Stollbergs Inferno - Michael Schmidt-Salomon - E-Book

Stollbergs Inferno E-Book

Michael Schmidt-Salomon

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Beschreibung

Der Religionskritiker Jan Stollberg stirbt während einer Vorlesung und findet sich, zu seinem maßlosen Erstaunen und Entsetzen, in der christlichen Vorhölle wieder, die tatsächlich so aussieht, wie die katholische Kirche es seit Jahrhunderten predigt. Wie er sind dort alle Philosophen gefangen, die aufklärerisches Gedankengut vertreten haben, von Immanuel Kant bis Friedrich Nietzsche, von Karl Marx bis Albert Camus. Der unmittelbar bevorstehende Abtransport Ludwig Feuerbachs zur "Himmlischen Rampe" wird für die gepeinigten Gefangenen zum Anlaß, die höllischen Zustände nicht länger nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern — sie planen den Aufstand gegen die Diktatur Gottes...

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Das stärkste Argument gegen Gott – wäre der Beweis seiner Existenz

 

 

 

Michael Schmidt-Salomon

 

Stollbergs Inferno

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alibri Verlag

Aschaffenburg

2007

 

 

„Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde. Wenn dich deine Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab; es ist besser für dich, verstümmelt in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen, in das nie erlöschende Feuer. Und wenn dich dein Fuß zum Bösen verführt, dann hau ihn ab; es ist besser für dich, verstümmelt in das Leben zu gelangen, als mit zwei Füßen in die Hölle geworfen zu werden. Und wenn dich dein Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus; es ist besser für dich, einäugig in das Reich Gottes zu kommen, als mit zwei Augen in die Hölle geworfen zu werden, wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt.“ (Mk 9,42-48)

 

I.

„Das war’s also!“, dachte Stollberg. Er lag auf dem Podest des großen Hörsaals und griff sich an die Brust. Seine Ärzte hatten ihm geraten, weniger zu arbeiten und das Leben zu genießen. Aber Jan Stollberg war kein Mensch, der sich einfach zurücklehnen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen konnte. Er war ein Besessener. Stollberg musste arbeiten. Er produzierte Bücher und Artikel am Fließband, reiste von Stadt zu Stadt, hielt Vorträge, gab Interviews, diskutierte, kritisierte, polemisierte. So hart die Anfeindungen oft auch waren, Stollberg ging Konflikten niemals aus dem Weg. Auch nicht, als er merkte, dass sein Körper die großen Belastungen nicht mehr verkraften konnte. Zwei Herzinfarkte hatte er überstanden und er wusste, dass der dritte ihn wohl endgültig niederstrecken würde. Nun, so schien es, war es so weit.

Stollberg rang nach Luft. Dieser ungeheure Druck! Es fühlte sich an, als ob jemand sein Herz in einen Schraubstock zwingen würde. Schemenhaft erkannte er die Umrisse einiger Studenten, die sich um ihn versammelt hatten. Er hörte, wie jemand nach einem Arzt rief.

Die Schmerzen wurden immer unerträglicher. Jan wollte sein Hemd öffnen, konnte aber seine Arme nicht mehr bewegen. Er wollte schreien, aber kein Laut drang über seine Lippen. Nur ein leises, heiseres Röcheln war noch zu hören. Langsam schwanden ihm die Sinne.

Dann, von einem Moment zum anderen, war der Schmerz, die Beklemmung, verschwunden. Ein seltsames Hochgefühl machte sich in ihm breit. Er fühlte sich eigenartig entspannt. „Merkwürdig“, dachte er, „ob ich schon tot bin?“

Unsinn! Er verwarf den Gedanken gleich wieder. Der Leitsatz des René Descartes „Ich denke, also bin ich!“ kam ihm in den Sinn. Der Franzose hatte sich zwar in Vielem geirrt, dieser Satz jedoch schien Stollberg nun logischer zu sein als je zuvor. Er war verwundert, wie gelassen er die Situation betrachtete. Er lag im Sterben – daran konnte es keinen Zweifel geben – und doch fühlte er sich am ganzen Geschehen erstaunlich unbeteiligt. „Die körpereigenen Opiate!“, schoss ihm durch den Kopf. Er war froh, eine Erklärung für seinen Zustand gefunden zu haben.

Plötzlich wurde ihm schwindelig. Jan verlor die Orientierung. Er spürte, wie ihm der eigene Körper langsam, aber sicher, entglitt. Er konnte es nicht fassen: Er hatte tatsächlich den Eindruck, seinen Körper zu verlassen! Vor einigen Jahren hatte Jan Studien über Nah-Tod-Erlebnisse gelesen. Häufig war darin vom Gefühl der Körperlosigkeit berichtet worden. Als notorischer Skeptiker hatte er allerdings immer Zweifel an der Authentizität der Berichte angemeldet. Andererseits jedoch musste er einräumen, dass bestimmte Drogen ähnliche Halluzinationen hervorrufen konnten.

Nun, wenn dies eine Halluzination war – und davon ging Stollberg selbstverständlich aus –, so war sie doch erstaunlich realistisch. Er schwebte etwa drei Meter über dem Boden und betrachtete seinen regungslosen Körper, an dem sich mittlerweile eine Ärztin der nahen Universitätsklinik zu schaffen machte. Sie versorgte ihn mit einem Beatmungstubus und befestigte Metallelektroden an seiner Brust. Jan wusste, was nun kommen würde und der Gedanke behagte ihm nicht sonderlich. „Bitte zurücktreten. 200 Joule!“

Jan sah, wie sich sein Körper unter ihm aufbäumte. „Keine Reaktion!“, sagte eine Stimme. Die Notärztin versuchte es mit einer zweiten Ladung. „Er ist wieder da!“, hörte Jan jemanden sagen. „Sieht so aus, als würde er sich stabilisieren ...“

Die Ärztin nickte. Zwei Sanitäter trugen den regungslosen Körper zum Notarztwagen. Jan beobachtete, wie die Ärztin während der Fahrt seinen Herzschlag kontrollierte. Er dachte an seine Frau, seine Kinder, an die Mitarbeiter seiner Forschungsgruppe, an das unfertige Manuskript über „Wissenschaft und Aberglaube“, an seine Mutter, die den eigenen Sohn nun überleben würde. Er fragte sich, was die Nachrichtensender wohl am Abend über sein Leben berichten würden, ob man seinem Wunsch nach einer einfachen Beerdigung nachkommen werde und ob die Mitglieder der Theologischen Fakultät zur Feier des Tages vielleicht einen kleinen Umtrunk veranstalten würden ... Stollberg hielt inne. Dass er im Moment seines Todes an solche Belanglosigkeiten dachte, ärgerte ihn ein wenig.

Mittlerweile war der Notarztwagen am Krankenhaus angekommen. „Ich fürchte, wir verlieren ihn wieder!“, sagte die Ärztin. Man brachte ihn in den Not-OP.

Um Jan herum wurde es dunkel. Er hatte das Gefühl, sich in einem langen, dunklen Tunnel zu befinden. In der Ferne sah er ein Licht. „Das Ende!“, dachte er. „Die Sauerstoffversorgung des Hirns lässt nach. Mein Tod steht unmittelbar bevor. In wenigen Sekunden ...“, Jan stockte, der Gedanke war ungeheuerlich, selbst für einen nüchternen Rationalisten wie ihn, „... in wenigen Sekunden wird es mich nicht mehr geben!“

Das Notfallteam arbeitete hektisch. Sie versuchten mit weiteren Elektroladungen und Spritzen, Stollbergs Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Doch es war aussichtslos. Nach einer Weile stellte die Ärztin die Behandlung ein. „Es ist vorbei!“, sagte sie kopfschüttelnd. „Sein Herz war zu schwach!“ Sie seufzte leise und schaute auf ihre Uhr: „Zeitpunkt des Todes ...“

 

II.

„Bereust du deine Sünden und deine Abkehr von Gott, dem Allmächtigen, dem Herrscher über Himmel und Erde?“

Jan war benommen.

„Bereust du deine Sünden?“

„Was?“ Jan öffnete die Augen und blickte sich um. Er saß auf einem Stuhl, die Arme fest an die Lehnen gefesselt. Um ihn herum völlige Dunkelheit.

„Bereust du deine Abkehr von Gott, dem Allmächtigen, dem Herrscher über Himmel und Erde?“

Jan lachte laut auf: „Was soll das sein? Ein schlechter Scherz?“

Der Stuhl unter ihm begann zu vibrieren und ehe er darüber nachdenken konnte, donnerte er in die Tiefe. Jan schrie. Er war von einem Meer aus Flammen umgeben. Sein Körper brannte wie Feuer. Er brannte, ohne zu verbrennen. Qualen wie diese hatte Jan noch nie erlebt. Die Hitze brachte ihn um den Verstand. Der Geruch von ätzendem Schwefel biss ihm in der Nase. Er schnappte nach Luft, brüllte, flehte, winselte.

Plötzlich schoss der Stuhl wieder nach oben. Jan atmete tief durch. Der Schmerz war verschwunden. „Ein kleiner Vorgeschmack auf das, was dir blüht, wenn du deine Sünden nicht bereust“, sagte die Stimme.

Jan nahm all seinen Mut zusammen: „Wo bin ich?“

„Kannst du es dir nicht denken?“, fragte die Stimme.

„Das muss ein schlechter Traum sein“, sagte Jan.

„Dies ist kein Traum“, entgegnete die Stimme, „du befindest dich im heiligen Purgatorium. Gott, der Allmächtige, bietet dir in seiner allumfassenden Güte die Chance zu bereuen, dich vom Übel abzuwenden!“

„Das ist doch Unsinn!“, antwortete Jan. „Es gibt keinen Gott, keine Hölle, kein Fegefeuer! Das sind altertümliche Wahnideen, von menschenverachtenden Barbaren erfunden, um die Leute zu ängstigen. Nur wirklich kalte Seelen konnten das Höllenfeuer erfinden!“

Abermals raste der Stuhl in die Tiefe. Jan brüllte aus Leibeskräften. Der Stuhl fuhr wieder nach oben.

„Du bist ein schwieriger Fall!“, sagte die Stimme, „ich bezweifle, dass du dem Höllenfeuer entgehen wirst. Du willst die Wahrheit nicht sehen...“

„Welche Wahrheit?“, brüllte Jan.

„Die Wahrheit des dreifaltigen Gottes, des Vaters, des Sohnes, des heiligen Geistes...“

Jan lachte verzweifelt: „Wollen Sie mir wirklich einreden, dass Gottvater die Welt in sieben Tagen erschaffen hat?“

„So ist es!“

„Dass er seinen Sohn von einer antiken Besatzungsmacht hinrichten ließ, um die Menschheit zu retten?“

„Amen!“

„Dann wollen Sie mir sicherlich auch weismachen, dass es eine Hölle gibt – und Engel, die die Selektion an der himmlischen Rampe vornehmen?“

„So hat Jesus es angekündigt! Du bist doch ein gebildeter Mann, du kennst die Bibel!“

„Sicher!“

„Erinnerst du dich an das Matthäusevangelium, Kapitel 13, Verse 41-43?“

„Ja, ich denke schon...“

„Zitiere!“

„...Der Menschensohn wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle zusammenholen, die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben, und werden sie in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen...“

„Und?“

„Was heißt hier ‘und’? Das ist doch nichts weiter als Aberglaube! Kein Mensch glaubt heute noch daran!“

„Du übertreibst!“

„Den meisten Theologen, die ich getroffen habe, ist das ganze Gerede von Hölle, Teufel und Fegefeuer furchtbar peinlich. Sie sagen, Fegefeuer und Hölle seien nur altmodische Umschreibungen für Gottferne!“

„Auch sie werden dem Purgatorium nicht entgehen!“, drohte die Stimme. „Wer Gottes Wort nicht tödlich ernst nimmt, der ist verdammt! Es wäre besser für diese Ketzer, niemals geboren worden zu sein!“

„Ach ja?“, entgegnete Jan. „Wo bleibt da Gottes viel gepriesene Liebe, seine allumfassende Güte?“

„Nur Gottes Gnade hast du zu verdanken, dass du hier bist. Du hast die Chance, zu bereuen und als Geläuterter Eintritt ins Paradies zu erlangen!“

„Okay. Nehmen wir an, ich erkläre, dass ich meine Sünden bereue...“

„Deine Worte sind uns egal, uns interessiert, was du denkst! Du musst Gott von ganzem Herzen lieben...“

„Ich soll ihn dafür lieben, dass er mich peinigt? Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?“, fragte Jan.

„Mir scheint, du willst noch einmal Bekanntschaft mit dem Fegefeuer machen!“, drohte die Stimme.

„Nein! Um Gottes willen! Nein!“, schrie Jan. Er blickte ängstlich in die ihn umgebende Dunkelheit. „Ich tue alles, alles, was Sie verlangen!“

„Es liegt in deiner Hand!“, entgegnete die Stimme. „Also: Was hast du mir zu sagen?“

Stille.

„Was hast du mir zu sagen?“, wiederholte die Stimme.

„Ich ... ich...“

„Ja?“

... ich bereue!“, flüsterte Jan.

„Was bereust du?“, fragte die Stimme.

„Ich bereue meine Sünden ...“

„Und?“

„... und meine Abkehr, meine Abkehr von Gott!“

„Liebst du Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Herrscher über Himmel und Erde?“

„Ja!“, hauchte Jan wenig überzeugend.

„Lauter!“

„Ja!“

„Liebst du ihn aufrichtig und von ganzem Herzen?“

„Ja, verdammt noch mal, ja!“, schrie Jan.

Der Stuhl donnerte abermals in die Tiefe. „Ich liebe ihn!“, brüllte Jan. „Oh Gott, Gott!“ Die Flammen brannten heißer als je zuvor und es dauerte eine Ewigkeit, bis der Stuhl wieder nach oben brauste.

„Gott lässt seiner nicht spotten! Du hast noch einen weiten Weg vor dir!“, hörte er die Stimme sagen. „6 mal 66 Verhöre! Wenn du bis zum Ende dieser Gnadenfrist nicht geläutert bist, wirst du auf immer und ewig den Flammen übergeben! Denk darüber nach! Wir werden uns wiedersehen!“

Jan hörte, wie eine Tür aufgeschlossen wurde. Als sie sich öffnete, fiel ein wenig Licht in den Raum. Schemenhaft konnte er zwei Männer erkennen, die auf ihn zukamen. Sie trugen Kutten und Kapuzen, die Jan an den Ku-Klux-Klan erinnerten.

„Jan Stollberg“, sagte einer der beiden Männer in militärischem Ton, „das Verhör ist beendet!“

Sie befreiten Stollberg von seinen Fesseln und nahmen ihn in Gewahrsam. „Wo bringen Sie mich hin?“, fragte Jan.

„Das wirst du schon sehen!“

„Mehr wollen Sie mir nicht verraten?“

„Doch: Es wird dir nicht gefallen...“

 

III.

„Das alles kann doch gar nicht real sein“, dachte Jan, während er durch ein Labyrinth dunkler Gänge geführt wurde. Eben noch hatte er im Hörsaal gestanden, über die notwendige Einheit von Körper und Geist philosophiert. Ein Leben nach dem Tod war nach dem Stand der Wissenschaft gänzlich ausgeschlossen. Die Existenz der Hölle sowieso. Und nun... Hatte er sich wirklich so geirrt? Waren alle wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrhunderte auf einen Schlag null und nichtig? Fügte sich die Realität wirklich den finsteren Visionen des Mittelalters?

Nein, es musste eine andere, eine logischere Erklärung für seine Erlebnisse geben. Spielte ihm vielleicht sein Hirn einen letzten hinterlistigen Streich? Immerhin: Er hatte sich vor zwei Jahren eingehend mit der Geschichte der Jenseitslegenden beschäftigt und ein viel beachtetes Buch geschrieben, das die Idee der ewigen Verdammnis einerseits historisch erklärte, andererseits als Kardinalverbrechen an der Menschheit geißelte. Hatte er sich vielleicht zu sehr in die Thematik vergraben? Setzte sein Hirn nun, da sein eigener Tod bevorstand, die von ihm referierten Jenseitsmythen zu einem grausamen Ganzen zusammen? War er der Gefangene seiner eigenen Inszenierung?

Der Gedanke schien plausibel zu sein, aber Jan konnte ihn nicht zu Ende denken. Seine Wärter stießen ihn hart zu Boden. Jan blickte sich um. Er befand sich in einem großen, dunklen Raum. Das wenige Licht, das den Raum erfüllte, wurde von vier Pechfackeln gespendet, die an den Längsseiten der Halle loderten. Zehn Meter vor ihm stand ein riesiger Schreibtisch, hinter dem ein Mann in schwarzer Uniform saß.

„Jan Stollberg, 56 Erdenjahre, Todsünder. Du hast dich des Atheismus und Materialismus schuldig gemacht. Du hast Gott geleugnet und die Existenz der metaphysischen Seele bestritten. Du hast Bücher veröffentlicht, die die Menschen vom Weg abbrachten und sie ins Verderben stürzten.“ Der Mann wandte sich an Stollbergs Wächter: „Zieht ihn aus!“

In Windeseile wurden Jan sämtliche Kleider vom Leib gerissen. Er stand ganz nackt da und versuchte mit den Händen, seinen Schambereich zu verdecken.

„Jan Stollberg, in Anbetracht deiner Sünden wirst du in den siebten Ring der Vorhölle geschickt. Dort wirst du arbeiten und leiden, bis du zum nächsten Verhör geladen wirst. Bringt ihn nach vorne!“

Die Kapuzenträger zogen Stollberg unsanft hoch und schleppten ihn zum Schreibtisch. Einer der beiden ergriff eine Pechfackel. Der Mann hinter dem Schreibtisch stand auf und ging auf Stollberg zu. Er hatte einen großen, mit langen Nadeln besetzten Stempel in der Hand, den er unter die Fackel hielt. Der Stempel begann zu glühen. Jan ahnte, was nun kommen würde. Er versuchte sich loszureißen. Vergeblich. Der zweite Wärter hielt ihn mit eisernem Griff fest. Jan zitterte vor Angst. Der Uniformierte grinste und presste den glühenden Stempel auf Stollbergs linken Unterarm. Der Gepeinigte schrie laut auf. Die Wärter ließen ihn los und Jan sank entkräftet zu Boden. Er schluchzte wie ein verängstigtes Kind und betrachtete das Zeichen, das sich blutrot auf seinem Unterarm abzeichnete: 5.257.399.212-77-A.

„Dein Kainsmal!“, sagte der Uniformierte. „Es ist das Zeichen deiner Schuld. Solltest du aufrichtig bereuen, wird es von selbst verblassen.“ Der Uniformierte nickte mit dem Kopf, worauf einer der beiden Wärter eine Kutte auf den Boden warf.

„Zieh das an!“, befahl der Uniformierte.

Jan ergriff die Kutte und zog sie sich hastig über. Sie kratzte fürchterlich und roch nach Kot und Verwesung. Jan hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

Der Uniformierte drehte sich wortlos ab und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Mit einem Ruck wurde Jan hoch gerissen. Die Wärter nahmen ihn in ihre Mitte und zerrten ihn mit festem Griff vor eine Tür, die sich am hinteren Ende des Raumes befand. Die Tür öffnete sich.

Jan starrte in ein tiefes Loch. Sein Herz pochte.

„Nicht schlappmachen, Stollberg!“, witzelte einer der beiden Kapuzenmänner. „Der eigentliche Spaß kommt doch erst!“

„Was haben Sie vor?“, stammelte Jan.

„Es geht nach unten, Stollberg, ganz nach unten!“

Sie gaben ihm einen kräftigen Stoß.

Jan fiel.

Er kreiselte in der Luft und wusste schon bald nicht mehr, wo oben und unten war. Mehrmals prallte er mit dem Kopf gegen das Felsgestein. So weh das auch tat, Jan konnte nicht einmal mehr schreien. Zu groß war sein Entsetzen. Er fiel immer weiter. Es gab keinen Halt. Er stürzte unaufhaltsam in die Tiefe...

 

IV.

Der Aufprall war hart. Unter normalen Umständen hätte er den Sturz nicht überlebt, aber welchen Sinn machten schon die Denkkategorien des Normalen unter den Bedingungen des Purgatoriums?

Jan blieb eine Zeit lang bewegungslos liegen. Bei dem Aufprall hatte er sich sämtliche Knochen seines Körpers gebrochen, aber sie heilten auf unerklärliche Weise innerhalb kürzester Zeit wieder zusammen.

„Aufstehen, die Vorhölle ist kein Vergnügungspark!“, brüllte eine Stimme. Jan sah auf. Ein Aufseher in stand vor ihm. Wie seine beiden Vorgänger trug auch er eine schwarze Kapuze, die sein Gesicht verdeckte. Der Mann schlug Stollberg mit einer Peitsche mitten ins Gesicht. „Aufstehen, habe ich gesagt!“

Jan rappelte sich auf. Er wankte. Nur mühsam konnte er sich auf den Beinen halten.

„Geh voran!“

Jan machte vorsichtig die ersten Schritte.

„Schneller!“, befahl der Aufseher.

Jan beschleunigte das Tempo. Sie gingen durch eine Art gigantisches Bergwerk. Überall standen, lagen oder knieten Menschen. Viele von ihnen waren bis zur Ohnmacht erschöpft. Wie es schien, zwang man sie, mit Spitzhacke und Schaufel tiefe Löcher auszuheben. Die Hitze war enorm. Jan war vollkommen durchnässt. Die Kutte klebte an seinem Körper.

Plötzlich befahl ihm der Aufseher stehenzubleiben. Jan blickte sich um. An der Wand vor ihm stand sein Name, in großen Lettern eingemeißelt in den Felsen: Jan Stollberg, Todsünder, Registrierungsnummer 5.257.399.212-77-A.

„Dort sind Hacke und Schaufel, Stollberg! Mach dich an die Arbeit! Und keine Pausen! Sobald du aufhörst, wirst du meine Peitsche auf dem Rücken spüren!“

Jan griff hastig nach der Hacke und schlug mit aller Kraft in den Felsen. Das Gestein war hart und die Arbeit mühsam. Aber er kam voran. Nach einer Weile hatte er eine Grube von knapp zwei Metern Tiefe ausgehoben. Jan wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Und nun das Loch wieder zuschütten!“, brüllte der Aufseher hinter ihm.

„Was?“, fragte Jan.

„Zuschütten!“

„Aber warum?“ Das Ganze machte für Jan keinen Sinn.

„Keine Fragen! Tu, was ich dir sage!“

Jan griff nach der Schaufel und begann, das Loch wieder zuzuschütten.

„Schneller!“, lautete der Befehl. Jan spürte einen scharfen Peitschenhieb auf seiner Schulter. Er zuckte kurz zusammen und schaufelte, so schnell er konnte.

Als die Grube wieder zugeschüttet war, drehte er sich um: „Und nun?“

„Kannst du es dir nicht denken?“ Der Aufseher schien hinter der Kapuze zu schmunzeln.

Jan schüttelte den Kopf. Er atmete schwer. Die Arbeit hatte ihn an den Rand seiner körperlichen Kräfte gebracht.

„Heb das Loch wieder aus!“

„Was?“ Jan wollte es nicht glauben.

„Ausheben, aber sofort!“ Der Aufseher unterstrich seine Forderung mit einem gezielten Peitschenhieb in Stollbergs Gesicht.

Jan fiel zu Boden, richtete sich aber sofort wieder auf, um Schlimmeres zu verhindern. Er griff zur Hacke und holte aus. Das Gestein war merkwürdigerweise so hart wie beim ersten Mal. Jan rackerte wie ein Wahnsinniger. Als das Loch wieder mannstief war, kam abermals der Befehl, es wieder zuzuschütten.

Die erniedrigende Prozedur wiederholte sich mehrere Male. Jan war verzweifelt, aber erlaubte sich keinen Widerspruch. Er fragte sich, wie lange er die Tortur wohl noch aushalten würde. Seine Kräfte ließen mehr und mehr nach. Just in dem Moment, in dem er aufgeben wollte, ertönte ein lauter Glockenschlag.

Eine unerwartet sanfte, weibliche Stimme hallte durch den Raum: „Sünder, die ihr die Gesetze Gottes mit Füßen getreten habt, setzt euch zu Boden, bereut eure Sünden! Es ist nicht zu spät! Der Allmächtige liebt alle seine Schafe, auch die schwärzesten unter euch. Also kehret heim in den Schoß des geliebten Vaters! Tuet Buße und die Stunde ist nah, in der Er euch in Seiner allumfassenden Liebe empfangen wird!“

Jan blickte sich um. Der Aufseher war verschwunden, die Menschen um ihn herum ließen ihre Werkzeuge fallen. Sie sanken erschöpft zu Boden. Einige weinten leise vor sich hin, die meisten aber starrten still und mit leerem Blick nach unten. Jan blickte zur Seite, auf den Mann, der rechts neben ihm geschuftet hatte. Der Mann kroch auf allen Vieren zu Stollberg hinüber.

„Du bist Jan Stollberg?“, fragte er.

Jan nickte: „Woher kennen Sie meinen Namen?“

„Hier in der Vorhölle sprechen sich Neuigkeiten schnell herum“, erklärte der Fremde, „und auf das ‘Sie’ kannst du getrost verzichten! In der Hölle ist kein Platz für bürgerliche Höflichkeitsformen!“ Er verzog das Gesicht zu einem hilflosen Grinsen.

Jan holte tief Luft: „Ich verstehe!“

„Du hast sicherlich einen harten Tag hinter dir ...“ Der Fremde machte eine kurze Pause. „Leider kann ich dich nicht damit trösten, dass es von nun an besser wird!“

„Es ist die Hölle!“, sagte Jan.

„Nur die Vorhölle!“, korrigierte der Fremde.

„Was kann schlimmer sein als das?“, fragte Jan, der sich vergeblich mühte, seine Verzweiflung zu kaschieren. „Als ich dieses verdammte Loch wieder zuschütten musste, das war fast schlimmer als die Flammen während des Verhörs!“

„Ja“, antwortete der Fremde, „eine schreckliche Tortur! Ich habe mir Sisyphos auch etwas glücklicher vorgestellt!“ Für einen Moment huschte der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht.

Jan betrachtete die Gesichtszüge des Fremden etwas genauer. Sie kamen ihm bekannt vor. Ja, er war sich sicher, dieses Gesicht zu kennen. Er war dem Mann zwar nie persönlich begegnet, hatte aber Bilder von ihm in Büchern und Zeitschriften gesehen. Noch bevor Jan seine Gedanken richtig sortieren und das Gesicht dem richtigen Namen zuordnen konnte, stellte sich der Fremde selbst vor:

„Mein Name ist Camus, Albert Camus.“

 

V.

Einen Moment lang war Jan sprachlos. Vor ihm saß tatsächlich Albert Camus, der Literaturnobelpreisträger, dessen Mythos des Sisyphos ihn einst so tief beeindruckt hatte.

Jan schüttelte ungläubig den Kopf: „Das ... das ist nicht möglich! Ich ... ich habe Ihre Bücher ...“ Er stockte: „Ich meine, deine Bücher bereits als Jugendlicher verschlungen!“

Camus lächelte: „Ich weiß! Du hast ein freundliches Kapitel über mich geschrieben. In deiner Philosophie des Absurden, wenn ich mich nicht irre ...“

„Woher ...?“

„Woher ich das weiß?“ Camus war über den ratlosen Blick Stollbergs amüsiert. „Es gab in letzter Zeit Durchreisende, die mir von dem Buch erzählten ...“

„Durchreisende?“

„So nennen wir Leute, die nur kurze Zeit hier sind, weil sie sich von den Inquisitoren schnell drehen lassen. Sie werden, je nach Läuterungsgrad, in einem angenehmeren Sektor der Vorhölle untergebracht oder schaffen gar den großen Sprung nach oben ...“

„Es gibt angenehmere Sektoren?“

„Ja, es gibt eine Vielzahl von Vorhöllen. Du befindest dich hier in der untersten Vorhölle, dem Limbus der Todsünder. Sie ist bestimmt für diejenigen, die sich aus ethischen oder philosophischen Gründen von Gott abgewandt haben. Daneben gibt es noch die Vorhöllen der Tugendlosen, der Unkeuschen und Gierigen. Es gibt Vorhöllen für ungetaufte Kinder, für Heiden, für Muslime, Juden, Buddhisten und Hindus, Vorhöllen für Frauen, die abgetrieben haben, für christliche Humanisten und Glaubenszweifler, für Mörder, die ihre Verbrechen nicht unter dem Signum des Kreuzes begangen haben und so weiter. Außerdem gibt es Sonderabteilungen für bestimmte Berufsgruppen, zum Beispiel für Musiker, deren Tongebilde keine Gnade in Gottes Gehörgängen fanden. Wie ich hörte, soll es dort von Zwölftonmusikern nur so wimmeln...“

„Das ist ein Scherz, oder?“ Jan wusste nicht, ob er den Ausführungen Camus Glauben schenken sollte.

„Durchaus nicht!“, antwortete Camus. „Die Ärmsten werden in ihren Verhören mit C-Dur-Dreiklängen gequält und müssen in der Vorhölle auf verstimmten Instrumenten spielen!“

Jan schaute Camus zunächst etwas ungläubig an, dann brachen beide in schallendes Gelächter aus. Als sie sich wieder gefangen hatten, fuhr Camus fort: „So komisch das auch klingt ...“, er räusperte sich, „es muss für die Ärmsten eine schlimme Folter sein. Man hat mir erzählt, dass Gustav Mahler – du weißt doch, er hat in seiner Dritten Sinfonie den Frevel begangen, einen Text von Nietzsche zu vertonen! – dass also Mahler gezwungen wurde, Bachs Wohltemperiertes Klavier auf einem verstimmten Westernklavier zu spielen! Der Ärmste soll nach der Vorstellung schweißgebadet aufgestanden sein und gefleht haben, man möge ihn doch lieber direkt den Flammen übergeben ...“

Camus hatte die letzten Worte in einem sehr ernsten Ton gesprochen. Jan spürte, dass Camus nicht zu Scherzen aufgelegt war. Dennoch konnte und wollte Jan das Geschilderte nicht unwidersprochen hinnehmen: „Aber das alles ist doch völlig absurd! Die Vorhöllen, das Fegefeuer, der Himmel, Gott ...“

Camus nickte: „Als ich noch lebte, meinte ich, dass das menschliche Leben absurd sei, weil Gott und damit ein über den Tod hinausweisender Sinn nicht existierte. Nun aber, da ich tot bin, weiß ich, dass erst die Existenz Gottes die Logik des Absurden zur Vollendung bringt!“

„Ein tiefer Satz!“, sagte Jan. „Welche Konsequenzen hast du daraus gezogen?“

„Die Konsequenz ist dieselbe geblieben“, antwortete Camus, „die Revolte, die Rebellion gegen das Absurde! Der metaphysische Sprung, der Sprung ins blinde Gottvertrauen, will mir auch jetzt nicht gelingen. Hegel, Kierkegaard und Heidegger, klar, die hatten keine Probleme damit! Die konnten sich schon auf Erden mit allerlei Unsinn abfinden!“

„Ihnen blieb die Vorhölle erspart?“

„Zweimal im Fegefeuer – und sie waren rein wie Neugeborene! Zum Teufel! Ich hab’s ja auch versucht! Ich habe hart darum gekämpft, einfältig zu werden! Aber es ist mir nicht gelungen und ich weiß: es wird mir auch in Zukunft nicht gelingen! Mein Weg ist der des Sisyphos, der Kampf gegen den absurden Heilsplan eines Gottes, der nicht zu besiegen ist!“

Camus machte eine kurze Pause: „Leider stehe ich mit dieser Ansicht ziemlich alleine da ...“

In diesem Moment ertönte ein zweiter Glockenschlag. Camus stand auf: „Komm, es ist Zeit für die Große Speisung!“

 

VI.

Nach einer kurzen Wanderung durch das Felsgestein waren Jan und Camus an einer großen Höhle angelangt, in der sich eine große Menschenmenge versammelt hatte. „Alles Todsünder?“, fragte Jan. Camus nickte.

Die Menschen saßen auf langen, kargen Holzbänken, die in merkwürdigem Kontrast standen zu dem üppigen Festmahl, das auf den Tischen vor ihnen aufgebaut war. Jans Blick wanderte fasziniert von einer Köstlichkeit zur anderen: Fasanen-, Gänse- und Entenfleisch, Lachs, Muscheln und Krebse, Hummer und Kaviar, dazu aromatisch duftende Trüffel und Pfifferlinge, frische Datteln, Feigen und Melonen, Süßspeisen aller Art. In den Gläsern perlte der Champagner.

Herrliche Düfte durchströmten den Raum. Jan atmete tief ein, nahm das wunderbare Aroma der Speisen in sich auf. In ihm wuchs eine ungeheure Lust, ein mächtiges Verlangen, alles zu verspeisen, was da unten auf den Tischen lag. Nie zuvor hatte er solchen Heißhunger gespürt. Er hatte nur noch einen Wunsch, nur noch ein Ziel vor Augen: Möglichst bald diese köstlichen Speisen zu berühren, sie in den Mund zu nehmen, zu schmecken, mit allen Sinnen zu genießen. Er stürmte nach vorne. Camus versuchte ihn zurückzuhalten: „Jan, hör zu! Die Speisen sind ... sind nicht das, was sie vorgeben zu sein!“

Jan wollte nicht hören. Er riss sich los und hetzte durch die Reihen. Endlich fand er einen Sitzplatz. Vor ihm lag eine mit Nüssen und Mandeln gefüllte Wildgans. Er fixierte sie mit irrem Blick. Nie zuvor hatte er etwas derart Wunderbares gesehen! Das war nicht irgendeine gefüllte Gans, das war der Inbegriff der gefüllten Gans schlechthin! Ein einziger Bissen würde ihn entschädigen für all die Erniedrigungen und Schmerzen, die er in den letzten Stunden durchlitten hatte. Der Gedanke war verrückt, aber Jan konnte sich nicht dagegen wehren.

Er griff nach der Gans, riss sie in wilder Gier auseinander und schob sich ein großes Stück des saftigen Fleisches in den Mund. Seine Geschmacksnerven waren aufs Äußerste angespannt. Er schloss die Augen vor Erregung.

Das Fleisch schmeckte irgendwie seltsam. Zunächst merkte er nur, dass es äußerst bitter war und einen unangenehmen, faulig süßen Nachgeschmack hatte. Auch die Konsistenz war irritierend. Es war weder knusprig noch zart, sondern matschig und pelzig. Außerdem hatte er das Gefühl, dass irgendetwas seinen Gaumen entlang kroch. Nein, er korrigierte sich, es war kein einzelnes Etwas, es waren mehrere kleine Etwasse. Ein ganzes Nest! Gottverdammt! Jans Magen krümmte sich zusammen. Er spuckte die halb zerkaute Mahlzeit aus.

Kleine, weiße Maden tummelten sich auf seinem Teller. Sie schwammen in einer dickflüssigen, grünlich-braunen Substanz, die von Schimmel durchsetzt war. Jan würgte. Er konnte es nicht zurückhalten. Sein Magen rebellierte. Er kotzte, bis nur noch Galle kam.

Beschämt sah er auf seinen Teller hinunter. Zwischen den Maden und dem Schimmel schwammen kleine Stücke Mais und Blumenkohl – Überreste des Mensaessens, das er kurz vor seiner verhängnisvollen letzten Vorlesung zu sich genommen hatte.

„Du hast doch nichts dagegen?“, fragte sein rechter Tischnachbar, den Jan bis dahin überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Ohne eine Antwort abzuwarten, ergriff er Stollbergs Teller, zog ihn zu sich und machte sich mit großem Elan darüber her.

Aus Jans Gesicht war alle Farbe verschwunden. Wie gelähmt beobachtete er, wie sein Tischnachbar Maden, Schimmel und Erbrochenes genüsslich in sich hineinschaufelte. Dabei schockierte ihn weniger, was dieser Mann da machte, sondern viel mehr, wer dieser Mann war!

„Wie ich sehe, hast du dich gleich an den Tisch mit der Prominenz gesetzt! Gratuliere!“, sagte Camus, der die ganze Zeit nach Stollberg gesucht hatte und sichtlich erleichtert war, ihn gefunden zu haben.

Jan stand auf und zog Camus zur Seite: „Sag mir, dass das nicht wahr ist!“

„Was meinst du?“

„Ich habe von der Gans gekostet und ...“

„Sie war nicht so, wie du es dir vorgestellt hast!“

„Mein Magen hat es nicht verkraftet!“

„Das geht den meisten so beim ersten Mal!“

„Es war schrecklich, ich habe mich in den Boden geschämt! Aber dann ... dann hat er ...“, Jan zeigte auf seinen Tischnachbarn, der in der Zwischenzeit den Teller sauber geleert hatte und sich nun über die Gans hermachte, „... er hat meinen Teller zu sich rübergezogen und ...“ Bei dem Gedanken wurde Jans Gesicht noch etwas bleicher, als es ohnehin schon war. Er musste übel aufstoßen.

Camus grinste: „Seit er gehört hat, dass Wagners Parsifal regelmäßig im Himmel aufgeführt wird, ist er gänzlich von Sinnen!“

„Er... er ist es also wirklich?“, fragte Jan.

„Daran gibt es keinen Zweifel!“, antwortete Camus. Er beugte sich nach vorne: „Darf ich unterbrechen, Eure Hoheit? Ich würde Ihnen gerne Jan Stollberg vorstellen. Er gilt als einer der besten Nietzsche-Kenner des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts...“

„Wer ist Nietzsche?“, fragte Nietzsche. „Und überhaupt: Wie kommst du Wurm dazu, einen Gott bei seinem Festmahl zu stören?“ Seine Stimme nahm einen pathetischen Ton an: „Es gibt nichts Heiligeres als den Willen zur Gans!“ Er verfiel in wildes Gelächter.

Camus zuckte mit den Schultern: „Wie ich schon sagte: Er ist von Sinnen ...“

Jan blickte fassungslos auf Nietzsche und Camus. Wenn man ihm vor Tagen gesagt hätte, dass er einmal einem Gespräch zwischen den beiden werde lauschen dürfen ... Natürlich hätte er es nicht geglaubt! Er glaubte es ja immer noch nicht! War es nicht merkwürdig, dass er ausgerechnet jene beiden Philosophen traf, mit denen er sich zeitlebens am meisten beschäftigt hatte? Sprach das nicht dafür, dass er das Ganze doch nur unbewusst inszenierte? Andererseits, das musste er zugeben, schienen die Erlebnisse höchst real zu sein: die Flammen, die Gerüche, die Schmerzen, die Übelkeit, die ihn überfiel, wenn er an die Maden auf dem Teller dachte ... Verdammt, da war sie wieder! Jan versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.

Er hatte Glück, denn just in diesem Moment sprang Nietzsche auf: „Wir sind die Götter des Olymps!“, verkündete er in feierlichem Ton. „Wir sind alles, was ist! Wir haben die Philosophie entjungfert und die Werte zertrümmert! Unser Werkzeug war nicht das Skalpell, sondern die Abrissbirne! Wir wollten nicht reformieren, sondern schlachten! Wir haben die Welt entsorgt und den Tod vernichtet! Übrig blieb der heilige Rausch und ...“, er machte eine theatralische Pause, „... der Wille zur Gans!“ Nietzsche klatschte sich selbst Beifall, verbeugte sich nach allen Seiten. Dann setzte er sich hin, griff nach der Gabel und verdrückte ein weiteres Stück Gänsebraten.

„Wie kann er das nur runterschlucken?“, fragte Jan.

„Es ist uns allen ein Rätsel, wie er das macht! Die schlimmsten Qualen scheinen ihn nicht zu stören. Im Gegenteil! Er kostet sie aus, scheint sich dabei sogar bestens zu amüsieren! Angst scheint er auch keine zu haben ...“ Camus lachte: „Vor kurzem soll er den Inquisitoren zugerufen haben: ‘Was, ihr wollt euch vermehren? Verzehnfachen, verhundertfachen? Sucht Nullen! An mir werdet ihr euch überheben: Dionysos ist eine Nummer zu groß für euch!’“

„Das erinnert an eine Stelle aus der Götzendämmerung ...“

Camus nickte: „Du kannst dir ja vorstellen, wie die Inquisitoren darauf reagiert haben ...“

„Sie haben ihn ins Feuer geschickt!“

„Richtig, aber mit seiner Reaktion haben sie nicht gerechnet...“

„Was hat er gesagt?“

„Er hat sich bedankt! Das sei alles sehr angenehm gewesen, ob man das nicht wiederholen könne. Die Hitze sei sehr heilsam für seinen bösen Rücken...“

„Er hat einen bösen Rücken?“

„Nein, soweit ich weiß, ist er körperlich kerngesund. Er wollte provozieren!“

„Also ist er doch bei Verstand?“

„Schwer zu sagen, ob seine Narrheit die Folge einer mentalen Krankheit ist oder aber ein genialer Schachzug seiner Fröhlichen Wissenschaft! Auf jeden Fall scheint er seinen Aufenthalt hier zu genießen!“

Die beiden schauten mit einer Mischung aus Mitleid und Bewunderung zu Nietzsche hinüber, der sich gerade eine große Marzipantorte auf den Teller lud.

„Du solltest auch einen kleinen Happen essen!“, sagte Camus.

„Unmöglich!“, antwortete Jan.

„Wenn du’s nicht tust, wird dich bald schrecklicher Hunger quälen ...“

„Wenn ich’s dir doch sage: ich kann das nicht!“

„Du wirst es lernen müssen!“

„Es ist erniedrigend!“

„Das soll es auch sein!“

„Ich werde nichts essen, selbst wenn ich verhungern muss!“

„Sei nicht kindisch! Du bist unsterblich – wie wir alle! Was soll das Lamentieren? Du brauchst deine Kräfte!“ Camus zog Jan zurück zum Tisch. „Wenn du das Zeug schnell herunterschluckst, ist es halb so schlimm ...“

Jan schaute Camus eine Weile unentschlossen an. Dann griff er nach dem Besteck.

 

VII.

„Bereust du deine Sünden und deine Abkehr von Gott, dem Allmächtigen, dem Herrscher über Himmel und Erde?“

Nach der Großen Speisung hatten zwei Aufseher Stollberg abgeführt und in einen dunklen Verhörraum gebracht.

„Bereust du deine Sünden?“

Jan wusste, dass er antworten musste, wenn er nicht wieder Bekanntschaft mit dem Fegefeuer machen wollte. Er entschloss sich zu einer Gegenfrage: „Welche Sünden soll ich denn bereuen?“

„Das weißt du selber nur zu genau!“, antwortete der Inquisitor.

„Nun, ich weiß nicht, nach welchen Maßstäben hier geurteilt wird“, sagte Jan. „Ich habe in meinem Leben sicherlich Fehler gemacht! Aber ich habe niemanden bestohlen oder betrogen. Ich habe mich um Gerechtigkeit und Wahrheit bemüht, habe für den Abbau der Armut gekämpft. Im Gegensatz zu vielen religiösen Führern habe ich auch keine Kriege angezettelt, niemanden gefoltert oder ermordet...“

„Du hast weit Schlimmeres getan!“, fuhr der Inquisitor dazwischen. „Du hast die Seelen der Menschen vergiftet, sie ins Verderben gestürzt!“

„Weil ich das Christentum kritisiert habe?“

„Weil du atheistische Lügen verbreitet hast!“

Das konnte Jan so nicht stehen lassen: „Ich habe niemals behauptet, dass Gott nicht existiert. Ich habe nur gesagt, dass es nicht sinnvoll ist, von der Existenz Gottes auszugehen! Das ist doch ein Unterschied, oder?“

„Das ist eine rein sophistische Unterscheidung! Hast du nichts Besseres zu deiner Verteidigung vorzubringen?“

„Auch wenn ich persönlich nicht an Gott geglaubt habe, so hatte ich doch Sympathien für die Pantheisten, die ‘Gott’ als ‘Summe alles Seins’ verstanden!“

„Das macht es nicht besser!“, entgegnete der Inquisitor. „Ein Gott, der in Allem ist, wäre kein Gott, sondern ein Nichts! Was überall ist, ist nirgendwo! Was in allem ist, existiert nicht! Nur weil Gott und die Welt sich voneinander unterscheiden, kann Gott existieren.“

Jan schwieg. Er wusste, dass der Inquisitor Recht hatte.

„Wäre Gott in Allem“, fuhr er fort, „so wäre er in der Bibel genauso zu finden wie im Kommunistischen Manifest, in der Kirche ebenso wie in einem Bordell, er säße im Himmel und in der Hölle, er wäre Bestandteil von Abtreibungskliniken, Schwulensaunen und Pornofilmen! Glaube nicht, dass du dich auf solche Weise dem Feuer entziehen kannst! Das ist selbst Spinoza nicht gelungen ...“

Einen Moment lang wusste Jan nicht, was er sagen sollte. Dann startete er einen neuen Versuch: „Gut, nehmen wir an, der christliche Gott existiert ...“

„Annahmen sind nicht notwendig: Er existiert auch losgelöst von deinen Annahmen ...“

„Einverstanden. Aber woher hätte ich das wissen können? Es gab in der Menschheitsgeschichte so viele Religionen ...“

„Alles Ausgeburten des Satans! Du hättest Gottes Wort ernst nehmen müssen!“

„Die Bibel? Die ist doch voller Ungereimtheiten und Fehler!“

Stollbergs Stuhl brauste in die Tiefe.

„Gott macht keine Fehler!“, donnerte die Stimme des Inquistors.

„Ich nehme es zurück!!“, brüllte Jan. „Ich nehme es zurück!!“

„Wer machte die Fehler?“, fragte der Inquisitor

„Ich! Ich machte die Fehler, nur ich allein!“

Der Stuhl sauste wieder nach oben.

„Du erbärmlicher Wurm! Was brachte dich dazu, Gottes Wort anzuzweifeln?“

Jan überlegte, wie er auf diese Frage antworten sollte. Er hatte Angst, wieder ins Feuer geschickt zu werden: „Wirst du mich wieder bestrafen, wenn ich’s dir sage?“

„Du scheinst, die Gnade des Fegefeuers zu verkennen! Es ist keine Strafe, es führt dich zu Gott!“

„Ach ja?“ Jans Stimme klang nicht überzeugt.

„Gott liebt dich!“

„Er hat eine sonderbare Art, das zu zeigen!“, erwiderte Jan.

„Das Feuer reinigt dich! Dein Vater, der allmächtige Herrscher über Himmel und Erde möchte, dass du ihn aufrichtig liebst...“

Jan schwieg.

Der Inquisitor hakte nach: „Willst du mir nun verraten, weshalb du an Gottes Wort gezweifelt hast?“

„Das ... hatte ... mehrere Gründe“, begann Jan zögerlich.

„Welche?“

„Es waren zu viele Gründe“, sagte Jan. „Ich kann sie unmöglich alle ausführen!“

„Nenne einige!“

„Die Schöpfungsgeschichte widerspricht unseren Erkenntnissen über die Evolution des Lebens auf unserem Planeten ...“

„Eure Erkenntnisse entspringen dem Geist Satans, aber fahre fort ...“