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Zwei Tage nach dem Fall der Mauer verlassen Inge und Walter Bischoff ihr altes Leben – die Wohnung, den Garten, ihre Arbeit und das Land. Ihre Reise führt die beiden Fünfzigjährigen weit hinaus: Über Notaufnahmelager und Durchgangswohnheime folgen sie einem lange gehegten Traum, einem »Lebensgeheimnis«, von dem selbst ihr Sohn Carl nichts weiß. Carl wiederum, der den Auftrag verweigert, das elterliche Erbe zu übernehmen, flieht nach Berlin. Er lebt auf der Straße, bis er in den Kreis des »klugen Rudels« aufgenommen wird, einer Gruppe junger Frauen und Männer, die dunkle Geschäfte, einen Guerillakampf um leerstehende Häuser und die Kellerkneipe Assel betreibt. Im U-Boot der Assel schlingert Carl durch das archaische Chaos der Nachwendezeit, immer in der Hoffnung, Effi wiederzusehen, »die einzige Frau, in die er je verliebt gewesen war«.
Ein Panorama der ersten Nachwendejahre in Ost und West, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse: Nach dem prämierten Bestseller Kruso führt Lutz Seiler die Geschichte in zwei großen Erzählbögen fort – in einem Roadtrip, der seine Bahn um den halben Erdball zieht, und in einem Berlin-Roman, der uns die ersten Tage einer neuen Welt vor Augen führt. Und ganz nebenbei wird die Geschichte einer Familie erzählt, die der Herbst 89 sprengt und die nun versuchen muss, neu zueinander zu finden.
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Seitenzahl: 701
Lutz Seiler
Stern111
Roman
Suhrkamp
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eBook Berlin
Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5130.
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagfoto: Regina Göllner
eISBN 978-3-518-76477-0
www.suhrkamp.de
»Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen.«
Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Meinen Eltern gewidmet
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Motto
Inhalt
Das Drahtwort
I
Die Verwunderung
Eine Geschichte
Carl-das-Kind
El-Maghreb el-Aksa
Shiguli
II
Hinter der Leinwand
Es war einmal
Ryke 27
Schwarz und weiß
III
Gießen, Rheine, Diez
Fünf Kohlen
Liebliches Land
Eimerkette
Die Weltenergie
Vom anderen Stern
Vor der Geburt
Das Kumpeltum
Weiße Wölfe aus dem All
IV
Landsleute
Der einzige Weg
Sanftes Folienrauschen
Gras
Die Mütteretage
Milva
V
Inge in Gelnhausen
Schwarzes Gebiss
Carls Gedanken
Die riesenhaften Flügel
Meine Wohnung
Wörther 16
Kleiner Fritzose
Seltenes Blau
Die Werkstatt
Arbeiterinnen
Vier von sieben
VI
Der nächste Schritt
Welches Tier bist du?
Herbst
Das Buch
Große Formate
Ich liebe dich
Lauernde Haut
Carls Traum
Die Rose von Jericho
VII
Wir betraten ein Haus in Bad Soden
Androgyn
Aus dem Meer
Effi
Auf Latschen
Saras Magasin
Die Geschichte vom Brett
reiz & zier
Schwester Effi
VIII
Die vier Arbeiten der Inge B.
Die ganze Zeit
Alte Bekannte
Stiefeltrinken
Kleiner Goethe-Nazi
Denkst du an?
Komm doch
Schlagbohrmaschine
Das Folienzimmer
IX
Stern 111
EPILOG
Das unbesiegbare A (Carls Bericht)
DANK
Informationen zum Buch
Weit vor der Einfahrt stoppte Carls Zug, begleitet von einem stählernen Stottern und Zucken, als hätte das Herz seiner Fahrt kurz vor dem Ziel plötzlich aufgehört zu schlagen. Draußen ein Meer sich überkreuzender Schienenstränge, dahinter die Klagemauer. Die Klagemauer war eine kilometerlange Ziegelwand, die das Leipziger Bahnhofsgelände zur Stadt hin begrenzte, von seltsamen, an Bienenwaben erinnernden Öffnungen durchbrochen, durch die man eine Straße und Häuser und manchmal auch Menschen sehen konnte. Aus irgendeinem Grund geschah es nicht selten, dass die Züge hier draußen, die Ankunft vor Augen, stehen blieben, für Minuten oder Stunden, es war wie eine alte Plage, ein altbekanntes Leid. Der Blick des Reisenden fiel dann unweigerlich auf diese Mauer – so hatte sie ihren Namen erworben.
Am Morgen nach dem Telegramm war Carl nach Gera aufgebrochen. Er trug saubere Jeans und seine alte schwarze Motorradjacke mit den schrägen Reißverschlüssen über der Brust, darunter ein frisch gewaschenes Hemd. Er besaß drei dieser kragenlosen Arbeitshemden, identische Hemden mit dünnen blassblauen Streifen, die noch aus der Zeit vor dem Studium stammten, aus seiner Lehrzeit auf dem Bau. Er hatte sich sogar die Haare ein Stück abgeschnitten, mühsam, mit seiner stumpfen Nagelschere – schulterlang musste genügen. Wie ein lange Verschollener kehrte er nach Hause zurück, für einen Moment sah er es so. Die meisten Schiffbrüchigen scheiterten erst nach ihrer Heimkehr – das war das Traurige an diesen Geschichten. Die Heimkehrer fanden nicht mehr zurück ins Festlandleben. All die Klippen, Stürme, Jahre – die ganze Einsamkeit, die, wie sich herausstellen sollte, im Grunde das Beste gewesen war. Oft vertrugen sie das Festlandessen nicht oder starben an ihrem überlangen Haar, das sie auf Jahrmärkten vorführen mussten, um Geld zu verdienen, und dann, eines Nachts, im Schlaf, legte es sich wie eine Schlinge um ihren Hals …
Der Zugführer lief die Waggons ab, er fluchte und schlug mit einem Stock gegen die Scheiben: »Aussteigen, alles aussteigen!«
Es war ein altes Außengleis mit einem provisorischen Bahnsteig aus Holz. Und eigentlich war es kein Bahnsteig, eher eine Rampe, aus der Gras und seitlich ein paar junge Birken herauswuchsen, denen Altöl und Exkremente nicht viel auszumachen schienen. Ihre Blätter leuchteten gelb. Carl sah dieses Leuchten und hörte das klopfende Geräusch seiner Schritte auf dem Holz der Rampe, wie Sträflinge in einer Reihe marschierten sie Richtung Bahnhofshalle, auf einem schmalen Steg zwischen den Gleisen.
Die halbdunkle Halle war überfüllt, eine wogende Bewegung, Schreie und Gebrüll. Aus den Lautsprechern, die jedes Wort in eine dumpfe, hohle Traumsprache verwandelten, tönte ein einzelner, vollkommen unverständlicher Ruf, immer wieder, in endloser Wiederholung: »Uh-ück!«
Die Belagerung galt dem D-Zug nach Berlin, einer Reihe von acht oder neun schmutzverkrusteten Karossen mit nikotingelben Scheiben. In den Nachrichten des Vorabends war von Sonderzügen und weiteren provisorischen Grenzübergängen die Rede gewesen, verbunden mit der sich formelhaft wiederholenden Bitte um Besonnenheit. Einigen Berlinfahrern gelang es, die Oberlichter der schmierigen Waggons zu erklimmen, um sich kopfüber in die überfüllten Abteile zu stürzen. Eine Szene aus Bombay oder Kalkutta – im Bahnhof von Leipzig wirkte sie maßlos, wie Teil einer überzogenen Choreographie, falsch, aber groß angelegt.
Langsam schob sich Carl ins Gewühl. Immer wieder blieb seine Tasche stecken. Der Trageriemen schnitt in seine Schulter und drohte zu reißen. Augenblicklich bereute er es, all seine Blätter und Bücher mitgeschleppt zu haben – wie dumm, wie leichtsinnig von ihm. Ein paar Flüche kamen auf, sein Gesicht wurde in den groben Filz einer Jacke gepresst, die augenblicklich ein animalisches Geräusch von sich gab – dann rammte etwas seine Brust. Er fiel, gezogen und gedreht von der Last seiner Tasche. Jemand, der ihn sicher nur auffangen wollte, stieß ihm mit Wucht die flache Hand ins Gesicht; Carl schmeckte Schweiß und verlor die Orientierung.
»Uh-ück! Uh-ück!«
Der Ruf kam jetzt von ganz oben. Es war die Stimme eines trunkenen Riesen, der aus der rußgeschwärzten Kathedrale des Bahnhofs herunterlallte, doch seine Zwerge gehorchten nicht mehr.
»Meine Tasche!«, rief Carl, als er wieder zu sich kam.
»Welche Tasche, junger Mann? Meinen Sie diese?«
Die Tasche war noch da, genau genommen lag er darauf. Für einen Moment sah Carl nichts als Gesichter, die sich über ihn beugten, angespannt, aber beherrscht. Es ist die Freude, dachte Carl, reine Freude. Aber eigentlich konnte er nicht erkennen, was sie beherrschte, ob es noch Freude war oder schon Hass.
»Brauchen Sie Hilfe?«
Ein Mädchen, höchstens sechzehn Jahre alt, streckte ihm ein Taschentuch entgegen. Wie immer überraschte Carl das leuchtende Rot, diese frische, leicht fettige Substanz, die im Grunde nicht von ihm stammen konnte, Blut.
»Wird es gehen?« Das Mädchen berührte Carl am Arm, er sah ihr rundes Gesicht und darin ihre sehr hellen, wässrigen Augen, wie blind.
›Nein, du musst jetzt bei mir bleiben, für immer.‹
»Danke, es geht schon.«
Er ging weiter, auf einen leeren Bahnsteig hinaus. Er gab sich Mühe, nicht besonders auf das blinde Mädchen zu achten (sie war nicht blind), aber sie blieb bei ihm und hielt ihn am Arm, sie waren ein Paar, so lange, bis Carl sich endlich auf eine Bank fallen ließ.
»Wollten Sie auch nach Berlin?«
Carl legte den Kopf zurück und spürte es im Hals – ein warmer Faden, der irgendwo am Gaumen abgespult wurde und eigenartigerweise ein wenig brannte, man musste schlucken, immer wieder, bekam ihn aber nicht hinunter. Seit früher Jugend blutete ihm öfter die Nase. Als es auf diese Dinge noch angekommen war, hatte er seine Freunde damit beeindruckt, dass er die Blutung mit einem einzigen Schlag seiner Faust gegen die Stirn zum Stillstand bringen konnte. Es war ein Boxertrick. Der Handballen fuhr mit Schwung gegen die Stirn, genauer gesagt, er glitt mit einem Stoß darüber hinweg. Der Schlag musste kräftig sein; der Kopf flog dabei ruckartig nach hinten, und auf den Ruck kam es an. War man zu zögerlich, funktionierte es nicht.
»Nein, ich wollte …« Er schüttelte vorsichtig den Kopf, um die Drehbewegung vor seinen Augen zu stoppen. Eine Weile blieb das Mädchen noch bei ihm stehen. Carl überlegte, was er sie fragen könnte, aber dann war sie plötzlich gegangen, und er murmelte die Antwort:
»Nach Hause. Ich wollte nach Hause.«
Zentimeterweise löste sich der D-Zug nach Berlin vom Bahnsteig, die überfüllten Waggons glitten vorüber. Jemand brüllte: »Arrivederci, du Penner!«, und ein Chor, der sich spontan zusammengefunden hatte, stimmte das Lied an, das Carl nur in der melancholischen Tonlage seiner Großmutter kannte: »Ich möcht ja so gerne noch bleiben …« Carl sah zu, wie sich die Wagen entfernten. Der ausfahrende Chor kam an der Rampe mit den leuchtenden Birken vorbei, die zittrig und schüchtern zu winken begannen.
Das Wort Penner summte noch in seinem Schädel. Ein Penner war jemand, der mit blutender Nase auf einem Bahnsteig hockte, an dem kein Zug abfuhr. Jemand, der nicht weiß, wohin die Reise geht, dachte Carl.
Er zog das Telegramm aus seiner Tasche. Es war nur ein Zettel, handgeschrieben, darunter ein Stempel, in der rechten unteren Ecke hatte der Bote Datum und Uhrzeit notiert: 10. November, 9.20 Uhr. »wir brauchen hilfe komm doch bitte sofort deine eltern.« Kein Vorwurf, nichts über sein monatelanges Schweigen, nur das, ein Hilferuf. Nur das kleine schwache Wörtchen doch, Carl konnte es hören, leise, von seiner Mutter gesprochen: »komm doch«. Er sah, wie sie den Berg hinuntereilte in den Ort, mit ihren kurzen, kräftigen Schritten, er sah, wie sie die Adresse diktierte, wie sie das Telegrammformular ausfüllte, sorgfältig, aber auch angespannt, nervös, weshalb sie die Anrede versäumte, und er sah, wie Frau Bethmann, die Frau am Schalter, die Silben zählte. Selbst in diesen Tagen, in denen die unvorstellbarsten Dinge geschahen, funktionierte »das Drahtwort«, wie sie es nannten in den Schalterstuben der Post.
Carl musste zugeben, dass er sich bis dahin keine besonderen Sorgen gemacht hatte – Eltern waren sicherer Boden, unanfechtbar, ureigenes Gebiet, auf das man sich zurückziehen konnte in der Not. Vermisst, ja, seltsam, er hatte seine Eltern vermisst, nicht nur im vergangenen Jahr, in dem er sie nur ein einziges Mal gesehen hatte, nein, auch schon zuvor, und eigentlich immer, immer vermisst.
Er suchte das Gleis, auf dem gewöhnlich die Züge Richtung Süden fuhren, in jene Gegend an der Grenze zwischen Thüringen und Sachsen, aus der seine Familie stammte – »wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen«, das war ein Lieblingswort seines Vaters gewesen. Als Kind hatte Carl an jedem Abend vor dem Schlafen Füchse und Hasen gesehen, wie sie nach und nach dort eintrafen am Waldrand, um sich gute Nacht zu sagen. Manchmal waren auch andere Tiere darunter, verschiedenste Tiere, und manchmal auch ein paar mit den Tieren gut befreundete Menschen. Es handelte sich um eine ganz bestimmte mondbeschienene Stelle, wo all diese sanften, klugen Wesen am Ende des Tages noch einmal zusammenkamen – ein Schattenriss mit erhobenen Schnauzen, erhobenen Köpfen, und ein einziger Chor: »Gute Nacht, ihr Hasen von Gera, ihr Füchse von Altenburg, ihr Meuselwitzer Raben, gute Nacht!«
Carl wusste nicht mehr, wer den Vorschlag gemacht hatte, zuerst »ein paar Schritte zu gehen«, sein Vater oder seine Mutter, es war nicht ungewöhnlich. Er ging hinten, seine Eltern vorn, wie immer. Sein Vater war gerade fünfzig Jahre alt geworden, seine Mutter neunundvierzig. Sein Vater war schmal geworden, die braune Lederjacke, die herabhängenden Schultern und das dünne graue Haar am Hinterkopf, so hatte Carl ihn nie gesehen. Sie gingen den Elsterdamm entlang, von Langenberg bis zur Franzosenbrücke, ihr alter Spazierweg am Fluss. Hunderte Fotos dazu im Familienalbum, von seiner Mutter sauber eingeklebt und gewissenhaft beschriftet: der Sechsjährige im Hemd und mit Fliege, sein bereitwilliges Lächeln und die großen bereitwilligen Zähne – das war Carl am ersten Schultag. Dann der Vierzehnjährige, mit Pagenschnitt und ernstem, abweisendem Blick. Daneben seine Mutter mit Dutt und Knautschlackledermantel, Herbst 77. Und so weiter auf dem Zeitstrahl durch alle Jahre und Jahreszeiten bis zu diesem Tag, den niemand fotografierte. Rechts das träge Strömen der Elster, ihr modriges Ufer und die Langenberger Weiden. Sein Vater blieb stehen und drehte sich um: »Carl.«
Schön wäre zu erzählen, wie plötzlich Wind aufkam im Elstertal, den Fluss herauf, oder ein besonderes Geräusch zu hören war, eine Art Pfeifen womöglich, ein feiner leiser Pfiff aus den Weiden, wie er nur einmal alle fünfzig oder hundert Jahre ertönt: »Carl …«
Seine Eltern wollten weg. Das Land verlassen, kurz gesagt.
Ein leiser Pfiff, zum Beispiel. Carl sah sich um, und plötzlich war es so, als hätte man diese (ihre) Welt von Fluss und Weg nur vorübergehend errichtet (nicht für ewig) und als müsse sie nun (wie alles andere) (selbstverständlich) abgebaut und beiseitegeschafft werden, als wäre sie (von einer auf die andere Sekunde) ungültig und wertlos geworden. ›So haben wir es nicht gemeint‹, hätte Carls Mutter dazwischengerufen, wäre dazu noch Gelegenheit gewesen, aber es gab keine Lücke im Ablauf, nur Verwunderung. Carls einziger Satz, unbeholfen, stotternd, wie ein hilflos erschrockenes Kind, dessen Eltern plötzlich nicht mehr erwachsen sind:
»Ich glaube, ihr unterschätzt das, das – das mit der Heimat, meine ich.« Es war seltsam, das zu sagen, es war ungewohnt, so mit den eigenen Eltern zu sprechen, etwas kehrte sich um. Schweigend gingen sie weiter flussaufwärts – Mutter, Vater, Kind zwischen all den Attrappen ihres plötzlich ausgedienten, abgepfiffenen Lebens.
Auch beim Abendbrot kam kein Gespräch in Gang. Die Stimmung war angespannt, und Carl begann, das Ganze für das Ergebnis einer unguten Hypnose zu halten, in die er nicht noch tiefer hineingezogen werden wollte. Zuerst musste gegessen werden, dann wurde abgeräumt und alles mit dem Servierwagen zurück in die Küche gefahren, ein zweistöckiges Wägelchen mit verchromtem Gestell. Sein dunkles Rollgeräusch auf dem Teppich, altvertraut, das leise Scheppern des Geschirrs, wie gewohnt und als könnte es nicht anders als für immer so bleiben – schließlich war doch alles hier nur dafür eingerichtet. Über die Schwelle in den Korridor wurde der Wagen getragen, das machte sein Vater, aber jetzt sprang Carl auf und half, behutsam, damit nichts verrutschte. ›Da ist jemand, der die Arbeit sieht‹, war das höchste Lob, das sein Vater zu vergeben hatte.
Wie zwei Kinder fuhren sie dann den kleinen Wagen zusammen durch den Flur in die Küche. Carl fühlte sich hilflos, aber er half, und augenblicklich übermannte ihn das Heimweh, die Sehnsucht nach Ankunft, Ruhe, Schlaf, Heimkehr des verlorenen Sohnes, irgendetwas davon. Sehnsucht nach jener anfallartigen Müdigkeit, wie sie ihn nur hier heimsuchte, zu Hause, auf dem Sofa seiner Kindheit: ›Ach Carl, mach dich doch ein bisschen lang. Und hier, nimm noch das Kissen, brauchst du eine Decke? Nimm doch noch die Decke …‹ Erst das Kissen und dann noch die Decke, das hieß: Abwehr jeder Anfechtung, Auslöschung aller Bedrängnis.
Als Carl und sein Vater zurückkehrten aus der Küche, saß seine Mutter auf dem Sofa. Sie wirkte nervös und schlug ruckartig die Beine übereinander. Sie trug das Haar jetzt kurz und glatt wie ein Junge, was sie noch kleiner erscheinen ließ. Trotzdem war leicht zu erkennen, wie viel Kraft in ihr steckte, wie viel Zielstrebigkeit; sein Vater hielt ihn am Arm.
Einen Augenblick lang sah es so aus, als spielten sie die Szene nur: plötzlicher Aufbruch, Abschied, Flucht – und die Papiere auf der Platte des Schreibschranks, parallel zur Schreibtischkante ausgerichtet. Sie reflektierten das Licht der kleinen, von einer Blende verdeckten Neonröhre, so dass Carl für einen Moment die Augen schließen musste – Grundbuchauszüge, Überschreibungen, ein Schenkungsformular, wonach das alles jetzt ihm gehören sollte. Carl Bischoff, einziges Kind von Inge und Walter Bischoff, geboren 1963 in Gera/Thüringen, »zurzeit Student«; Student war nur dünn und mit Bleistift eingetragen.
»Es wäre schön, wenn du dich darum kümmern könntest, das heißt, wir bitten dich darum.« Oder: »Könntest du dich darum kümmern, das heißt, wir möchten dich darum bitten.«
An den genauen Wortlaut erinnerte Carl sich später nicht mehr, nur an »Bitte« und »Kümmern« und dass er die Übergabe, die in diesem Moment etwas Feierliches hatte, ohne Widerstand geschehen ließ, jedenfalls ohne Erwähnung eigener Pläne. Es war die Wucht des Unbegreiflichen, die ihm die Sprache verschlug und alles in den Schatten stellte.
Das kleine Wort ›Warum?‹ bot sich an, durfte aber nicht sein, im Gegenteil, ›Warum?‹ und jede Antwort, so viel ahnte Carl, würden nur noch tiefer hineinführen in jenen Zustand der Unwirklichkeit, der vollständig wurde, als sich herausstellte, dass seine Eltern es bei ihrem Weggang (sie nannten es so) ab Gießen getrennt versuchen wollten. Vom Zentralen Notaufnahmelager aus sollte es erst einmal jeder für sich allein probieren, »um doppelte Chancen« zu haben. So hatte es seine Mutter ausgedrückt, und das war der Name: »Zentrales Notaufnahmelager«. Ihre Stimme war jetzt um Festigkeit bemüht, aber Carl konnte hören, dass ab Gießen getrennt nicht ihre Idee gewesen war.
»Wir haben uns das gut überlegt.«
Und dann: »Deine Mutter wollte schon immer weg.«
Es gab keinen Zweifel, dass Inge und Walter (seit seiner Jugend war er es gewöhnt, seine Eltern mit ihren Vornamen anzusprechen) in dieses Haus gehörten, in dieses und kein anderes Leben, weshalb Carl begann, über Gefahren und Risiken zu reden, von denen er keine genauere Vorstellung besaß. Seine Mutter sah ihn an.
»Und du, Carl? Wo bist du die ganze Zeit gewesen – ohne ein Wort? Weißt du, welche Sorgen …«
Dann die Übergabe.
Rundgang durch alle Zimmer, Besonderheiten des neuen Ofens, die Elektrik und die Sicherungen, die Verabschiedung von allem. Auf dem Schreibschrank lag ein Briefumschlag. »Fünfhundert Mark«, sagte sein Vater.
»Hast du noch Fragen?«
Es war schon spät am Abend, als sie noch einmal die Garage aufsuchten, die im Tal am Bahndamm lag. Eine Weile standen sie nebeneinander, die Hände im Kegel der Werkbanklampe, während Walter die Ordnung der Werkzeuge erklärte. Im Sommer waren ein paar wichtige, seltene Stücke hinzugekommen, darunter eine Zünduhr und ein Abstandsmesser mit zwanzig Zungen (0,01 bis 0,1 Millimeter), Dinge von unschätzbarem Wert. Es gab größere, gröbere Werkzeuge in den Eisenregalen, aber der kostbarste Teil hing an der Wand über der Werkbank, in Schlaufen aus Wäsche- oder Einweckgummis oder steckte in selbstgefertigten Halterungen aus schmalen, mit Altöl überstrichenen Leisten: Werkzeuge verschiedenster Größen, geordnet zu ansteigenden und abfallenden Linien, die im Gesamtbild eine Art Landschaft (Heimat) ergaben, glänzend und kühl.
Sein Vater trug nicht seinen Blaumann, den er gewöhnlich überzog in der Garage, nur einen Kittel, den grauen, knielangen Kittel, der für die Arbeiten im Haushalt reserviert war. Er nahm einen der neuen Steckschlüssel in die Hand und simulierte seine Funktion. Die erhobene Stimme, die Pausen, das »So« und das »Dann«, die Tonart seiner ausführlichen Erklärungen und die Botschaft, die sich seit Kindheitstagen nicht verändert hatte: Die Welt erforderte Konzentration – und Geduld. Sie war wacklig, anfällig, von fragwürdiger Beschaffenheit, aber reparabel.
»Du weißt, wie lange man braucht, um all das zusammenzutragen?«
»Etliche Jahre«, antwortete Carl.
»Ein Leben lang«, sagte sein Vater.
Zum Zeichen, dass er das begriffen hatte, berührte Carl die Zungen des neuen Abstandsmessers. Der feine Stahl war leicht biegsam und etwas fettig, das Fett roch süßlich, essbar … Hier, im Halbdunkel der Garage, mit einem Werkzeug in der Hand, hätte Carl beginnen können zu reden, sich anzuvertrauen, plötzlich schien das möglich, hier war die Lücke, nur dafür vorgesehen. Er hätte erzählen können, was mit ihm geschehen war im vergangenen Jahr (widerfahren war das alte, genauere Wort). Die Trennung von H. und warum er nicht mehr zum Studium gegangen war und weshalb er sich verkrochen hatte vor der Welt.
Sicher, alles hätte er nicht erzählt. Der Versuch mit den Tabletten. Klinikum Kröllwitz. Die leeren Tage.
Er stellte es sich vor: ein besorgtes Vatergesicht, aber kein Vorwurf; ein Nicken, eine Pause –
»Zum Schluss noch eine Sache am Wagen.«
Carl legte das Werkzeug aus der Hand. Sein Vater forderte ihn auf, hinter dem Lenkrad des Shiguli Platz zu nehmen. Er schaltete die Zündung ein und deutete auf ein Lämpchen unterhalb des Tachometers, das leuchtete oder nicht leuchtete, es ging um das Motorenöl, aber Carl hörte schon nicht mehr, was er dazu erklärte.
Eine Weile saßen sie noch schweigend nebeneinander, im Halbdunkel der schmalen Betonfertigteil-Garage, ohne die sich Carl das Leben seines Vaters nicht vorstellen konnte. Walters Hand lag auf dem schwarzen Armaturenbrett mit der Lederimitation, direkt vor Carls Augen. Als wollte er ihm auch die Hand noch einmal zeigen, zum Abschied. Wie sie der Hand seines Sohnes bis aufs Haar glich, nicht nur in ihrer Gestalt, auch die Zeichnung auf den Innenseiten war identisch, in ihren Händen stand dieselbe Geschichte geschrieben.
»Man fährt nicht mit dem eigenen Wagen vor das Tor eines Flüchtlingslagers, nehme ich an«, sagte sein Vater, dann sagte er nichts mehr. Im Rückspiegel schimmerte die Werkzeuglandschaft. Carl begriff, dass der Abstand, der gewöhnlich zwischen ihnen herrschte, aufgehoben war.
»Nein, ich … Ich weiß«, stammelte Carl, das war alles.
Sein Vater schien noch nachzudenken, stieg dann aber aus, und Carl legte die Arme übers Lenkrad.
Schon als Kind hatte er stundenlang am Steuer des Shiguli gesessen und vor sich hin gebrummt; Kupplung, schalten, Gas. Im Wohnblock gegenüber war ein Licht angegangen. Dort wohnte Effi – Effi Kalász, in die er seit der achten Klasse verliebt gewesen war, ohne es ihr jemals zu sagen.
Carl schlief im Kinderzimmer, auf der sogenannten Jugendliege, einer orange und grün gestreiften Ausziehcouch. Damals, kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag, hatten seine Eltern das Zimmer neu eingerichtet. Überraschend war das kommentarlose Verschwinden seines Klappbetts gewesen, ein Bett, das sich tagsüber mit wenigen Handgriffen in einen Schrank verwandeln ließ und von seiner Mutter bei jeder Gelegenheit als »sehr praktisch und vor allem platzsparend« bezeichnet worden war. Tatsächlich blieb zwischen den Möbeln nur ein schmaler Pfad, um von der Tür zum Fenster zu gelangen, unter dem Carls Schreibtisch stand. Das Verschwinden des Klappbetts und das Auftauchen der Jugendliege bewiesen (noch immer) das Ende seiner Kindheit.
Carl sah sich um. Die einzigen Bücher, die sich im Haushalt seiner Eltern befanden (von den Fachbüchern seines Vaters über Rechenmaschinen und Programmiersprachen abgesehen), standen jetzt im Regal über der Jugendliege: Meyers Lexikon in neun Bänden plus Ergänzungsband, ein Duden, ein Fremdwörterbuch und zwei kleine Enzyklopädien (eine zur Natur und eine zur Geschichte). Alles andere war unverändert geblieben. Unverändert auch das nächtliche Licht-und-Schatten-Spiel an der Zimmerdecke, die Geräusche der Straße, die Stimmen aus den Hauseingängen. »Die Revolution wird siegen«, hatte jemand mit roter Farbe an den Sockel des Wohnblocks gegenüber gesprüht.
Vor dem Einschlafen hörte Carl Schritte von oben, schwere Schritte, keine Mädchenschritte: Kerstin Schenkendorff, die Tochter des Hausbuchführers, der in der Wohnung über ihnen wohnte, war einige bedeutsame Jahre älter gewesen als Carl, was mochte aus ihr geworden sein? Die Nacht mit der Geschichte fiel ihm ein. Inge und Walter waren ausgegangen, was selten vorkam. Eigentlich galt Carl als ein Kind, das stolze Eltern einen »sicheren Schläfer« nennen, aber diesmal hatte es ein Monster gegeben, einen Drachen, der ihn unerbittlich und voller Fresslust verfolgte. Carl schrie und erwachte, schweißgebadet. Er rannte ins Schlafzimmer, aber es war niemand da. Er lief durch die Wohnung: niemand. Nur der Drache, der sich noch irgendwo verbarg, weshalb Carl fliehen musste, aber die Wohnungstür war verschlossen. Er hatte gegen die Tür gehämmert und gerufen, vielleicht auch gebrüllt, und dann, irgendwann, war draußen auf der Treppe die Stimme Kerstin Schenkendorffs gewesen. Sie sprach ihm gut zu, sie beruhigte Carl und fragte, »ob es nicht schön wäre mit einer Geschichte«. Carl hockte drinnen, wimmernd, im Schlafanzug, er presste das Ohr an die Tür, er schmiegte sich an (liebe Tür) und hörte das leise Rauschen des Hauses und dann, dahinter, die Geschichte, die ihm Kerstin zu erzählen begann und immer weitererzählte, so lange, bis er eingeschlafen war.
Am nächsten Morgen fuhr Carl seine Eltern zur Grenze. Noch vor Sonnenaufgang hatte sein Vater das Auto aus der Garage rangiert und ihm den Schlüssel neben den Teller gelegt. Carl sah den Schlüssel, und auf gewisse Weise machte ihn das stolz, obwohl er wusste, dass das, was hier geschah, eigentlich nur falsch sein konnte. Waren das nicht seine Eltern? Mit einem stillen, bis ins Letzte geregelten Alltag und darin mit einer speziellen Liebe zu Ordnung und Wiederholung? Ein paar Sprachhülsen aus seiner Schulzeit flogen vorüber: »Die historische Situation, der historische Moment …« Der historische Moment hat euch den Kopf verdreht, so sah es Carl, aber das sagte er nicht. Er fühlte sich nicht überlegen, eher ratlos.
Eine Möglichkeit war, sich weiterhin als ihr Kind zu begreifen. Eltern wussten, was sie taten, und die Weisheit ihrer Entschlüsse würde sich früher oder später noch erweisen. Sie würde sich herausstellen, so, wie es immer gewesen war. Und schließlich konnte man das alles auch ganz anders sehen: Auf ihre Weise trugen Inge und Walter zum Umsturz bei, der überall im Gange war. Sie erschienen nicht mehr auf ihrer Arbeit, sie verließen ihren Platz und rüsteten zur Flucht, wenn man es so nennen wollte. Seine Eltern! Sie waren die unwahrscheinlichsten Flüchtlinge, die Carl sich vorstellen konnte.
Beunruhigend war die Sache mit dem Akkordeon. Sein Vater hatte den alten schwarzen Kasten mit dem Instrument aus dem Keller geholt. Er hatte Riemen angepasst, die es erlaubten, das sperrige Ungetüm auf dem Rücken zu tragen; er wollte es mitnehmen, so viel war klar, aber wozu? Carl wusste, dass das Instrument seinem Vater gehörte, aber er hatte ihn niemals spielen sehen. Wie so vieles im Keller stammte es aus einer Vorzeit, die im Dunkeln lag.
»Warum willst du das mitschleppen, Walter?« Es berührte Carl unangenehm, diese Frage stellen zu müssen. Geradeso, als halte er einem Kind den Spiegel vor und riskiere, es mit einem Schlag unglücklich zu machen.
»Um darauf zu spielen, ab und zu«, antwortete sein Vater. »Ich denke, ich fange wieder damit an.«
Das Frühstück wie üblich: Rahmbutter, Schnittkäse und aufgebackene Brötchen aus dem Backwarenkombinat Gera, wo seine Mutter (bis zum Vortag) gearbeitet hatte, in einer kleinen vierköpfigen Abteilung, die verantwortlich war für die Erfindung neuer Rezepte. Vier Feinschmecker, wie seine Mutter betonte, darunter zwei Konditoren (es klang wie Doktoren, wenn seine Mutter es aussprach), Meister ihres Fachs, mit jahrzehntelanger Berufserfahrung. Ihr Auftrag war, kostbare Rohstoffe einzusparen und dafür einen »Ersatz« zu kalkulieren. Statt Mandeln zum Beispiel Apfelkerne. Und grüne Tomaten statt Zitronat und so weiter. Im vergangenen Jahr hatte man auch den Begriff »Ersatz« ersetzt, jetzt hieß es »Austausch«. Wenn das kleine Kollektiv beieinandersaß und sich den Kopf darüber zerbrach, was wogegen ausgetauscht werden könnte, machte Inge die Notizen, seine Mutter war die Schriftführerin, sie schrieb alles mit, jeden noch so abwegigen Vorschlag. Oft wurde sehr lange und ernsthaft diskutiert und schließlich die »Austausch-Kalkulation« vorbereitet. Am Tag der Verkostung traf man sich wieder. Natürlich habe man dann keine übergroßen Erwartungen gehabt (so hatte es seine Mutter ausgedrückt), aber doch eine gewisse Hoffnung (utopisch, schwer begründbar, vielleicht wie sie Alchemisten hegen, wenn sie am Ende ihres Experiments den Deckel heben), immerhin hatten alle sich bemüht, lange nachgedacht und etwas gewagt.
»Man schaut dann irgendwohin und kaut«, so erzählte es Inge. »Man kaut und kann sich nicht mehr in die Augen sehen, und keiner möchte etwas sagen.«
Carls Mutter litt darunter. Sie hatte das Handwerk auf dem Bauernhof erlernt, bei ihrer eigenen Mutter. Sie hatte schon als Mädchen viel und gern gebacken – zwanzig Sorten Kuchen zu jedem Fest, die dann auf wagenradgroßen Kuchenbrettern im Gewölbe standen, im sogenannten Kuchenregal. Carl erinnerte sich gut daran – der seltsame Huckelkuchen (auch Kamelkuchen genannt), der sagenumwobene Käsekuchen (ein Mythos, über den immer alle sprachen am Tisch) und die Suche nach der Etage mit dem Schokoladenstreuselkuchen, der für Carl-das-Kind der wichtigste war.
Nach Ansicht seines Vaters musste es zuallererst darum gehen, schnellstmöglich die Grenze zu überschreiten. Er sprach vom Auftritt Willy Brandts vor dem Schöneberger Rathaus, es war in allen Nachrichten gewesen. Etwas in der Rede hatte ihm mitgeteilt, dass die Öffnung der Grenze nur von kurzer Dauer sein würde. Er erklärte es Carl nach den Gesetzen der Strömungslehre, »da brauchst du nur ein bisschen Physik, ein simpler Trick, um Druck abzubauen«. Und die Russen seien schließlich auch noch da. Das war sein stärkstes Argument.
Für den Grenzübertritt hatte er Herleshausen ausgewählt. Von dort würden dann Busse fahren, einen Bahnhof in der Nähe gab es auch. Schon in der Nacht hatte es zu regnen begonnen, inzwischen goss es in Strömen. Carls Mutter sagte: »Der Himmel weint«, sie sah darin ein Zeichen – wofür genau, blieb ihr Geheimnis.
Während der Fahrt wurde wenig geredet, es herrschte Fluchtdisziplin, Konzentration auf das Wesentliche. Carl war der Fluchtwagenfahrer, im Wagen zwei Flüchtlinge, die Richtung Westen geschleust werden mussten. Eigenartig: Es handelte sich um seinen Vater auf dem Beifahrersitz. Und die Frau auf der Rückbank war seine Mutter, die jetzt noch einmal alle Unterlagen kontrollierte, verpackt in einen Plastikbeutel, um den ein Haushaltsgummi gewickelt war.
›Du fährst zu weit rechts. Du fährst wieder sehr mittig, Carl. Nicht so schnell, bitte …‹ Nichts, keine einzige Bemerkung. Carl wartete darauf, ab Hermsdorfer Kreuz wünschte er es sich.
Das sanfte Ziehen der thüringischen Hügel links und rechts der Autobahn. Der Blick auf die Straße, die mit Teer geflickten Risse im Beton, ihre Spinnengestalt. Der Shiguli überrollte große schwarze Spinnen, dazu die Absätze zwischen den Platten, das rhythmische Schlagen der Reifen – ein Urwaldgeräusch und ein seltsamer Gedanke: Vielleicht war das, was er bisher getan hatte in seinem Leben, doch nicht so falsch und vergeblich gewesen. Es ist nur meine eigene Fahrweise gewesen, dachte Carl, sehr grob und vereinfacht gesagt.
Zu ihrem gedanklichen Vorlauf, wie Carls Mutter es nannte, gehörte, sich beim Optiker Wunderlich auf der Sorge (Sorge hieß der zentrale Boulevard von Gera) eine neue, bessere Brille machen zu lassen, für das Kleingedruckte in den Formularen, die sie drüben, wie sie glaubte, in Unmengen würden ausfüllen müssen. »Bärbel, ich bekomme eine Kur und brauche eine Brille«, so erklärte es Inge ihrer Optikerin, die ihr diesen Wunsch dann praktisch über Nacht erfüllt hatte. Zudem hatte Inge zwei stabile Rucksäcke gekauft, sogenannte Jägerrucksäcke, »um, was wichtig ist, immer eine Hand frei zu haben unterwegs, verstehst du, Carl?« Sie war aufgeregt und wiederholte den Satz: »Man muss immer eine Hand frei haben.« Sie hatte Listen gemacht und sich Situationen vorgestellt. Dazu gehörte, dass sie »im Lager«, wie sie es nannte, nachts einen Schlafanzug tragen würde und kein Nachthemd wie gewöhnlich; die Toiletten befänden sich sicher auf dem Flur, am Ende irgendeines Korridors, eventuell sogar auf dem Hof, den man dann zu überqueren hätte in der Nacht, vielleicht unter den Augen einer Lagerwache oder anderer Flüchtlinge, die allein von der Aufregung reihenweise dorthin getrieben würden, und ja: Schlangen würde es ohnehin überall geben, beim Essen, bei den Pässen, für jeden Stempel, jede Bescheinigung: »Aber da müssen wir jetzt durch, entweder oder, verstehst du, Carl?«
Ihr selbstbewusstes Auftreten, ihre Formulierungsgabe. Carl wusste, dass seine Mutter keine Berührungsängste hatte, wenn es darum ging, ein von ihr anvisiertes Ziel zu erreichen. Bei den Nachbarn war sie beliebt, sogar bei Schenkendorff. Ach, all die Freunde, Kollegen, Nachbarn, die nun, nach Jahrzehnten erprobter Gemeinschaft, wortlos zurückgelassen werden mussten, ohne Abschied, ohne Gruß, ohne Zettel und selbstgebackene Plätzchen in der Serviette, wie sie seine Mutter immer gern verteilt hatte an Haustüren und Schreibtischen, »als kleine Aufmerksamkeit«, wie sie es nannte.
Alles aufgeben, weggehen.
Obwohl die Dinge, die geschahen, schwerwiegend und einschneidend waren, erinnerte sich Carl später nur sehr ungenau an ihre Gespräche; vielleicht stand er doch unter Schock. Er akzeptierte ihre Entscheidung, er respektierte sie, was sonst? Und letztlich: Wer konnte schon wissen, was einmal richtig oder falsch sein würde?
Am Abend zuvor war dies und jenes zur Sprache gekommen, aber nichts, was Carl eingeleuchtet hätte. Ein paar nützliche Formulierungen standen bereit – ›Ein Leben lang nur eingesperrt‹ und so weiter, was allgemein zutraf, aber davon machten seine Eltern keinen Gebrauch, es war nicht der Grund. Carl hatte verstanden, dass es mehr sein musste, etwas, das noch einmal alles sprengen konnte (und sprengte), obwohl der Plan für den Rest des Lebens doch längst ausgearbeitet gewesen war und sicher irgendwo gut verwahrt bei den Dokumenten lag, auf dem Boden der Kassette im Schreibschrank oder sonst wo.
Immer deutlicher wurde, dass Carl im Grunde nicht viel über seine Eltern wusste und nur ein paar blasse, kindliche Bilder mit sich herumtrug aus dem Album seiner Schulzeit und Jugend. Hatte er je wirklich über sie nachgedacht? War es die Aufgabe von Kindern, wenn sie erwachsen wurden, über ihre Eltern nachzudenken? Und wenn, wann sollten sie damit beginnen? War Mitte zwanzig dafür schon zu spät?
Er starrte hinaus auf die Fahrbahn. Links und rechts die thüringischen Hügel. Die Eltern verlassen das Elternhaus – in diesem Moment war das ein sehr seltsamer und trauriger Satz. Früher, dachte Carl, war das Verlassen den Kindern vorbehalten gewesen. Die Kinder zogen in die Welt, nicht die Eltern. Und dann, zweitens, machten sich die Eltern Sorgen um ihre Kinder und so weiter.
Der Grenzübergang war bevölkert: Spaziergänger, Neugierige, Autoschlangen und Fußgängerströme – das Land schien sich aufzulösen in einer einzigen Wanderschaft. Darunter nicht wenige mit Rucksäcken und Koffern, junge kräftige Wanderer, die wie auf Verabredung zusammenfanden und sich unterstützten, niemand im Alter seiner Eltern. Mit dem großen schwarzen Akkordeonkasten auf dem Rücken sah sein Vater wie ein Kriegsvertriebener aus, der versuchte, ein Stück Hausrat zu retten. Dazu passend ragten die Ruinen einer unfertigen Autobahnbrücke aus dem Tal. »Die können jetzt weitermachen«, murmelte sein Vater. Das war eine seltsame Bemerkung, wenn er doch davon ausging, dass sich die Grenze bald wieder schließen würde. Im Hintergrund, am Fuß eines Wachturms, sah man Soldaten, die Maschinengewehre lässig vor der Brust, und insgeheim gab Carl seinem Vater recht: Der ganze Apparat konnte jederzeit wieder in Betrieb genommen werden.
Noch einmal schlug Carl vor, bis nach Gießen zu fahren, ins Zentrale Notaufnahmelager. Wie durch einen Tunnel sah sein Vater zu ihm herüber. Spontane Änderungen waren ausgeschlossen – wenigstens in diesem Punkt verlief alles wie gewohnt. Das Leben seiner Eltern würde sich ändern, für immer, so viel stand fest, aber der Umsturz erfolgte nach den alten Regeln. Und unklar war, ob sie sich jemals wiedersehen würden.
Dann der Abschied. Ein provisorischer Parkplatz, eigentlich war es nur ein Stück Wiese, morastiges Weideland, dunkler, trauriger Boden. Seine Eltern trugen ihre grünen Plastik-Regencapes aus den Bergurlauben in der Hohen Tatra, die sie und ihre Rucksäcke verhüllten und ihnen die Gestalt von Kosmonauten verliehen, die sich trotz widriger Umstände anschickten, einen neuen, fremden Planeten zu betreten. »Was haben wir für wunderbare Touren gemacht!« Der Satz nach jedem Urlaub. Seine Mutter trug auch die Tatra-Wanderschuhe aus rauem braunen Wildleder (die dicken Sohlen, das zackige Profil), und erst jetzt bemerkte es Carl: auch das karierte Wanderhemd unter ihrem grauen Westover, gekauft in Tatranská Lomnica, unweit der slowakischen Berghütte, wo sie sich all die Jahre eingemietet hatten, mit einem Koffer voller Tütensuppen, Käsebüchsen und hausschlachtener Leberwurst. Seine Eltern waren immer sehr sparsam gewesen. Jetzt ließen sie alles zurück. Und nahmen den Westen in Angriff. Wie eine ihrer Wandertouren.
Am Ende umarmten sie Carl: steif und etwas fremd, die feuchten, kühlen Regencapes wie eine letzte Zurückweisung, ganz ungewollt, und vielleicht hatte er deshalb mit den Tränen zu kämpfen. Als er den Wagen startete, begann das Winken, seine Eltern winkten, und als er losfuhr, winkten sie noch immer, und auch im Rückspiegel sah Carl sie noch winken, und er winkte ebenfalls, seitlich zum Fenster hinaus, mit ausgestrecktem Arm, wobei sein Pullover nass wurde vom Regen. Winken, so lange, bis der andere verschwunden ist und am besten noch ein wenig darüber hinaus – so war es Tradition in ihrer Familie. Später, im Traum, sah Carl sie alle noch einmal dort stehen, winkend, seine Eltern an ihrem und er an seinem Platz, schon weit voneinander entfernt und jeder in seinem eigenen Leben: Hier bin ich, das war ich, auf Wiedersehen, ihr Lieben.
›Unsere Eltern sollen es einmal besser haben.‹ Etwas stimmte nicht mit diesem Satz.
Der kurze Flur, der matte Glanz der Garderobe und im Halbdunkel ein Sommermantel seiner Mutter, der ihn stumm beobachtete. Eine Weile tappte Carl von Zimmer zu Zimmer und badete in Abwesenheit: gehen, nichts denken. Er atmete den Elterngeruch, er versuchte, möglichst leise zu sein.
Vor dem Fernsehgerät die beiden Fernsehsessel, schwarzer und roter Bouclé-Bezug. Rechts vom Fernseher der Schrank mit dem Plattenspieler, das Antistatik-Tuch sauber gefaltet neben dem Gerät. Das Ersatztuch im Plastikbeutel dahinter, unbenutzt. Seltsamerweise waren all diese Dinge noch da, stoisch existierten sie weiter.
Das Schlafzimmer war im Grunde tabu, elterliche Zone. Carl setzte sich aufs Ehebett (auf die Seite seines Vaters) und zog die Schublade des Nachtschranks heraus. Er war jetzt wieder das Kind, das am Nachmittag nach der Schule die polnischen Spielkarten mit den vier Assen (vier Frauen) sucht, die oben ohne waren, sobald man die Karte nur um eine Winzigkeit drehte in der Hand.
»Was um alles in der Welt hattest du in diesem Schrank zu suchen, Carl, kannst du uns das bitte einmal erklären?«
Er stand auf und versuchte, die Bettdecke wieder glatt zu streichen. Schon einen Stuhl zu verrücken, kostete Überwindung. Er zog ihn nicht einfach über den Boden, er hob ihn an, vorsichtig.
Während der Nachrichten wurde eine Landkarte mit neuen Grenzübergängen eingeblendet. Die Züge der Reichsbahn seien »zu zweihundert Prozent ausgelastet«, dazu Bilder von Bahnhöfen. Für einen Moment glaubte Carl, sich selbst zu sehen, inmitten einer Menschentraube. Mit zwei schnellen Schritten war er am Fenster. Die Lichter der Nachbarn: Sie waren noch da. Er schloss den Vorhang und schaltete das Deckenlicht aus. Um Mitternacht eine Zusammenfassung der vergangenen Tage. Er dachte an die Warnung, die sein Vater gehört haben wollte, und musste zugeben, dass die Worte Willy Brandts sehr vorsichtig gehalten waren, beinah so, als ließe der Redner insgeheim etwas Entscheidendes offen. Als könne sich das Ganze noch als großer Bluff erweisen. Am Ende ein Bericht über Unruhen in verschiedenen Einheiten der Nationalen Volksarmee, dazu ein nachdenklicher Schwenk der Kamera über die Mauern der Grenzhundekaserne Potsdam-Wilhelmshorst. Sie war von hohen Kiefern umgeben, auf denen das warme Licht der untergehenden Sonne lag. Ein Urwald, nach dem Carl sich augenblicklich sehnte.
Er sollte die Stellung halten und »das Hinterland sichern«, so war es vereinbart, kurzgefasst. Er würde bereitstehen, falls Hilfe vonnöten sein sollte, in jedem Fall die ersten Nachrichten abwarten von drüben, wie sein Vater es ausgedrückt hatte. »Du bildest die Nachhut, Carl, gewissermaßen.«
Die Nachhut. Das Wort verstimmte Carl, aber schließlich war er einverstanden gewesen, was sonst. Er verstand nicht, was genau mit seinen Eltern geschah, aber die Ernsthaftigkeit und das Schwerwiegende ihrer Bitte waren klar. Es war das Mindeste, was er, das einzige Kind, für sie tun konnte in diesen noch ganz unfassbaren Tagen – das Mindeste.
In einem der Wäscheschränke hatte Carl die alte Schreibmaschine seiner Mutter entdeckt und auf der Platte des Schreibschranks aufgebaut. Es war eine Consul. Er mochte ihr schweres, halbrund geschwungenes Gehäuse, es war kühl und glänzte im Licht der kleinen Neonröhre. Das Tippen kostete Überwindung, jeder Buchstabe ein Hammerschlag – oben das Geräusch von Schritten, jemand sagte etwas, dumpfe Stimmen. Er versuchte es mit halber Kraft, und die Schrift verblasste.
Es war eine Art Poem über einen Soldaten, der die Straße von Gibraltar passierte, allein in seinem U-Boot. Es gab fünf Zeilen darin, die Carl sehr gut gefielen – wie von einem Fremden verfasst. Er sprach die Zeilen noch einmal vor sich hin, und augenblicklich stand ihm das Bild eines ganz anderen Lebens vor Augen: Er hatte fünf Zeilen, die ihm dazu die Berechtigung erteilten. Er stand auf und lief durchs Zimmer; ein warmes Glücksgefühl.
Neben der Schreibmaschine lagen ein paar der Bücher, die er mitgeschleppt hatte. Anna Achmatowa, René Char, Gertrud Kolmar. Er machte Exzerpte in sein Notizbuch. Das Abschreiben war eine Möglichkeit, sich dem Heiligen zu nähern. Es war die amerikanische Methode. Eine Art Gottesdienst. Am Ende las er noch einmal sein eigenes Gedicht. Da war er, unter Wasser, am Meeresgrund, mit seiner ›Nautilus‹. Er war vollkommen allein. Abgeschieden und lautlos zog er vorbei an den marokkanischen Wurzeln Afrikas. Es war immer noch gut.
Zwei Tage später: »Ein Zurück zu den alten Zuständen wird es nicht geben.« Carl fragte sich, ob seine Eltern die Nachrichten verfolgten und ob es möglich wäre, dass sie (von daher) ihre Pläne korrigieren und beschließen würden, umzukehren und zurückzukommen nach Gera. Er wünschte es sich, dann klingelte es.
Er war im Flur auf dem Weg zur Küche gewesen. Erschrocken starrte Carl ins Halbdunkel über der Tür. Die Klingel war alt, elektromechanisch, ein winziger Klöppel, der rasend auf ein kompottschüsselförmiges Metallstück schlug, eine Art Glocke. Am Ende stand der Klöppel still, aber es gab einen Nachklang, die Glocke tönte – und tönte. Es war dieser Ton, der anhielt, Maß nahm und einen hörbaren Umriss erzeugte. Einen Umriss der Möbel und Mäntel im Flur und jetzt auch von ihm, er konnte es spüren, an den kalten Rändern seiner Ohren, er war hörbar geworden.
»Carl, mach auf! Ich weiß, dass du da bist.«
Die asthmatische Stimme Schenkendorffs, wie kleines staubiges Geröll, in Aufruhr gebracht. Carls Ohren waren wie gefroren und der Flur gewachsen und plötzlich nicht mehr klein, eher weitläufig und voller verborgener Ecken. Ich weiß, dass du da bist: Augenblicklich war er wieder Carl-das-Kind, das sich versteckte, weil es seine »Aufgaben vernachlässigt hatte«, jenes Kind, das in der Schule Sorgen machte, »undiszipliniert« und »versetzungsgefährdet«, so hatte ihn Frau Klotz beschrieben, seine Klassenleiterin. Eines Abends war sie aufgetaucht, zum Abendbrot …
»Carl! Ist alles in Ordnung bei dir?«
Zur »Strategie« gehörte, dass Carl (nach Möglichkeit) zunächst mit niemandem sprechen sollte, wenigstens die ersten Tage. »Wir brauchen diesen Vorsprung«, so oder so ähnlich hatte es sein Vater ausgedrückt. Seine Arbeit im Datenverarbeitungszentrum Gera (er programmierte die großen Rechenmaschinen) unterlag der Geheimhaltung, er galt als Geheimnisträger, das war die offizielle Bezeichnung dafür. Carl glaubte nicht, dass sein Vater deshalb konkretere Befürchtungen hegte. Er wolle nur ein bisschen Luft, Abstand gewinnen, hatte Walter gesagt. Alles in allem wäre es einfach leichter, wenn ihr Verschwinden im Haus so lange wie möglich unentdeckt bliebe, für sie und auch für ihn.
»Ich komm wieder, Carl!«, rief Schenkendorff.
Am nächsten Morgen schob er zwei Blatt Papier durch den Türschlitz, es war wie im Film. Es handelte sich um ein Formular zur polizeilichen Ab- und Anmeldung in Gera-Langenberg, Kreis Gera, Bezirk Gera. Carl fragte sich, ob Schenkendorff nicht längst Bescheid wusste über alles.
Später am Abend rückte er Sessel und Stubentisch an die Wand und legte zwei lange Reihen Blätter auf dem orangebraunen Teppichboden aus. Dazwischen ein Weg, auf dem er auf und ab gehen konnte, um das Geschriebene zu inspizieren.
Er sah jetzt, dass im Gedicht mit dem Soldaten im U-Boot hier und da etwas verbessert werden konnte. Aber der Rhythmus war gut, das Unterwassergefühl stimmte. Sehnsucht und Verlassenheit in der richtigen Mischung, jedenfalls empfand er es so. Nicht aus Erfahrung oder weil er gerade etwas (in einem weiteren Sinne) Vergleichbares erlebte – auf diesen Gedanken wäre Carl nicht gekommen. Im Gegenteil: Der Mann im U-Boot war Poesie, und wenn es Poesie war, dann hatte es nichts mit dem eigenen (belanglosen) Leben zu tun. Es war die andere Welt, für die es sich lohnte (und sonst für keine). Carl träumte von dem Tag, an dem ihm ein großes gültiges Gedicht gelingen würde. Etwas so Großes wie die »Four Quartets« von T. S. Eliot, zum Beispiel.
Als Schreibunterlage war der Teppich zu weich, ab und zu stach die Spitze seines Bleistifts durch – winzige Löcher im Papier.
»Atemlöcher«, flüsterte Carl-das-Kind, das die ganze Zeit neben ihm auf dem Boden hockte, »Atemlöcher für deine Gedichte.«
»Das findest du gut?«
»Ja.«
»Und wie findest du die Gedichte?«
Die ersten Tage in Gera: ohne Nachricht, ohne Brief.
Gewissenhafte, immer zuverlässige Eltern.
Ab Gießen getrennt.
Er versuchte, es sich vorzustellen. Irgendein Lager, eine Turnhalle vielleicht oder ein stillgelegter Bahnhof, irgendwo im Norden. Feldbetten und Baumwolldecken, in der Nähe das Meer, Ebbe und Flut. Wovon würden sie leben? Sie hatten keine Westverwandtschaft, keine Bekannten, nie jene Pakete, die Jeans, Kaffee und den betörenden Geruch des Westens importierten, von dem so oft die Rede war. Und natürlich kein Westgeld, nie. Nur die Vorräte im Jägerrucksack. Das Medikament, das sein Vater brauchte für sein Herz, hatten sie auch daran gedacht? Viele, die gingen, hatten irgendeine Adresse. Sie waren jung und hatten eine Adresse. Vielleicht waren sie nicht besonders willkommen, aber fürs Erste hatten sie ein Ziel, einen Namen, eine Straße – statt Bahnhof oder Auffanglager. Er sah seine Eltern, Seite an Seite tauchten sie ein in diesen Irrtumsnebel, der immer dichter wurde.
Einmal am Tag schlich Carl die drei Etagen durchs Treppenhaus nach unten zum Briefkasten und bei dieser Gelegenheit oft auch gleich noch eine Treppe weiter, in den Keller, wo es Eingewecktes und Apfelwein gab, Hunderte Gläser und Flaschen in eisernen Regalen, der Vorrat für den Rest des Lebens.
Wenn es dunkel wurde, ging er hinaus auf den Balkon, um zu rauchen. Vom Balkon aus konnte man weit ins Elstertal blicken. Linker Hand lag seine alte Schule. Er musste sich nur etwas über die Brüstung beugen, um sie zu sehen: zwei Stockwerke, lange helle Gänge zwischen den Zimmern, Physikkabinett, Chemiekabinett, Bunsenbrenner. Zehn Minuten vor sieben war Unterrichtsbeginn. Erst das kurze, warnende, dann das lange, endgültige Klingelzeichen. Halb sieben der gedeckte Frühstückstisch, seine Eltern waren schon aus dem Haus. Zwei vorgeschmierte Marmeladenbrötchen, Muckefuck mit Milch aus der blauen Thermoskanne (die Thermoskanne seiner Kindheit, plötzlich sah er sie, beunruhigend genau, mit der kleinen Beule, dem abgeplatzten Lack, dem halb losen, vom Kaffee unregelmäßig gebräunten Gummi am Schraubverschluss) und neben dem Teller die allmorgendliche Zettelnachricht seiner Mutter:
»Lieber Carl! Für Deine Physikarbeit viel Glück. Konzentriere Dich gut und vermeide Leichtsinnsfehler! Bitte mach Feuer, wenn Du nach Hause kommst, und vergiss die Asche nicht …«
Kein Brief, keine Nachricht, so verstrichen die Tage. Wenn Carl müde war und zerstreut, kam es vor, dass er dachte: Sie werden nie fortgehen. Aber sie waren gegangen. Eltern, denen nichts wirklich Ernsthaftes zustoßen konnte. Ab Gießen getrennt.
Kühlschrank und Gefrierfach waren gut gefüllt, die Vorräte des alten Lebens, genug für Wochen, Monate vielleicht. Seine Mutter hatte alles in Portionen aufgeteilt, in sauber aufgeschnittenen, gründlich ausgewaschenen Milchtüten. Am verblichenen Blau der Schrift erkannte Carl, dass die Tüten schon mehrfach benutzt worden waren. Er entzifferte das Wort Milchhof, das ihm gefiel, nur das Wort. Die Verbindung von Milch und Hof, das war klare, starke Poesie. Jede Tüte war mit einem kleinen Gummi verschlossen. In den Wicklungen des Gummis steckte ein Streifen Pappe, mit Datum und Inhaltsverzeichnis. Er betrachtete die stürmische, in den Fortgang des Wortes gelehnte Schrift. Flüchtlingsschrift flüsterte Carl ins Gefrierfach, und mit einem Ruck sprang der Kühlschrank an. Aus dem Gedröhn des Aggregats tönte die Ermahnung seines Vaters, die Tür nur kurz, möglichst nicht länger als zwei bis drei Sekunden geöffnet zu halten: »Man sollte vorher wissen, was man will. Man muss sich konzentrieren.«
Nach drei Wochen in Gera musste Carl feststellen, dass er genau dazu nicht mehr in der Lage war. Lesen konnte er nur noch für Minuten, dann musste er aufstehen, sich bewegen. Da er niemandem begegnen und mit niemandem sprechen wollte (erst recht nicht über das spurlose Verschwinden seiner Eltern), verließ er die Wohnung nur nachts, wie ein Tier seine Höhle, im Schutz der Dunkelheit. Manchmal streunte er dann durch die Gebind, das war der Name ihres Viertels, sieben parallel angeordnete Altneubauten und einige andere, die sich bergauf zum Wald hin stuften. Manchmal ging er auch an den Fluss, den alten Spazierweg bis zur Franzosenbrücke. Er sah das schwarz schimmernde Wasser der Elster und vor ihm die Gestalten seiner Eltern, Hauptdarsteller der Gewohnheit. Er sah, wie seine Mutter ihren Arm um die Hüfte seines Vaters legte, lachte und ihn zu sich heranzog. Schon als Kind hatte er während ihrer Sonntagsspaziergänge am Fluss nicht nur Langeweile, sondern auch eine gewisse Traurigkeit empfunden, von der er nichts Genaueres wusste. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er der Einheit, die seine Eltern bildeten, immer nur mit einigem Abstand gefolgt, ihnen (gewissermaßen) nachgeschlichen und dabei allein geblieben war mit dem Fluss, wo seine Phantasien trieben, in Strudel gerieten und an den Stromschnellen abtauchten wie ein überladenes Floß … Wenn die Fahrt zu stürmisch wurde, stand er dort, wie angewurzelt, und musste atmen, atmen, bis sich alles wieder beruhigt hatte. Während seine Eltern sich langsam immer weiter entfernten mit ihren selbstgewissen, in tausend Spaziergängen aneinander abgemessenen Schritten.
Er trank zu viel und führte Selbstgespräche. Er verlotterte und schrieb keine einzige brauchbare Zeile. Stattdessen sah er fern, tage- und nächtelang. Immer neue, immer unglaublichere Nachrichten: Aufruf zum Generalstreik und die alte Regierung unter Hausarrest, teilweise schon in Haft. Die alte Ordnung löste sich auf, in rasender Geschwindigkeit. Dazu Apfelwein und eingeweckte Pflaumen. Die Grenzhundekaserne mit den goldenen Kiefern war noch immer eine Meldung wert. In der Küche stapelte sich das verdreckte Geschirr, Müll auf dem Boden, Fäulnisgeruch. Nachts tänzelte Carl auf Strümpfen in den Keller und kehrte mit frischer Beute nach oben zurück, lautlos. Der Wein war ausgesprochen süß und verursachte einen dumpfen, stechenden Kopfschmerz; vielleicht trank er zu schnell.
Ab und zu blieb Carl etwas länger dort unten. Er fühlte sich matt und brauchte eine Pause vor dem Wiederaufstieg. Als hätte der plötzliche Aufbruch seiner Eltern ihm alle noch vorhandenen Kräfte ausgesaugt. Ab Gießen getrennt. Die Vermisstenmeldungen häuften sich: Menschen aus dem Osten, die im Westen spurlos verschwunden waren, abgetaucht. Menschen aus dem Osten, die ihre Mütter, Väter, Ehefrauen und -männer (und, ja, auch ihre Kinder) verließen und über die Grenze Richtung Westen zogen und unsichtbar wurden. Es war die Gelegenheit, man wechselte das Leben. Erst eiserner Vorhang, jetzt goldene Brücke. Und wie leicht musste es sein, ein paar dieser Glücksritter und Freiheitssucher beiseitezuschaffen, irgendwo zu verscharren, falls sich dabei ein Vorteil ergab …
Sollte er nach Gießen fahren? Eine Nachforschung beantragen im Flüchtlingsregister? Oder gleich eine Vermisstenanzeige? Hunderttausend, hieß es, seien unterwegs. Hunderttausend seit Öffnung der Grenze.
›Man fährt nicht mit dem eigenen Wagen vor das Tor eines Flüchtlingslagers‹ – es ziemt sich nicht, so hatte Carl seinen Vater verstanden. Das war sein Respekt vor dem Vorgang der Flucht, deren Umstände im Ungewissen lagen. Vor allem aber, so sah es Carl, entsprach es seiner Gutgläubigkeit – einem Vertrauen darauf, dass ein bestimmtes (gutes, richtiges) Verhalten eine bestimmte (gute, richtige) Reaktion hervorrufen würde. Und vielleicht hatte er recht damit. Vielleicht brauchte es diese Formen von Demut und Buße, wenn man ein Flüchtling aus dem Osten war. So ungewöhnlich ihr Schritt, so chaotisch und gewagt das Ganze auch aussah, sie wollten es anständig machen. Sie wollten gute Flüchtlinge sein, was Carl das Herz abschnürte. Arme Eltern. Sie würden es niemals schaffen. Sie waren nicht kaltschnäuzig genug, hatten nicht die Ellbogen dafür. Sie waren mit schlimmeren Dingen nicht vertraut, waren zu alt, zerbrechlich, verletzlich und schleppten einen großen schwarzen Kasten durch die Gegend.
Erst jetzt, hier unten im Keller, vor dem Apfelweinregal, erreichte Carl die Angst. Das heißt, sie war längst da gewesen, eigentlich die ganze Zeit. Sie steckte in den Ankergläsern, in der eingeweckten Blutwurst, den Birnen und den Pflaumen, sie hockte in den dunklen Ecken und hatte den Rattengeruch. Sie nagte an den Zeitungsstapeln, sie zermalmte das Papier zu winzigen Fetzchen und spuckte es aus. Sie fraß den Zyankali-Köder und ging nicht zugrunde daran, im Gegenteil, sie wuchs.
Er hatte eine Kerze angezündet (das Licht funktionierte schon seit Jahren nicht mehr) und lehnte mit dem Rücken am Kohlebunker. Sein Blick fiel auf das Vertiko seiner Urgroßmutter, das irgendwann hier unten seinen Platz gefunden hatte, zwischen Kartoffelmiete und Vorratsregal. Eine Ecke des Schranks war verkohlt, als Kind hatte er versucht, ihn anzuzünden, verträumt und mit viel Geduld: Carl-das-dumme-Kind, starrt gern in kleine Feuer, nur so, gedankenlos. An der Wand gegenüber hing die große Platte seiner Modelleisenbahn, in uralte Laken gehüllt. Durch einen Spalt sah man die Landschaft, einen Bahnhof, kleine Menschen aus Plastik, mit den Füßen festgeklebt. All diese Dinge bestanden aus Angst. Irgendwo da draußen tobte die Geschichte, und mitten in diesem Treiben irrten seine Eltern umher.
Redensarten lagen in der Luft: »Eins nach dem anderen.« Oder: »Der Dumme trägt sich auf einmal zu Tode.« Und immer wieder, im warnenden Tonfall seiner Mutter: »Man kann nicht alles haben. Man kann nicht alles haben.«
Carl ließ die Wohnung verkommen, vielleicht hatte sie deshalb damit begonnen, Zwang auszuüben. Sie verlangte von ihm, vereinfacht gesagt, das alte Leben fortzusetzen, stellvertretend. Das nachmittägliche Kaffeetrinken am Stubentisch um 16.30 Uhr, der Badetag, der Garagentag und so weiter, der einzige Ablauf, der an diesem Ort in Frage kam. »Auch wir sind Verlassene, verstehst du das?« Der Fernsehsessel am Fenster hatte gesprochen (der Platz seines Vaters), und er beruhigte sich nicht, weshalb Carl irgendwann mit ihm zu reden begann: »Warum alles so gekommen ist, ich meine, was sie wirklich im Sinn haben, wissen wir nicht. Es ist eine Art Geheimnis, verstehst du, ihr Lebensgeheimnis.«
Schenkendorff hatte neue Formulare durch den Türschlitz geschoben. Diesmal war Carls Name bereits eingetragen. Auch die Adresse, akkurat, mit Kugelschreiber und in Großbuchstaben. Vierzehn Tage Meldefrist.
Wozu das alles? Am einfachsten wäre es gewesen, die Formulare entgegenzunehmen, ein paar belanglose Worte zu wechseln und irgendetwas zu erfinden. Carl begriff, dass er sich schämte. Er schämte sich dafür, dass sie gegangen waren, bei »Nacht und Nebel«, wie es heißen würde, nach ein paar Jahrzehnten Nachbarschaft einfach verschwunden, ohne ein Wort.
Weil er sich weigerte, nach den Gepflogenheiten der Wohnung zu leben, geschahen immer öfter Missgeschicke. Nachts in der Küche, im Halbdunkel: Er hielt den Löffel falsch herum, und die kalkige Flüssigkeit eines Medikaments, das er hatte einnehmen wollen, tropfte vom Bauch des Löffels auf sein Hemd. Nicht schlimm, aber die kleinen Unglücke summierten sich, eine feindliche Stimmung baute sich auf. Ein Glas ging zu Bruch, und sofort trat Carl mit bloßem Fuß in einen der Splitter. Ihn packte die Wut. Draußen fielen die Grenzen, und er saß in Gera-Langenberg fest. Verlassen von Gott und der Welt, vor allem aber von Inge und Walter. Es war das erste Mal, dass er den Kern der Kränkung zu spüren bekam.
Er ging in die Küche, schob die Gardine beiseite und spähte die Straße hinunter. Im ganzen Altneubau (drei Aufgänge, vier Etagen) war nur eine einzige Familie ans Telefonnetz angeschlossen – Familie Schuler, bei der die Notrufe eingingen. »Nur die wirklichen Notfälle bitte«, so hieß die Bedingung. Stand Frau Schuler vor der Tür, wusste man, dass etwas geschehen war, was es mit den Jahren unmöglich gemacht hatte, die Gestalt der Nachbarin aus dem Nebeneingang wahrzunehmen, ohne ein Unglück kommen zu sehen (oder sich an ein vergangenes Unglück zu erinnern). Verließ Frau Schuler ihre Wohnung, hatte sie meist ihren Hund dabei, einen müden Mischlingsterrier, der den Kopf gesenkt hielt und niemals anschlug. Sein Leben lang würde Carl in jedem dieser struppigen Hunde das Unglück erblicken – stumm und mit hängenden Ohren. Aber auch schnüffelnd, schamlos.
Die Straße war leer, und kein Anruf war gut, eigentlich sehr gut. Er musste lernen, sich zu beherrschen, er durfte nicht so empfindlich sein. Neben der Spüle stand eine angebrochene Flasche Apfelwein. Carl trank sie aus, schnell, als müsse er mit irgendetwas endlich fertig werden, dann ging er ins Bett, es war später Nachmittag. Er zog Meyers Lexikon aus dem Regal und las. Marokko: El-Maghreb el-Aksa (arabisch, »der ferne Westen«). Amtlich al-Mamlaka al-Maghrebia, Königreich in der Nordwestecke Afrikas. Geschichte, Geographie, Mittlerer Atlas, Hoher Atlas und »jenseits der Atlasketten über einen Saum von Oasen der Übergang zur Sahara«. Dazu eine kleine Karte mit Bodenschätzen, Klimazonen, den wichtigsten Städten. Carl sprach die Namen leise vor sich hin. Agadir, Tanger, Marrakesch, Fès, und dann immer wieder: Fès, Fès. »Jeder hat nur ein Lied«, hatte Paul Bowles gesagt, der in Tanger lebte. Café Hafa, Pension L'Amour, Blechdächer, Katzen, die maghrebinische Sonne – das erträumte Leben, dort fand es statt. »Dort wird es sein«, flüsterte Carl, dann schlief er ein.
Er träumte von Unteroffizier Bade, der Sekunden zählte, mit der Stimme eines sprechenden Pferds. Gut dreißig Sekunden und die Wache war angetreten, in voller Montur – Marschgepäck, Stahlhelm und Waffe. Carl machte Meldung, und das Pferd begann zu wiehern: »Eeeeefffffiiiii – die einzige Frau, in die Soldat Bischoff je verlieeee-bt gewesen ist, oder wa-a-a-as? Oder niiiicht, Soldat? Und gut geee-ffffickt? Eeeff-fi geeeff-ickt?«
Als Carl erwachte, schweißgebadet, war es Mitternacht. Warum träumte er von der Armee? Wie so oft in Situationen von Verwirrung und Orientierungslosigkeit tauchten Geschichten aus der Vergangenheit auf: einerseits die immerwährende Sehnsucht nach Trost und Erlösung, andererseits Fehlentscheidungen, verpasste Gelegenheiten, magische, aber ungenutzte Augenblicke – all die verheißungsvollen Momente, bevor sie verstrichen waren.
Auf Strümpfen tappte Carl nach unten in den Keller und kehrte mit zwei frischen Flaschen zurück. Er war in der zweiten Etage (links Familie Koberski, rechts Familie Dix), als oben die Tür aufsprang – Schenkendorff! Diesmal passte er ihn ab. Carl begann zu rennen, auf Strümpfen, drei Stufen mit jedem Schritt, aber kurz vor dem Ziel rutschte er aus. Er riss die Flaschen in die Luft, es war ein Reflex. Er stürzte in den Flur, mit den Fersen stieß er die Tür ins Schloss, und sein Kopf schlug gegen das Holz der Garderobe – das alles in einer einzigen Bewegung.
Eine Weile herrschte vollkommene Stille. Carls Ohren wurden eiskalt.
Irgendwo über ihm begann die Glocke ihrer Klingel zu kreisen. Sorgfältig fertigte sie einen Umriss seines regungslosen Körpers im Flur. Draußen vor der Tür kniete Effi und fragte, »ob es nicht schön wäre mit einer Geschichte«.
»Ja, bitte, Geschichte«, flüsterte Carl.
»Verstehst du, Carl, so kann es nicht weitergehen.«
»Nein, Effi, so nicht.«
»Also, hör zu.«
Zuerst fuhr Carl zum Postamt in der Zeitzer Straße und erklärte Frau Bethmann, dass alle Sendungen an die Adresse seiner Eltern ab sofort bei ihr im Amt zurückgehalten und gesammelt werden sollten: Postlagernd war das Wort dafür. Er füllte den entsprechenden Antrag aus, ein kleines Formular.
»Postlagernd«, wiederholte Frau Bethmann, und ein Streif ihrer großen weißen Schneidezähne kam zum Vorschein.
»Und wie lange, Carl?« Sie war eine schöne Frau im Alter seiner Mutter, etwas jünger vielleicht, pechschwarzes Haar und eine Ponyfrisur. In seiner Kindheit hatte sie Carl an Mireille Mathieu erinnert, die damals »der Spatz von Avignon« genannt worden war.
»Zwei Monate, vielleicht? Bis Ende Januar? Und ich rufe dann an, hier im Postamt, regelmäßig, ich meine, ob etwas angekommen ist, wäre das möglich, Frau Bethmann?«
Carls Verlegenheit war mit Händen zu greifen. Dazu ihr fragender Blick auf das große unförmige Pflaster über seiner Augenbraue. Frau Bethmann war in der Frauensportgruppe seiner Mutter, zehn, zwölf Frauen, die sich wöchentlich trafen, in der Turnhalle der Schule, 19 Uhr an jedem Donnerstag – das allein wäre Anlass genug gewesen, genauer nachzufragen. Dass sie kein einziges Wort darüber verlor, verstand Carl als Ausdruck ihrer Solidarität, nicht als Missbilligung oder Gleichgültigkeit. Schweigend wünschte sie ihm Glück, und sicher wünschte sie es auch für sich selbst und vielleicht auch für alle anderen Bewohner Gera-Langenbergs, mit denen man das Leben bis zu diesem nicht vorhersehbaren Zeitpunkt durchgestanden hatte. Es war, als würde sich die Welt in einem äußerst sensiblen, schwebenden Zustand befinden, als hätte man gerade begonnen zu existieren, dachte Carl. Hier, in diesem Augenblick, am Telegrammschalter der Post.
Vom Postamt fuhr Carl zurück in die Garage. Das Fahren tat gut. Endlich antwortete er der großen Bewegung, die alles erfasst hatte und umwälzte, mit einer eigenen Bewegung. Kaum war Carl abgebogen, tauchte ein ehemaliger Mitschüler vor ihm auf, es war H. Seltsamerweise hatte H. einen Hund dabei, und er bewegte sich sehr langsam, wie in Zeitlupe, mit halb schwebendem, halb schlurfendem Schritt. Seine Augenlider waren seltsam geschwollen und wie zusammengekniffen, er kam direkt auf Carl zu, der erschrak und beschleunigte.