneren Erregung nahezu unbewegt, nur seine Fingerspitzen trommelten rhythmisch, zuckten minimalistisch auf dem Lenkrad herum.

Ein wacher Zeitgenosse hätte vielleicht noch den intensiven Schimmer in seinen Augen bemerkt, und diesen äußeren Abglanz von Lebensfreude möglicherweise mit der gehörten Musik in Verbindung gebracht; aber der Mann auf dem Beifahrersitz schien zu betrunken, auf eine dumpfe, selbstbezogene Weise, so daß trotz der körperlichen Nähe zu Oliver keinerlei teilnehmende Funke von Person zu Person übersprang. Was dem Chauffeur, der sich für seine Kunden meistens genau sowenig interessierte wie sie für ihn, es waren im Laufe der Jahre einfach viel zu viele geworden, durchaus recht war. Zudem stank der Fahrgast Thomas Krüger, ein Mittdreißiger mit ungesund blaßer Haut und hängenden Schultern, erbärmlich nach altem Schweiß und Bier; zumindest auf den ersten Blick eine trostlose, Einsamkeit ausdünstende Erscheinung, die bei Oliver distanziertes statt neugieriges Mitleid erzeugte. Er war kein Engel, fremdes Elend ging ihm manchmal nur auf die Nerven.

Ein weiterer Grund, warum Oliver seinen Nebenmann nicht beachtete, war paradoxerweise ein Vertrauensbeweis. Routinemäßig checkte Oliver Fahrgäste in den ersten Minuten auf mögliche Gefährlichkeit hin ab, und als eine bisher noch nie widerlegte Faustregel hatte sich erwiesen, daß Leute, die auf die Musik, die in moderater Lautstärke aus den Boxen seines Taxis tönte, nicht negativ reagierten, auch sonst keinen Streit suchten. Insbesondere klassische Musik, die er oft hörte, schien die Gabe zu besitzen, schlummernde Aggressionen sofort herauszukitzeln. Als würden Menschen mit Wut im Bauch kein Geigenadagio ertragen können, ohne die Beherrschung zu verlieren. Eine Bestätigung für die volkstümliche, doch deswegen nicht falsche Meinung, daß echte Musik, und was war klassische Musik letztlich anderes als durch Generationen weitergereichte echte Musik, immer ans Herz ging, Gefühle auslöste; also ins Unterbewußtsein der Leute eindrang und demzufolge, wenn es dort armselig und gewalttätig aussah, genau diesen seelischen Zustand sofort widerspiegelte, psychisch fast in Lichtgeschwindigkeit.

Eine dafür typische Szene, entspannt begleitet von Vivaldis „Sommer“ aus den „Vier Jahreszeiten“, hatte sich so abgespielt: Ein angetrunkenes und angeschmuddeltes Pärchen um die Vierzig, weit jenseits irgendwelcher Jugendträume, geschlagen und angegraut mehr vom Alltag als vom Alter, war nachts eingestiegen. Der Mann schwieg düster, die Frau führte angriffslustig das Wort: „O Gott! Was ist denn das?! Davon krieg ich Kopfschmerzen! Haste nicht richtige Musik?“ „Und was wäre das für dich?!“, hatte er deutlich nachgefragt. Gegen Leute, die derart aggressiv duzten, mußte man sofort mit stimmlicher Präsenz gegenhalten, sonst wurde sie aller Erfahrung nach mit jeder Minute immer dreister, durchaus bis hin zu unangenehmen Handgreiflichkeiten wie auf seine Schulter oder sogar auf seine Schenkel zu klopfen.

„Na, Energy, oder wie der Sender heißt! Und gib mehr Gas, Mann! Wir wollen heute noch nach Hause!“ Oliver fuhr laut Tacho bußgeldmäßig bereits am Limit, er schüttelte den Kopf. Verärgert, aber noch höflich sagte er: „Keine Rallye, schneller gibt's nicht.“ „Mach wenigstens Powermucke an! Nicht dieses Gejaule. Klingt echt wie Katzenkacke!“ Die durch lebenslanges Rauchen und Trinken heisere Stimme hatte unweiblich gekreischt wie eine rostige Kreissäge.

Als professionelle Antwort hatte er solange am Radio herumgedreht, bis ein populärer Oldie aus ihrer Jugendzeit das verhärtete Herz der Frau erweichte, und sie plötzlich begeistert mitgrölte: „The night belongs to lovers ...“ Es war nicht sein Job, über Musik mit seinen Fahrgästen zu streiten, sondern sie an den Ort ihrer Wahl zu befördern. In irgendeiner spröden Richtlinie einer Funkgesellschaft war sogar schriftlich niedergelegt, daß man als Fahrer dem Musikgeschmack der Kunden Rechnung zu tragen habe, also Kassetten oder CDs sowohl für „Klassik“ als auch „Pop“ mit sich führen und auf Wunsch spielen solle. Eine unauffällige Verordnung, die aber deutlich zeigte, welche Wertschätzung Musik im zeitgenössischen Deutschland jenseits des Starrummels erfuhr: keine besondere. Sie schien oft nur Mittel zum Zweck, eigentlich eine Art emotionale Pille, Aspirin für die Ohren, jenseits des Nutzens ohne eigene Bedeutung zu sein, ein fast schon inflationäres Gut. Wohingegen es schwer vorstellbar war, daß irgendwo in einem Taxiknigge geschrieben stehen könnte: „Passen Sie bitte ihre politische Meinung (rechts, links, liberal, extremistisch) immer den Wünschen der Fahrgäste an.“ Dazu waren in der heutigen Gesellschaft die demokratischen Instinkte, im Unterschied zu den musischen, zu lebendig und intakt.

Es waren diese Momente, in denen Oliver am Radio „seine“ Musik wegdrehte oder wegdrückte oder wegschaltete, und stattdessen die Hörerwünsche seiner Kunden befriedigte, wo er sich wirklich wie eine ziemlich billige Nutte vorkam, die für ein paar kleine Scheine gleich ihre Persönlichkeit mitverscherbelte. Aber was sollte er machen? Für das Geld der Leute mußte er im Zweifelsfall auch ihre Musik ertragen, auch wenn es seinem manchmal empfindlichen Naturell eher entsprechen würde, Fahrgäste wie eben beschrieben, sofort auf die Straße zu setzen. Aber es entsprach nicht der angespannten Geschäftslage, in der jeder Fahrgast besser als gar keiner war. Er mußte sich beherrschen, er mußte manchmal ein zutiefst falsches Lächeln zeigen, und er tat es.

Aber es gab umgekehrt natürlich auch die angenehmen musikalisch-menschlichen Momente, in denen das versonnene Zuhören mancher Fahrgäste sofort ein wortloses, wenn auch den nüchternen Umständen entsprechend nur locker geknotetes Band von Sympathie knüpfte. Eine Frau etwa, mit den müden Augen einer Nachtarbeiterin, die sich um drei Uhr morgens mit mißmutigem Gesicht auf den Rücksitz fallen ließ, entspannte sich plötzlich im ganzen verkrampften Körper, als sie in der Fassung für Geige und Piano den traurigschönen Ohren- und Seelenschmeichler „Ave Maria“ von Bach und Gounod hörte. Für den Rest der Fahrt, auch als das Radioprogramm zu Bruckners schroffen und endlosen Klangbergen wechselte, lehnte sie schweigsam in den Kunststoffpolstern, die Wange an der kühlen Fensterscheibe, die Augen geschlossen. Zuhause angekommen, hatte sie sich mit einem Lächeln und den Worten verabschiedet: „Super Musik! Ich halt öfter Ausschau nach Dir!“

Daß schließlich die Trinkgelder bei klassischer Musik im Vergleich zu allen anderen musikalischen Richtungen und ihren entsprechenden Radiosendern am höchsten ausfielen, war ein angenehmer Nebeneffekt von Olivers Geschmack; allerdings dürfte diese besonders für Berliner Verhältnisse untypische Großzügigkeit seiner Kundschaft nüchtern betrachtet mehr auf der physiologisch oft entspannenden Wirkung von Melodien und Harmonien beruhen als auf echter musikalischer Begeisterung. Ähnlich wie manche Kühe, auf der Alm beschallt mit Klavierkonzerten von Mozart, einem Gerücht zufolge mehr Milch als gewöhnlich geben sollten. Wie ja auch Oliver soeben unter dem gleichen Einfluß, Köchelverzeichnis Nummer 271, „Jeunehomme Konzert“, beinahe deutlich mehr Gas gegeben hätte.

Während die Akkorde der Streicher sein Hirn und Gehör, seine Nerven- und Psychobahnen pflügten, wie eine Schule Wale durch die wortlosen Tiefen der Musik schwammen, geriet Oliver beim zügigen Heranfahren an die Kreuzung Invaliden/ Chausseestraße, seine Ampel zeigte Grün, von einer Zehntelsekunde zur nächsten in einen hellwachen und amusischen Ausnahmezustand. Trotz des akustischen Abdriftens seiner Gedanken und Gefühle aus der unmittelbaren Gegenwart hatte sein Überlebensinstinkt als Autofahrer ununterbrochen wie ein Radar, auch in den Augenwinkeln, den Verkehr auf ungewöhnliche Umstände abgesucht.

So konnte er wenigstens noch ein bißchen reagieren, als sich jetzt ein entgegenkommender Linksabbieger, ein Kleinwagen, statt zu warten, bis Oliver vorbeigefahren war, plötzlich selbstmörderisch in Bewegung setzte, und mit grell blendenden Scheinwerfern auf direkten Kollisionskurs ging. Oliver trat auf die Bremse und riß das Steuer herum; womit er zwar den Zusammenstoß nicht mehr verhindern konnte, das war unmöglich, aber sowohl seine verringerte Geschwindigkeit als auch der flachere Aufschlagswinkel sorgten für einen vergleichsweise abgemilderten Crash.

Es krachte dennoch fürchterlich, als der Kotflügel des Taxis die Beifahrertür des anderen Autos schräg rammte, und das harte Blech, als sei es aus mürber Pappe, so tief eindrückte, daß jede dort sitzende Person zerquetscht worden wäre. Olivers nicht angeschnallter Fahrgast flog beim Aufprall gegen die Frontscheibe, deren Verbundglas statt zu splittern, an der Stelle, wo die Stirn aufschlug, sich weißlich eindellte, und von diesem Zentrum her ein Spinnennetzmuster aus haarfeinen Rissen erzeugte.

Oliver, der sich im Taxi nie anschnallte, um bei aggressiven Kunden nicht wie gefesselt zu sein oder zu wirken, konnte sich, auch weil er den Unfall Sekundenbruchteile vorher mit seiner Körperhaltung vorwegnahm, am Lenkrad abstützen. Selbst völlig unversehrt galt sein erster prüfender Blick dem Fahrgast, der mit blutüberströmtem Gesicht langsam von der Windschutzscheibe zurück in den Sitz sank. Eine Platzwunde, der viele Alkohol hatte das Blut des Trinkers verdünnt und ließ es schneller aus der Wunde fließen; es sah schlimmer aus als es war, vermutlich höchstens eine Gehirnerschütterung, dachte Oliver und stieg aus, um nach dem Fahrer des gerammten Autos zu sehen.

Es war eine Fahrerin und sie stand völlig abwesend, offenbar unter Schock, vor ihrem kleinen, zum Schrotthaufen deformierten Stadtwagen. Ein älterer Passant, etwas aufdringlich mit seinem Handy fuchtelnd, rief ihm zu, daß die Polizei und die Feuerwehr benachrichtigt seien.

Oliver betrachtete den zerborstenen Kotflügel und die einer verkrümmten Wirbelsäule gleich verzogene Karosserie des Taxis. Er empfand keine Traurigkeit angesichts des schweren Sachschadens, es war nur ein Auto, diese Art von Blech war nicht für die Ewigkeit gemacht. Was ihn allerdings erstaunte, war die Robustheit der Technik, der Lebenswillen der Elektronik, die Widerstandskraft des jetzt bewegungslosen Schrotts: Aus den Boxen im Innenraum tönten ohne jede Verzerrung, als wäre draußen gar nichts passiert, die innig vibrierenden Piano-Kadenzen am Ende des ersten „Allegro“-Satzes. Auch der jetzt das Solo abschließende Tasten-Triller, nahtlos gefolgt von den wieder auftrumpfenden Violinen des Orchesters, war in makelloser Reinheit zu hören. – Er hatte einmal eine einbeinige junge Frau, mit einem Turnschuh von Nike, in den Metroschächten von Paris gesehen, die angenehm anzuhören Flöte spielte. Diese gleiche Art von robuster, auch in äußerer Versehrtheit noch lebendige Seele strahlte das Auto aus, dessen Musikanlage mit ihrem verkabelten Innenleben nicht einmal einen Wackelkontakt abbekommen hatte.

Oliver holte den Erste-Hilfe-Kasten aus der hohlen, in der Mitte der Rückbank einklappbaren Armlehne heraus. Er riß ein Verbandspäckchen auf, und drückte dem teils wohl benommenen, teils noch betrunkenen Fahrgast das sterilisierte Tuch auf die blutende Stirn. Er schaltete den Taxameter aus und sagte: „Leider Endstation. Macht Sechsundzwanzig Zwanzig.“

Es war das letzte halbe Jahr vor der europäischen Währungsumstellung. Wie auf Bankauszügen und vielen Rechnungen bereits üblich, wurde auch auf dem Taxidisplay in kleineren Ziffern der ungefähr halbierte Betrag in Euro angezeigt. Solange allerdings die neue Währung nicht durch reales Geld in den Händen beglaubigt war, gab es niemanden, im Taxi schon gar nicht, der echtes Interesse daran zeigte. Ähnlich wie die fast märchenhaften Dukaten oder Taler aus uralten Zeiten, war der Euro, weil noch abstrakt in der Zukunft gelegen, für die alltägliche Gegenwart so irreal, wie es bald die Deutsche Mark sein sollte, die in der Vergangenheit versinken würde. In gewisser Weise ähnelte dieser von der Gegenwart geblendete Vorgang der Liebe, wo auch fast immer die heutige die einzige zu sein schien.

Oliver hatte kurz gezweifelt, ob er den Fahrpreis angesichts des Unfalls tatsächlich einfordern sollte, sich dann aber dafür entschieden. Der Mann war nicht schwer verletzt, und Oliver fuhr nicht zum Spaß oder als lieber Samariter Säufer durch die Nacht nach Hause. Verglichen mit dem Unfall, der auch weniger glimpflich hätte ausgehen können, und der das plötzliche Sterben mitten im Leben als Möglichkeit aufscheinen ließ, mutete der Betrag läppisch gering und bedeutungslos an. Doch charakterisierte diese Mischung aus Lebensgefahr und Erbsenzählerei Olivers Job, möglicherweise sogar sein Leben; jede Tour zählte, anders bekam er seine Miete nie zusammen.

Thomas Krüger nestelte schweratmend sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche, mit einer Hand den Verband auf die Wunde pressend, und reichte Oliver einen verschwitzt feuchten und sofort vom Blut an seinen Händen beschmierten Geldschein. Oliver stopfte den Papierlappen ohne Zögern in seine Börse und gab das Restgeld in die blutige Hand des Mannes zurück. Er hatte ähnlich wie Mitglieder manch anderer Berufsgruppen, etwa Ärzte oder Klofrauen, kaum Berührungsängste oder hysterische Aversionen vor den Körpersäften fremder Mensch. Schweißfeuchte Geldscheine waren zwar auch ihm zuwider, wirklich ekelhaft fand er aber eher andere Dinge: großkotzige Fahrgäste etwa. Wie Schönheit kam auch wahrer Abscheu letztlich von innen.

Thomas machte keinerlei Anstalten, nach dem Bezahlen das Taxi zu verlassen. Aufgrund der Verletzung verständlich, dachte Oliver, ohne zu ahnen, daß der Mann nicht auf das Eintreffen des Notarztes wartete, sondern mit allen seinen Sinnen, schockartig vom Suff ernüchtert, der Musik lauschte.

Schon Minuten vor dem Unfall, als das einsam und wie unter klarem Himmel spielende Klavier plötzlich von dem lang gehaltenen Ton eines Waldhorns, fern und farbenprächtig wie ein Regenbogen, geküßt wurde, war Olivers Kunde innerlich wie gebannt gewesen. Der Klang dieses Blechblasinstruments, wenn sauber und mit Gefühl gespielt, war für ihn einer der schönsten überhaupt. Aber diesmal wühlten ihn weniger die durch die ungreifbare Luftsäule erzeugten Schwingungen von Sehnsucht und Stolz auf, sondern eine durch diese Musik ausgelöste, aus völliger Vergessenheit hochschießende Erinnerung setzte seine Seele unter Strom, erzeugte auf seinen Armen, von ihm selbst unbemerkt, eine Gänsehaut.

Sein inneres Auge sah eine Altbauwohnung Mitte der Siebziger Jahre; im Kinderzimmer hämmerte er als Junge von acht, neun Jahren mit seinen kleinen Fäusten verbissen auf einen zwischen Decke und Boden gespannten Boxball ein. Feine Staubkörnchen tanzten friedlich im warmen Sonnenlicht in der Luft; manchmal ging sein Blick zum Fenster hinaus, kein Hinterhof engte die Sicht ein, Schäfchenwolken zogen über den Frühlingshimmel. Hinter ihm hörte er die Stimme seiner Schwester: „Tommi! Hör mal kurz auf!“ Erschöpft ließ er seine Arme sinken, und drehte sich um. Er war völlig außer Atem. Als er antwortete, hechelte er etwas. „Was denn los?!“

Seine Schwester Anna, ein gutes Jahr jünger, stand im Türrahmen. Sie hielt ihre billige aber geliebte Geige am Hals fest; beiläufig und vertraut, mit der gleichen Natürlichkeit hätte sie auch ein Kätzchen im Arm halten können, das Instrument paßte zu ihr wie zu einem Zimmermann ein Hammer. Sie lächelte ihm zu und sagte: „Hör mal genau hin!“ Sie klemmte die Geige unters Kinn, ihr Gesicht wurde durch Konzentration ernst. Nach einer sich sammelnden Sekunde strich sie mit dem Bogen entschlossen über die Saiten: Jiiiii! jii-jii-jii-jii -jiii!

Anna schaute ihn fröhlich an: „Und jetzt kommt das Klavier alleine, die anderen, die Streicher machen Pause: Da-dang-dang-dang-da-daa-da-da-dang-dang. – Und jetzt wieder alle zusammen ...“ Anna setzte den Bogen, den sie als schwungvollen Taktstock für den imaginären Klavierpart benutzt hatte, auf die Saiten und spielte erneut los: Jiiiii! jiii-jii-jii-jii -jiii! Sie hielt kurz inne: „Und jetzt wieder kurz Geklimper, und dann ...“ Es folgte eine auch Thomas‘ Gehör bezirzende Melodie, in der sich zunächst abgehackte und dann verschmelzende Töne wunderbar vermischten.

Ihn ein bißchen lobeshungrig anstrahlend fragte sie: „Wie findest du‘s?!“ Es klang in seinen Ohren gar nicht schlecht,aber ehe er antworten konnte, wurde seine Aufmerksamkeit von ihrer beider Stiefvater abgelenkt, der im Flur hinter seiner Schwester mit wutverkniffenem Mund auftauchte. Er packte Anna an den Schultern und schüttelte sie grob. „Kannst du wenigstens heute dieses Scheißgefiedel lassen!“ Anna erstarrte verkrampft.

Der Stiefvater, verglichen mit anderen Erwachsenen ein eher schwächlicher Mann von knapp dreißig Jahren, aber natürlich viel kräftiger als jedes Kind, wandte sich ohne Mitgefühl ab. Er zeigte jetzt – nachdem ihre Mutter vor einigen Wochen mit ihm Schluß gemacht hatte, und er heute den Rest seiner Sachen aus der Wohnung holte, Kleinkram, der in einer Reisetasche Platz hatte –, sein wahres, sein rücksichtsloses Gesicht. Mit dem Ende der Beziehung zur Mutter war auch die letztlich nur formale Freundlichkeit den Kindern gegenüber überflüssig geworden.

Thomas war von der plötzlichen Rohheit des Exfreundes ihrer Mutter verunsichert. Er ging zu Anna, die zitternd ihre Geige umklammerte. Er stupste sie mit seinem roten Boxhandschuh an. „Mir hat‘s gefallen!“, sagte er leise. In den Augen seiner Schwester leuchtete zwischen unwillkürlichen Tränen Zorn auf. „So gemein ist der Typ!“, schluchzte sie auf.

Aus den Boxen im Wohnzimmer dröhnte plötzlich ohne jede Vorwarnung und laut der Sound elektrischer Gitarren herüber. Ihr Stiefvater – aufgrund der Trennung von der Mutter inzwischen eigentlich schon: Exstiefvater – hatte die Nadel des Plattenspielers einfach auf die LP fallen lassen, mitten in einen Popsong hinein, mehr eine Demonstration von Macht und Aggression, ein übles Gemisch, als Wunsch nach Musik. Die Kinder hörten, wie der Mann sofort den Text mitsang, brüchig grölend wie ein Fußballfan im Stadion, offensichtlich hatte er eine seiner Lieblingsscheiben aufgelegt: „Please allow me to introduce myself ...“

Anna hielt sich die Ohren mit beiden Händen zu, dabei mit ihnen gleichzeitig die Geige und den Bogen festhaltend, was für Thomas einen lustigen Eindruck machte. Dann schien ein Ruck durch ihren Körper zu gehen, sie war jetzt weniger verletzt als wirklich zornig. „Der kann mich mal!“, sagte sie zu ihm. Sie legte wieder die Geige an, ging ein paar Schritte in den Flur und musizierte los, forte, mit finsterem Gesicht. Es war die gleiche Melodie, die sie eben noch voller Grazie ihrem Bruder dargeboten hatte, und die sich nun in einen lautstarken, auch etwas unsauber gespielten Protest verwandelte.

Obwohl jetzt deutlich weniger von der puren Musik beseelt, klang immer noch Mozarts stärkstem Wind und Wetter trotzende, leicht überirdische Schönheit aus Annas Spiel heraus. Die Ehrlichkeit und Offenheit, die Reinheit ihres Zorns verband sich trotz ihres unreinen Spiels mit der Reinheit der Musik. Um Annas kleinen Körper flogen jene durch emotionale Energie freigesetzten Photonen der Seele herum; ein innerer Funkenschlag, der nicht wesentlich aus Geschicklichkeit kam, den kein musikalischer Virtuose oder Perfektionist jemals würde erzeugen können, weil man dafür nicht endlose Stunden des Übens brauchte, sondern nur den einen mutigen Moment der Wahrheit: sein eignes, sein wahres Gesicht zu zeigen.

Thomas spürte diese Energie instinktiv, und hörte Anna jetzt im Unterschied zu vorher wirklich gebannt zu; so erstaunt und fasziniert wie manchmal, wenn er statt alltäglichem Wolkensalat am dunklen und bedrohlichen Himmel Gewitter beobachten konnte.

Dem Exstiefvater fehlte jegliches Gespür für solche authentischen Empfindungen. Er reagierte auf Annas erneuten Klänge, indem er die Hi-Fi-Anlage im Wohnzimmer weiter aufdrehte, deutlich jenseits gewöhnlicher Zimmerlautstärke. Die Wohnung dröhnte unter den Bässen, es war so laut, daß sogar das kleine hölzerne Segelschiff auf Thomas‘ Nachttisch zu vibrieren anfing.

Eine Violine, und sei es auch eine preiswerte, konnte es allerdings mühelos mit diesen Lautsprecherboxen aufnehmen; und Anna zögerte nicht, den Bogen jetzt ebenfalls an der in den Ohren stechenden Schmerzgrenze über die Saiten streichen zu lassen. Die nicht mehr lieblichen, sondern durch die verbissene Art des Spielens jetzt nahezu herrschsüchtigen Geigentöne – ein durchdringendes: Jiii-jiii-jiii-Jiiiii-jiiii-jiiii-jiiii! – vermischten sich mit dem Lied auf der Schallplatte, vom Sänger pathetisch vorgetragen: „I killed the Tsar and his ministers, Anastasia screamed in vain ...“ Auch die ansonsten friedliche Nachbarschaft wurde jetzt unruhig: Die alte Dame in der Wohnung unter ihnen, erbost über die Störung der Mittagsruhe, stieß, vermutlich mit einem Besenstiel, mehrmals gegen ihre Zimmerdecke.

Der ziemlich zynische Popsong, und die Tatsache, daß ein Erwachsener die Gefühle eines Kindes mit Verachtung behandelte, und schließlich die jede Entspannung unterbindende Lautstärke, – es war diese Bündelung, diese mißgünstige Dissonanz der Dinge, die mittlerweile eine nicht nur fürs Gehör unangenehme, sondern auch eine seelisch wie vergiftete Atmosphäre erzeugte, die sich in der Wohnung bis in alle Ritzen breitmachte.

Instinktiv wunderte Thomas sich jedenfalls nicht so sehr, als der Exstiefvater aus dem Wohnzimmer in den Flur geschossen kam. Er stierte mit kleinen wütenden Augen Anna an, eine Büchse Bier in der Hand. Das Gebräu schwappte über seine Finger, als er mit aller Macht losbrüllte, und dabei versuchte, sowohl die Schallplatte als auch die Violine zu übertönen: „Du bescheuerte Kuh! Du bist unmusikalisch wie ein Scheißhaufen! Wenn du nicht sofort aufhörst!“ Der ehemalige Stiefvater machte eine drohende Bewegung mit seiner freien Hand, die er zur Faust geballt hatte.

Anna spielte unvermindert, mit einem für ein Kind erstaunlich höhnischem Gesichtsausdruck weiter; sie hatte jenen Zustand des wilden und angstlosen Trotzes erreicht, wo übelste Drohungen nicht mehr schrecken, weil sie kaum mehr wahrgenommen werden. In einem seelischen, unbewußten Sinn ging es für Anna bereits um Leben und Tod, ihre Musik oder ihr Verstummen nämlich; und so hatte sie gefühlsmäßig gar nichts mehr zu verlieren, es gab keine Wahl mehr für sie, außer als auf Teufel komm raus, inzwischen fortissimo, weiterzumachen. Das spürte sie, ohne es zu verstehen.

Als der Exstiefvater sie anschrie, von so nah, daß sie seinen alkoholisierten Atem riechen konnte, daß feine Spucktröpfchen aus seinem Mund sie von oben bespritzten, presste sie nur ihre Lippen etwas fester aufeinander. Aber sie wich weder mit ihren kleinen Füßen irgendeinen Zentimeter auf dem Flur zurück, noch mit ihrer zarten bogenführende Hand irgendeine Note von der Melodie ab. Ihr Trotz, der im Augenblick die einzige ihr mögliche Offenbarung von ihrem Charakter war, hielt dem Druck stand.

Woher dieser Druck kam, wogegen Anna in Wirklichkeit allerdings anfiedelte, entzog sich jedoch dem Augenschein, und somit auch jedem einfachen Verständnis. So wie ein Vulkanausbruch das Ergebnis eines langen unterirdischen Prozesses war, den Verschiebungen und Verwerfungen der Erdkruste geschuldet, kaum aus sich selbst heraus erklärbar, so waren auch psychische Eruptionen selten nur Zeichen von vergänglichen menschlichen Launen; sondern wiesen auf innere Störungen, Verstrickungen und Dramen hin, die sich mit ähnlicher Zwangsläufigkeit im Unterbewußtsein abspielten, und irgendwann ihre sichtbaren Konsequenzen hatten, wie das Driften der Kontinentalplatten in der äußeren Welt.

So hatte es auch Anna nicht allein mit der schlechten Laune eines jähzornigen erwachsenen Mannes zu tun, der von einer Frau verlassen worden war. Was unangenehm genug hätte sein können. - Sondern sie spielte gegen einen lang zurückliegenden Vorfall im Leben ihres Exstiefvaters an, der in seinem Kopf periodisch Trübsinn und Wahn erzeugte; und sein inneres Wesen mit jener Bitternis versetzte, die so typisch für einen Menschen war, dessen Seele wie ein vergessener Fisch zu lange in einer Marinade aus altem Haß und alter Enttäuschung hatte überleben müssen.

Auch er hatte als Junge Violine gespielt; heimlich allerdings nur, wenn sein Vater, dem das Instrument gehörte, und der eifersüchtig und aggressiv wie ein Kettenhund darüber wachte, daß niemand anderer als er selbst an diesem kostbaren Knochen nagte, auf Arbeit war. Seine Mutter, eine für damals recht typische, nicht berufstätige Hausfrau im Nachkriegsdeutschland, hatte mit Bauchschmerzen, aber aus Liebe zu ihrem Sohn beide Augen zugedrückt, wenn er den Geigenkasten im Zimmer seines Vaters aufklappte und die Violine herausholte.

Die Angst vor dem Zorn des Ehemanns und Vaters schwang – menschlich bösen Obertönen gleich – bei seinen schüchternen aber von Leidenschaft getragenen Spielversuchen immer in den Wohnräumen mit. Denn die ausgesprochene, mit Prügeln eingebläute Regel in der vom Mann beherrschten Familie, die einem Gesetz gleichkam, lautete, daß nur der Vater das Instrument berühren dürfe. Wenn schon Berühren verboten war, und Schläge oder Peitschenhiebe mit dem Ledergürtel nach sich zog, ließ sich ungefähr ermessen, welches Sakrileg erst das Spielen, die intensivste Form des Berührens sozusagen, bedeuten mußte.

Unbefangen nachvollziehbar war diese Tabuzone oder Bannmeile um die Violine allerdings nicht; denn weder war der Vater Berufsmusiker, der vom unversehrten Wohl seines Instruments existentiell abhängig war, noch war das Instrument selbst besonders empfindlich oder wertvoll. Es war alles andere als eine Stradivari. Es war eine schlichte und robuste Hobbygeige, deren Klangcharakter überhaupt keinen Schaden nahm, wenn zur Abwechslung ein völliger Anfänger, sei es auch ein Kind, den Bogen führte. Zumal das Spiel des Vaters gewaltsam und nicht besonders schön zu nennen war, so daß die Mutter, wann immer eheliche Musik drohte, wenn sie konnte, das Weite suchte.

Dieses Verbot um die väterliche Geige, die ein Verbot an eignem Musizieren, auf welchen Instrumenten auch immer einschloß – „zu laut!“, und „die Nachbarn!“, oder „du bist doch völlig unbegabt!“, lauteten die fast gehässig vorgetragenen Gründe –, war allerdings auch kein harmloser Spleen, sozusagen eine persönliche verschrobene Note des Vaters. Dazu war die Angst des Sohnes viel zu real und beklemmend. Eine Angst und Heimlichkeit, die zu völlig unnatürlichen Handlungen führten. Etwa manchmal dazu, daß er nach seinen Spielversuchen die Saiten wieder genau auf den disharmonischen Klang zurückverstimmen mußte, den sie sie vorher besaßen, damit der Vater nichts merkte. Es schulte natürlich sehr das Gehör, war aber alles andere als eine wahre Freude.

Doch selbst damit hätte der Sohn noch leben, seine Liebe zur Musik überleben können, seine Leidenschaft fürs Spielen hielt sich mit der Angst vor väterlicher Entdeckung ungefähr die Waage. Aber diese labile seelische Balance, gewonnen aus einer instinktiven und emotionalen Anpassung an dieUmstände, an seinen Vater, den und die er als Kind ja nicht ändern konnte, wurde eines Nachmittags, als der Vater früher von der Arbeit nach Hause kam, mit einem Schlag und bis heute wirksam zerstört.

Es war ein Faustschlag. Wie ein Roboter steif im Gang und maskenhaft unbewegt im Gesicht, kam sein Vater ins Zimmer marschiert, wo der Sohn stand, fast zu Tode erstarrt vor Angst und mit der Geige am Kinn. Unbeherrscht brutal, wie sonst nie, wenn er seinen Sohn prügelte, es waren bisher immer kühl verabreichte Züchtigungen gewesen, riß er ihm die Violine aus der Hand, und schlug dem kleinen Jungen seine erwachsene grobknochige Faust ins Gesicht; so daß ein Schneidezahn abbrach, und das Blut bis auf die aufgeschlagene Notenblätter der „Geigenschule für jedermann“ spritzte. Als der Sohn zu Boden stürzte, trat sein Vater noch einmal nach, der Tritt mit dem Lederschuh brach eine seiner Rippen.

Diesem mitleidlosen Ausbruch von Gewalt war die seelische Kraft des Kindes nicht mehr gewachsen, seine Liebe zum Musizieren und, damit eng verbunden, seine Neigung für klassische Musik, erlosch in diesem Augenblick für immer. Es war eine Art seelischer Mord, den der Junge erlebte; und den er nur in den innersten Eingeweiden spürte, ohne zu verstehen; ganz ähnlich einem jungen Reh, das, vom Wolf gerissen, instinktiv weiß, daß es stirbt. Und diese psychische Verwüstung trug der Junge von damals nun mit sich herum, sein ganzes Leben lang, falls kein Wunder geschah.

Jenes Verhalten des Vaters, derart von Brutalität geprägt, ließ sich kaum mehr als harmlose Macke, als nur etwas extreme Beziehung zur Musik oder zu seiner Geige betrachten. Den Bereich des menschlich Verständlichen hatte er mit seiner auch inneren Rohheit an diesem sonnigen Nachmittag im Sauerland verlassen; er befand sich deutlich im Bereich des Unklaren, Aufgewühlten, Verworrenen, Gewalttätigen, Grausamen – und, wenn man darunter die tiefe Unempfindlichkeit gegen fremdes Leid verstand, durchaus im Reich des Bösen.

Wie es ihn in dieses zwischenmenschlich völlig unfruchtbare Niemandsland verschlagen hatte, dürfte kaum leicht nachzuvollziehen oder zu erzählen, nicht einmal zu phantasieren sein. Kein Mensch wurde schließlich mit purem Haß im Herzen geboren. Mit Trieben, mit dem Wunsch zu überleben, mit Begabungen und oft komplementären Behinderungen erblickten alle das Licht der Welt, aber nicht als bereits völlig vom Bösen besessene Horrorbabys. Dies als wahrscheinlich vorausgesetzt, dürfte gelebte Grausamkeit reines Menschenwerk sein, ein das Leben vergiftendes und vermutlich noch lange auszuhaltendes Psychosozialprodukt, angesiedelt irgendwo im weiten Feld zwischen schlechter Erziehung und Erbsünde.

Auch im Leben des Vaters des Exstiefvaters des Taxikunden von Oliver gab es allerdings ein Mitgefühl und sogar Musik verbrennendes Ereignis, mit dem die Weichen für eine lange Reise in psychische Finsternis gestellt wurden. – Auch wer als differenzierter, also intelligenter Mensch weit davon entfernt ist, an monokausale Ketten zu glauben, der Vielschichtigkeit des Lebens ins Auge blickt, und eine intellektuelle Abneigung davor hat, nur ein Ereignis als ursächlich für weitere zu sehen, dürfte dennoch nicht umhinkönnen, die Existenz solcher besonderen Ereignisse zu akzeptieren. Weil sie einem auf Schritt und Tritt in Menschengestalt begegnen: Jede Geburt ist ein solches folgenreiches Ereignis, beispielsweise.

Der Ort, wo sich der Vater ereignismäßig in diesem Sinne die Infektion mit dem Bösen zuzog, war idyllischer kaum möglich zu denken: eine Sommerlaube im Berlin der vorigen Jahrhundertwende. Eine gar nicht so lang verflossene Zeit, nur ein paar nachvollziehbare Generationen zurück, wo man draußen in der Natur vielleicht die Grillen zirpen, aber mit Sicherheit keine Handys fiepen hören konnte. Dort und damals war es jedenfalls, als der Vater des Exstiefvaters als kleiner Knirps im Garten der Laube unter einem knorrigen Apfelbaum saß, und fröhlich in eine Mundharmonika blies. Sie war etwas angerostet, er hatte sie am Morgen neben der Landstraße im verschlammten Graben gefunden. Beim ersten neugierigen Ausprobieren, in seinem Zuhause gab es keine Musikinstrumente, hatte er plötzlich einen Regenwurm zwischen seinen Zähnen gehabt, der im Gehäuse herumgekrochen war. Aber er war kein zimperlicher Junge, er hatte ihn ausgespuckt, und durch Zufall gleich einen schönen reinen Ton geblasen.

Jetzt unter dem Apfelbaum war er fasziniert von dieser neuen Welt der Klänge, die er selbst jede Sekunde neu erzeugen konnte. Oft laut und immer selbstvergessener verschmolz er mit seinen Versuchen und überhörte die mehrmals und immer wütender ausgestoßenen Schmährufe seines Großvaters: „Gib endlich Ruhe, du kleiner Scheißer!“ Dem die Gartenlaube gehörte und der auf der kleinen Veranda in einem vielfach geflickten Sessel dösende Mittagsruhe pflegte, flankiert von einem alternden, aber noch recht scharfen Jagdhund.