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Michael Schmidt-Salomon

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Beschreibung

Finanzakrobaten, die mit Milliarden jonglieren, aber das kleine Einmaleins nicht beherrschen. Politiker, für die nur Stimmen zählen – statt Argumente. Religiöse Fanatiker, die uns mit modernsten Waffen ins Mittelalter zurückbomben wollen: Hinter der globalen Misere steckt, so Schmidt-Salomon in seiner mitreißenden Streitschrift, eine einzigartige, weltumspannende Riesenblödheit. Ein Aufruf zum Widerstand gegen den Irrsinn unserer Zeit. Zur Website des Autors: www.keine-macht-den-doofen.de

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage März 2012

ISBN 978-3-492-95579-9

Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH 2012 Umschlagkonzeption: semper smile, München Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

VORWORT

Wenn Dummheit epidemisch wird

Die größte Bedrohung der Menschheit geht nicht von Erdbeben und Tsunamis aus, auch nicht von skrupellosen Politikern, raffgierigen Managern oder finsteren Verschwörern, sondern von einer einzigartigen, weltumspannenden, alle Dimensionen sprengenden RIESENBLÖDHEIT! Wer’s nicht glaubt, ist schon infiziert.

Die Dummheit – sie ist die große Konstante der menschlichen Geschichte, die einzige Weltmacht, die seit Jahrtausenden Bestand hat: Könige, Päpste und Präsidenten kamen und gingen, Gesellschaften entstanden und zerfielen, Wahlprogramme wurden geschrieben und vergessen – die Dummheit blieb. Revolutionen konnten ihr ebenso wenig anhaben wie Naturkatastrophen, Weltkriege oder Finanzkrisen. Zwar gab es immer wieder hoffnungsvolle Ansätze, das Zusammenleben der Menschen vernünftiger zu gestalten, doch solche Experimente waren selten von Dauer. Die mächtige Internationale der Doofen, der Engstirnigen, der ewig Gestrigen, der hoffnungslos Zurückgebliebenen kehrte schon bald wieder zurück ans Dirigierpult der Geschichte und gab den debilen Takt vor, nach dem die Verhältnisse zu tanzen haben.

John Adams, der zweite Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, beklagte bereits im 18. Jahrhundert: »Während alle anderen Wissenschaften vorangeschritten sind, tritt die Regierungskunst auf der Stelle; sie wird heute kaum besser geübt als vor drei- oder viertausend Jahren.«1 Daran hat sich wenig geändert. Noch immer fallen die Leistungen in der Politik weit hinter dem zurück, was Menschen auf anderen Gebieten erreicht haben. Doch warum ist das so? Könnte es sein, dass die Politik hinter den Wissenschaften und Künsten geistig zurückbleibt, weil sie den geistig Zurückgebliebenen besondere Entfaltungsmöglichkeiten bietet? Es dürfte nicht schwerfallen, Politiker zu finden, an deren Beispiel man eine solche These erhärten könnte. Dennoch zielt sie an der Realität vorbei: Denn die »Macht der Doofen« beruht nicht auf individuellen Minderbegabungen (die in der Politik – so fair sollte man sein – nicht häufiger auftreten als im Bevölkerungsdurchschnitt), sondern auf kollektiven Denkschwächen: Politisch wirksam ist Dummheit nur, wenn sie epidemische Ausmaße annimmt, wenn der Irrsinn so allgegenwärtig ist, dass er als solcher nicht mehr zu erkennen ist.

Das ist, Mensch sei’s geklagt, der Normalfall. Friedrich Nietzsche brachte es auf den Punkt: »Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.«2 Das Vertrackte an diesem »ganz normalen Wahnsinn« ist, dass man ihn in der Regel nur erkennt, wenn man aus einer zeitlichen oder räumlichen Distanz heraus urteilt. Denn wir alle sind Gefangene der kulturellen Matrix, in die wir hineinsozialisiert wurden. Und so erscheint uns unsere eigene, gegenwärtige Kultur im Allgemeinen recht vernünftig. Doch ist sie es wirklich? Sind wir wirklich so viel klüger als die Menschen der Vergangenheit, oder trägt unsere Dummheit bloß andere Gewänder? Werden künftige Generationen uns »gebildete Zivilisationsmenschen« vielleicht mit dem gleichen mitleidig-verstörten Blick mustern, mit dem wir Heutigen auf jene zurückschauen, die einst überzeugt davon waren, dass sie die zornigen Wettergötter mithilfe von Menschenopfern gnädig stimmen müssten? Sind wir womöglich genauso verbohrt, genauso vorurteilsbeladen, genauso engstirnig wie sie? Wen opfern wir? Und aus welchen Gründen?

Leider gibt es keine rote Pille, die man schlucken könnte, um aus der wahnhaften Matrix auszusteigen.3 Es bedarf schon einiger Denkanstrengungen, um auch nur einen kleinen Teil der zeitbedingten Mythen zu überwinden, die wir allesamt mit uns herumtragen. Dies allein dürfte bedauerlicherweise ausreichen, um einen Großteil der Menschen zeitlebens in der vorgefundenen Matrix festzuhalten. Denn wer setzt sich schon gerne Denkanstrengungen aus – außer vielleicht beim Lösen von Kreuzworträtseln?

Arthur Schopenhauer meinte, die tiefe Abneigung gegen geistige Anstrengung sei ein typischer Wesenszug unserer Spezies: »Die große Mehrzahl der Menschen ist so beschaffen, dass ihrer ganzen Natur nach es ihnen mit nichts Ernst sein kann als mit Essen, Trinken und sich Begatten.«4 Aus evolutionsbiologischer Perspektive ist das verständlich: Warum auch sollte der Mensch sein ressourcenintensives Denkorgan über Gebühr strapazieren, wenn sich solcher Ressourcenverbrauch augenscheinlich gar nicht lohnt? Schließlich zogen diejenigen, die es wagten, der kulturellen Matrix zu entfliehen, nur selten Vorteile aus dem übermäßigen Gebrauch der Vernunft. Erschreckend viele Vordenker der Menschheit wurden zu Lebzeiten nicht geachtet, sondern geächtet, wurden verlacht, verfolgt, verhaftet, verbannt oder gar bei lebendigem Leibe verbrannt.

Zwar hat sich seit dem mörderischen Treiben der Inquisition vieles geändert – der eherne Zusammenhang von Macht und Dummheit ist aber erhalten geblieben. Noch immer gilt: Die herrschende Dummheit ist stets auch die Dummheit der Herrschenden.5 Deshalb gerät derjenige, der sich gegen die öffentliche Vernunft (sprich: den gerade geltenden Konsensus der Dummheit) auflehnt, unweigerlich in Konflikt mit den Hütern des Status quo. Wer aber will es sich schon verscherzen mit den hochdekorierten Repräsentanten des Staates, der Gesellschaft, der Religion? Zeigt die Erfahrung nicht, dass derjenige, der die Dummheiten entlarvt, am Ende selbst der Dumme ist? Muss man es nicht fast schon als ein Zeichen von »Klugheit« begreifen, dass sich die meisten Menschen lieber anpassen und alle fünf gerade sein lassen, auch wenn dabei die Logik Schaden nimmt?

Nicht ohne Grund heißt es: »(Nur) Kinder und Narren sagen die Wahrheit.« Auch in Hans Christian Andersens klugem Märchen »Des Kaisers neue Kleider« ist es nicht zufällig ein Kind, das sich traut, die Wahrheit auszusprechen, vor der sich alle anderen zunächst drücken. Dass der Kaiser nackt ist, dass die Repräsentanten der Macht einem einzigartigen, grotesken Schwindel aufsitzen, ist eine Einsicht, die viel zu groß, viel zu erschreckend ist, als dass vernünftige Erwachsene zu ihr gelangen könnten. Freies Denken ist, wie es scheint, nur möglich, wenn man die Zwangsjacke der Konvention entweder noch nicht angelegt hat – wie das Kind in Andersens Geschichte – oder wenn man sie abgelegt hat und in den Augen der Welt zum Narren geworden ist.

Als Narr, der sich der Zwangsjacke entledigt, genießt man sprichwörtliche Freiheit – allerdings um den Preis, nicht mehr ernst genommen zu werden. Sei’s drum: Manchen Menschen steht die Narrenkappe besser als der Professorenhut. Und so werde ich mir hier die Narrenfreiheit erlauben, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, auch wenn ich dadurch alle Chancen verspiele, in die Liga der ernst zu nehmenden Gentlemen aufgenommen zu werden. Dass mir dies schnuppe ist, hängt mit einem gewissen kindlichen Trotz zusammen, der sich selbst im fortgeschrittenen Alter nicht ausgewachsen hat: Ich kann es einfach nicht ertragen, wenn die Leute behaupten, der Kaiser sei gekleidet, obwohl er offensichtlich nackt ist. Ich habe es satt, von Politikern, Religionsführern, Wirtschaftsweisen, Medienleuten – ja, selbst von Philosophen – Jahr für Jahr, Monat für Monat, Woche für Woche, Tag für Tag die ewig gleichen inhaltsleeren, nichtssagenden Phrasen zu hören. Und mir dreht sich der Magen um, wenn ich mit ansehen muss, wie diese angeblich so intelligente Spezies jeder noch so kruden Wahnidee nachläuft.

Dabei halte ich mich keineswegs für besonders intelligent, ich glaube auch nicht, auf alle Fragen, die in dieser Streitschrift angesprochen werden, die richtigen Antworten zu wissen. Doch ich bin Narr genug, so lange an meinen Positionen festzuhalten, bis mir bessere Argumente vorgelegt werden. Bis zum Beweis des Gegenteils gehe ich deshalb davon aus, dass unsere sogenannte Hochkultur nicht nur die technologischen Potenziale der Menschheit in ungeahnte Höhen schraubt, sondern auch die menschliche Dummheit. Und genau das macht die gegenwärtige Weltlage so ungemein gefährlich: Wenn Spitzentechnologie und Spitzenidiotie aufeinandertreffen, sind die Folgen in der Regel katastrophal!

Man braucht kein Genie zu sein, um zu erkennen, dass wir uns die »Macht der Doofen« auf Dauer nicht leisten können. Im Grunde genügt es, die Welt mit den unvoreingenommenen Augen eines Kindes zu betrachten. In Andersens Märchen brachte ein einzelnes Kind, das in die »dummen Spiele der Erwachsenen« nicht eingeweiht war, den gesamten Hofstaat des Irrsinns zu Fall. Ich wünschte, seinem Beispiel würden mehr und mehr Menschen folgen. Immerhin hat uns die Evolution mit einem erstaunlich komplexen und wandlungsfähigen Denkapparat ausgestattet. Wir sollten beginnen, ihn auf intelligentere Weise zu nutzen …

HOMO DEMENS

Warum ich mich schäme, Mensch zu sein

Ach, was haben wir uns schmückende Beinamen gegeben, um die Besonderheit unserer Spezies herauszustellen: Homo absconditus, der unergründliche Mensch, Homo aestheticus, der am Schönen orientierte Mensch, Homo creator, der schöpferische Mensch, Homo innovator, der erfinderische Mensch, Homo ludens, der spielerische Mensch – und nicht zuletzt, als Krönung der Selbstbeweihräucherung, die offizielle Bezeichnung unserer noblen Spezies: Homo sapiens, der weise Mensch. Wäre es nicht so traurig, könnte man es für den tollsten Witz der Geschichte halten: Der weise Mensch – das ist etwa so originell wie der vegetarische Löwe, der steppende Regenwurm oder die bürokratische Spitzmaus.

Sicher: Eine gewisse Bauernschläue kann man unserer Spezies nicht absprechen – aber Weisheit? Nein. Weisheit war und ist Mangelware unter uns eitlen Affen. Unsere so hoch gerühmte Intelligenz – wir nutzten sie nicht vorrangig, um aus dieser Welt einen besseren, einen lebenswerteren Ort zu machen, sondern um uns gegenseitig auszutricksen, auszuplündern, auszubeuten, abzuschlachten. Und wozu das Ganze? Für nichts und wieder nichts. Denn die Sieger dieses elenden Spiels um Macht und Ressourcen kamen keineswegs in den Genuss eines sorgenfreien Lebens. Sie mussten die Früchte ihres Triumphs vielmehr ängstlich umklammern, in ständiger Furcht davor leben, bald selber ausgetrickst, ausgeplündert, ausgebeutet, abgeschlachtet zu werden. Dümmer geht’s nimmer – und doch wird dieses Spiel fortgesetzt von Generation zu Generation.

Seien wir doch ehrlich: Die Geschichte der Menschheit ist über weite Strecken eine Geschichte der Unmenschlichkeit! Über Jahrtausende hatten wir nichts Besseres zu tun, als uns gegenseitig niederzumetzeln. Wer zählt die Millionen und Abermillionen, die gefoltert, gehängt, gesteinigt, erstochen, erwürgt, erschlagen, erschossen, verbrannt, vergiftet, vergast wurden? Ein einzigartiger Blutstrom zieht sich durch die Jahrhunderte, er ist der rote Faden in jener sinnlosen Aneinanderreihung von Mord und Totschlag, Ausbeutung und Gewalt, die sich Geschichte nennt.

Eine weit treffendere Artbezeichnung als Homo sapiens wäre daher Homo demens6, der irre, der wahnsinnige Mensch. Denn genau das zeichnet uns vor allen anderen Tieren besonders aus: Nur wir sind irrsinnig genug, unser Leben für pure Fiktionen wie »Gott« und »Vaterland«, »Ehre« und »Ruhm« aufzuopfern. Keine Ideologie ist absurd genug, als dass wir für sie nicht bis zum bitteren Ende kämpfen würden. Es reicht, einen Blick in die Geschichte der Religionen zu werfen, um sich ein Bild von der kolossalen Wahnanfälligkeit des Menschen zu machen: Kein noch so neurotischer Schimpanse würde jemals in den Krieg ziehen, um zu beweisen, dass er den cooleren imaginären Freund (»Gott«) an seiner Seite hat. Wir Menschen haben das jedoch immer wieder getan – und ein Ende dieser stumpfsinnigen Groteske ist nicht in Sicht: Denn noch immer bilden wir aufrecht gehenden Deppen uns ein, dass das Universum von einem »Schöpfergott« exklusiv für uns und die Unsrigen erschaffen wurde.

Die menschliche Hybris, im Mittelpunkt des Kosmos zu stehen, ist wohl die dümmste und politisch verheerendste Wahnidee, die Homo demens je hervorgebracht hat, sie ist gewissermaßen die Mutter allen Schwachsinns. Von ihr stammen nicht nur unzählige religiöse Idiotismen ab, sondern auch der weltliche Herrschaftsanspruch über den Globus, den Homo demens seit jeher gnadenlos vollstreckt. Es lohnt sich also, dieser ganz besonderen Basisblödheit auf den Grund zu gehen.

Die kosmische Eintagsfliege

Machen wir uns dazu zunächst die banalen kosmologischen Fakten bewusst7: Die Erde mag uns zweibeinigen Winzlingen riesig erscheinen, im kosmischen Maßstab ist sie aber so unscheinbar klein, dass es geradezu vermessen ist, sie als »Staubkorn im Weltall« zu bezeichnen. Schon gegenüber unserer Sonne wirkt die Erde wie ein Melonenkern gegenüber einer Wassermelone. Dabei ist die Sonne selbst nur ein gelber Zwerg, der gegenüber dem roten Riesen Arcturus Melonenkerngröße annimmt und gegenüber dem roten Überriesen Beteigeuze optisch ganz verschwindet.8

Seit Kopernikus dürfte es sich einigermaßen herumgesprochen haben, dass die Erde sich keineswegs im Mittelpunkt des Universums befindet (den es in einem unendlichen Kosmos auch gar nicht geben kann). Wir befinden uns nicht einmal im Zentrum unserer eigenen Galaxie, sondern in einem der äußeren Spiralarme, sozusagen in der tiefsten galaktischen Provinz, rund 26 000 Lichtjahre vom Zentrum der Milchstraße entfernt. Neben unserer Sonne tummeln sich in unserer Galaxie 300 Milliarden weiterer Sterne, wobei die Milchstraße nur eine Galaxie unter schätzungsweise 100 Milliarden Galaxien mit etwa 70 Trilliarden Sternen ist.

Die von Homo demens konsequent verdrängte kosmische Bedeutungslosigkeit des Menschen zeigt sich allerdings nicht nur in der räumlichen, sondern auch in der zeitlichen Dimension: So waren zwei Drittel der bisherigen »Lebenszeit« des Universums (insgesamt 13,7 Milliarden Jahre) bereits vergangen, als vor 4,6 Milliarden Jahren Sonne und Erde in den unermesslichen Weiten des Weltalls auftauchten. Von der vermeintlichen Krönung der Schöpfung war da beim besten Willen noch nichts zu erahnen. Es dauerte mehr als vier Milliarden Jahre, also 90 Prozent der gesamten bisherigen Erdgeschichte, bis überhaupt die ersten Wirbeltiere entstanden. Vor 416 Millionen Jahren siedelten sich die ersten von ihnen an Land an, vor etwa 250 Millionen Jahren traten die ersten Säugetiere auf. Allerdings hätte man unseren aus Reptilien hervorgegangenen Vorfahren, die gerade einmal die Größe von Mäusen oder Ratten erreichten, kaum eine verheißungsvolle Zukunft prognostiziert. Allzu sehr standen sie im Schatten der Dinosaurier und Flugsaurier, die das Mesozoikum (Erdmittelalter) dominierten.

Dies änderte sich erst mit den verhängnisvollen Meteoriteneinschlägen vor 65 Millionen Jahren, die zur Folge hatten, dass etwa die Hälfte aller damaligen Pflanzen- und Tierarten (darunter sämtliche Saurier und Flugsaurier) ausstarb. Erst nach dieser verheerenden Katastrophe konnten sich die Säugetiere entfalten, unter anderem auch die Ordnung der Primaten, der wir angehören. Bis zur Entstehung des modernen Menschen dauerte es von da an aber noch immer Jahrmillionen. Vor etwa 15 Millionen Jahren trennten sich die Vorfahren der heutigen Gibbons von unserer Stammlinie. Vor elf Millionen Jahren schlugen die Orang-Utans einen eigenen Weg ein, vor sechs Millionen Jahren die Gorillas. Knapp eine Million Jahre später trennten sich die Stammbäume der heutigen Schimpansen und Bonobos vom Stammbaum des Menschen, weshalb wir, was Homo demens gerne verdrängt, mit den Schimpansen enger verwandt sind als diese mit den Gorillas.

Zum Zeitpunkt der Trennung der Stammeslinien von Mensch und Schimpansen hätten wir unserem Vorfahren kaum zugetraut, dass er jemals Nachkommen hervorbringen würde, die Kreuzworträtsel lösen oder ins All fliegen würden. Denn das Gehirn der Australopithecinen war nur unwesentlich größer als das eines heutigen Schimpansen. Erst bei Homo erectus, unserem direkten Vorfahren, setzte eine bemerkenswerte Entwicklung des Denkorgans ein. Innerhalb von weniger als zwei Millionen Jahren verdoppelte sich sein Gehirnvolumen. (Wenn Sie heute die Bedienungsanweisung Ihres Fernsehers verstehen, haben Sie das nicht zuletzt dem guten alten Homo erectus zu verdanken.) Erst vor knapp 200 000 Jahren entwickelte sich aus Homo erectus der moderne Mensch, der, was oft vergessen wird, 95 Prozent seiner bisherigen Existenz als Jäger und Sammler verbrachte. Es mag verwundern, aber tatsächlich kam der moderne Mensch 99 Prozent seiner Artgeschichte ohne christliche Kirche aus, 99,9 Prozent ohne Dampfmaschine, 99,99 Prozent ohne Handy.

Wenn man die Geschichte unseres Universums auf ein Kalenderjahr umlegt, wird die kosmische Irrelevanz der Menschheit besonders offensichtlich: Setzt man für den 1. Januar 00.00 Uhr den Urknall an, muss man schon bis Anfang September warten, bis Sonne und Erde entstehen. Ende September entwickeln sich die ersten primitiven Lebensformen. Es dauert bis Mitte Dezember, bis die ersten Fische in den Ozeanen schwimmen. Um den 20. Dezember herum tauchen Landwirbeltiere auf. Die Dinosaurier beherrschen die Szenerie vom 28. bis zum 30. Dezember. Erst am 31. Dezember, wenige Minuten vor Mitternacht, tritt der erste Vertreter von Homo sapiens in Erscheinung. Die menschliche Kulturgeschichte schrumpft im Maßstab des kosmischen Kalenders auf die letzten Sekunden vor Neujahr zusammen.

Zählen wir also den Countdown herunter, damit das Neujahrsfeuerwerk beginnen kann: 10 – die Jungsteinzeit endet, die Bronzezeit beginnt, 9 – in Oberägypten wird die erste Buchstabenschrift verwendet, 8 – die Gräber im ägyptischen Tal der Könige werden angelegt, 7 – die Chinesen erfinden den Kompass, die Griechen vollziehen den Übergang von der Bronzezeit in die Eisenzeit, 6 – Pythagoras wirkt in Griechenland, Buddha in Indien, Konfuzius in China, 5 – nach dem Ende der griechischen Hochkultur entwickelt sich Rom zur Weltmacht, 4 – aus einer jüdischen Sekte entwickelt sich das Christentum zur dominanten Religion, 3 – die antike Kultur ist nach dem Ende des Römischen Reichs und der Expansion des Islam untergegangen, das Frühmittelalter beginnt, 2 – im Hochmittelalter rufen die Päpste zu Kreuzzügen auf und führen die Inquisition ein, 1 – Luther löst die Reformation aus, die europäische Hexenverfolgung beginnt, die Berechnungen des Kopernikus erschüttern das geozentrische Weltbild, 0 – prost Neujahr! In den letzten Millisekunden vor Mitternacht war Homo sapiens demens besonders rührig: Er erfand nicht nur den Blitzableiter, die Glühbirne und die Digitalkamera, sondern schlachtete auch Hunderte Millionen seiner Artgenossen in unzähligen Kriegen ab. Lassen wir also die Sektkorken knallen! Allzu lange dürfte die Party ohnehin nicht dauern.

Denn wie viele Sekunden wird der Mensch im ersten Jahr nach dem Urknall existieren? Eine Sekunde (umgerechnet etwa 434,5 Jahre)? Zehn Sekunden? Eine halbe Minute? Würden wir es bis 00.01 Uhr am Neujahrstag schaffen (26 065 Jahre), wäre das für eine demente Spezies wie die unsrige schon beachtlich, eine Verweildauer bis ein Uhr morgens (1 563 927 Jahre) ein kleines Wunder. Am zweiten Januar (in 37 534 246 Jahren) wird es uns mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr geben. Allerdings werden wir nicht die Einzigen sein, die im Laufe des Januars von der Bühne des Lebens abtreten werden. Da die Leuchtkraft unserer Sonne kontinuierlich steigen wird, werden wohl schon am 14. Januar des kosmischen Kalenders (in etwa 500 Millionen Jahren) keine höheren Lebensformen mehr auf der Erde existieren, am 24. Januar (in etwa 900 Millionen Jahren) werden sämtliche Pflanzen verschwunden sein. Anfang März (in rund zwei Milliarden Jahren) wird sich die Erde in einen reinen Wüstenplaneten verwandelt haben. Mitte Juli (in sieben Milliarden Jahren) wird sich die Sonne zu einem Roten Riesen aufblähen und das 250-Fache ihrer jetzigen Ausdehnung erreichen. Vermutlich wird die Erde kurz darauf in die Sonne stürzen, die nach einigen gigantischen Heliumblitzen Ende Juli (in 7,7 Milliarden Jahren) zu einem Weißen Zwerg mutieren wird, der – wie die Asche eines Lagefeuers – noch eine Zeit lang, mindestens bis zum Ende des zweiten kosmischen Kalenderjahres, still vor sich hin glüht, bis am Ende auch bei unserer guten alten Sonne sämtliche Lichter ausgehen.

Der Blick in den auf zwei Jahre komprimierten kosmischen Kalender macht zweierlei deutlich: Erstens, dass das irdische Leben bloß eine flüchtige Randerscheinung in den unendlichen Weiten des Universums ist. Zweitens, dass der Mensch innerhalb dieser Randerscheinung nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Im kosmischen Kalender hat Homo sapiens allenfalls den Status einer Eintagsfliege (geboren am 31.12, ausgestorben am 1.1.) – bei genauerer Betrachtung nicht einmal das. Die eigentlichen Herrscher der Erde waren und sind die Bakterien, die lange vor uns existierten und auch noch lange nach uns existieren werden.

Was also ist davon zu halten, wenn sich ausgerechnet die »kosmische Eintagsfliege« Mensch einbildet, im Zentrum des Universums zu stehen? Gibt es einen klareren Beleg für die Unzurechnungsfähigkeit dieser Spezies? Wie blöde muss man eigentlich sein, um den Größenwahn zu übersehen, der uns Tag für Tag in Kirchen, Moscheen, Synagogen, Tempeln entgegenschwappt? Der vermeintliche Schöpfer des unendlichen Universums soll wirklich nichts Besseres im Sinn gehabt haben, als sich ausgerechnet in Gestalt einer zufällig entstandenen und bald wieder aussterbenden Affenart auf dem Mini-Planeten Erde zu inkarnieren und gekreuzigt zu werden? Lächerlich! Er soll Wert darauf legen, dass die affenartigen Lebensformen auf diesem unbedeutenden Planetchen sich ihm unterwerfen, indem sie fünfmal am Tag arabische Sätze aufsagen? Grotesk! Der vermeintliche Schöpfer des Alls soll sich allen Ernstes daran stören, wenn zu bestimmten Zeiten, die diese Erdlinge als »Sabbat« bezeichnen, Kinderwagen geschoben werden? Völlig meschugge!

Der Makel, Mensch zu sein

Es ist schon bemerkenswert, was sich Homo demens so alles einzubilden vermag, bloß weil er die Körperbehaarung abgeworfen und die Digitalarmbanduhr angezogen hat. Wohl nirgends wird das so deutlich wie in unserem Umgang mit nichtmenschlichen Tieren. Selbstverständlich halten wir uns im Vergleich zu ihnen für etwas Besseres, ja: für das Beste schlechthin, die Krone der Schöpfung, obwohl alle Fakten belegen, dass wir bloß die Neandertaler von morgen sind. In dem zwanghaften Bestreben, sich von »dem« Tier abzugrenzen, scheut sich Homo demens wahrlich keiner Torheit. Dabei sind wir mit vielen Tieren nicht nur im höchsten Maße genetisch verwandt, sondern teilen auch alle grundlegenden Emotionen mit ihnen.

Dass unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans, ein Ich-Bewusstsein besitzen, um Verstorbene trauern, die Zukunft antizipieren, dürften Sie mitbekommen haben, aber wissen Sie auch, dass schon Schweine sich im Spiegel erkennen und kognitive Leistungen wie Primaten erbringen? Dass Kühe über den Verlust ihrer Kälber weinen und in der Stallhaltung regelrechte Depressionen entwickeln? Dass Hühner miteinander über die Qualität des Futters kommunizieren und dass ihr Herz zu rasen beginnt, wenn sie erkennen, dass ihre Küken in Not geraten? Zahlreiche Tiere auf diesem Globus empfinden Lust und Schmerz, Freud und Leid, Hoffnung und Verzweiflung in ähnlicher Weise wie wir. Würden wir einsehen, dass uns eine evolutionäre Kontinuität mit allen anderen Lebewesen verbindet, würden wir begreifen, dass wir bloß »Leben sind, das Leben will, inmitten von Leben, das leben will«9, so würde dies unser Denken und Handeln radikal verändern. Es wäre die wohl größte Revolution der Menschheitsgeschichte.

Doch eben das lässt Homo demens nicht zu. Mit der gleichen stumpfsinnigen Kaltschnäuzigkeit, mit der er Jahr für Jahr Millionen seiner Artgenossen in den Hungertod treibt, wendet er sich seinen Verwandten im Tierreich zu: Angesichts der Tatsache, dass allein in Deutschland jährlich rund 40 Millionen Schweine geschlachtet werden, wundert es nicht, dass jedem einzelnen dieser intelligenten und hochsensiblen Tiere nur ein Quadratmeter Lebensraum zugebilligt wird, dass man es nicht für nötig hält, sie bei der Kastration zu betäuben, dass man ihnen neben Antibiotika auch Psychopharmaka verabreichen muss, damit sie die Tortur eines Lebens unter menschlicher Obhut so lange durchstehen können, bis sie reif für den Schlachter sind.

In völliger Verkennung der Tatsache, dass wir nicht über der Natur stehen, sondern bloß Teil der Natur sind, machen wir uns – getreu der dummdreisten biblischen Maxime – »die Erde untertan«. Das bekommen nicht nur Abermillionen von Schweinen, Kühen, Schafen, Hühnern, Gänsen und Enten zu spüren, die Jahr für Jahr aus kulinarischen Gründen zu Tode gequält werden, sondern auch die vielen Millionen Tiere, die wir zu Forschungszwecken foltern oder in zoologischen Gärten unter oftmals unwürdigen Bedingungen gefangen halten. Selbstverständlich bleiben auch frei lebende Tiere von der rasenden Tyrannei des Homo demens nicht verschont, sind wir es doch, die ihre Lebensräume mehr und mehr zerstören und damit letztlich die Grundlagen für den beschleunigten Untergang unserer eigenen Spezies schaffen.

Ende der Leseprobe