Jenseits der Apps - Silvo Lahtela - E-Book

Jenseits der Apps E-Book

Silvo Lahtela

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Beschreibung

Alle fünf Bände von "Identität unplugged" stellen die konkreten Auswirkungen des Kollektiven Unbewußten im Sinne C. G. Jungs auf die Gegenwart dar. In "Jenseits der Apps" kommt es zu einer Gesamtschau, die den Einfluss des Unbewussten auf den Autor selbst darstellt. Auf eine sehr spezifische Weise, indem die jahrtausendalte Spiritualität des Ostens und die moderne Tiefenpsychologie des Westens als zwei Seiten der gleichen Medaille beschrieben werden: als der Versuch des Menschen, zu sich selbst zu kommen. Damit es nicht zu transzendent und luftig wird, was bei einem solchen thematischen Höhenflug schnell passieren kann, sorgen viele biographischen Details und Beispiele für die nötige Bodenhaftung.

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Seitenzahl: 274

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Pressestimmen

Getrieben von den alten Fragen Thomas Manns – ,Wie bricht man durch? Wie kommt man ins Freie? Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling?‘ – , geht es ihm vor allem um eine Option auf Überschreitung: einfach heraustreten aus dem Geschaffe. (...) Lahtela hat eine wunderbare Brücke gebaut.

Die Zeit über Zeichendämmerung

Ein schonungsloser und eisiger Thriller.

Le Monde über AlpTraumTerror

Jede, wirklich jede dieser Geschichten verdient den Preis, den der Regisseur für sie ausgibt. (...) Sprachakrobatik ohne Fallnetz ist das. Das Besondere im Allgemeinen, das Prinzipielle im Außerordentlichen.

Süddeutsche Zeitung über Letzte Obsession

Doch sein „Logbuch eines Dichters“, das er nach Kriterien wie die Einsamen, die Getriebenen, die Demütigen oder die Hoffnungsvollen unterteilt, ist keine strenge Dokumentation. Vielmehr sind es künstlerische Verdichtungen.

Fokus über Nachtfahrten

Identität unplugged

Band 1 Spam aus der Kindheit & Vorwort zur Gesamtausgabe

Band 2 Nachtmusik

Band 3 Zeitpeitschen

Band4 Die eigene Stimme ist die fremde

Band 5 Jenseits der Apps

eine organic language unknown TM

Veröffentlichung

The real secrets are secrets because nobody understands them.

C.G. Jung

The Psychology of Kundalini Yoga

Vorab

Dieses Buch gründet in jeder Zeile auf gemachten Erfahrungen; es ist ganz klassisch und wie es sich für einen Dichter gehört, „mit Blut geschrieben“, wenn auch nicht immer mit eigenem. Und richtet sich daher naturgemäß an Leser, die sich nicht von Ideologien oder Statussymbolen den Kopf verdrehen lassen, sondern sich einen offenen Blick und ein offenes Herz bewahrt haben.

Meinen geliebten Eltern

Helke und Markku

Jenseits der Apps

Der west-östliche Horizont der Befreiung

Das Isolierte Bewußtsein

Muladhara Chakra

Das Kollektive Unbewußte

Svadhisthana Chakra

Das Persönliche Unbewußte

Manipura Chakra

Das Innehaltende Bewußtsein

Anahata Chakra

Das Realisierende Bewußtsein

Visuddha Chakra

Das Intuitive Bewußtsein

Ajna Chakra

Das Gegenwärtige Bewußtsein

Sahasrara Chakra

Das Unbewußte schlägt zurück

Eine Einleitung

Was man auch immer im Detail darunter versteht, im Kern kreist stimmiges Leben wie das Atmen, das man mit der Konsequenz des Todes auch nicht sehr weit in die Zukunft aufschieben oder allzu lange Vergangenheit sein lassen kann, immer entscheidend um den konkreten Augenblick.

Wer in diesem Sinn auf der Suche nach echter Identität ist, mehr vom Sein als vom Schein umgetrieben wird, sich nicht in die immer verfügbaren künstlichen Welten der Drogen oder der Ideologien oder in die tausendfachen Ablenkungen des Internets flüchten mag, kommt ums Präsent-Sein im Hier und Jetzt nicht herum.

Innere Identität, also ungekünstelt im Einklang mit sich selbst zu sein, wirkt typischerweise auf andere als Authentizität. Ich verwende hier beide Begriffe stellvertretend füreinander, entweder mehr die innere Ursache oder die äußere Wirkung betonend.

Der Zusammenhang von Identität/Authentizität und Präsenz in der Gegenwart ist den meisten Menschen zumindest intuitiv klar. Ob als simple Fußballweisheit: „Was zählt, ist auf’m Platz!“; ob, vom gleichen Geist gespeist, das abwertende Zitat des Dirigenten Celibidache über Schallplatten, aber im modernen Sinn auch auf jede Art von digital konservierter Musik beziehbar: sie seien „tönende Pfannkuchen“, niemals in der Lage, den erlebten und einzigartigen Moment während eines Livekonzerts auch nur annähernd wieder zu erzeugen. Oder ob in der tiefstmöglichen meditativen Versenkung eines Buddha, wo nur die total annehmende Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks zu einer Art verstehenden Zeitschmelze führt, zur Realisierung der Vergänglichkeit von wirklich allem und jedem, – und das Tor zur Erkenntnis aufstößt.

Gleichgültig nun, ob auf den steilen Gipfeln der Hochkultur herumturnend, oder volksnah in Fußballstadien mitfiebernd, oder stundenlang auf Workshops im Lotussitz meditierend, oder auch alle drei Sachen und noch ganz anderes probierend, – trotz des weitverbreiteten intuitiven Respekts vor dem Hier und Jetzt ist den meisten Leuten kaum wirklich bewußt, daß der gegenwärtige Augenblick selten von jungfräulicher Unschuld ist, sondern die Spitze eines riesigen psychischen Eisberges darstellt. Verdrängte Obsessionen, ungelebte Emotionen, krasse Wahnvorstellungen rammen sich in jedem einzelnen Menschen ihren Weg durch die Gegenwart, unbewußte Prozesse verzerren und blockieren auf unterschiedlichste Weisen die Wahrnehmung dessen, was wirklich vor der eigenen Nasenspitze gerade stattfindet.

Wer sich also mutig und oft auch naiv den Erfordernissen des vergänglichen und doch einzigartigen Augenblicks stellt, weil eben nur hier der Puls des Lebens schlägt, wird eher früher als später plötzlich mit einem labyrinthischen und mächtigen Schattenreich konfrontiert, erschwerenderweise oft, ohne es zu merken: mit der Wirklichkeit des Unbewußten.

Diese recht gefährliche Weltgegend, für die kein seriöser Reiseveranstalter Flüge und Hotels anbietet und in der schon viele Menschen für immer verschollen sind, dürfte den meisten recht unbekannt und unheimlich sein. Vor allem auch deswegen, weil das Unbewußte im Sinne C. G. Jungs als sowohl heilende als auch zerstörerische Kraft mehr oder weniger vom zeitgenössischen medialen Mainstream ausgeblendet ist. Da sein Konzept des Unbewußten für dieses Buch aber absolut zentral ist, und weil es keineswegs ein selbsterklärender Begriff wie der „Augenblick“ ist, dem gesunden Menschenverstand sofort und intuitiv einleuchtend, werde ich kurz erläutern, wie das Unbewußte hier verstanden wird.

Angesichts der Allgegenwart computergesteuerter Realität – vom iPhone bis zum Airbus, von Google bis zu Amazon, vom selbstfahrenden Auto bis hin zu ersten schüchternen Cyborg-Prototypen – scheint die Verschmelzung von Mensch und Rechner, von Blut und Byte in vollem Gange zu sein. In dieser neuen Welt voller emsig und erfolgreich auf allen Ebenen arbeitender Prozessoren wirkt möglicherweise allein schon der Begriff des Unbewußten schnell leicht verschroben, scheint keine eigene Größe mehr zu sein, sondern hauptsächlich das Manko auszudrücken, irgendetwas nicht richtig zu verstehen. Das Unbewußte wird oft nur als das im Augenblick noch nicht Begriffene oder Berechenbare begriffen, – mit einer mehr oder weniger großen Extra-Portion Arbeitsspeicher, besserer Software und einem guten Programmierer könnte dem armen Kerl am Ende im Prinzip immer geholfen werden; so denken recht viele Zeitgenossen, die sich für aufgeklärt halten.

Wäre das Unbewußte tatsächlich nur das gegenwärtig noch nicht ins Bewußtsein Gehobene, eine temporäre Wissenslücke, die sich mit genügend Mühe früher oder später schließen ließe, wäre das ganze Thema nicht besonders faszinierend, eher banal.

Um zu verstehen, daß das Unbewußte stattdessen in einer ganz anderen Liga der Komplexität spielt, muß man sich klarmachen, daß gerade das moderne „digitalisierte“ Bewußtsein keineswegs die Totalität der menschlichen Psyche darstellt, sondern nur deren rationalen Ausschnitt repräsentiert. Also den Bereich, der durch „Vernunft“ im weitesten Sinne charakterisiert werden kann; je nach geistigem Horizont fällt darunter das simple Einmaleins genauso wie komplexe Programmiersprache, das wissenschaftliche Hinterfragen und Messen genauso wie alltägliche Überlebensreaktionen im Straßenverkehr, – und natürlich ist das Smartphone in fast jeder menschlichen Pfote ein unübersehbares reales Zeichen der Macht des Rationalen.

Jenseits dieser je nach Begabung mehr oder weniger intellektuell verstehbaren Welt – notwendig aber lange nicht hinreichend für ein authentisches Leben – gibt es jedoch seit Anfang der Menschheit den irrationalen, „dunklen“ Bereich, der grundsätzlich nicht durch Denken und Sachlichkeit gesteuert wird. Sondern durch Intuitionen und Emotionen. Und sich im Wesentlichen durch persönlichen Kontrollverlust und scharfen Kontrast zu Vernunft auszeichnet.

Wenn ein Pilot beispielsweise Selbstmord begeht, indem er ein technisch hochkomplexes Flugzeug mit über hundert Passagieren steuerlos in den Bergen zerschellen läßt, dann dominiert das Irrationale über das Rationale, warum auch die natürliche und spontane Reaktion der meisten Menschen echte Fassungslosigkeit ist. Man kann und wird zwar versuchen, solche Ereignisse auf letztlich alltäglich ableitbare Weise zu verstehen: schwere Kindheit, Frau Weggelaufen, berufliche Probleme, – und so weiter und so fort. Aber das Gekünstelte, oft völlig an den Haaren herbei Gezogene solcher Erklärungen ist für jeden kritischen Geist offensichtlich. Was daran liegt, daß das natürliche menschliche Empfinden, getragen von Mitgefühl, seit Urzeiten etwa den Impuls zum Selbstmord und die dann folgende Tat, Massenmord in diesem Beispiel inklusive, sofort als emotionales Ereignis, als menschlichen Quantensprung, als Aktualisierung der dunklen Seite, durchaus des Bösen als solchen, versteht. Und intuitiv und auch aus Respekt vor dem Schicksal fühlt, daß hier andere Gesetze als die für den normalen Hausgebrauch gelten.

Auch äußerlich politisch oder religiös motivierte terroristische Taten, wie etwa im Namen Allahs mit einem Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt hineinzurasen, um so viele Besucher wie möglich zu töten und durchaus mit gewisser praktischer Logik Angst und Schrecken bei den „Ungläubigen“ zu verbreiten, schleppen einen irrationalen riesigen Schatten mit sich, unabhängig vom oft rationalisierten Selbstbild des Täters: Wer die instinktive Hemmschwelle des Tötens von Artgenossen für sich selbstherrlich außer Kraft setzt, hat ohne Wenn und Aber Kontakt zur irrationalen Welt, zur dunklen Seite aufgenommen. Intellektuelle Begründungen alleine machen niemanden zum Mörder, es muß dafür immer noch eine andere, mächtigere Energie hinzukommen.

Und genau hier, wo der Common Sense nicht nur der Gutmenschen, sondern auch der Zyniker versagt und meistens ehrliche Ratlosigkeit sich breitmacht, kommt das Unbewußte im Jungschen Sinn ins Spiel; welches nämlich, statt nur ein armseliger Spezialfall des Bewußtseins zu sein (ahnungslos im Dunkeln zu tappen), genau diese verborgenen Seiten des Lebens repräsentiert, sie als oft schroffes Kontrastprogramm zum Alltagstrott auslebt. Denn gemäß Jung agiert das Unbewußte keineswegs blind, sondern übt einen kompensatorischen Zwang aus, mit dem Ziel, den Menschen zu seiner angelegten Ganzheit zu führen: Je durchkalkulierter und sachlicher also unsere Welt ist, desto emotionaler und verrückter dürfte sich das Unbewußte gebärden. Da der Mensch eben nicht nur von Vernunft und Brot alleine lebt. Dies nur ein kleiner Wink am Anfang: Ja, es gibt eine riesige Welt jenseits der Apps.

So irrational es allerdings dort auch für den Unerfahrenen zugeht, gibt es dennoch in dieser verborgenen Welt wiederkehrende, objektive Strukturen, von Jung „die Archetypen des Kollektiven Unbewußten“ genannt. Womit im Wesentlichen die instinktive Bereitschaft aller Menschen gemeint ist, für bestimmte Erfahrungen offen zu sein; sie letztendlich auch dann – eben unbewußt – zu suchen, um als Mensch vollständig zu werden, wenn das Bewußtsein nichts davon wissen will. Verdrängte Sexualität ist da natürlich der unverwüstliche Klassiker; oder der Trieb sich als Ego in der Welt zu behaupten, aka Machtstreben; und auch die im Gegensatz dazu totale Verneinung des Egos, das Scheitern, die Erfahrung der Demut, gehört selbstverständlich in den Horizont des Kollektiven Unbewußten. Aber auch so schwer zu fassende Dinge wie Sinnsuche, in der Form von Religiosität etwa, sind Archetypen des menschlichen Seins, überall und zu allen Zeiten gegenwärtig.

Werden solcherart allgemeinmenschliche und sehr verbindliche Erfahrungspotentiale nicht gelebt, sind sie keine neutralen, mehr oder weniger harmlose „Lücken“ in der privaten Biographie, sondern verzerren grundsätzlich die Wahrnehmung der Wirklichkeit im jeweiligen Bereich und erzeugen die entsprechenden Neurosen. Wer etwa die Auseinandersetzung mit dem Tod scheut, um ein simples, allerdings weitverbreitetes Beispiel zu nehmen, wird die Gesellschaft von Kranken und Alten eher meiden und den Zeichen des Verfalls am eignen Körper vielleicht mit panischem Lifting oder mit Fitneß ohne Ende begegnen. Und wird sich mit Konzepten wie Einfrieren des Körpers beschäftigen, weil vielleicht irgendwann in der Zukunft das ewige Leben entdeckt werden könnte. Das heißt, die Verdrängung der realen Vergänglichkeit, ein paradoxerweise unvergänglicher Archetyp menschlicher Erfahrung, führt jedenfalls zu Verhaltensmustern, die angstgesteuert und verblendet sich von der Wirklichkeit wegbewegen, statt auf sie zuzugehen.

Neben dem mehr oder weniger aufgeklärtem Bewußtsein, das immer eine persönliche Leistung und Anstrengung bedeutet, „Abitur“ beispielsweise und eng mit dem Ego gekoppelt ist, und dem Kollektiven Unbewußten, das immer eine unpersönliche, das Ego und seine Errungenschaften transzendierende, oft wegfegende Qualität besitzt – an fanatisierten Massen äußerlich und im großen Maßstab sichtbar, an Träumen und Neurosen innerlich und im privaten Rahmen wahrnehmbar –, gibt es bei Jung noch eine dritte Kategorie des menschlichen Geistes: das Persönliche Unbewußte. Darunter sind alle selbst erlebten Wahrnehmungen und Erfahrungen zu verstehen, die eigentlich dem Bewußtsein zugänglich sein könnten, aber, aus welchen Gründen auch immer, übersehen, abgeblockt oder verdrängt werden. Sexueller Mißbrauch in der Kindheit, der nicht mehr erinnert wird, wäre hier ein typischer Fall. Oder die allgegenwärtigen Aggressionen im Straßenverkehr, wo Kleinigkeiten, wie etwa fehlendes Blinken, zu völlig unverhältnismäßigen Haßausbrüchen führen. Oder ein paar Nummern harmloser: Man drückt seine unterschwellige Abneigung gegenüber einer Person, die man sich offen nicht zu zeigen traut, dadurch aus, daß man ihr „aus Versehen“ Salz statt Zucker in den Kaffee gibt.

Dieses Persönliche Unbewußte, wo sich die subjektiven Ängste, Traumata und Obsessionen eines Menschen sammeln – ein psychischer Keller, in den hinabzusteigen man vor allem Mut braucht –, kann als eine Art Sollbruchstelle des Egos begriffen werden. Konfrontiert mit den Schattenseiten der eigenen Persönlichkeit dürfte hier die Erfahrung gemacht werden, daß das oft sehr stolze Bewußtsein zutiefst fremdbestimmt sein kann und statt Wahrheiten egozentrisch orientierte Täuschungen am laufenden Band produziert.

Im Unterschied zu Jungs Definition wird in diesem Buch allerdings die Trennungslinie zwischen Persönlichem und Kollektiven Unbewußten nicht scharf gezogen, sondern das Persönliche Unbewußte wird als eine aktivierte und subjektiv aktualisierte Variante des Kollektiven Unbewußten verstanden. Ein alltägliches Beispiel: Wer aus Angst vor Konfrontation einer eigentlich verhaßten Person gegenüber reflexartig ein falsches Lächeln zeigt, steht einerseits unter dem Bann des Persönlichen Unbewußten, der eigentlich erkennbaren Lüge, andererseits verkörpert sich der allgemein-menschliche Archetyp der Angst in diesem Verhalten.

Was impliziert, daß das Kollektive Unbewußte kein alles Menschliche absorbierendes Schwarzes Loch ist, sondern zumindest theoretisch in allen seinen Facetten der persönlichen Erfahrung zugänglich. Jede Person also eine potentielle Durchlässigkeit gegenüber allen menschenmöglichen Erfahrungen besitzt, – ganz ähnlich wie eine gesunde Zelle über ihre Membran den Energieaustausch mit ihrer Umwelt organisiert. Eine konkrete Auswirkung ist meine sich daraus ergebende, völlig unterschiedliche Auffassung vom inzwischen weltweit praktizierten, körperlich orientierten Hatha Yoga, das C. G Jung mehr oder weniger als dem abendländischen Geist wesensfremd abgelehnt hat. Weil Yoga eben die Verschmelzung mit dem Absoluten oder tiefenpsychologisch ausgedrückt: mit dem Kollektiven Unbewußten, anvisiert. Was nach Jungs Ansicht zu einer mehr oder weniger großen Degenerierung des kritischen Bewußtseins führt. Ich werde an späterer Stelle näher darauf eingehen, warum ich dies für einen Irrtum halte, hier zunächst nur den Unterschied in der Auffassung andeuten.

Wer nun, um langsam zum eigentlichen Thema zu kommen, ein halbwegs authentisches, mit sich identisches Leben führen möchte, muß mit diesen drei kurz vorgestellten Welten: Bewußtsein, Persönliches Unbewußtes, Kollektives Unbewußtes im Idealfall gleichzeitig jonglieren. Fehlt die Energie des Bewußtseins, löst sich die Persönlichkeit in Wahnsinn auf; fehlt die Energie des Persönlichen Unbewußten, wirkt und ist die Persönlichkeit unecht; fehlt die Energie des Kollektiven Unbewußten, ist die Persönlichkeit ohne lebendigen Hintergrund, ein Fisch im Aquarium, weit weg von jedem Meer, gefangen in Egozentrik.

Dies ist einerseits eine schlechte Nachricht, weil die meisten Menschen nicht wirklich multitaskingfähig sind. Wie beim berüchtigten Hütchenspiel ist die Kugel immer nur unter einer Schale und meistens auch noch dort, wo man sie nicht vermutet. Andererseits ist es auch eine gute Nachricht: Es ist möglich, wenn auch sehr, sehr schwierig.

C.G. Jung nennt diesen Prozeß, wo kurzgesagt das Bewußtsein möglichst auf Augenhöhe, jedenfalls nicht von oben herab, mit dem Unbewußten Kontakt aufnimmt, um vollständig und heil zu werden, „Individuation“. Der Hauptakteur dabei ist das sogenannte Selbst, worunter man sich durchaus das normale Ich vorstellen kann, das sich aber zum Unbewußten hin öffnet und damit seinen üblichen egozentrischen Standpunkt potentiell aufgibt. Von hier aus werden etwa historische Persönlichkeiten wie Jesus oder Buddha auch für spirituell abstinente Personen zumindest psychologisch verständlicher.

Um diesen Prozeß der Individuation, der letztlich die Befreiung des wahren menschlichen Potentials bedeutet, geht es in diesem Buch. Es werden sieben ungeschönte und wahre Erfahrungswelten dargestellt, die in der Realität den aktivierten Individuationsprozeß widerspiegeln.

Es sind gewissermaßen Variationen von den drei dominanten Bewußtseinzuständen; zunächst werden die typischerweise isolierten Erfahrungen mit den einzelnen Welten präsentiert: die Realität des Bewußtseins, die Realität des Kollektiven Unbewußten, die Realität des Persönlichen Unbewußten. Dann werden die verschiedenen unvollständigen Versuche der Integration dargestellt, wo aber immer noch eine Wirklichkeit ausgeblendet wird: Wenn das Bewußtsein auf das Persönliche Unbewußte trifft oder respektive auf das Kollektive Unbewußte. Oder wenn das Persönliche Unbewußte direkt auf das Kollektive Unbewußte stößt, unter Umgehung des Bewußtseins. Und schließlich wird von der gelungenen Integration erzählt, wenn alle drei Welten: Bewußtsein, Persönliches Unbewußtes, Kollektives Unbewußtes sich in Balance befinden; zumindest für einen Augenblick.

Diese sieben Erfahrungswelten oder Stadien des Individuationsprozesses entsprechen nun auf frappierende Weise auch bedeutungsmäßig den sieben Chakren des Kundalini-Yoga, behauptete Energiezentren im Körper. Der entscheidende grundsätzliche Zusammenhang beider Welten, der sogenannten wissenschaftlich westlichen und der sogenannten esoterisch östlichen, wurde von C. G. Jung in seinen Züricher Vorlesungen über Kundalini Yoga in den Dreißiger Jahren dargestellt und erörtert. Wobei hier der Hinweis angebracht und auch notwendig ist, daß mein Text zwar ganz klassisch von Jung inspiriert ist, also eine spirituelle Reaktion auf seinen „Geist“ darstellt, aber keineswegs den Anspruch erhebt, ihm oder seinem Werk im wissenschaftlichen Sinne gerecht zu werden. Daß ich so frei bin, mir ein eigenes Bild zu machen, tut meinem großen Respekt allerdings keinen Abbruch, im Gegenteil.

In solcher Freiheit also Jungs Spuren folgend, halte ich es ebenso wenig wie er für einen Zufall, wenn sich tausendjähriges östliches Denken und moderne westliche Tiefenpsychologie derart inhaltlich berühren; deswegen habe ich mich entschlossen, die Chakren bei der Einteilung der Kapitel zu berücksichtigen, dieses Werk also durchaus als einen west-östlichen Geistesmix zu präsentieren.

Die Parallelität der Jungschen Tiefenpsychologie mit den Chakren des Yoga liegt darin, daß beide ziemlich konkret einen Befreiungsweg des Menschen beschreiben. Der Individuationsprozess bei Jung, der über die Auseinandersetzung mit dem Unbewußten Schritt für Schritt das neurotische Ego zum authentischen Selbst führt, entspricht dem „Erwachen der Kundalini“, der symbolischen Schlange, die sich aus dem eingerollten und schlafenden Zustand des untersten Chakras langsam bis zur höchsten Bewußtheit aufrichtet. Beide Wege, der östlich symbolische und um tausende Jahre ältere, als auch der westlich wissenschaftliche und vergleichsweise blutjunge, haben ähnliche „Zwischenstopps“, wo man sozusagen Ein- oder Aussteigen kann. Es sind dies die einzelnen Chakren, die mehr oder weniger bestimmten Erfahrungswelten beziehungsweise Bewußtseinszuständen entsprechen.

Allerdings, um sofort schon einmal auf einen springenden und irritierenden Punkt hinzuweisen: Das moderne, aufgeklärte Bewußtsein, das zwar unter anderem iPhone, Zahnimplantate, Demokratie hervorgebracht hat, ist vom Chakrasystem her gesehen keineswegs die Blüte der Zivilisation, sondern tatsächlich erst der dunkle Anfang. Denn solange das Bewußtsein ohne jeden Abstand nur an seinen eigenen Interessen klebt, reflexhaft wie eine Amöbe im Sinne des persönlichen Überlebens und Durchsetzens auf die Welt reagiert, ununterbrochen im Straßenverkehr zu beobachten, ist die allgemeine Geisteshaltung trotz verfügbarer Hochtechnologie und intellektueller Verbrämung nur ein atemloses und egozentrisches Durchkämpfen.

Dieses blinde Verhaftetsein im Dschungel des Lebens, in dem das wahre Potential noch schläft – oder Gott oder das Selbst oder der Geist oder die Schlange oder welches Wort auch immer den Abstand zum instinktbestimmten Menschen beschreibt –, wird durch das erste und unterste Chakra symbolisiert, das sogenannte Wurzelchakra: „Muladhara“. Lokalisiert körperlich im Perineum oder derber ausgedrückt da, wo unsere Welt mit ihren Comedians und Politikern sich im Ernstfall schnell orientiert: tief im eigenen Hintern. Aber die Welt endet hier nicht, sondern fängt eben gerade erst an.

Um noch einmal zusammenzufassen: Authentisches Leben erfordert Präsenz im Augenblick. Dieser wiederum ist vom Unbewußten extrem geprägt. Wer also ernsthaft im Hier und Jetzt sein möchte, muß mit der durchaus gefährlichen Welt des Unbewußten Kontakt aufnehmen, weder Erfahrungen mit dem Persönlichen noch mit dem Kollektiven Unbewußten scheuen. Gelingt dies Unterfangen, geht man unterwegs nicht verloren, dann kann zumindest eine Ahnung des geheimnisvollen Potentials der puren Gegenwart auftauchen, die Sekunde für Sekunde stattfindet, immerzu und für jeden und deren Bedeutung oft völlig übersehen wird.

Diesen Weg auf dieses Ziel versuche ich in diesem Buch darzustellen; und zwar auf eine auf den ersten Blick sehr subjektive Weise, indem in der Regel alle beschriebenen Erfahrungen mit dem Unbewußten mehr oder weniger direkt an meine Person gebunden sind. Denn obwohl das Unbewußte wesentlich auf die Psyche aller Menschen wirkt, entzieht es sich als zunächst innerer Prozeß der normalen Wahrnehmung (Jung: „Das Unbewußte ist wirklich unbewußt. Man sieht nichts!“), so daß es also relativ leicht wäre, alles und jedes völlig unkontrolliert und nach Belieben auf das Unbewußte zu projizieren. Besonders dann, wenn man wie ich auch ein Autor von „Fiction“ ist, also grundsätzlich keinerlei Probleme damit hat, Charaktere und Handlungen auch im Schlaf aus dem Hut zu zaubern.

Um also sicher zu sein, daß die Quelle der Erfahrungen mit dem Unbewußten relativ ungetrübt von gerade auch meinen eigenen Fiktionen und Projektionen ist – oder schlimmer noch: nicht einfach nur leicht abgestandenes Buchwissen repräsentiert –, klebe ich hier paradoxerweise wie eine Klette an persönlich gemachten Erfahrungen: weil ich sie selbst als authentisch bezeugen kann.

– Wobei die Hochachtung des Augenblicks in der Tradition Buddhas steht, die Sicht auf das Unbewußte C. G. Jungs Spuren folgt und die Strukturierung der Kapitel durch Chakren vom Yoga inspiriert ist. Diesen drei hier verbundenen Welten gilt mein besonderer Dank.

1

Das Isolierte Bewußtsein

„Das Ego“

Muladhara Chakra

Aus einem kleinsten Kratzer kann sich eine tödliche Blutvergiftung entwickeln, – angesichts der Verletzlichkeit des Menschen ist die stets um sein eigenes Leben besorgte Egozentrik des normalen Bewußtseins evolutionär völlig logisch. Und auch als persönlicher Entwicklungsschritt notwendig. Das Leben fängt nicht auf einer spirituellen Wolke an, sondern man landet als Kind bestimmter Eltern in einer ganz bestimmten Gegenwart in der Welt.

Wenn man nicht gleich wieder verschwinden will, muß man sich in der oft schnöden Realität irgendwie behaupten. Als Voraussetzung für alles andere, vor allem für alles Höhere, ist dieses urrudimentäre Realitätsbewußtsein im Chakrensystem des Yoga am Anfang der Wirbelsäule lokalisiert, am Steißbein, zwischen Anus und Geschlechtsorgan. In direktem Kontakt mit Verdauung und Fortpflanzung sowie dem Nervengeflecht der Wirbelsäule ist der Sanskrit Name dafür passenderweise „Wurzelchakra“, Muladhara Chakra.

Hier, mitten im Irdischen verwurzelt, vom tausendfach egoistisch verstrickten Bewußtsein angetrieben, muß die Reise zum wahren Selbst beginnen, wenn sie denn Erfolg haben soll. Von diesem Bewußtsein, das das Alltägliche ist, werde ich jetzt im Detail erzählen. Ich nenne es das „Isolierte Bewußtsein“, weil es hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt ist, selbst und gerade dann, wenn es über Gott und die Welt seine Meinungen verbreitet.

Die Mechanismen dieses Bewußtseins sind bei den meisten Menschen derart eingefleischte Gewohnheit geworden, daß sie wie alles Selbstverständliche nicht mehr wahrgenommen werden. Als würde ein Puppenspieler sich mit seinen Marionetten identifizieren und vergessen haben, daß ihre Bewegungen an selbstgemachten Fäden hängen.

Das Isolierte Bewußtsein ist jedenfalls sehr oft ein hervorragendes Beispiel für den sprichwörtlichen Wald, den man vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Kinder wiederum, die noch mit einem Bein im Unbewußten ihren Standort haben, noch nicht von den geistigen Standards ihres jeweiligen gesellschaftlichen Umfeldes völlig assimiliert, sozusagen noch nicht in diesen „Bewußtseinswald“ eingetreten sind, sondern sich an seiner Grenze herumtreiben, spüren und spiegeln diese Mechanismen des Bewußtseins oft auf eine ursprüngliche Weise als etwas noch ziemlich Fremdes, nichts Selbstverständliches.

Je intuitiver und introvertierter ein Kind ist – also die klassischen Markierungen des Unbewußten vorweist, das heißt, mehr von inneren als von äußeren Maßstäben bestimmt ist –, desto größer dürfte in der Regel die seelische Distanz zur vorgefundenen Bewußtseinswelt der sozialen Umgebung ausfallen. Dabei ist es relativ egal, in welchen kulturellem Gewand diese sich präsentiert. Der Kontrast zwischen der stark vom Unbewußten orientierten Welt eines solchen Kindes und der von äußeren Realitäten dominierten Welt der meisten Erwachsenen erzeugt automatisch eine psychische Spannung. Das offene, aber eben deswegen auch latent widerspenstige Unbewußte eines Kindes ist für das erwachsene, immer von bestimmten Vorstellungen besessene Bewußtsein eine Mischung aus Honigtopf und rotem Tuch gleichermaßen und provoziert automatisch Erziehungsversuche auf allen Ebenen.

Ich war ein solches, vom Unbewußten bestimmtes Kind. Vielleicht, weil ich aus dem Flugzeug sehr früh und fasziniert die Krümmung der Erde und die Kleinheit der Menschen wahrgenommen hatte, oder eines Nachts in Lappland im Auto von der Landstraße am Nachthimmel die Sterne haben funkeln sehen. Woher aber auch immer, ohne dieses Empfinden für Horizonte jenseits des eigenen Nabels, auf das ich geprägt bin wie ein Graugansküken auf seine Mutter und das für immer wie ein Schutzschild gegenüber Manipulationsversuchen wirken sollte, hätte ich meinen ersten echten Vollkontakt mit dem Zeitgeist meiner Kindheit zumindest geistig nicht überlebt.

Von diesem Kontakt, um damit auch die typische Struktur des Isolierten Bewußtseins offenzulegen, will ich jetzt etwas ausführlicher erzählen. Denn Theorien gibt es letztlich wie Sand am Meer, doch die dazu realistisch korrespondierende Wirklichkeit, der echte „Sand“ sozusagen, wird paradoxerweise sehr viel seltener dargestellt. Dabei ist doch alle Theorie pure Zeitverschwendung, wenn sie nicht zumindest ein bißchen der Wirklichkeit, dem „Einzelfall“, der „Singularität“, dem „Subjektiven“ gewachsen ist.

– Als Kind lebte ich im West-Berlin der späten Sechziger Jahre ein paar Jahre in einer sehr großen Charlottenburger Altbauwohnung mit den unterschiedlichsten und von heute aus gesehen teilweise sehr krassen Zeitgenossen zusammen. Es war eine hauptsächlich von politischen Revolutionsideen inspirierte Kommune. Im damaligen Zentrum der Stadt gelegen, mit direktem Blick zum Funkturm. Meine Mutter hatte Finnland und meinen finnischen Vater verlassen und war mit mir nach Deutschland zurückgekehrt, um an der Filmakademie zu studieren.

Von einem langen Flur gingen viele Türen ab, hinter denen sich wie bei den Fenstern eines Weihnachtskalenders oft genießbare, aber auch sehr ungenießbare Überraschungen verbargen. Nur, daß es eben keine Naschereien waren, die mir in den verschiedenen Zimmern präsentiert wurden, sondern damals gängige Bewußtseinswelten. Ich werde sie kurz schildern, aus der unmittelbaren Perspektive eines zehnjährigen Jungen; gerade dieser naive Kontakt wird ein bestimmtes Muster aufscheinen lassen, das typisch für jede Art von geistiger Fixierung oder im extremen Fall: Gehirnwäsche ist, damals und heute und gerade aufgrund seiner Einfachheit oft völlig übersehen wird.

Als ich beispielsweise eines Mittags nach der Schule eine dieser vielen Türen öffnete – ich hatte Hunger, und suchte nach jemanden in der Wohnung, der Geld zum Einkaufen hatte –, lag auf einer Matratze mit verrutschtem Laken ein Paar nebeneinander. Der nackte Mann, dunkle Mähne, geschminkte Augenpartie, Alice Cooper inspiriert, etwas angsteinflößend – er nahm Drogen, hatte ich mal aufgeschnappt –, hatte sich halb aufgestützt, die Frau lag kuschelnd aber mit weggetretenem Blick an seiner Brust.

Er musterte mich eindringlich, trotz seines Lächelns eher kühl und fragte, ob ich nicht Lust habe, mitzumachen. Ich hatte keine Lust. Meine Erinnerung reißt hier ab; das letzte, woran ich mich erinnere, war nur das nagende Schuldgefühl darüber, eben keine Lust auf Sex mit Erwachsenen zu haben; und deswegen, gespiegelt im abschätzigen Blick des Mannes, kein wirklich „revolutionärer“ Junge zu sein.

Hinter einer anderen Tür ging es deutlich freundlicher zu; obwohl der Bewohner bald darauf nach mehreren Sprengstoffanschlägen mit Toten zu den meistgesuchten Terroristen der RAF in Deutschland zählte und sich später im Gefängnis erschießen sollte: Mit Jan, ein zurückhaltender und ruhiger Mann, vor dem ich im Unterschied zu jenem anderen keine Angst hatte, spielte ich manchmal Go. Ich erinnere mich, wie er ganz versunken auf das Brett schaute, das mit den vielen Steinen wie ein unfertiges Mosaik wirkte und mich manchmal anlächelte, wenn ich einen klugen Zug gemacht hatte. Ich hatte eine natürliche Begabung für strategische Brettspiele.

Auf seine Weise war er mir wohlgesonnen, indem er in der Kommune den Vorschlag einbrachte, daß ich nicht nur meinen wöchentlichen Anteil wie alle an niederen Arbeiten wie Saubermachen und Abwaschen übernehmen sollte, sondern auch solche mit echter Verantwortung wie Einkaufen und Kochen. So kam es dann auch.

Da ich mich von Herzen weder um niedere noch höhere Haushaltsarbeiten riß, Verantwortung hin oder her, hatte sein Verhalten bei aller Sympathie allerdings auch eine sehr unpersönliche, versteckt moralische Note. Ein bißchen wie beim Go: Nicht der einzelne, sozusagen subjektive Stein ist letztlich wichtig, sondern wie und warum manihn setzt, der große Masterplan dahinter. Sicher einer der Gründe, warum ich nie wirklich warm mit diesem Spiel wurde. Im Unterschied zum Schach, wo die Figuren schon optisch individueller sind, Springer, Dame, König, – und als einzelne wertvoller und nicht austauschbar sind.

Damit wäre ich bei der nächsten, eine große Doppeltür; als ich sie einmal nachmittags aufmachte, drang Philipp, mit dem ich öfter Schach spielte, gerade in eine junge Frau ein, die mit weit gespreizten Beinen und zur Seite weggedrehtem Kopf unter ihm lag. Er schrie mich an: „Kannst du nicht anklopfen!“ Ich hatte die Tür hastig schon vor dem Ende seines Satzes zugemacht, es war mir mindestens genauso peinlich wie ihm.

Am nächsten Tag schenkte er mir ein kleines Schachbuch mit kommentierten Meisterpartien und sagte, daß es ihm leidtue, mich angeschrien zu haben. Obwohl ich seinen impulsiven Ausbruch nicht als besonders schlimm empfunden, eigentlich sogar total verstanden hatte, freute ich mich trotzdem über das Geschenk. Sogar sehr, denn da das Feiern von Weihnachten in der Kommune als bürgerliches Relikt abgeschafft worden war, und auch Geburtstage als letztlich nur private Ereignisse nicht besonders beachtet wurden, waren solche immerhin persönlichen Gesten, egal wie sie zustande kamen, für mich rare Ereignisse.

Richtig persönlich gemeint war die Geste letztlich nicht, das war mir intuitiv klar: Alle in der Wohnung redeten über antiautoritäre Erziehung und mich, ein Kind, anzuschreien war so gesehen ein Sakrileg, ein schwerer Rückfall in bürgerliches Verhalten. Hätte er das Buch mir ohne besonderen Anlaß geschenkt, wegen unserer Schachspielerei, wäre es wirklich persönlich gemeint gewesen; – so war es eher eine indirekte Entschuldigung für die anderen, weil er die unausgesprochenen Regeln des kollektiven Zeitgeistes verletzt hatte. Ich fühlte das vage, aber wie gesagt: Es trübte meine Freude nicht.

Ein paar Jahre später wurde er als bundesweit zur Fahndung ausgeschriebenes Mitglied der linksextremistischen Terrorgruppe „Bewegung 2. Juni“ bei einer Schießerei erschossen; seine Leidenschaft für Schach, die ich von ihm übernehmen sollte, war möglicherweise vor seinem Tod auch im Untergrund nicht völlig erkaltet: Gerüchten zufolge – ich selbst kann mich nicht mehr erinnern –, bemerkte ich im Zusammenhang mit der Lorentz-Entführung angesichts irgendeines Pressefotos, wo ein Schachbrett mit ein paar ausgeführten Zügen zu sehen war, daß Philipp immer diese Eröffnung gegen mich gespielt habe.

Dann gab es eine Tür, hinter der Thomas, der Sohn eines sehr berühmten Psychologenpaares, mir eines Tages einen strengen Briefes schrieb: Ich hatte aus dem gemeinschaftlichen Kühlschrank entweder zuviel Streichkäse oder zuviel Marmelade genommen, jenseits meines fairen Anteils und auf Brot geschmiert; und wurde damit konfrontiert, daß Kinder in Vietnam, mitten im sogenannten Befreiungskampf gegen die sogenannte imperialistische USA – Gut und Böse war kitschig klar zugewiesen –, von einer Handvoll Reis leben müssen. Der Zusammenhang muß der gewesen sein, daß mein „asoziales“ Verhalten die „Weltrevolution“ gefährde, da man sich ja auf mich im Zweifelsfall nicht wirklich verlassen könne. Dazu habe ich ein mildes aber vorwurfsvolles Lächeln von ihm vor Augen, als wir „über den Brief“ redeten.

Seine Begründung perlte zwar an meinen recht gesunden geistigen Instinkten schon damals als nicht wirklich ernstzunehmen ab, aber dennoch injizierten die Worte das Gefühl von tiefer Schuld und Scham in mich. Ähnlich wie der abschätzige Blick jenes anderen Mannes, weil ich keine Lust auf Sex mit ihm und seiner Freundin hatte.

Ich erinnere mich, wie ich damals manchmal auf meinen besten Freund neidisch war, der in einer „normalen“ Familie lebte und dem sein Stiefvater, ein Bauarbeiter, in der Abenddämmerung einen Schneidezahn auf der Wiese im Park ausschlug, weil er noch nicht nach Hause gekommen war und seine Mutter sich Sorgen machte. Es war so persönlich und direkt, zwar auch nicht wirklich lustig, aber ich hatte bei einem Fehltritt oder einer Weigerung immer gleich das Elend des ganzen politischen Planeten am Hals oder unausgesprochene Verachtung. Denn natürlich wollte ich auch gemocht werden.

Mein Lieblingszimmer war sicher das hinter meiner eigenen Tür. Vor einer selbstgebauten Staffelei malte ich oft mit Ölfarben auf Leinwände und versank völlig in dieser Beschäftigung. Als ein Freund mich einmal besuchte und zum Fußballspielen abholen wollte, hatte ich wegen meiner Malerei „keine Zeit“. Seine ernst ausgesprochenen Worte waren prophetisch, eigentlich erstaunlich für einen zehnjährigen Jungen: „Du wirst später wenig Freunde haben!“

Dieser Rückzugsort war jedoch nur eine temporäre Oase, der kollektiven Zeitgeist ließ sich von der Tür eines Kinderzimmers natürlich nicht aufhalten. Ich erinnere mich an einen ersten Mai, wo alle Mitbewohner vormittags zur Demonstration ausrückten. Ich nicht, ich verkroch mich mit einem Picasso-Bildband im Bett. Ich glaube, ich hatte im Buch das Bild: „Mädchen mit Taube“ aufgeschlagen – es waren oft die einsamen, realistisch gemalten Gestalten aus Picassos früheren Jahren, die mich berührten –, als der damalige Freund meiner Mutter hereinkam und mich überreden wollte, sich aufs Bett hockend, zur Demo mitzukommen.

Ich ließ mich nicht überreden, verschanzte mich hinter einem sturen „keine Lust“-Mantra; was zwar auch nicht gelogen war, aber doch den wahren Grund verdeckte, den ich aus Stolz nicht zugeben wollte: Nämlich die Angst, vielleicht wieder zwischen den Pferdebeinen der berittenen Polizei herumzuirren, die damals auch mit dem Schlagstock nicht zimperlich war. Zudem hatte mich bei dieser einen erlebten Demonstration – gegen den Schah aus Persien, glaube ich – sowohl das laute Parolengeschrei der Demonstranten als auch die haßerfüllten Kommentare der beobachtenden Bevölkerung am Straßenrand zutiefst verunsichert. Als ich dann desorientiert zwischen die Front von Polizisten und Demonstranten, mitten zwischen „die Guten“ und „die Bösen“ geraten war, weil meine Mutter und ihre Freunde mich für Minuten irgendwie im Getümmel verloren hatten, hatte mein Unbewußtes offenbar für alle Zeiten entschieden, daß Demonstrationen von Übel für mich seien.

Ich folgte an jenem ersten Mai dem Instinkt meines Unbewußten, durchaus auch angstgesteuert und blieb zuhause, der Demonstration fern. Auch wenn es mir weitere distanzierte Blicke einbrachte: Denn ein Junge, der am Ersten Mai nicht auf die Straße ging, war offenbar nicht mit dem Herzen beim sozialistischen Kollektiv, von der Weltrevolution zu schweigen. Interessant allerdings ist es schon, daß selbst ein Kind, innerhalb seiner Grenzen natürlich, durchaus imstande dazu ist, sich Gruppendruck zu widersetzen und seiner inneren Stimme zu folgen.