Fern der Masken - Silvo Lahtela - E-Book

Fern der Masken E-Book

Silvo Lahtela

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Beschreibung

"Fern der Masken" erzählt von Zeitgenossen, deren gewohntes Leben ohne Vorwarnung eine existentielle Wende nimmt. Männer und Frauen aus unterschiedlichen modernen Milieus (aus der Welt der Werbung, der Musik, der Prostitution usw.) werden mitten im Alltag damit konfrontiert, daß ihr normales Verhalten für ein sinnvolles Leben nicht mehr hinreichend ist. Statt sich vor dem Konflikt zu drücken, stellen sie sich ihm. "Fern der Masken", lokalisiert in Berlin während des ersten Corona-Lockdowns, handelt storyübergreifend von jener Energie des Unbewußten, bei der sich zuerst die Wahrnehmung der Realität und dann durch Action diese selbst verändert. Die Geschichten selbst haben immer einen widerspenstigen rohen Kern, sei es Eifersucht, Geldgeilheit, Alkoholabhängigkeit, Fanatismus. Sie sind also ohne Berührungsängste mit jeder Art von Wirklichkeit. Allerdings transzendieren die Personen, sei es ein Yogi, eine Köchin oder auch ein Zahnarzt, ihre jeweiligen Konditionierungen durch eine andere und offenere Art der Wahrnehmung. Diese Befreiung von Zwängen und Automatismen des Verhaltens ist das durchziehende Thema von "Fern der Masken". Die Storys stehen zwar auch für sich alleine, bilden aber wie einzelne und oft weit voneinander entfernte Knotenpunkte ein großes Netz. Strukturell, weil auf einen Tag in Berlin verdichtet und untergründig miteinander verbunden, handelt es sich um einen Roman aus Kurzgeschichten.

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Pressestimmen

„Getrieben von den alten Fragen Thomas Manns – ,Wie bricht man durch? Wie kommt man ins Freie? Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling?‘ – , geht es ihm vor allem um eine Option auf Überschreitung: einfach heraustreten aus dem Geschaffe.“

Die Zeit über Zeichendämmerung

„Ein schonungsloser und eisiger Thriller.“

Le Monde über AlpTraumTerror

„Jede, wirklich jede dieser Geschichten verdient den Preis, den der Regisseur für sie ausgibt. (...) Sprachakrobatik ohne Fallnetz ist das. Das Besondere im Allgemeinen, das Prinzipielle im Außerordentlichen.“

Süddeutsche Zeitung über Letzte Obsession

„Doch sein Logbuch eines Dichters, das er nach Kriterien wie die Einsamen, die Getriebenen, die Demütigen oder die Hoffnungsvollen unterteilt, ist keine strenge Dokumentation. Vielmehr sind es künstlerische Verdichtungen.“

Fokus über Nachtfahrten

eine organic language unknown TM

Veröffentlichung

Inhalt

1 Drachenberg

2 Das Hannah-Video

3 Der Werber

4 „Würze nach dem Geschmack deines Herzens“

5 All In, All Out

6 Flow

7 Zähne lügen nicht

8 Oneworld

9 Patanjalis Geist

„Das Bewußtsein läßt sich dressieren wie ein Papagei, nicht aber das Unbewußte.“

C.G. Jung Psychologie und Alchemie

1 Drachenberg

Die Straßen waren auch zu Berufsverkehrszeiten wie leergefegt, eine für eine geschäftige Millionenstadt gespenstische Ruhe hatte sich am Anfang des Lockdowns über Berlin gelegt. Die Leute wurden von Staats wegen angewiesen, möglichst zuhause zu bleiben und nur überlebensnotwendige Besuche und Einkäufe zu tätigen.

Weil die allermeisten Zeitgenossen kein medizinisches Wissen über den sogenannten Corona-Virus vorweisen konnten, aber andererseits die liebsten und nächsten Menschen nicht wie bei der mittelalterlichen Pest für alle sichtbar Tag und Nacht dahingerafft wurden, war im globalen Maßstab die Situation eingetreten, daß nicht echte Erfahrungen, sondern durch Medien gefilterte Vorstellungen, letztlich klassisches Hörensagen, das Bewußtsein der Leute prägten. Nüchtern betrachtet, schienen die oft felsenfesten Meinungen und geschürten Todesängste über die Atemwegserkrankung mindestens so infektiös wie der ursprüngliche Virus selbst zu sein. Wie auch immer irgendwann das objektive Urteil über die wirkliche Gefährlichkeit des für menschliche Augen unsichtbaren Erregers ausfallen würde, eine Pandemie des Bewußtseins lag mit Sicherheit schon vor.

Für Jamie Lanzaman, einen jungen Mann aus den USA, der sich in Berlin als Yogalehrer durchschlug, war der Lockdown und seine Folgen eher eine Art Hintergrundrauschen. Zwar den Alltag störend wie das Summen einer Mücke in der Nacht, aber nicht existenzgefährdend. Denn obwohl die Yogaschule, wo er angestellt war, ihren normalen Betrieb wie alle körperlich orientierten Veranstaltungen – seien es Fitnessstudios, Saunen, Bordelle – hatte einstellen müssen, boomten seine „Zoom“-Klassen. Yogaklassen, wo er im leeren Studio vor einer Kamera die Übungen online vorturnte, während zuhause die Schüler an ihren Computern und auf ihren Matten seine Bewegungen live verfolgten und so gut es ging imitierten.

Jamies wirkliche Herausforderung hatte im Augenblick allerdings nichts mit der allgemeinen Weltlage zu tun, sondern war eine ukrainische Studentin Mitte zwanzig, die ihn innerlich völlig verrückt machte. Nicht deswegen, weil Lana Tereschtschenko eine ziemliche Schönheit war. Körperlich attraktiv war er selbst, das beeindruckte ihn nicht. Und auch der Sex mit ihr war eher bescheiden, er hatte Aufregenderes erlebt. Aber wenn sie „Jamie“ in sein Ohr hauchte und ihm zärtlich durch die Haare strich, schmolz er auf eine völlig wehrlose Weise dahin und spürte eine schockartig ungewohnte Geborgenheit. Verbrachte sie manchmal die Nacht mit ihm, schlief er in ihrer Gegenwart wie ein Baby, fest und tief, wie seit Jahren nicht mehr.

Das Problem war, daß diese symbiotische Nähe, die Lana mit einem Blick oder einer Geste erzeugte – wie ein Zauberer ein Kaninchen aus dem Zylinder, magisch und routiniert gleichermaßen –, jederzeit unvermittelt und unberechenbar in totale Distanzierung umschlagen konnte.

Einerseits hatte sie im zurückliegenden Winter, kurz bevor die Angst vor dem Coronavirus touristische Fernreisen völlig lahmlegte, spontan einen Flug von Berlin nach Goa gebucht. Immerhin ein Trip um die halbe Welt, nur um ihn ein paar Tage lang zu küssen und geküßt zu werden. Er hatte dort an Indiens Westküste einem bekannten Lehrer bei einem Yoga Retreat assistiert. Andererseits hatte sie heute Morgen, im nüchternen Berlin, während er sich schlaftrunken im Bett räkelte, seinen nackten Körper fotografiert und dieses Bild wie eine Trophäe an jenen Mann gepostet, mit dem sie seit einigen Jahren in einer On/Off-Beziehung verstrickt war. Um dann praktisch im gleichen seelischen Atemzug Jamie zu eröffnen, daß es ein großer Fehler gewesen sei, daß sie jemals mit ihm geschlafen habe. Denn erstens liebe sie ihn überhaupt nicht und zweitens in Wahrheit einen anderen. Eben jenen, dem sie das dokumentierende Foto ihrer Untreue geschickt hatte.

Dieser Mann, Alexander Schneider, war deutlich älter als Jamie, finanziell in einer völlig anderen Liga spielend; ein erfolgreicher Makler, in vielerlei Hinsicht das krasse Gegenmodell zu ihrem jüngeren Liebhaber: Statt Vegetarier und Stammkunde im Bioladen zu sein, ging er auf seinem Landsitz auf Wildschweinjagd und lagerte in einer großen Tiefkühltruhe die erlegte Beute zur spontanen Verwendung ein. Statt Marihuana wie Jamie zu rauchen, trank er Alkohol; statt Spiritualität und Körperbewußtsein interessierte ihn Gewinn und schnelle Befriedigung. Der Sex mit ihm war meistens nach ein paar Minuten vorbei.

Was nichts daran änderte, daß Lana Alexander letztlich ernster als Jamie nahm. Vielleicht aufgrund ihrer slawischen Wurzeln, denen grundsätzlich ein Säufer näher war als ein Kiffer. Die coole Entspanntheit von Leuten, die Dope geraucht hatten, kam ihr immer surreal und künstlich vor, während die emotionalen Ausbrüche von Betrunkenen zwar oft unschön waren, aber dafür authentisch. Und sicher spielte es eine Rolle, daß Alexander ihr Urlaube rund um die Welt in Luxushotels spendierte. Sie war sich bewußt, daß sein Interesse stark durch ihre Attraktivität befeuert wurde. Sie war eine schöne Frau und sie wußte es. Und Alexander wußte es natürlich auch; er war ein statusbewußter Mann und sie war die perfekte Freundin zum Vorzeigen. Mit Liebe hatte das alles weniger zu tun als mit Sicherheit; deswegen brach sie immer wieder mit leidenschaftlichen Affären aus dieser auf Kalkül aufgebauten Beziehung aus. Daß sie sogar ein Nacktbild von Jamie an Alexander schickte, war eine Spiegelung ihres Zerrissenseins. Weil sie selbst eine Trophäe war, machte sie ihrerseits ihren Geliebten unbewußt zur Trophäe.

Um ernüchtert innerlich festzustellen, wie jetzt mit Jamie, daß Leidenschaft auch nicht alles war. Was dann zu der Szene heute Morgen führte, wo sie ihm eröffnete, daß er zwar ein toller Liebhaber sei, ein echter Sexgott sogar, aber es nie etwas mit ihnen beiden werden würde. Mit welchen Worten sie seine Wohnung verlassen hatte. Spätestens in ein paar Tagen würde sie ihn vermutlich anrufen, ihm eine Nachricht schreiben oder wieder vor seiner Tür stehen. Und er würde wieder dahinschmelzen und das unbefriedigende Spiel würde von vorne losgehen.

Lanas derart krass zwischen Innigkeit und Ablehnung schwankendes Verhalten ließ keine wirkliche Harmonie aufkommen; und Jamies Freunde rieten ihm alle, endlich konsequent die Finger von ihr zu lassen. Oder kamen mit teilweise krassen Ratschlägen, die selbst völlig gestört waren, wie etwa, sie „in den Arsch zu ficken, dann würde sie verstehen.“ Es schlummerte eine Gewalttätigkeit in sogenannt normalen Menschen, die Jamie manchmal erschreckte.

Jenseits von solchen zutiefst neurotischen Ausreißern war der allgemeine Tenor, daß sie ihm nicht guttue. Daß sie zudem wie heute geschehen ohne Erlaubnis intime Fotos von ihm verschickte, sei ein extremer Vertrauensbruch, manipulativ und rücksichtslos.

Was alles stimmte; man mußte weder Psychologie noch Jura studiert haben, um Lana als gestört zu empfinden. Und doch blieb die Tatsache bestehen, daß sie nur seinen Namen zu flüstern, ihm nur für eine Sekunde tief in die Augen schauen brauchte und er von kritikloser Zuneigung für sie überschwemmt wurde. Als würde sich ein ausgewachsener Wolf auf eine mysteriöse Weise wieder in einen bedürftigen und anhänglichen Welpen verwandeln, so kam er sich in ihrer Gegenwart vor.

Was seine gutmeinenden Freunde nicht verstanden, war, daß immer zwei zum Tango gehörten: Nicht nur Lana, sondern er selbst mußte im Kern seines Charakters völlig außer Balance sein. Sonst könnte sie niemals eine solche Macht über ihn haben. Es war eine schockierende Einsicht; denn es bedeutete, daß seine körperlich sehr fortgeschrittene und tägliche Yogapraxis – zirkusreife Rückbeugen, Handstände, Atemübungen – keineswegs mit den Muskeln und Nerven auch automatisch die Tiefen seiner Psyche optimiert hatte.

Als Lana heute Morgen einen ihrer so typischen neurotischen Auftritte hatte, dem er aber nichts entgegenzusetzen wußte, dämmerte ihm diese Kluft seines Lebens: Sein nahezu perfekt austrainierter Body beherbergte in einer versteckten Ecke eine ausgemergelte und hilflose Seele. Für ihn als leidenschaftlichen Yogi, der doch die Einheit von Körper und Geist und Psyche praktisch als Business betrieb, öffentlich als Markenkern seines spirituellen Ein-Mann Start-up Unternehmens: Yogalehrer, präsentierte, war das Auseinanderdriften seiner Person in einen äußerlich starken und innerlich schwächlichen Teil erschreckend.

Der Wunsch, diesen Zustand zu ändern, wurde übermächtig in ihm. Und zwar sofort. Er wußte natürlich, daß tiefgreifende Veränderungen normalerweise Zeit brauchten. Wer steif in den Hüften war, wurde niemals über Nacht gelenkig. Und es hatte einen Grund, daß von Krankenkassen bezahlte Psychotherapien sich oft mehrere Jahre, wenn nicht sogar Dekaden lang hinzogen. Trotz alldem war der entscheidende Moment auch für fernste Reisen, sei es zum Mond oder zum wahren Selbst, immer der erste, konkrete und gegenwärtige Schritt aus dem heimatlichen Haus. Ob man Yoga oder Musik oder sonst was machen wollte: Ohne im Hier und Jetzt die Matte auszurollen, das Instrument in die Hand zu nehmen, blieben alle großartigen Ideen letztlich nur sterile Einbildungen.

Und dann gab es ja noch Buddha. Unter all den vielen Anekdoten, die seit weit über zweitausend Jahren im spirituellen Volksmund im Umlauf waren, hatte sich in Jamies Gedächtnis speziell diese abgespeichert: Daß Buddha sich eines Tages mit der Absicht unter einen Baum gesetzt hatte, solange zu meditieren, bis er Erleuchtung gefunden hatte, also erst dann wieder aufzustehen. Jamie hatte vergessen, wie lange er der Legende nach unter der später deswegen berühmt gewordenen Pappelfeige gesessen hatte. Ob eine Nacht, eine Woche oder sogar sieben Wochen. Aber selbst Letzteres wäre kürzer als die normalen Sommerferien in den USA, – und gemessen am Ergebnis, an der allumfassenden Einsicht in das Wesen der Dinge zeitlich ein Klacks.

Livegestreamt im Internet hätte er heutzutage bestimmt Abermillionen von Abonnenten und Followern mit dieser Aktion generiert. Aber möglicherweise wäre dann der weltumfassende Geistesblitz ausgeblieben. Echte Versenkung und extreme Öffentlichkeit dürften schon damals schwer unter einen Hut gepaßt haben. Andererseits, was manche Popstars schafften, die sich die Seele aus dem Leib sangen, authentische Präsenz gerade bei großen Live-Auftritten zeigten, dürfte eigentlich auch für Buddha kein Problem gewesen sein.

Wie auch immer, inspiriert von dieser historischen Legende entschied Jamie sich an diesem Dienstag, seinem unterrichtsfreien Tag, Buddha zu imitieren. Es gab einen kleinen, aus Trümmern aufgeschütteten Berg in Berlin, auf dessen Plateau im Herbst die Menschen Drachen steigen ließen; deswegen Drachenberg genannt, der aber nur mit etwas Kletterei über steile Treppen zugänglich war und daher jetzt im Frühling und bei leichtem Regen nicht besonders besucht sein dürfte. Dort, die Stadt panoramamäßig im Blick, mit dem Funkturm vor der Nase und dem Fernsehturm am Alexanderplatz im Osten am Horizont, würde er heute solange meditieren, bis sich die Nebel um Lana gelichtet hatten.

Im Unterschied zu seinem Vorbild würde er allerdings nicht spirituell All In gehen; statt sieben Wochen oder gar länger betrug sein anvisiertes Zeitfenster höchstens eine Handvoll Stunden. Es war jetzt früher Abend, bis Mitternacht würde er sich Zeit geben. Was ihm für einen wahrheitssuchenden Amateur – der am nächsten Tag arbeiten mußte, auch Yogalehrer mußten Miete und Flatrates fürs Handy zahlen – schon lange genug schien, die meisten Menschen konnten nicht einmal für fünf Minuten stillsitzen. Zudem er ja nicht vom Willen zu globaler Erleuchtung umgetrieben wurde, vom sagenumwobenen Nirwana, sondern er nur den lähmenden Bann brechen wollte, den eine gleichermaßen warmherzige wie eiskalte Blondine auf ihn ausübte.

Er packte ein halbmondförmiges kleines Meditationskissen in seinen Rucksack, füllte eine Thermoskanne mit heißem Wasser, das er später für grünen Tee verwenden wollte. Er verließ die Wohnung, entriegelte sein Fahrrad vor der Tür und machte sich auf den Weg quer durch die Stadt vom Prenzlauer Berg zum Drachenberg im Berliner Westen. Eine weite Strecke, aber durch den Lockdown muteten die Hauptstraßen sogar im Berufsverkehr dörflich leer an; und Fahrradfahren ohne die übliche Meute von aggressiven Autofahrern machte das erste Mal richtig Spaß in Berlin.

Daß er für seine ungeplante psychische Befreiungsaktion dem hippen Szenebezirk, mit der gefühlt höchsten Dichte an Yogis und Yogaschulen in Berlin, den Rücken kehrte und einen Ort aufsucht, der so gar nicht im Fokus lag, nahm er als Wink des Schicksals, nirgendwo dazuzugehören. Als spirituell Suchender weder zur Yogaszene, als Mann weder zu Lana, als Amerikaner weder zu Deutschland; witzigerweise befand sich gegenüber vom Drachenberg auf dem sogenannten Teufelsberg die ehemalige Abhörstation der US-Streitkräfte. Die Realität war so unentwirrbar mit unendlichen Inhalten verknäult und rückgekoppelt, daß Jamie sich nicht darüber wunderte, daß ihm und vielen anderen der echte Durchblick fehlte.

Nach einer Dreiviertelstunde Radeln erreichte er den Parkplatz am Fuße des Drachenbergs. Es war geographisch eine eigenartige Ecke. Einerseits zog nördlich eine der größten Hauptverkehrsstraßen von Ost nach West eine mehrspurige Schneise durch die Stadt; andererseits breitete sich südlich von hier der Grunewald aus, ein vergleichsweise großes Waldgebiet, das Berlin, wenn man es von der Vogelperspektive wahrnahm, zum Beispiel mit dem Flugzeug im Landeanflug war, einen Hauch von Naturschutzgebiet gab. Ein von Enge und Hektik befreiter Horizont, den man etwa in den unterirdischen Katakomben des U-Bahnhofs Alexanderplatz, wo herumschlurfende Obdachlose und eilende Passanten das Bild dominierten, völlig aus den Augen verlieren konnte.

Das Radfahren im Nieselregen hatte seine Bermuda-Shorts und seine Kapuzenjacke durchnäßt; was eine erste Herausforderung für sein Vorhaben darstellte. Wäre er nicht kerngesund, wäre die Chance groß gewesen, daß er sich eine Erkältung einfinge, wenn er mit feuchter Kleidung länger als eine Viertelstunde bei Wind und Wetter auf einem Berg sitzen würde. Von irgendwelchen vagabundierenden und Zuflucht suchenden Corona-Viren ganz zu schweigen. Aber einer der objektiven und wissenschaftlich längst bestätigten Vorteile einer regelmäßigen Yogapraxis war ein hervorragendes Immunsystem. Letztendlich war dieser gesundheitliche Effekt der Grund, warum die körperlichen Übungen des Yoga traditionell überhaupt als notwendig für die spirituelle Entwicklung betrachtet worden waren. Wer zu sehr von Zipperlein oder echten Krankheiten geplagt war, wurde dadurch meistens sorgenvoll abgelenkt und konnte sich dann nur schwer auf Anderes konzentrieren.

Transzendenz oder Spiritualität oder wie immer man die Neigung des Menschen nach einer Wahrheit nennen mochte, die den subjektiven Horizont überstieg, ein solches Streben wurde durch Fitness eher gefördert als geblockt. Umso mehr, weil die yogische Vitalisierung des Köpers von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen die Erkenntnis der Vergänglichkeit dieses pulsierenden Phänomens aus Haut, Blut und Knochen einschloß. So daß gerade das Bewußtsein des Körpers ihn transzendierte, wahre Gesundheit sich paradoxerweise mit dem Tod duzte. Während umgekehrt eine kränkliche Gesellschaft, durch steigende und hohe Krankenkassenbeiträge charakterisiert, den Tod ängstlich verdrängte und meist von Religiosität nichts wissen wollte. Und deswegen Fitness und Gesundheit hysterisch als Selbstzweck überhöhte und gerade dadurch Yoga völlig mißverstand.

Als Jamie jetzt die steilen Stufen zum Plateau des Drachenbergs hochstieg, reflektierte er derartige Dinge natürlich nicht. Wer im Augenblick agierte, konzentrierte sich eben genau auf diesen Augenblick. Sonst könnte man selten überhaupt einen Fuß vor den anderen setzen, ohne zu stolpern.

Eine der praktischen Auswirkungen seiner über zehnjährigen täglichen Yogapraxis war, vor körperlichen Herausforderungen aller Art – wie etwa der, mit nasser Kleidung zu meditieren – kaum mehr Angst zu haben. Ohne diese entwickelte Angstlosigkeit hätte vermutlich allein der Nieselregen ausgereicht, um von seinem Vorhaben Abstand zu nehmen. Sogenannte vernünftige Menschen meditierten nicht bei Regen im Freien, wenn überhaupt jemals.

So aber stand er auf der flachen Gipfelebene des kleinen Berges, in hundert Meter Höhe und hatte einen Panoramablick über Berlin bei beginnender Abenddämmerung. Tief im Osten der Fernsehturm, im Süden der Grunewald; im Norden einen Katzensprung entfernt das Olympiastadion; im Westen die Havel und der Außenbezirk Spandau, wo die orangerote Sonne hinter Wolkenbergen unterging und einen augenschmeichelnden Regenbogen erzeugte. Es war letztlich nur eine Großstadt, aber von dort oben aus betrachtet war es die ganze sichtbare Welt und daher seltsam faszinierend. Ein bißchen, als würde man wie Zeus auf dem Olymp sitzen und auf die Sterblichen herabschauen.

Er holte das Smartphone aus der Brusttasche seines Hoodies, um es stumm zu schalten. Der Bildschirm war wie immer voll von rot markierten neuen Nachrichten; kontaktfreudige Freunde auf der ganzen Welt tippten und klickten sich wie er selbst in den sozialen Medien rund um die Uhr die Finger wund, um aktuelle News aus ihren Leben zu erzählen. Eine kommunikative Endlosschleife, ein psychischer Dauerregen. Als sei der frühere Smalltalk von Angesicht zu Angesicht – sei es auf einer Party, bei einem Date oder während einer Zugreise – durch das Internet abertausendfach verstärkt worden. Das Wesen der Leute, ihre Neurosen und Talente, hatte sich dadurch natürlich nicht verändert, aber die Reichweite ihrer persönlichen Ansichten schon. Wer je eine elektrische Gitarre an einen potenten Verstärker angeschlossen hatte und dabei erlebte, daß man, statt in bescheidener Zimmerlautstärke Musik zu machen, plötzlich mit einem simplen Powerakkord Hörern in die Beine fahren und im Prinzip ein ganzes Stadion beschallen konnte, verstand die verführerische Anziehungskraft von Facebook, Instagram, Twitter und wie die geselligen digitalen Plattformen alle hießen, sofort. Jedes von sich berauschte Ego, und diesem Rausch frönten schließlich die meisten Menschen, konnte sich dank der neuen Technologie weltweit Gehör verschaffen, jederzeit und überall.

Jamie schaltete das süchtigmachende Gerät auf stumm und die Vibration aus; wenn er heute Buddhas Beispiel folgen wollte, mußte er psychisch offline gehen, bleiben und sein; keine Ablenkung, keine Bespiegelung, keine Bestätigung durch andere, echte Meditation eben.

Er suchte sich einen Platz auf dem Sandboden, zunächst seltsam reflexartig mit Blick Richtung Osten; vermutlich weil irgendwo dort im Häusermeer am Horizont seine Wohnung lag und die Augen gerne nach Vertrautem Ausschau hielten. Aber dann änderte er die Position und drehte sich um. Immerhin ging im Westen gerade die Sonne unter; und sich nur eine instinktive Sekunde lang von diesem Schauspiel abgewendet zu haben, weil der östliche Horizont ihm vertrauter vorkam, schien ihm ein aufblitzendes Zeichen seiner neurotischen Gestörtheit zu sein. Sich von der Sonne abzuwenden, mußte falsch sein, immer.

Meditation bedeutete entgegen der landläufigen Meinung kein verträumtes Wegdriften aus dem Hier und Jetzt, sondern im Gegenteil das bewußte Andocken in der Gegenwart. Es spielte so gesehen schon eine Rolle, was die Augen sahen. Einmal hatte Jamie kurz nach Sonnenaufgang am Spreeufer meditiert und plötzlich eine Wespe wahrgenommen, die direkt vor ihm in den Fluß gefallen war und hilflos mit den Flügeln rotierte, dem Ertrinken nahe. Er hatte einen längeren Grashalm vom Boden abgezupft und ihn ins Wasser gehalten, so daß sie dort Halt fand und er sie vorsichtig zum rettenden Ufer heben konnte. Meditation bedeutete ja auch nicht, Wesen beim Sterben gleichmütig zuzusehen. Am Ende waren es ganz sicher nicht der Lotussitz oder buddhistische Mönchsroben oder oft besuchte Vipassana-Meditationsworkshops, die Menschen innerlich berührten oder den Dalai Lama zum Lächeln brachten, sondern solche alltäglichen Aufmerksamkeiten.

Wenn manche Zen-Mönche sich stattdessen zum Meditieren direkt vor eine Mauer setzten, so war dies eher eine Anfängertechnik, um sich von Äußerlichkeiten nicht ablenken zu lassen. Hatte man aber die grundsätzliche Fähigkeit der Konzentration erworben und war nicht mehr von jedem vorüberfliegenden Gedanken abgelenkt, konnte man selbstverständlich statt im Kellerloch auf einem Berggipfel meditieren. Sei dieser auch nur hundert Meter über dem Meeresspiegel gelegen. Die Luft war frischer, der Horizont weiter und Erlösung hoffentlich näher.

Denn für sein Problem mit Lana brauchte er einen weiten Horizont. Persönlich verengte Gedanken hatte er genug. Es fing schon mit der Optik an: Es war kein Zufall, daß Lana nebenbei als Model arbeitete und auch nach strengen Maßstäben beurteilt, eine echte Schönheit war. Jamie war unbewußt offenbar darauf konditioniert, nur auf solche Frauen sexuell zu reagieren, die im landläufigen Sinn mindestens hübsch, besser noch objektiv schön waren. Diese Unterscheidung gab es, es hatte etwas mit den Proportionen des Gesichts und des Körpers zu tun, nichts mit Schminke oder Kleidung.

Als gefragter Yogalehrer saß er an der Quelle: Ein ununterbrochener Strom von Frauen auf der Suche nach sich selbst oder nach dem perfekten Körper, meistens sogar nach beidem, zog an ihm vorüber. Wie Lachse, die zum Laichen vom unendlichen Meer kommend flußaufwärts in die Tatzen eines Bären schwammen. Er brauchte meistens nur zuzugreifen, ein Lächeln war oft schon genug und er hatte schnell irgendeine Hübsche an der Hand und im Bett.

Daß ihm bei dieser großen Auswahl irgendwann eine Frau über den Weg laufen würde, mit der er leben und Kinder haben wollte, war in seiner Vorstellung nur eine Frage der Zeit gewesen. Statt solch einer harmonischen Zukunftsvision war jetzt eine Frau wie Lana in seine Gegenwart geplatzt, spontan aggressiv, bei aller aufschimmernden Zärtlichkeit oft negativ und bitter bis in die Haarspitzen. Sie hatte ihm die versteckte dunkle Seite seines Sonnyboy-Daseins bewußt gemacht: Er wich den Schattenseiten der Menschen, inklusive seiner eigenen, offenbar aus. Wäre es anders, hätte er gewußt, wie er mit Lana, die eine Art personifizierter Schatten war, umzugehen hatte.

Er wußte es nicht; und er wußte auch nicht, ob Meditation helfen würde. Aber wenn nicht, war seine Yogapraxis im Grunde als reines Fitnessprogramm demaskiert und entwertet. Denn das angestrebte Ziel des Yoga, in allen historischen Schriften immer wieder erwähnt, war der völlig geklärte Geist, die Ruhe im Auge des Orkans, Balance im Strudel des Lebens: Samadhi genannt. Ein meditativer Zustand, mit der entscheidenden, die Spreu vom Weizen trennenden Bedingung, daß man dabei und dadurch die Fähigkeit besaß, alle auftauchenden Probleme fokussiert und wahrhaftig zu lösen. Ohne diese notwendige und einschüchternde Zusatzqualifikation war Yoga letztlich nur eine weitere der vielen Blendgranaten des kommerziellen Zeitgeistes.

Das psychologische Zentrum des historischen Yoga war so gesehen echte Coolness; durchaus mit James Bond Flair. Es ging bei seiner Meditation heute um weit mehr als nur um Lana: Es ging darum, ob Yoga, oder zumindest Jamies Version davon, überhaupt eine seriöse, dem realen Leben gewachsene Angelegenheit war.

Der Nieselregen hatte wenigstens aufgehört. Er nahm es als gutes Omen. Er setzte sich im Lotussitz auf sein kleines, weinrotes Halbmondkissen; es war mit Buchweizenschalen gefüllt, als Sitzunterlage angenehm flexibel und trotzdem stabil. Sein Plan war simpel: Er würde zunächst Lana vor seinem inneren Auge visualisieren, so exakt wie möglich, und zwar so, wie er sie von heute Morgen her in Erinnerung hatte. Auf diese Weise würde er sich zuerst mit der Oberfläche ihrer Erscheinung verbinden und dann hoffentlich von dort immer tiefer in ihre Realität eindringen. Und wenn er Glück hatte, würde ihm dabei ein echtes Licht aufgehen. Wissenschaftler, die beim Versuch, die Welt zu verstehen, Atome untersuchten und durch Teilchenbeschleuniger jagten, machten letztlich auch nichts anderes: Sie fokussierten sich auf ein Detail und drangen von dort immer tiefer und tiefer in die Materie ein. In ein Atom und nicht in eine Frau, aber das Prinzip und vielleicht auch das Scheitern war dasselbe.

Den eigenen Körper von Kopf bis Fuß zu scannen, war eine bekannte Technik beim Meditieren, um die flüchtige und zerstreute Aufmerksamkeit des alltäglichen Geistes auf die Gegenwart zu richten. Eine andere Person in der Vorstellung einem Bodyscan zu unterziehen, war ungewöhnlich – schon deswegen weil die meisten Zeitgenossen sich lieber mit sich selbst beschäftigten –, schien Jamie aber dem gleichen Ziel zu dienen: die Gegenwart der anderen Person wahrzunehmen und sich nicht in Phantasien über sie zu verlieren.

So ließ er Lanas Erscheinung in ihren Details vor seinem inneren Auge wiederauferstehen: Ihr dunkelblondes Haar, das in verspielten Strähnen über die Stirn fiel; ihre kleinen, aber kräftigen Füße; die beiden Grübchen oberhalb der Pobacken; ein Knutschfleck von ihm am Hals; eine lange Narbe am Arm von einem Fahrradunfall als Kind, die aber nicht entstellend wirkte, sondern wie ein kleines Tattoo oder ein Schönheitsfleck ihrem Körper eine zusätzlich Note hinzufügte, fast einen Hauch von Schicksal. Wie die harmonisch eigentlich unpassende, aber für echtes musikalisches Leben sorgende „Blue Note“ beim Jazz.

Jede dieser Visualisierungen, und sei es nur die Erinnerung an ihren hauchzarten Flaum am Nacken, war eine mentale Anstrengung. Aber gleichzeitig ein Puzzleteilchen, das Stück für Stück ein realistisches Abbild von Lana in seinem Kopf erzeugte. Und eine Distanzierung von seinen eigenen gemischten Gefühlen für sie bewirkte. Denn jemanden so wahrzunehmen, wie er oder sie wirklich war, bedeutete zumindest für den Moment eine Zurücknahme eigener Emotionen, da diese praktisch immer die Wirklichkeit verzerrten, sei es im Guten oder Bösen.

Diese Distanzierung von sich selbst machte für Jamie noch einmal einen Quantensprung, als er anfing, sich auf Lanas Gesicht, genauer auf ihre Augen zu konzentrieren. Noch genauer war es ihr rechtes Auge, denn echter Fokus war ja immer auf einen singulären Punkt ausgerichtet, tanzte visuell nicht auf zwei Hochzeiten.

Das Blau ihres Auges hatte die Dunkelheit von Meerestiefe und den Glanz eines Diamanten; und wie ein ferner Stern am Nachthimmel einem sensiblen Menschen gleichzeitig die Relativität des Irdischen und die Unfaßbarkeit des Lebens offenbaren konnte, erzeugte allein sein innerer Anblick von Lanas Auge in ihm eine sofortige und schockartige Bewußtseinsveränderung: Er realisierte, und er hatte noch nicht einmal fünf Minuten dafür meditieren müssen, daß Lanas Wesen nicht durch ihre Beziehung zueinander definiert wurde, sondern eine davon völlig unabhängige Bahn zog.

Es war eine einfache, aber keine banale Erkenntnis; denn die allermeisten Menschen definierten ihre Freunde und Liebsten und Nächsten eben dadurch, daß sie Freunde und Liebste und Nächste waren. Oder eben Feinde, Fremde oder Nervensägen. Aber genau diese Alltagssicht auf die Welt war das Ende aller Erkenntnis, da sie wie ein undurchdringlicher Schleier alles verdeckte, was jenseits des subjektiven Horizonts lag. Und das konnte eine Menge sein.

Tatsächlich wurde Jamie in jenem Moment, als er sich auf Lanas Auge konzentrierte, das wie ein Fernrohr ins Universum wirkte, klar, daß er die subjektive Wahrnehmung verlassen mußte, wenn er dieser Frau und überhaupt dem Leben gewachsen sein wollte. Eine Erkenntnis, die ihn selbst völlig überraschte und die er vielleicht eine halbe Stunde auf sich wirken ließ; im Lotussitz verharrend, die nach außen geöffneten Hände im Schoß übereinandergelegt, wobei die beiden Daumenspitzen sich berührten und ein Dreieck bildeten. Diese Handhaltung, das sogenannte Dhyana Mudra, fand man oft bei sitzenden Buddhastatuen. So seltsam es für westlich geprägte Menschen sein mochte, aber die Position der Hände beim Meditieren konnte sich im Zweifelsfall stärker auf das Bewußtsein auswirken als etwa die Lektüre eines Buches.

Seine klare Eingebung bedeutete eine Veränderung der alltäglichen Weltsicht; daß Lana beispielsweise ihre harmonisch ausgeprägten, vollen Lippen zu einem spöttischen Lächeln als Kommentar zu seinem Verhalten öffnete oder um sein Glied in den Mund zu nehmen, verlor bei der meditativen Betrachtung eben dieser ihrer Lippen jetzt jede dominante Bedeutung für ihn. Daß sie, allein in ihrer Wohnung auf eben den gleichen Lippen im Schlaf herumbiß, bis sie bluteten, weil sie einen Alptraum gehabt hatte, wie sie ihm einmal erzählte, gewann hingegen an Bedeutung. Es war der Wechsel von persönlicher zu unpersönlicher Wahrnehmung, den Jamie in diesen Minuten auf den Drachenberg erlebte. Auch wenn er äußerlich unbewegt auf dem Berliner Hügel saß, machte er eine spontane geistige Metamorphose durch. Eine innere Verwandlung, die visuell nicht abzubilden war. Obwohl sie paradoxerweise auf einer Visualisierung beruhte, nämlich seiner Erinnerung an Lanas Auge.

Jamie realisierte sofort, daß diese Verwandlung nicht fotografierbar war wie etwa das Ausschlüpfen einer Raupe zum Schmetterling oder das Meistern einer schwierigen Yogapose. Denn auch wenn er sein Smartphone für den Moment innerlich entsorgt hatte, verspürte er kurz den in Fleisch und Blut übergegangenen Reflex, die digitale Welt mittels Selfie über seine neuen Geistesblitze aufzuklären. Er war ja ein kommunikativer Typ und postete regelmäßig und gleichzeitig in vielen sozialen Medien allen möglichen Tiefsinn und Quatsch. Andererseits wußte er, daß in dem Moment, wo er dieser Versuchung nachgeben würde, die Meditation zu früh und unfertig vorbei gewesen wäre. Und so war er froh, daß es objektiv gar nichts Großartiges mit dem Smartphone zu fotografieren gab: Ein Mann saß meditierend auf einem Hügel, im Hintergrund das Panorama von Berlin bei Sonnenuntergang. Das war atmosphärisch zwar schick, aber sonst als gepostetes Bild nach seinen Standards nichts Besonderes.

Das Wesentliche schien unsichtbar in seinem Kopf zu passieren; Jamie ahnte, daß er noch ein blutiger Anfänger darin war, die Welt nicht aus dem subjektiven Krähwinkel wahrzunehmen. Und die Welt war ja nicht nur die Welt der anderen, sondern auch seine eigene. Das hieß, es ging darum, auch sich selbst ohne gewohnte Scheuklappen, mit neuen Augen zu sehen. Sein Problem mit Lana, daß sie ihn immer mit einem Lächeln sofort um den Finger wickeln konnte, obwohl sie ihn einen Moment vorher brutal vor den Kopf gestoßen hatte, war vielleicht gar keine Macke und Schwäche von ihm, sondern hatte einen Grund, der jenseits seines persönlichen Charakters lag. So wie ein Sturm, der ein Boot zum Kentern bringt, nicht durch das Boot verursacht ist.

Während er derart in inneren Reflexionen abtauchte, stand die äußere Welt nicht still und nahm ihren eigenen Lauf: Lana hatte inzwischen Gewissensbisse, weil sie ohne seine Zustimmung ein Nacktfoto von Jamie ihrem anderen Geliebten Alexander geschickt hatte. Sie wollte sich dafür bei Jamie entschuldigen, aber er reagierte weder auf Textnachrichten noch Telefonanrufe.

Allerdings konnte sie ihn auf ihrer digitalen Freundesliste „tracken“, das hieß, ein roter vibrierender Punkt zeigte auf dem virtuellen Berliner Stadtplan ihres Handys den Standort seines Smartphones an: den Drachenberg im Berliner Westen. Wikipedia gab ihr noch mehr Information über den Ort. Da der markierende Punkt sich nicht bewegte, schlußfolgerte sie, daß er vielleicht länger dort verweilen würde. Sie kannte die Location zwar überhaupt nicht, aber sie kannte Jamie: Wenn er sich schon auf einen Hügel am anderen Ende der Stadt begab, sah es ihm durchaus ähnlich, dort zugekifft die Nacht zu verbringen. Sei es aus Abenteuerlust, sei es aus Enttäuschung über ihr Verhalten.