Die eigene Stimme ist die fremde - Silvo Lahtela - E-Book

Die eigene Stimme ist die fremde E-Book

Silvo Lahtela

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Beschreibung

Konfrontiert mit sexuellem Mißbrauch, veganer Ernährung, angesagter Wokeness und normalem Mainstream, - angeödet von einer von Ideologien und Ängsten geprägten Welt ändert ein Yogalehrer innerhalb weniger Tage von Grund auf sein Leben. Und reist dabei quer durch Deutschland. Musik, als Trägerin des Unbewußten und verkörpert durch eine Sängerin, spielt nicht nur atmosphärisch, sondern auch für die Handlung eine entscheidende Rolle. "Die eigene Stimme ist die fremde" ist eine moderne Befreiungsgeschichte. "Samadhi", das Sanskrit Wort für Erleuchtung und Gewißheit jenseits aller Worte, wird im Vollkontakt mit der Welt angestrebt, statt als esoterische Wahnvorstellung.

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Pressestimmen

Ein schonungsloser und eisiger Thriller.Le Monde über AlpTraumTerror

Jede, wirklich jede dieser Geschichten verdient den Preis, den der Regisseur für sie ausgibt. (...) Sprachakrobatik ohne Fallnetz ist das. Das Besondere im Allgemeinen, das Prinzipielle im Außerordentlichen.Süddeutsche Zeitung über Letzte Obsession

Doch sein „Logbuch eines Dichters“, das er nach Kriterien wie die Einsamen, die Getriebenen, die Demütigen oder die Hoffnungsvollen unterteilt, ist keine strenge Dokumentation. Vielmehr sind es künstlerische Verdichtungen.Fokus über Nachtfahrten

Das Bewußtsein läßt sich dressieren wie ein Papagei, nicht aber das Unbewußte.

C.G. JungPsychologie und Alchemie

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1

Vor Andreas Santti auf dem Küchentisch lagen drei aufgerissene Packungen von geräuchertem „Sockeye“ Wildlachs aus Kanada. Er stopfte sich die letzte ölige, rötliche Scheibe in den Mund und hatte damit innerhalb weniger Minuten ein knappes Pfund Fisch hinuntergeschlungen. Nach dieser Art von Nahrung war sein Körper derart ausgehungert, daß er auf jede kulinarische Verfeinerung mit Zitrone, Pfeffer oder Wasabi verzichtet hatte. Bissen für Bissen dieser einfachen Speise durchströmte ihn eine unglaubliche Befriedigung, als würde er auf ursprünglicher, amöbenhafter Zellebene gesättigt werden. Zu dem körperlichen Hochgefühl gesellte sich eine auch geistig wie erlöste und aufgeputschte Stimmung, denn mit diesem Snack endete seine zweijährige vegane Askese; für immer, das wußte er.

Auch eine andere Geschichte endete zeitgleich vor seinen Augen. Seine gerade zur unwiderruflichen Exfreundin mutierende Freundin Lena stand im Flur, sie hatte ihre zusammengesuchten Sachen aus seiner Wohnung hastig in ihre Tasche gestopft. Ihr zierlicher Körper vibrierte vor Wut und Enttäuschung, mit verzerrten Gesichtszügen schrie sie ihn an: „Vielleicht bist du nicht so erleuchtet, wie du denkst! Ich werde niemals mit jemandem Kinder haben, der Tiere ißt!“ Voller Verachtung warf sie einen letzten Blick auf ihn, schmiß den Schlüssel der Wohnung auf den Boden und schlug die Tür krachend von außen zu.

Andreas zuckte kaum mit den Wimpern bei diesem Ausbruch, der das Ende der Beziehung markierte. Seine äußere Ruhe war nicht gespielt; den Räucherlachs zu essen, fühlte sich für ihn in diesem Augenblick so natürlich an wie atmen. Wenn er auf dieser instinktiven Ebene von Lena nicht akzeptiert wurde, war jedes weitere Wort sinnlos. Zudem erkannte er mit intuitiver Tiefenschärfe, einer ziemlich herzzerreißenden Eingebung gleich, daß diese Frau, mit der er seit über einem Jahr zusammen war, nur in ein Gemälde von ihm verliebt war, aber ihn jenseits des selbstgemachten Bildes überhaupt nicht sah. Wortwörtlich zu verstehen: Sie hatte ihn zwar verächtlich angesehen, aber was sie ansah, war nur in ihrem Kopf, in ihrer Vorstellung. Sie hätte genauso gut in den Spiegel schauen können, er existierte praktisch gar nicht für sie. Er realisierte diesen feinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen echter Zuneigung und echtem Liebeswahn in extrem ernüchternden Zehntelsekunden.

Solange er für sie der coole und vegane Yogalehrer gewesen war, der die Welt bewußtseinsmäßig und körperlich beherrschte, war er nicht nur ihr Liebster, sondern ohne jede Ironie auch eine Art Guru gewesen. Als dieses Ideal im Alltag zu verschwimmen begann, also realistische Risse bekam – spätestens heute, wo er sich gierig wie ein ausgehungerter Bär mit Lachs vollstopfte –-, verschwamm auch sofort sein Wert als Partner für sie. Hingabe verwandelte sich in Ablehnung; wie selbstgemachte Mayonnaise, die plötzlich gerann und nicht mehr zu retten war.

Daß natürlich auch er psychisch zutiefst gestört sein mußte, überhaupt nicht mit sich selbst identisch sein konnte, wenn er sich derart zum lebensfernen Idol hatte machen lassen, ahnte er. Sein plötzlicher Ekel, als sein Blick jetzt auf die hellbraunen getrockneten Sojafladen im Regal fiel – die vegane Version von „Steaks“ –, galt weniger dem faden Geschmack als der Künstlichkeit dieses Lebensmittels und bestätigte seine Selbstzweifel. Wenn er sich zwei Jahre lang eingebildet hatte, industriell texturiertes Sojaprotein sei eine natürliche Ernährung für Menschen, dann hatte er den authentischen Lebensfaden offenbar völlig verloren, – oder vielleicht sogar nie in der Hand gehabt.

Zudem vollzog sich auf der körperlichen Ebene eine zerstörerische und unheimliche Parallele zu seiner ruinierten Beziehung, die ihn extrem beunruhigte und den natürlichen Trennungsschmerz – wenigstens als Bild geliebt zu werden, ist manchmal immer noch besser als überhaupt nicht – überlagerte. Andreas fühlte mit der Zunge oben an seinen Zähnen: Dort, wo noch vor einem Monat die Eckzähne im Kiefer verwurzelt waren, steckte nun links ein provisorischer, mit Drahtklammern befestigter „Clip“, während sich rechts eine kraterähnliche Lücke zeigte, eine frisch zugenähte Wunde. Die beiden fehlenden Zähne waren ihm im kurzen Abstand gezogen worden, der letzte heute Morgen. Sie waren irgendwann unbemerkt längs gebrochen und dann mit der Zeit, als es zu schmerzen anfing, schon unrettbar verfault.

Er hatte bisher nie große Probleme mit seinen Zähnen gehabt und plötzlich war er aus heiterem Himmel reif für zwei Implantate. Auch sein langjähriger Zahnarzt – ein Mann Mitte fünfzig, der nicht nur an Gebissen herumbohrte, sondern einen in seiner Branche seltenen ganzheitlichen Ansatz verfolgte und den Zustand der Zähne als symptomatisch für Gesundheit überhaupt ansah – war überrascht über diesen dentalen Doppelverlust, der offensichtlich nicht durch äußere Einwirkung zustande gekommen war. Andreas war ja Yogalehrer, kein Türsteher oder Eishockeyspieler.

Als er vorhin auf dem Praxisstuhl gelegen hatte, die blutbespritzte grüne Papierschürze vor der Brust, den zweiten, schwarzverfaulten und frisch gezogenen Zahn vor Augen, hatte der Arzt ihn gefragt, ob er in letzter Zeit seine Essgewohnheiten verändert habe. „Ich bin seit gut zwei Jahren Veganer“, war seine wahrheitsgemäße Antwort gewesen.

Der Zahnarzt hatte ein nachdenkliches Gesicht gemacht. „Ich will Ihnen keinen großen Vortrag halten, wird ja auch nicht von der Kasse bezahlt, über Ernährung und Zahngesundheit. Aber es ist durchaus möglich, daß beispielsweise ein eventueller Kalziummangel – in Milchprodukten, Fleischbrühen ist viel Kalzium – derart ausgeglichen wird, daß der Körper dieses benötigte Mineral aus dem Zahn zieht, der dann zerbröselt. Ist nur eine spontane Vermutung, aber eine naheliegende. – Ich weiß, vegan ist große Mode gerade, aber Sie können gesundheitlich in Teufels Küche damit landen! Hat schon einen Grund, warum es bisher keine einzige vegane Kultur in der Geschichte der Menschheit gab. Unsere Vorfahren waren ja nicht nur blöde und sadistische Tierquäler. Googeln Sie Weston Price, ein Kollege von mir aus dem letzten Jahrhundert. Hat einiges zum Thema Zahn und Ernährung zu sagen! Im Wesentlichen dieses: Solange die Menschen sich traditionell ernährten, ob als Eskimo oder als Massai oder als Schweizer Bergbauer, hatten sie Superzähne und waren gesund und schön. Fingen sie mit der industriellen Zivilisationskost an, damals Brot und Konserven, heute vielleicht Tofu und Fertiggerichte, kamen Karies und alle möglichen Krankheiten. – Jetzt hab ich Ihnen doch einen Vortrag gehalten!“ Er lächelte und zeigte dabei blendend weiße, vermutlich gebleachte Zähne.

Mit seinem lädierten Gebiß auf dem Zahnarztstuhl liegend fühlte Andreas sich zu keiner argumentativen Entgegnung fähig. Er war wie so viele andere deswegen Veganer geworden, weil er vor dem Elend der industriellen Massentierhaltung nicht mehr wegschauen konnte. Der letzte Auslöser war ein leicht verwackeltes, aber dafür um so authentischeres Smartphone-Video im Internet gewesen; das ein lebend gehäutetes und brüllendes Rind zeigte, das am Deckenhaken durch die Halle eines Schlachthofes gezogen wurde. Um dann irgendwann in mundgerechte Stücke plastikverschweißt in der Kühltheke eines Supermarktes zu landen. Diese Szene hatte ihn nicht nur entsetzt, sondern ernährungsmäßig traumatisiert. Er wollte mit einem solchen Lebensstil, der auf technisch gesteuerter Massentötung beruhte, bewußtlose Grausamkeit und totale Entwürdigung des Lebens inklusive, nichts mehr zu tun haben, gar nichts.

Diese Haltung hatte perfekt zum boomenden Veganismus innerhalb der Yogaszene gepaßt. Mit Tofuwürfeln, Algenstreifen, Getreidekörnern schien sich auf einfache Weise „Ahimsa“ – hinduistischer Ausdruck für Gewaltlosigkeit – im Alltag praktizieren zu lassen und dabei auch noch an Geist und Körper zu gesunden. Stand Andreas mit einem frisch gemixten grünen Smoothie aus Ananas und Papaya, Babyspinat und Rukola, manchmal mit ein paar Wildkräutern und Chiasamen als Zugabe, in der Küche seiner Schule, verkörperte er dieses Ideal durch und durch. Muskulös, aber schlank, markante, doch harmonisch ebenmäßige Gesichtszüge, einen Studien zufolge von Frauen bei Männern besonders geschätzten Körperfettanteil von um die zwölf Prozent; und ein warmherziges Lächeln, ein aufmunterndes Wort bei Bedarf für jeden seiner Schüler. Sich als Frau in ihn zu verlieben oder als Mann ihn zu beneiden – oder umgekehrt –, war relativ leicht, das wußte er selbst.

Andererseits waren sichtbare körperliche Fitness und kommunizierter geistiger Durchblick die beruflichen Mindestvoraussetzungen für einen Yogalehrer in einer großen Stadt wie Berlin, wo die Konkurrenz nicht schlief. Mit selbst nur kleinen Speckringen um die Hüfte oder auch nur den leisesten Zweifeln am Sinn des Ganzen, hatte man im Yogabusiness keine Chance auf eine echte Karriere. Denn die zahlenden Schüler suchten ja eben genau die perfekte Vereinigung von Körper und Geist, verkörpert und verwirklicht als Ideal im Lehrer.

Eine unausgesprochene, aber umso wirksamere Erwartungshaltung, die einen brutalen Selektionsdruck auf jeden Leiter eines Yogastudios ausübte. Um ohne Wampe und ohne Depression, ohne große innere oder äußere Makel das immerentspannte und von den Schülern oft verzweifelt angestrebte spirituelle Leben als fleischgewordene Erscheinung zu präsentieren, war eine extreme Selbstdisziplin nötig. Niemand wurde mit einem austrainierten Körper geboren oder bekam ihn im Schlaf. Jenseits des Unterrichts sechs Mal die Woche bis zu zwei Stunden lang für sich selbst intensiv Yoga zu praktizieren, war für Andreas Routine wie Zähneputzen.

So war auch der Grund, warum er weder Alkohol noch andere Drogen konsumierte, in der Hauptsache die Angst vor Kontrollverlust. Würde er mit seinen Schülern und Schülerinnen nach der Stunde noch etwas trinken gehen, wie bei anderen Leibesübungen nicht unüblich, konnte schnell, wenn man kein trainierter Säufer war, das Verdrängte und Unbewußte dämonisch die Gegenwart verdunkeln. Und ihn vermutlich Dinge sagen lassen, die er sonst nur denken, auf jeden Fall für sich behalten würde. Wie etwa: „Vergiß Ashtanga Yoga, du bist dafür zu faul! Ein, zwei Mal die Woche, das wird so nichts!“ Es wäre zwar die Wahrheit, aber ein so angesprochener Schüler würde seinen Dauerauftrag kündigen, und er könnte nach ein paar weiteren „Bargesprächen“ wahrscheinlich sein Studio dichtmachen.

Statt auf diese schroffe Weise drückte er den gleichen Sachverhalt im realen Leben freundlich und durch die Blume aus: „Jede Stunde zählt, selbst wenn du nur in Gedanken die Matte ausrollst. Ein bißchen Praxis ist immer noch besser als gar nichts!“ Was zwar stimmte, aber eher im akademischen Sinn, denn natürlich finden beeindruckende Entwicklungen niemals statt, wenn man nur halbherzig bei der Sache ist. Welcher auch immer.

Unabhängig von solchen praktischen Erwägungen waren ihm als Kind von alkoholabhängigen Eltern die Schattenseiten von plötzlich enthemmten Menschen seelisch viel zu vertraut und zu verhasst. So hatte er als Junge beispielsweise seinen Vater lallend auf allen vieren um Mitternacht vor dem Kühlschrank herumkrauchen sehen, ein weiteres Bier herausholend. Dabei alle Welt, aber speziell ihn, seinen Sohn, verfluchend, daß es doch besser wäre, er wäre nie geboren worden. Yoga war so gesehen für Andreas auch ein Schutzwall vor solchen erschreckenden Verwandlungen, nicht nur vor dem körperlichen, sondern vor dem immer möglichen seelischen Zerfall.

Aber auch die bisher heile vegane Yogawelt zeigte plötzlich eine unappetitliche Schimmelbildung, holte ihn angesichts des zweiten extrahierten Zahns die ungeschminkte und unperfekte Wirklichkeit am eigenen Körper ein. Wenn ihm seine Zähne ausfielen – wie Glühbirnen, die eine nach der anderen durchknallten –, dann hatte er auch ohne die mahnenden Worte des Arztes schon auf dem Behandlungsstuhl gewußt, daß seine veganen Tage gezählt waren. Schlagartig war ihm klar geworden, daß die Evolution auch beim Essen als ziemlich humorloser Gast mit am Tisch saß; und auch im 21. Jahrhundert gnadenlos ausselektierte, was nicht funktionierte. Diäten genauso wie Liebschaften.

Seine seltsam ungewohnte Mattigkeit, die ihn seit mehreren Monaten manchmal befiel, machte als Symptom von fehlenden Nährstoffen plötzlich erschreckenden Sinn. Es fehlten ja möglicherweise nicht nur simple tierische Fette und Eiweiße, sondern auch die oft unbekannten, aber in traditioneller „omnivorer“ Ernährung integrierten Vitamine, Mineralien, Spurenelemente. Wie in allen anderen Lebensbereichen schien das ursprüngliche „Ganze“, ein ganzer Fisch beispielsweise, vermutlich auch in der Ernährung mehr als die Summe seiner chemisch zerlegten Einzelteile zu sein.

In seiner jetzt einsam anmutenden Wohnung mischte sich der noch leicht brennende Wundschmerz des gezogenen Zahnes seltsam mit dem seelischen Schmerz über die verlorene Freundin. Diese melancholische Stimmung hielt allerdings nicht lange an, denn ihm drängte sich ein neues Problem auf, das sein Leben nicht nur körperlich und privat, sondern beruflich und finanziell untergraben konnte: Am kommenden Wochenende würde er in seiner Schule einen Yogaworkshop leiten, aber im Internet und auf Flyern hatte er diesen Ashtanga-Einführungskurs mit „köstlicher veganer Vollverpflegung“ beworben. Die meisten der bisher angemeldeten 20 Teilnehmer hatten die happigen Kosten für Kurs und eben Essen schon bezahlt. Und er selbst hatte bereits säckeweise Getreide und Trockensoja eingekauft.

Ihn ekelten aber im Augenblick sogar die kleinsten Assoziationen an vegane Küche derart an, daß er die Veranstaltung eher canceln würde als es zu ertragen, daß in seiner Gegenwart „Spaghetti alla bolognese“ mit Tofukrümeln, „Filetsteaks“ aus Weizengluten, „Eiersalat“ aus Kichererbsenpüree serviert werden würde. Sein totaler Ekel vor diesen Ersatzprodukten, der sich im Unbewußten monatelang angestaut haben mußte und jetzt wie ein diätetischer Tsunami durchbrach, stand im krassen Gegensatz zur Vernunft. Würde er einfach den Workshop halten, mit veganer Küche wie versprochen und bezahlt, wären alle zufrieden; später könnte er dann immer noch seinen Ernährungswandel in der kleinen Yogawelt öffentlich machen, diskret und in Ruhe.

Stattdessen wußte er, daß genau diese vernünftige Variante, die sowohl sein cooles Image bewahrte als auch die Erwartungen der Teilnehmer erfüllte, ihm unmöglich sein würde. Sein frischer Abscheu etwa allein schon vor dem Wort „Tofu“ war ja keine Kopfgeburt, sondern kam aus den tiefsten Eingeweiden. Dort, wo der echte Mensch hauste, der sich im Zweifel nicht mit schlauen oder gutgemeinten Worten bequatschen ließ. Somit hatte er jetzt ein akutes und ernstes Problem und nicht die geringste Ahnung, wie es zu lösen war.

Aber dieser berufliche Streß wurde, genauso wie der Verlust von Zähnen und Freundin, völlig in den Schatten gestellt durch den erkenntnismäßigen, eigentlich religiösen Schock, den er weder verdrängen konnte noch wollte: Um selbst zu überleben, mußte anderes Leben getötet werden. Auch Räucherlachs wuchs ja nicht friedlich auf Bäumen. Er hatte als Junge, Jahrzehnte vor seiner veganen Periode, manchmal mit seinem finnischen Vater geangelt und zahllos gefangene und zappelnde Fische noch auf dem Boot mit der stumpfen Seite seines Lapplandmessers erschlagen; und sofort danach ihnen den Bauch aufgeschnitten und die Eingeweide ausgenommen. An seinen kindlichen Händen hatte jede Menge Fischblut geklebt, – er konnte sich sogar immer noch an den ihn anstarrenden Blick eines jungen Hechts erinnern, bevor er ihn erschlug. Es war kein Sport oder Spaß gewesen, sondern damit sie am Abend in den menschenleeren finnischen Wäldern etwas zu essen hatten. Damals hatte er nicht darüber nachgedacht, über Tod und Leben, töten, um zu essen, sondern einfach seinen Vater imitiert.

Jetzt war er zwar alt genug, diesem Zusammenhang bewußt in die Augen zu blicken und ihn nicht nur unbewußt zu spüren wie damals als Kind. Aber Töten stand in einem absoluten Gegensatz zu seinem in Gewaltlosigkeit wurzelndem Yoga-Denken: Achtsamkeit allen Wesen gegenüber. „Ahimsa“ oder wie immer man es auch ohne Sanskrit nennen wollte. Es ging ja nicht darum, blumig und esoterisch den „Tod zu akzeptieren“. Das war vergleichsweise eine leichte Übung, sondern am Ende darum, selbst zu töten oder töten zu lassen, um selbst zu leben. Sogar die unschuldige und alltägliche Begrüßung unter Yogis: „Namaste“ – „Ich verbeuge mich vor dir“ –, schien ihm vor diesem Hintergrund plötzlich wie eine reine Schönwetter-Geste, die der rohen Wirklichkeit kaum gewachsen war.

Andreas hatte das Gefühl, in einen menschlichen Abgrund zu schauen, der ihn benommen und schwindlig machte. Weder mit Grübeln noch mit einfach weiter so Yoga praktizieren, würde er weiterkommen. Er war in einer Sackgasse seines Lebens gelandet, innerlich zerrissen und zerspalten von Problemen und Gedanken. Er fühlte sich hoffnungslos überfordert und schloß am Küchentisch die Augen, sich fragend, was genau er jetzt konkret machen sollte?!