Die Grenzen der Toleranz - Michael Schmidt-Salomon - E-Book

Die Grenzen der Toleranz E-Book

Michael Schmidt-Salomon

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Beschreibung

Die offene Gesellschaft hat viele Feinde. Die einen streiten für »Allah«, die anderen für die Rettung des »christlichen Abendlandes«, letztlich aber verfolgen sie das gleiche Ziel: Sie wollen das Rad der Zeit zurückdrehen und vormoderne Dogmen an die Stelle individueller Freiheitsrechte setzen. Wie sollen wir auf diese doppelte Bedrohung reagieren? Welche Entwicklungen sollten wir begrüßen, welche mit aller Macht bekämpfen? Michael Schmidt-Salomon erklärt, warum grenzenlose Toleranz im Kampf gegen Demagogen auf beiden Seiten nicht hilft und wie wir die richtigen Maßnahmen ergreifen, um unsere Freiheit zu verteidigen.

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-95254-5

Oktober 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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VORWORT

Toleranz im Zeitalter des Empörialismus

Demagogen feiern mit halben Wahrheiten ganze Erfolge. Um sie zu stoppen, muss man ihnen recht geben, wo sie recht haben, und sie dort kritisieren, wo sie die Wirklichkeit verzerren. So löscht man das Feuer, auf dem sie ihr ideologisches Süppchen kochen.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn wir leben in einem Zeitalter des »Empörialismus«: Auf der »richtigen Seite« zu stehen und »aufrichtig empört« zu sein zählt oft mehr als die Fähigkeit, unterschiedliche Sichtweisen unvoreingenommen gegeneinander abzuwägen. Empörialisten haben den öffentlichen Raum so sehr mit moralischen Killerphrasen besetzt, dass eine rationale Debatte kaum mehr möglich erscheint. »Stimmung statt Argumente!« heißt die Devise, deren Folgen man in den sozialen Netzwerken beobachten kann. Wer auf die Gefahren des politischen Islam hinweist, wird im Handumdrehen als »Rassist« abgestempelt; wer aufzeigt, dass nicht alle Muslime vom Dschihad träumen, als »unverbesserlicher Gutmensch« vorgeführt.

Polarisierung ist »in«. Und so sehen wir uns zunehmend mit »Alternativen« konfrontiert, die allenfalls die Wahl zwischen Pest und Cholera erlauben: »Rettung des christlichen Abendlandes« oder »Islamisierung Europas«, »Respekt für jeden« oder »Abdriften in einen neuen Faschismus«, »Militärische Absicherung der Grenzen« oder »Ertrinken in der Flüchtlingsschwemme«, »Gläserner Mensch« oder »Steigende Terrorgefahr«! Der Philosoph Hans Albert hat das Anbieten solcher scheinbar auswegloser Szenarien schon vor 50 Jahren als »Alternativ-Radikalismus« kritisiert. Seine Analyse ist erschreckend aktuell geblieben.1

Zugegeben: Nicht jeder folgt dem Trend zur Polarisierung. Viele versuchen, dem Radikalismus zu entgehen, indem sie »die Wahrheit in der Mitte suchen«. Das klingt einigermaßen abgeklärt, ist aber nicht unbedingt aufgeklärt. Denn die Wahrheit folgt keinen geometrischen Vorgaben. Hier irrt sich der »Extremismus der Mitte«. Er übersieht, dass die Wahrheit sehr wohl auch an den Rändern der Gesellschaft angesiedelt sein kann und es – historisch betrachtet – in vielen Fällen auch war.

Schon ein kurzer Blick in die Geschichte verrät, dass sich Mehrheiten ebenso irren können wie Minderheiten. So wähnten sich die Menschen vor 500 Jahren mehrheitlich noch im Mittelpunkt des Universums (viele tun dies heute noch!) und ächteten jeden, der – wie Giordano Bruno2 – das Gegenteil behauptete. Noch vor 100 Jahren glaubten sie, ihre Kinder ausgerechnet dadurch fördern zu können, dass sie sie ordentlich züchtigten. Die Tatsache, dass eine Überzeugung von 90 Prozent der Gesellschaftsmitglieder geteilt wird, sagt nichts darüber aus, ob sie in irgendeiner Weise vernünftig ist.

An dieser Stelle zeigt sich, worin die besondere Stärke der modernen, offenen Gesellschaft besteht. Denn sie schützt Minderheitenpositionen nicht nur, weil die Meinungsfreiheit ein hohes rechtsstaatliches Gut darstellt, sondern auch, weil der freundlich-feindliche Widerstreit der Positionen wesentlicher Motor des gesellschaftlichen Fortschritts ist. Der Slogan »Vielfalt statt Einfalt« findet hier seine Berechtigung, denn es ist wahr: Nur weil wir unterschiedlich sind, können wir voneinander lernen. Wären wir stets einer Meinung, hätten wir uns nicht viel zu sagen. Wir hätten kein Gegenüber, das uns korrigieren könnte, sondern würden uns wechselseitig in unseren Vorurteilen bestärken, was die gesellschaftliche Entwicklung zum Erliegen brächte.

Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass Gesellschaften, die jede Abweichung von der Norm bestrafen, zu kulturellem Stillstand verdammt sind. Zumindest ein Teil der Menschheit hat daraus eine Lehre gezogen. Und so begreifen moderne Gesellschaften den Widerstreit der Meinungen nicht mehr vorrangig als unerwünschten Störfaktor, sondern als Nährboden für zivilisatorischen Fortschritt. Dies drückt sich auch in dem schönen Begriff »Streitkultur« aus, der anzeigt, worum es in der Moderne wesentlich geht, nämlich um eine Kultur des Streitens. Tatsächlich zeichnen sich moderne Gesellschaften dadurch aus, dass sie die Auseinandersetzung um das »Wahre, Schöne, Gute« nicht nur erlauben, sondern aktiv fördern. Allerdings sollten sie dies nicht ungeregelt tun, sondern unter klar definierten kulturellen Vorgaben, die man als Spielregeln des zivilisierten Widerstreits bezeichnen könnte.

Wir werden diese Spielregeln im Verlauf des Textes noch unter die Lupe nehmen,3 doch es sollte schon hier – ohne weitere Erörterungen – einsichtig sein, dass den Beteiligten am gesellschaftlichen Debattenspiel vor allem eines abverlangt wird: ein erhebliches Maß an Toleranz. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Wer es partout nicht ertragen kann, dass andere Menschen Auffassungen vertreten, die von den eigenen Überzeugungen empfindlich abweichen, wird sich in einer offenen Gesellschaft nicht zurechtfinden können.

Dennoch ist Toleranz kein Wert an sich. Zwar mag eine tolerante Haltung in vielen Fällen gerechtfertigt sein, aber sie ist es keineswegs immer und überall. So wäre jede Form von Toleranz unangebracht, wenn wir mit systematischen Verletzungen der Menschenrechte konfrontiert sind. Wer Derartiges problemlos erdulden kann, beweist keine aufgeklärte, tolerante Haltung, sondern begeht Verrat an den Idealen der Aufklärung, die die Prinzipien der Toleranz hervorgebracht haben.

Von allgemeinen Aufrufen zu mehr Toleranz und Respekt, wie sie von Politikern in unschöner Regelmäßigkeit vorgebracht werden, sollte man daher Abstand nehmen. Schließlich hat vieles, was in der Welt geschieht, was Menschen denken oder wie sie handeln, keinerlei Respekt verdient! Manches davon bedroht die offene Gesellschaft sogar in solch fundamentaler Weise, dass sich jede Form der Nachgiebigkeit von selbst verbietet.

Wir dürfen den Feinden der offenen Gesellschaft ganz gewiss nicht die Freiheit geben, die Fundamente der Freiheit zu untergraben. Deshalb müssen wir aufhören, Toleranz und Respekt nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen. Es ist nämlich alles andere als gleichgültig, wem wir Toleranz oder Respekt erweisen. Gleichgültig wäre es nur, wenn alle Traditionen, Ideologien, Lebensformen gleichermaßen gültig wären. Doch dies ist, wie ich zeigen werde, keineswegs der Fall.

Es ist eines der Grundübel unserer Zeit, dass ein Großteil der Menschen entweder nicht willens oder nicht fähig ist, zwischen Humanem und Inhumanem, Recht und Unrecht, Wahrheit und Propaganda, Vernünftigem und Widersinnigem zu unterscheiden. Insofern besteht das zentrale Problem, mit dem wir zu kämpfen haben, nicht in einem Mangel an Toleranz, sondern in einem Übermaß an Ignoranz.

Ignoranz begegnet uns heute in unterschiedlichsten Erscheinungsformen: Mal als egozentrischer Tunnelblick, der alle Probleme jenseits der eigenen kurzfristigen Interessen ausblendet. Mal als postmoderner Gleich-Gültigkeits-Wahn, der schon den schüchternsten Versuch einer rationalen Unterscheidung als unerträgliche Anmaßung zurückweist. Mal als opportunistische Rückgratlosigkeit, die die Konsequenzen des eigenen Handels falsch einschätzt, weil sie davon ausgeht, dass sich alle Probleme von selbst auflösen werden, wenn man nur nett und artig genug auftritt. Und nicht zuletzt auch als empörialistischer Herdentrieb, der jedes noch so vernünftige Argument attackiert, sofern es von der »falschen Seite« geäußert wird.

All diese Formen der Ignoranz verhindern, dass wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort klare Kante zeigen. Sie unterlaufen jede sinnvolle Strategie, die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen. Und sie stärken all jene Kräfte, die sich zum Ziel gesetzt haben, das Rad der Geschichte um Jahrzehnte, wenn nicht sogar um Jahrhunderte zurückzudrehen.

Wir werden in den nachfolgenden Kapiteln untersuchen, wie es zu diesen Formen der Ignoranz gekommen ist und welche Maßstäbe wir anlegen sollten, um wohlbegründet zwischen wahrer und falscher Toleranz bzw. zwischen wahrem und falschem Respekt zu unterscheiden. Dabei wird sich zeigen, dass wir die Grenzen der Toleranz nur dann vernünftig ziehen können, wenn wir uns der Werte bewusst sind, die der offenen Gesellschaft zugrunde liegen.

Eine effektive Verteidigung der Freiheit kann, wie ich darlegen werde, nur gelingen, wenn wir uns dazu durchringen, das Profil des säkularen Rechtsstaats zu stärken. Töricht wäre es hingegen, würden wir die kulturellen Schotten dicht machen und aus Angst vor Terror und fundamentalistischer Unterwanderung all die zivilisatorischen Errungenschaften aufgeben, die es eigentlich zu verteidigen gilt. Deshalb werde ich in diesem Buch dafür plädieren, die offene Gesellschaft zu schützen, indem wir ihre Kernelemente sehr viel deutlicher betonen, als es bislang geschehen ist. Herauskommen wird dabei unter anderem ein Konzept, das sich am treffendsten wohl auf die paradox anmutende Formel »Abschreckung durch Freiheit« bringen lässt.

Leserinnen und Leser meiner vorangegangenen Bücher werden feststellen, dass in dieser Streitschrift hin und wieder Argumente auftauchen, die ich schon früher vorgetragen habe. Das ist unvermeidlich, da in meinen Veröffentlichungen zum evolutionären Humanismus mitunter Themen angerissen wurden, die mit der Frage nach den Grenzen der Toleranz eng verknüpft sind. Ich bin jedoch überzeugt, dass der Fokus dieses Buches vieles in neuem Licht erscheinen lässt. Darüber hinaus ist es sicher auch nicht verkehrt, Argumente in Erinnerung zu rufen, die zwar alt, aber nicht veraltet sind. Seit über 20 Jahren warne ich nun schon davor, dass das 21. Jahrhundert zu einem »Jahrhundert der globalen Religionskriege« werden könnte, wenn wir nicht sehr viel entschiedener für die Prinzipien der offenen Gesellschaft eintreten. Doch wie heißt es so schön? Manches sollte man so lange wiederholen, bis es verstanden wird.

AUCH STREITEN WILL GELERNT SEIN

Ein Blick in die Abgründe der Islamdebatte

Hin und wieder hat man das Gefühl, in einem Irrenhaus zu leben. Ja, ich weiß: Es ist nicht politisch korrekt, von »Irren« zu sprechen. Doch der Alternativbegriff »Psychiatrie-Erfahrene« taugt nicht zur Beschreibung von Personen, die noch keinerlei Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht haben und wohl auch nie machen werden. Denn die »Irren«, um die es mir geht, verstehen sich keineswegs als psychisch krank, sondern, ganz im Gegenteil, als Vertreter eines »gesunden Volksempfindens«.

Das Krankheitsbild des gesunden Volksempfindens kann sich in vielerlei Hinsicht äußern: Man denke zum Beispiel an jene »aufrechten Europäer«, die die Diskriminierung von Muslimen, mitunter sogar das Niederbrennen von Flüchtlingsheimen, als notwendige Maßnahme zur »Rettung des Abendlandes« begreifen. Oder an jene »hochsensiblen Muslime«, die beim Anblick jeder noch so harmlosen Zeichnung ihres »Propheten« bittere Tränen des Schmerzes vergießen, ihre Begeisterung aber kaum mehr zügeln können, wenn eine »Ehebrecherin« direkt vor ihren Augen gesteinigt wird.

Es waren Menschen dieses Schlags, die Raif Badawi4 in Saudi-Arabien zu zehn Jahren Haft und 1000 Stockhieben verurteilten, weil er es gewagt hatte, die Beachtung von Menschenrechten in einem Land einzufordern, das die Missachtung der Menschenrechte zum Dogma erhoben hat. Und es waren Menschen dieses Schlags, die frenetisch »Allahu akbar« (»Gott ist am größten«) riefen, als Raif am 9. Januar 2015 die ersten 50 Stockhiebe über sich ergehen lassen musste.

Als die Bilder von der öffentlichen Auspeitschung im Internet auftauchten, kam es in den westlichen Ländern zu unerwartet starken Protesten. Zuvor hatte es die Weltöffentlichkeit kaum interessiert, wenn Menschenrechtler in islamischen Staaten inhaftiert oder ermordet wurden. Raif hingegen avancierte innerhalb weniger Wochen zu einer globalen Ikone. Politiker und Prominente weltweit forderten seine Freilassung, Popbands wie U2 widmeten ihm Konzerte, in vielen Orten rund um den Erdball fanden Mahnwachen statt.

Dass Raifs Schicksal so viele berührte, ist nicht zuletzt seiner Frau Ensaf Haidar zu verdanken, die mit großem Mut und ebenso großem Geschick für die Freiheit ihres Mannes kämpft.5 Ich habe Ensaf kurz vor Beginn der Arbeit an diesem Buch getroffen und lange mit ihr über die Situation der politischen Gefangenen in den arabischen Ländern gesprochen. Es ist bewundernswert, mit welcher Kraft und Würde sie die Rolle ausfüllt, die ihr als Frau des wohl bekanntesten inhaftierten Dissidenten der islamischen Welt zugefallen ist. Und doch hätte Ensafs Einsatz kaum ausgereicht, um Raifs Fall in die internationalen Schlagzeilen zu bringen. Leider muss man annehmen, dass heute nur sehr wenige von Raifs Martyrium wüssten, wären die Bilder von seiner Auspeitschung nicht ausgerechnet in jenen aufwühlenden Tagen des Januars 2015 um die Welt gegangen, als der Westen für das Thema des islamischen Totalitarismus in besonderer Weise empfänglich war.

Am 7. Januar 2015, nur zwei Tage bevor Raif die Schläge vor der Al-Dschafali-Moschee in Dschidda ertragen musste, hatten Islamisten das Büro der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris überfallen und elf Personen getötet, darunter fünf der bekanntesten Cartoonisten Frankreichs: Stéphane Charbonnier (»Charb«), Jean Cabut (»Cabu«), Bernard Verlhac (»Tignous«), Philippe Honoré und Georges Wolinski. Der Anschlag löste nicht nur weltweites Entsetzen, sondern auch eine außerordentliche Welle der Solidarität aus. Innerhalb kürzester Zeit eroberte der Slogan »Je suis Charlie« die Welt. In ihm äußerten sich nicht nur Trauer und Wut angesichts des Terrors, er brachte auch ein trotziges Bekenntnis zu den Freiheitsrechten einer offenen Gesellschaft zum Ausdruck, die sich von den Einschüchterungsversuchen militanter Islamisten nicht unterkriegen lässt.

Anders als im Jahr 2006, als der sogenannte »Karikaturenstreit« die Welt zutiefst gespalten hatte,6 schien es nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo für einen kurzen Moment so, als hätten selbst die konservativsten Politiker und Gelehrten des islamischen Kulturkreises begriffen, dass religionskritische Texte und Zeichnungen keine Legitimation für militante Ausschreitungen oder gar Terrorakte sein können. Während 2006 führende Repräsentanten der Muslime die gewalttätigen Proteste, die auf die Veröffentlichung von zwölf Mohammed-Karikaturen in Dänemark gefolgt waren, weiter angeheizt hatten, wurde das Attentat auf Charlie Hebdo sofort von allen Seiten verurteilt – nicht nur von der Arabischen Liga, der al-Azhar-Universität und den Präsidenten von Pakistan, Afghanistan und des Iran, sondern auch von der einflussreichen Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC), der über 50 Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit angehören.

Klare Worte kamen auch von der saudischen Regierung, die den Pariser Anschlag »als feigen Terrorakt, der gegen den wahren Islam verstößt«, kritisierte. Der saudische Botschafter nahm sogar an der großen Demonstration in Paris teil, bei der mehr als 1,5 Millionen Menschen der insgesamt 17 Terroropfer7 gedachten und sich für Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit starkmachten. Umso heftiger fiel daher die Empörung des Westens aus, als bekannt wurde, dass das saudische Regime Raif Badawi nahezu zeitgleich auspeitschen ließ, gerade weil er sich für die Achtung der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit eingesetzt hatte.

Die offenkundige Diskrepanz zwischen den Verlautbarungen und den tatsächlichen Handlungen Saudi-Arabiens alarmierte selbst diejenigen, die sich zuvor mit Kritik an dem sunnitisch-wahhabitischen Gottesstaat zurückgehalten hatten. Dass Raif Badawi barbarisches Unrecht widerfuhr, dass es nie und nimmer gerechtfertigt sein konnte, einen Menschen einzusperren, geschweige denn ihn einer Prügelstrafe zu unterziehen, weil er Muslime, Juden, Christen und Atheisten als gleichwertige Gesellschaftsmitglieder betrachtet, war eine der wenigen Einsichten, für die es im Westen quer durch alle politischen Fraktionen hindurch Zustimmung gab. Insofern verwundert es nicht, dass das EU-Parlament bereits im Februar 2015 mit großer Mehrheit die sofortige Freilassung Raif Badawis forderte. 8

Das doppelzüngige Agieren Saudi-Arabiens schien fatalerweise aber auch jene zu bestätigen, die Muslimen generell unterstellen, in der Kommunikation mit gezinkten Karten zu spielen. In rechtspopulistischen Kreisen9 gilt es nämlich als ausgemacht, dass Muslime permanent die sogenannte Taqīya-Strategie anwenden, um ihre eigentlichen Ziele zu verbergen und die »Ungläubigen« in falscher Sicherheit zu wiegen.

Was steckt dahinter? Nun, das Taqīya-Prinzip (das arabische Wort bedeutet »Furcht« oder »Vorsicht«), das vor allem in schiitischen Traditionen bekannt ist, besagt, dass es Muslimen erlaubt ist, in Zwangssituationen den eigenen Glauben bzw. die eigenen Ziele zu verheimlichen. Grundlage hierfür ist der Koranvers 3:28, in dem es heißt, dass die Gläubigen sich die Ungläubigen nicht zu Freunden nehmen sollten – es sei denn, sie hätten Grund, die Ungläubigen zu fürchten.

Gewöhnlich wird Taqīya als defensive Verteidigungsmaßnahme verstanden. Einige muslimische Führer, zum Beispiel Ajatollah Khomeini10, haben sie jedoch auch als offensive Strategie im Dschihad empfohlen, um feindliche Regime durch systematische Täuschung und Unterwanderung zum Einsturz zu bringen. Khomeini selbst hat 1978 eindrucksvoll vorgeführt, wie dies funktioniert. Kurz vor seiner Rückkehr in den Iran beruhigte der damals im französischen Exil lebende schiitische Geistliche die Weltöffentlichkeit, indem er in zahlreichen Interviews behauptete, »gegenüber den religiösen Vorstellungen der anderen mit Respekt vorgehen« und »keine Funktion innerhalb der Regierung« einnehmen zu wollen.11 Wenige Monate später ließ sich Khomeini zum »Obersten Revolutionsführer auf Lebenszeit« ernennen und befahl die systematische Verfolgung und Ermordung Andersgläubiger und Andersdenkender.

Kein Zweifel: Taqīya gibt es wirklich. Doch lässt sich aus dem Umstand, dass sich Taqīya aus dem Koran ableiten lässt, schließen, dass die dahinterstehende Haltung exklusiv bei Muslimen anzutreffen ist? Selbstverständlich nicht! Menschen aller Zeiten und aller Kulturen haben sich an die Gepflogenheiten ihres Umfelds angepasst und den Eindruck erweckt, sie zu unterstützen, obwohl sie insgeheim völlig anders dachten. Oftmals war dies die einzige Chance, um Verfolgungen und Diskriminierungen zu entgehen. Und natürlich spielen List und Tücke, Täuschung und Unterwanderung seit jeher auch eine wichtige Rolle in der Weltpolitik, wie uns die Geschichte lehrt.

Kulturelle Täuschungsmanöver sind also mitnichten eine muslimische Spezialität. Jedoch bot der Begriff der »Taqīya« eine wunderbare Vorlage zur Konstruktion einer universellen Verschwörungstheorie. Diejenigen, die vor einer »großen islamischen Weltverschwörung« warnen, glauben nämlich felsenfest daran, dass fromme Muslime gar nicht anders können, als vom globalen Dschihad zu träumen, weshalb man ihnen nie und nimmer Glauben schenken dürfe, wenn sie sich zu Religionsfreiheit, Demokratie und Menschenrechten bekennen.

Das Vertrackte an dieser Konstruktion ist, dass sie sich – wie jede »gute« Verschwörungstheorie – gegen jegliche Form von Kritik immunisiert. Denn entweder rufen Muslime tatsächlich offen zur islamischen Weltrevolution auf (wie etwa al-Qaida oder der sogenannte Islamische Staat), oder aber sie widersprechen diesem Aufruf, was aus verschwörungstheoretischer Sicht nur bedeuten kann, dass sie ihr eigentliches Anliegen, die Unterwerfung der Welt, durch Vortäuschung falscher Tatsachen verschleiern. So oder so ist Muslimen aus dieser Perspektive nicht zu trauen – und zwar vor allem dann nicht, wenn sie besonders glaubwürdig den Eindruck erwecken, die Prinzipien der offenen Gesellschaft zu respektieren. Dass ein solcher Generalverdacht jeden Ansatz einer rationalen Debatte zunichtemacht, dürfte einsichtig sein.

Feindbild Islam

Viele, die heute vor einer »schleichenden Islamisierung Europas« warnen, stützen sich auf diese paranoide Denkfigur. Als echte Verschwörungstheoretiker lassen sich dabei vor allem diejenigen charakterisieren, die die Islamisierungs-These in einer besonders starken, alarmistischen Form vertreten, also behaupten, dass das säkulare Europa kurz davor stünde, von Islamisten überrollt zu werden.

In Deutschland gelangte diese Art der Panikmache Anfang der 2000er-Jahre in die öffentliche Debatte. Maßgeblichen Anteil daran hatte die sogenannte »Bürgerbewegung« Pro Köln, die 1996 aus der rechtsextremen Deutschen Liga für Volk und Heimat hervorgegangen war. Pro Köln gab sich nach außen betont »basisdemokratisch«, tatsächlich aber wurde die Gruppe von einigen wenigen Aktivisten aus dem Umfeld der NPD und der Republikaner gesteuert.12

Größere Aufmerksamkeit erzielte Pro Köln erstmals 2004, als es der Gruppe gelang, 28 000 Unterschriften gegen Moschee-Bauprojekte in Köln zu sammeln. Dank des gestiegenen Bekanntheitsgrades konnte diese »islamkritische Bürgerbewegung« schon im selben Jahr mit vier Mandaten in den Kölner Stadtrat einziehen. Durch ihren Protest gegen die DITIB-Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld geriet die Gruppe 2007 auch bundesweit in die Schlagzeilen, wodurch sie bei den nächsten Regionalwahlen 2009 einen zusätzlichen fünften Sitz für sich erringen konnte. Aus Pro Köln gingen ab 2004 verschiedene Ableger hervor, u. a. Pro Deutschland, Pro NRW und Pro Sachsen. Diese konnten zwar die Wahlerfolge der Mutterpartei nicht wiederholen, sorgten aber dafür, dass die These von der »schleichenden Islamisierung Europas« mehr und mehr Verbreitung fand. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Website Politically Incorrect, die von Anfang an eng mit der Pro-Bewegung verknüpft war und sich innerhalb bemerkenswert kurzer Zeit von einem wenig beachteten Ein-Mann-Blog zu einer der meistaufgerufenen Seiten im deutschsprachigen Internet entwickeln konnte.

Zwar spielt Pro Köln in der aktuellen (Anti-)Islam-Debatte kaum noch eine Rolle, jedoch ist nicht zu übersehen, dass die Bewegung eine Vorreiterfunktion für die rechtspopulistische Szene hatte: So forderte Pro Köln bereits zehn Jahre bevor die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes(Pegida) in Dresden demonstrierten, eine patriotische, an sogenannten »christlichen Werten« orientierte Identitätsbildung, um der vermeintlichen »Islamisierung Europas« entgegenzuwirken. Zudem verfolgte die Gruppe schon 2004 das strategische Konzept, mit dem Rechtspopulisten heute weite Teile der Bevölkerung auf ihre Seite ziehen: Wie ihre Nachfolger Pegida, Legida oder die Demo für alle verstand es Pro Köln, sich als basisdemokratische Bürgerbewegung zu inszenieren, die den »korrupten«, »gleichgeschalteten«, »linksversifften« politischen Eliten und Meinungsmachern mit »gesundem Volkszorn« entgegentritt.

Die Pro-Bewegung war auch an der Entstehung jener »Internationale der Nationalisten« beteiligt, vor der manche Beobachter heute mit einiger Fassungslosigkeit stehen. Dass die österreichische FPÖ, die schweizerische SVP, der französische Front National, die italienische Lega Nord, die niederländische Partij voor de Vrijheid, der belgische Vlaams Belang, die amerikanische Tea-Party und die deutsche Alternative für Deutschland so einträchtig in ihrer »Islamkritik« vereint sind, ist nicht zuletzt auf die eifrigen Kooperationsbemühungen der frühen 2000er-Jahre zurückzuführen, bei denen das Pro-Spektrum eine maßgebliche Rolle spielte.13

Kooperationen gab und gibt es natürlich auch auf nationaler Ebene. Wie fließend die Übergänge zwischen den antiislamischen Gruppierungen in Deutschland sind, lässt sich wohl am besten am Beispiel des Journalisten und Buchautors Udo Ulfkotte verfolgen, der die These von der »schleichenden Islamisierung Europas« wie kaum ein anderer deutscher Publizist unter die Leute brachte. Als außenpolitischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) hatte Ulfkotte von 1986 bis 1998 überwiegend in Ländern wie dem Irak, dem Iran, Afghanistan oder Saudi-Arabien gelebt, was sein Islambild entscheidend prägte. Ulfkotte wurde unter anderem Zeuge von Hinrichtungen in Saudi-Arabien und stand in Kontakt mit Terroristen aus dem Umfeld von Osama bin Laden, was sich in seinen Büchern Propheten des Terrors – Das geheime Netzwerk der Islamisten (2001) und Der Krieg in unseren Städten – Wie radikale Islamisten Deutschland unterwandern (2003) niederschlug, mit denen der Autor zu einem gern gesehenen Redner auf Veranstaltungen der Pro-Bewegung avancierte.

Gleichwohl war Ulfkotte bemüht, sich von völkischen Tendenzen abzugrenzen, die in dieser Bewegung immer wieder zum Vorschein kamen. Als »wiedergeborener Christ« ging es ihm nicht um das »Überleben des deutschen Volkes«, sondern um die »Bewahrung christlich-jüdischer Kultur in Deutschland und Europa«. Eben dies war auch der Satzungszweck des Vereins Pax Europa, den Ulfkotte 2007 gründete. Doch auch dort machten sich bald rassistische Strömungen breit, weshalb er den Verein bereits ein Jahr später wieder verließ. (2010 ging aus Ulfkottes Pax Europa die Partei Die Freiheit hervor, die sich innerhalb weniger Monate von einer rechtsliberalen zu einer rechtspopulistischen Gruppierung entwickelte, was sich wenige Jahre später im Fall der AfD wiederholen sollte. Im Herbst 2013 stellte Die Freiheit ihre bundespolitischen Aktivitäten zugunsten der AfD ein, was die liberalen Kräfte innerhalb der AfD zusätzlich unter Druck setzte.)

Nach einem kurzen Engagement bei der Partei Bürger in Wut, die 2007 den Einzug ins Bremer Landesparlament schaffte, konzentrierte sich Udo Ulfkotte wieder auf seine publizistischen Aktivitäten. In rascher Folge erschien eine Reihe von Büchern, die nahezu das gesamte Themenspektrum abdecken, mit denen AfD und Pegida seit 2014 die politische Landschaft aufmischen. Schon die Titel seiner Bücher klingen wie eine komprimierte Zusammenfassung des AfD-Parteiprogramms: SOS Abendland – Die schleichende Islamisierung Europas (2008); Vorsicht Bürgerkrieg! Was lange gärt, wird endlich Wut (2009); Europa vor dem Crash (2011); Albtraum Zuwanderung. Lügen, Wortbruch, Volksverdummung (2011); Gebt uns unsere D-Mark zurück (2012); Politische Korrektheit. Von Gesinnungspolizisten und Meinungsdiktatoren (2013); Gekaufte Journalisten. Wie Politiker, Geheimdienste und Hochfinanz Deutschlands Massenmedien lenken (2014); Mekka Deutschland – Die stille Islamisierung (2015); Die Asyl-Industrie. Wie Politiker, Journalisten und Sozialverbände von der Flüchtlingswelle profitieren (2015).

Obwohl Ulfkottes Bücher seit 2008 nicht mehr in großen Publikumsverlagen, sondern in dem auf Esoterikliteratur und Verschwörungstheorien spezialisierten Kopp-Verlag erschienen, landeten einige seiner Werke (u. a. SOS Abendland, Vorsicht Bürgerkrieg und Gekaufte Journalisten) auf den vorderen Rängen der Bestsellerlisten. Kein Wunder also, dass der prominente Autor als Stargast zu diversen Gida-Demonstrationen und AfD-Veranstaltungen eingeladen wurde, um die versammelte Schar der Wutbürgerinnen und -bürger über die vermeintliche »Lügenpresse«, den »Albtraum Zuwanderung« und die »schleichende Islamisierung Europas« aufzuklären.

Feindbild Islamkritik

Außerhalb der rechtspopulistischen Kreise kamen Ulfkottes Thesen freilich weniger gut an. Renommierte Kritiker wie Heiner Bielefeldt, seit 2010 Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats, warfen ihm vor, »islamophobe Propagandaliteratur« zu fabrizieren. Ulfkottes Bücher, so Bielefeldts Kritik, beruhten nicht auf differenzierten Analysen, sondern auf »monströsen Angstszenarien«, etwa der Vorstellung, Europa würde sich in den nächsten Jahrzehnten zu einem »Eurabien« entwickeln und ab 2040 das Scharia-Recht einführen.14

Der Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, verglich Ulfkottes Thesen sogar mit den antisemitischen Verschwörungstheorien des 19. Jahrhunderts. Dass die Muslimbrüderschaft einen »geheimen Plan zur Unterwanderung nichtmuslimischer Staaten« verfolge, wie es Ulfkotte in seinem Buch Heiliger Krieg in Europa – Wie die radikale Muslimbruderschaft unsere Gesellschaft bedroht von 2007 dargelegt hatte, erinnere fatal an die antisemitische Hetzschrift Protokolle der Weisen von Zion, die den angeblichen Plan einer jüdischen Unterwanderung belegen sollte und zu einer der bedeutsamsten Quellen des eliminatorischen Judenhasses im 20. Jahrhundert (insbesondere in Deutschland) wurde.15

Benz stellte seinen Vergleich von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit 2008 auch in den Mittelpunkt einer Tagung am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung, 2010 untermauerte er ihn noch einmal im Rahmen seines Buches Die Feinde aus dem Morgenland.16Tagung und Buchveröffentlichung lösten eine hitzig geführte Debatte über die Zulässigkeit dieses Vergleichs aus. Auf beiden Seiten wurden Stellungnahmen veröffentlicht, die mitunter eher an Rufmordkampagnen erinnerten als an einen rationalen Austausch von Argumenten.

Versucht man, sich dieser Debatte unvoreingenommen zu nähern, fällt zweierlei auf. Erstens: Benz hatte zweifellos recht mit seiner Feststellung, dass in der neurechten Bewegung, die sich meist entschieden projüdisch, ja sogar proisraelisch aufstellt, das »Feindbild Jude« durch das »Feindbild Muslim« ersetzt wurde und sich die neuen Muslimhasser ähnlicher Ausgrenzungsstrategien bedienen wie die alten Judenhasser. Zweitens: Mit seiner Fundamentalkritik an der Islamkritik schoss Benz jedoch über das Ziel hinaus – nicht nur, weil er rationale Islamkritiker mit irrationalen Islamophobikern in einen Topf warf, sondern auch, weil er in seiner Analyse fast vollständig ignorierte, dass selbst die übertriebensten Ängste vor dem politischen Islam auf empirischen Fakten gründen, die es im Fall der wahnhaften Furcht vor der »Verjudung« in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlichtweg nicht gegeben hat.

Denn das Judentum war und ist – im Unterschied zum Islam – keine missionarische Weltreligion mit eineinhalb Milliarden Anhängern. Juden haben nicht dazu aufgerufen, die Welt zu erobern und »Ungläubige« den eigenen Glaubensregeln zu unterwerfen. Sie haben die Weltöffentlichkeit auch nicht terrorisiert, indem sie Andersgläubige vor laufender Kamera köpften, Sprengstoffattentate verübten, Flugzeuge in Wolkenkratzer steuerten oder friedliche Konzertbesucher erschossen.

Da sich Wolfgang Benz in seiner Einschätzung des Islam vornehmlich auf die eigentümlichen Sprachspiele theologischer Exegeten verließ,17 die »Frieden« selbst da erkennen können, wo Gewalt und Unterdrückung herrschen,18 unterschätzte er das reale Gefährdungspotenzial, das von unkritischen Islamauslegungen heute ausgeht.19 Vor allem aber zog Benz zu Recht Empörung auf sich, als er – wider besseres Wissen20 – die Islamisierungshypothese mit den Protokollen der Weisen von Zion auf eine Stufe stellte: Denn dieses geheimnisvolle Treffen der Zionisten, das Antisemiten Anfang des 20. Jahrhunderts in Panik versetzte und ihre Vorurteile über »die Juden« befeuerte, hat bekanntlich niemals stattgefunden! Die weltumspannende Verschwörung von jüdischen Kapitalisten und Kommunisten mit dem Ziel, die »arischen« Gesellschaften an allen Fronten zu schwächen und zu unterwandern, beruhte von Anfang an auf einer kolossalen Wahnidee ohne jegliche empirische Basis.

Dies gilt aber keineswegs für die Muslimbrüder, die nicht nur sehr real existieren, sondern sich tatsächlich auch das ehrgeizige Ziel gesetzt haben, nicht nur Europa, sondern die ganze Welt zu islamisieren.21 Dass Udo Ulfkotte diesen ambitionierten Plan zur Grundlage seines Buches über die Muslimbruderschaft machte,22 kann man ihm schwerlich vorwerfen. Vorwerfen kann und muss man ihm allerdings sehr wohl, dass er die Möglichkeiten zur Realisierung dieses Plans stark überschätzte, wodurch er seine Leserinnen und Leser zu der irrigen, rechtspopulistisch ausbeutbaren Annahme verleitete, nur ein schnelles, hartes und kompromissloses Durchgreifen könne die Entstehung »Eurabiens« unter dem Diktat von Scharia-Gesetzen noch verhindern.

Liest man die Veröffentlichungen von Islamkritik-Kritikern,23 fällt auf, dass sie – trotz vieler treffender Einsichten – nicht selten die gleichen Argumentationsmuster verwenden, die sie bei der Gegenseite scharf kritisieren. So wirft Wolfgang Benz den Islamkritikern vor, sie würden sich einseitig auf inhumane, hetzerische Koranstellen und -interpretationen konzentrieren und alle Aussagen, die nicht in dieses Bild passten, ignorieren – was ihn jedoch nicht davon abhält, das gleiche einseitige Verfahren im Hinblick auf islamkritische Veröffentlichungen anzuwenden.24 Bemerkenswert ist auch, dass Benz versucht, die Aussagen von Islamkritikerinnen wie Necla Kelek25 mit dem Hinweis zu relativieren, dass ihre Perspektive aufgrund der eigenen Lebensgeschichte (etwa der Erfahrung patriarchal-religiöser Unterdrückung) notwendigerweise voreingenommen sei,26 ohne dabei zu erkennen, dass dies selbstverständlich auch für ihn selbst (wie für jeden anderen Menschen) gilt.

Vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte ist es absolut verständlich, dass Benz, der sich als Forscher vornehmlich mit gruppenbezogenen Vorurteilen beschäftigt hat, diesen Aspekt auch in der Islamdebatte fokussiert. Bedauerlicherweise ist dies aber nur ein Teil des Problems: Die Welt wäre zweifellos ein sehr viel friedlicherer Ort, wenn die Angst vor totalitären Formen des Islam nur auf unbegründeten Vorurteilen beruhen würde! Die politische Realität beweist jedoch Tag für Tag das Gegenteil – und eben dies muss in einer rationalen Debatte auch thematisiert werden können. Die Furcht vor unbegründeten Vorurteilen darf daher nicht dazu führen, dass wir keine begründeten Urteile mehr bilden – selbst auf die Gefahr hin, dass Unbelehrbare diese begründeten Urteile dazu nutzen können, um ihr Reservoir an unbegründeten Vorurteilen weiter auszubauen.

Als Vorurteilsforscher sah Benz die Sache natürlich anders, weshalb er Autorinnen wie Necla Kelek vorwarf, die Tatsache zu ignorieren, dass sie mit ihrer Islamkritik »Beifall von der falschen Seite« erhalten würden.27 In diesem Zusammenhang vergaß er allerdings, dass auch er »Beifall von der falschen Seite« bekommt – nämlich von jenen, die durch seine Kritik an der Islamkritik in ihrem reaktionären Denken bestärkt werden und nun sogar ein »wissenschaftliches Gütesiegel« dafür vorweisen können, wenn sie jede noch so differenzierte Kritik am Islam/Islamismus als »islamophob« diffamieren.

Es gibt wohl kaum ein Argument, das die Grundlagen einer offenen Streitkultur so sehr untergräbt wie die Behauptung, Kritik sei zu unterlassen, wenn sie von der »falschen Seite« unterstützt wird. Denn dieses Argument läuft darauf hinaus, parteiliches Lagerdenken über die faire Abwägung von Argumenten zu stellen, gruppendienliche Selbstzensur der freien Debatte vorzuziehen und Positionen allein deshalb zu ignorieren, weil sie von »den Anderen« geäußert werden.

Wolfgang Benz selbst hat am Beispiel der Entstehung und Festigung von Vorurteilen gegen Juden und Muslime trefflich analysiert, wie die Ausgrenzung des »Anderen« funktioniert. Fatalerweise jedoch trug seine Analyse mit dazu bei, dass ähnliche Ausgrenzungsstrategien gegenüber »Islamkritikern« verstärkt wurden. Dadurch wurde an die Stelle des Feindbildes »Muslim« das Feindbild »Islamkritiker« gerückt, was die Debatte keineswegs versachlichte, sondern die kritisierten Islamkritiker zum Gegenschlag anstachelte, indem sie das Feindbild des »Islamkritik-Kritikers« verstärkten.

Henryk M. Broder zum Beispiel, der seit Jahren vor einer rückgratlosen Appeasement-Politik gegenüber Islamisten warnt,28 attestierte dem renommierten Antisemitismusforscher Benz, weder vom Antisemitismus noch vom Islam Ahnung zu haben. Ironisch merkte Broder an, dass man Juden- und Muslimenhass ähnlich gut vergleichen könne wie »die Wehrmacht mit der Heilsarmee, einen Bikini mit einer Burka und die GEZ mit der Camorra«. Das Ganze sei jedoch eine Themaverfehlung, denn im Fall des Islam liege das Problem »nicht bei den Kritikern, sondern beim Gegenstand der Kritik29. Andere Autoren gingen in ihrer Reaktion noch weiter und unterstellten dem Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, selbst »antisemitisches« Gedankengut zu verbreiten30 – ein heftiger Schlag unter die Gürtellinie, der darauf abzielte, den Gegner an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen.

Die große Begriffsverwirrung

Die Islamdebatte krankt seit Langem daran, dass die Vertreter unterschiedlicher Positionen alles tun, um die Gegenseite mit moralischen Killerphrasen außer Gefecht zu setzen. Seit Jahren tobt auf diesem Gebiet ein empörialistischer Überbietungswettbewerb, in dem es nicht mehr um den rationalen Austausch von Argumenten geht, sondern um die größtmögliche Diffamierung der »Anderen«.

Dies zeigt sich nicht zuletzt in der inflationären Verwendung diskreditierender Begriffe wie »antisemitisch«, »rassistisch«, »faschistisch« oder »islamophob«. Selbstverständlich ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn Antisemitismus als Antisemitismus, Rassismus als Rassismus oder Faschismus als Faschismus bezeichnet wird. Gefährlich wird es aber, wenn der Bedeutungshorizont dieser Begriffe so weit ausgedehnt wird, dass sie ihre inhaltliche Substanz verlieren und derart entkernt bei jeder passenden wie unpassenden Gelegenheit zur Brandmarkung Andersdenkender verwendet werden können.

Nehmen wir nur den Begriff »Rassismus«, bei dem eigentlich klar sein sollte, was darunter sinnvollerweise zu verstehen ist und was nicht:

Definition Rassismus

Rassismus ist eine Ideologie, die darauf abzielt, Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft (früher fälschlicherweise als »Rassenzugehörigkeit« bezeichnet)31 unterschiedlich zu behandeln, was in der Regel mit der Unterstellung begründet wird, dass zwischen den Angehörigen verschiedener Ethnien bedeutsame biologische Unterschiede bestünden, aus denen sich eine unterschiedliche Wertigkeit der Populationen und ihrer Mitglieder ableiten ließe. Rassismus ist also im Kern eine biologistische Ausgrenzungsideologie, die die Diskriminierung von Menschen darüber legitimiert, dass man ihnen einen anderen (meist als »minderwertig« klassifizierten) Genpool zuweist. Das heißt im Umkehrschluss: Wem biologische Merkmale wie Hautfarbe, Augenform, Haarstruktur, ethnische Herkunft etc. bei der Bewertung seiner Mitmenschen völlig schnuppe sind, kann im eigentlichen Wortsinne keinRassist sein.