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Seit Charles Darwin wissen wir: Wir sind kaum mehr als »nackte Affen«. Und doch erklären wir uns moralisch gern zu höheren Wesen. Aber was wäre, wenn uns gerade die Unterscheidung in Gut und Böse ins Unglück stürzte? Wenn es uns ohne Moral besser ginge? Michael Schmidt-Salomon, streitbarer Kämpfer gegen den Geist unserer Zeit, entlarvt den freien Willen und die religiös verankerte Aufteilung in Gut und Böse als Illusionen. Ein provokatives Buch mit einer wahrhaft erlösenden Botschaft – die erstaunliche lebenspraktische und gesellschaftliche Folgen hat.
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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
2. Auflage 2012
ISBN 978-3-492-95679-6
© 2009 Piper Verlag GmbH, München, erschienen im Verlagsprogramm Pendo Umschlaggestaltung: semper smile Werbeagentur GmbH, München Umschlagmotiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur Zürich, Teresa Mutzenbach Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
IN MEMORIAM FRIEDRICH NIETZSCHE
Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.
Heinrich von Kleist
EINLEITUNG
Das Böse ist eine Wahnidee, die zwar in unseren Köpfen herumspukt, für die wir in der Realität jedoch keine Entsprechung finden. Je genauer wir hinschauen, desto klarer erkennen wir: Gute und böse Menschen gibt es ebenso wenig wie gute und böse Katzen, Elefanten, Regenwürmer oder Delfine.
Als ich diese zugespitzte These vor etwa einem Jahrzehnt auf einer philosophischen Tagung vortrug, blickte ich in einigermaßen verstörte Gesichter. Von Gott und Teufel hatte sich das philosophisch gebildete Publikum, vor dem ich referierte, zwar weitgehend verabschiedet, doch an der Unterscheidung von Gut und Böse meinte es unbedingt festhalten zu müssen.
Und so stießen meine Argumente gegen das »moralische Schuldprinzip« auf hartnäckigen Widerstand – vor allem, als ich ausführte, dass sich auch Hitler und Stalin nicht aus »freiem Willen« für »das Böse« entschieden hatten. Dass die beiden Diktatoren, immerhin die Hauptverantwortlichen für die Abschlachtung von Millionen von Menschen, letztlich nur das tun konnten, was sie tragischerweise aufgrund ihrer jeweiligen Lebenserfahrungen tun mussten, war ein geradezu ungeheuerlicher Gedanke, den die meisten Zuhörer voller Entrüstung von sich wiesen. Wo kämen wir auch hin, wenn »derartige Bestien« moralisch entschuldigt würden?!
Reaktionen wie diese sind verständlich. Denn unsere Gehirne wurden über Jahrhunderte hinweg auf der Basis von »Schuld und Sühne« und »Gut und Böse« programmiert. Dass man die Welt auch auf eine völlig andere Weise wahrnehmen könnte, kommt vielen Menschen gar nicht erst in den Sinn. Deshalb setzt sich derjenige, der den Versuch unternimmt, diese Denkmuster infrage zu stellen, der Gefahr aus, grob missverstanden zu werden. Nur zu leicht kann man ihm unterstellen, dass er die Gräueltaten Hitlers oder anderer Diktatoren legitimieren wolle. So war es nach meinem Vortrag vor ungefähr zehn Jahren und ich befürchte, dass derartige Fehlinterpretationen auch die Aufnahme des vorliegenden Buches begleiten werden.
Dass ich trotz dieser Gefahr abermals den Versuch wage, eine menschenfreundliche Philosophie jenseits von Gut und Böse zu skizzieren, mag man als Ausdruck von Dickköpfigkeit interpretieren. Doch im Laufe der Jahre ist in mir die Überzeugung gewachsen, dass ein konsequenter Abschied vom moralischen Dreigestirn »Schuld – Sühne – Strafe« das Beste wäre, was uns passieren könnte. Friedrich Nietzsche sah in diesem Abschied sogar den »Fortschritt aller Fortschritte«.1 Obgleich der »Philosoph mit dem Hammer« durchaus zu Übertreibungen neigte, mit dieser Einschätzung traf er voll ins Schwarze: In der Tat würde sich unser Verhältnis zur Welt in dramatischer Weise verbessern, wenn wir unsere altbackenen Moralvorstellungen endlich aufgeben könnten. Denn diese Vorstellungen haben uns summa summarum krank, kritikunfähig, selbstsüchtig und dumm gemacht.
Verlieren würden wir durch den Abschied von Gut und Böse nichts, worauf wir nicht gut und gern verzichten könnten. Denn das traditionelle Gut-und-Böse-Schema hat uns im Kampf um eine humanere Gesellschaft keineswegs geholfen. Im Gegenteil! Hinter der moralischen Maske lauerte immer schon der blinde Instinkt der Rache. Die Belegung »des Fremden«, »des Abweichlers«, »des Gegners« mit dem »Signum des Bösen« erlaubte erst jene Eskalation von Gewalt, die sich wie ein blutroter Faden durch die Geschichte der Menschheit zieht.
Ein Abschied von diesem archaischen Denkmuster würde uns – so eine der Hauptaussagen des vorliegenden Buches – nicht nur in ethischer Hinsicht stärken, er würde uns auch zu einer entspannteren Weltsicht verhelfen. Dieser Perspektivenwechsel würde unser Verhältnis zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen entkrampfen, ja, er hätte durchaus auch eine »spirituelle Dimension«: Denn was Gläubige tagaus, tagein in ihren Gebeten erflehen, die »Erlösung von dem Bösen«, liefert uns eine humanistische, rational-wissenschaftliche Weltsicht gewissermaßen »frei Haus«. Zu dieser »Erlösung« bedarf es nämlich keiner göttlichen Gnade, keines wie auch immer gearteten Beistands von oben, sondern lediglich einer kritischen Überprüfung unserer Annahmen über die Welt.
Sie sind skeptisch? Gut so! Würde ich einen Text lesen, der derartige »Welterlösungsformeln« enthielte, würden auch bei mir sofort sämtliche Alarmsirenen ertönen. Aber ich darf Sie beruhigen: Ich habe ganz gewiss nicht vor, eine neue Religion zu begründen. Als kritisch-rationaler Philosoph2 liegt es mir fern, Versprechungen zu machen, die nicht in irgendeiner Form überprüfbar wären. Und so werde ich Ihnen auch ganz bestimmt nicht vorgaukeln, dass Sie bloß diese oder jene »Weisheit« berücksichtigen müssten und schon wären auf einen Schlag sämtliche Probleme der menschlichen Existenz gelöst.
Die in Aussicht gestellte Erlösung von dem Bösen meint deshalb auch keineswegs die Erlösung von allen Übeln. Selbstverständlich werden wir auch nach dem philosophischen Abschied von Gut und Böse nicht das »Paradies auf Erden« finden. Leid, Schmerz und Tod bleiben unsere ständigen Begleiter. Allerdings können wir sehr wohl lernen, mit diesen Widrigkeiten des Lebens etwas vernünftiger, etwas gelassener, etwas humorvoller umzugehen.
Paradoxerweise sind es gerade die von vielen als kränkend empfundenen Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften, die uns bei der Bewältigung dieser Aufgabe helfen können. Ich bin überzeugt – nicht zuletzt aufgrund eigener Erfahrung: Wenn wir die Kraft der Wissenschaft nutzen, um den illusionären Ballast über Bord zu werfen, mit dem wir gewöhnlich durch die Stürme und Flauten des Lebens schippern, so verhilft uns dies zu einer alternativen, heiter-gelassenen Lebenseinstellung, zu einer »neuen Leichtigkeit des Seins«.
Was hierunter zu verstehen ist, werde ich erst im Verlauf des Buches entfalten. So viel sei aber schon verraten: Es handelt sich um eine Lebensauffassung, die so manche negativen Emotionen, die uns als Einzelpersonen belasten und auch das Zusammenleben mit anderen erschweren – etwa Versagensängste, Minderwertigkeitskomplexe, Größenwahn oder Rachsucht –, gar nicht erst aufkommen lässt. Sie meinen, das sei unmöglich? Lassen Sie sich überraschen!
Allerdings: Bevor wir uns dieser »neuen Leichtigkeit des Seins« zuwenden können, müssen wir zunächst einen Parforceritt durch die Wissenschaften absolvieren und uns unter anderem mit der Hirnforschung, Evolutionsbiologie, Genetik, Soziologie und Psychologie beschäftigen. In der weltanschaulichen Verarbeitung dieser wissenschaftlichen Ergebnisse werden selbstverständlich auch Philosophen und Theologen zu Wort kommen. Damit das Ganze nicht zu trocken wird, werde ich zwischendurch immer wieder kleinere Anekdoten und Geschichten einstreuen, um die mitunter vielleicht etwas abstrakten wissenschaftlichen und philosophischen Erörterungen zu illustrieren und ein wenig verdaulicher zu machen.
Eine Geschichte wird uns dabei häufiger begegnen. Sie bildet gewissermaßen den roten Faden dieses Buches. Es handelt sich um jene berühmte Erzählung, die man auf den ersten Seiten des sogenannten Buches der Bücher findet: Die Geschichte von Adam und Eva und jener vermaledeiten Frucht, der wir der biblischen Legende zufolge den ganzen Schlamassel hier auf Erden zu verdanken haben …
Als man mir zum ersten Mal – ich war wohl gerade fünf oder sechs Jahre alt – die Geschichte vom biblischen Sündenfall erzählte, war ich ziemlich erbost über das Verhalten Evas, die uns, wie ich dachte, bloß wegen eines schnöden Apfels ein Leben in ewiger Glückseligkeit verdorben hatte. Nicht dass ich ein prinzipieller Gegner des Apfelgenusses gewesen wäre, aber mir schien der Preis, den Eva und in ihrer Nachfolge auch ich für diese Frucht zahlen mussten, entschieden zu hoch zu sein.
Es hat einige Zeit gedauert, bis mir klar wurde, dass die Geschichte von Adam und Eva kein historisches Ereignis widerspiegelte, sondern bloß eine phantasievolle, literarische Erfindung war. Der Menschheit insgesamt erging es in dieser Hinsicht kaum anders. Über Jahrhunderte hinweg haben Christen in kindlicher Naivität an die biblische Schöpfungsgeschichte geglaubt. Wer Zweifel am Realitätsgehalt dieser Legende äußerte, lief Gefahr, als Ketzer verbrannt zu werden. Entsprechend verbissen wurde später von religiöser Seite der Kampf gegen die Evolutionstheorie geführt, die nach den Erschütterungen der kopernikanischen Wende dem biblischen Schöpfungsmythos auch noch die allerletzten empirischen Grundlagen entzog.
Wie wir fast täglich aus den Medien erfahren können, ist der Widerstreit zwischen Kreationismus (Schöpfungsglaube) und Evolutionstheorie noch längst nicht ausgefochten. So anachronistisch es auch erscheinen mag: Noch heute gibt es weltweit Abermillionen gläubiger Juden, Christen und Muslime, die die biblische Legende mit einem historischen Tatsachenbericht verwechseln. Man denke nur an die 120Millionen bibeltreuer US-Amerikaner, die felsenfest davon überzeugt sind, dass das Universum zu einem Zeitpunkt entstanden sei, als die Mesopotamier schon das erste Bier brauten …3
Im weitgehend säkularisierten Westeuropa ist der Glaube an die reale Existenz von Adam und Eva jedoch nur noch selten anzutreffen. Die meisten Menschen haben in unserem Kulturraum den Erkenntnisfortschritten der letzten Jahrhunderte Tribut gezollt. Für sie ist der biblische Schöpfungsmythos nichts weiter als ein Stück Weltliteratur, vergleichbar etwa mit den Werken Homers, Shakespeares oder der Gebrüder Grimm. Das heißt natürlich nicht, dass dieser Mythos aus den Köpfen der Menschen verschwunden wäre, er ist weiterhin ein fester Bestandteil unserer Kultur.
Man sieht das schon an recht profanen Dingen. Wo etwa wäre der Grafiker oder Werbefilmer, der auf die Gestalt des Apfels als Symbol der Verführung verzichten könnte? Die Bildmarke des verführerischen Apfels hat sich weltweit etabliert (auch Schneewittchen fiel nicht zufällig einem vergifteten Apfel zum Opfer!), obgleich in der Bibel von Äpfeln überhaupt nicht die Rede ist. (Dies wäre auch schwerlich möglich gewesen, gelangten diese Früchte doch erst im 20. Jahrhundert über den Importweg in den Nahen Osten, den Entstehungsort der biblischen Legende.)4
Die Umstände, die dazu führten, dass unsere mythologischen Urahnen ausgerechnet mit dem Genuss von Äpfeln assoziiert werden, verrät viel über die Art und Weise, wie »Meme« (kulturelle Informationseinheiten wie Ideen, Bilder, Melodien etc.)5 entstehen und sich unter günstigen Bedingungen weltweit fortpflanzen können. Offenbar war es so, dass vor vielen Jahrhunderten ein uns heute unbekannter Geistlicher beim Lesen der Vulgata, der lateinischen Bibelübersetzung, auf die (rein zufällige) Doppelbedeutung des Wortes malum stieß, das man sowohl mit »böse« als auch mit »Apfel« übersetzen kann.
Zwar wird der Mann erkannt haben, dass es unsinnig ist, den Satz Eritis sicut deus, scientes bonum et malum (der Satz, mit dem die Schlange Eva verführt) mit »Ihr werdet sein wie Gott, wissend das Gute und den Apfel« zu übersetzen. Doch losgelöst von diesem direkten sprachlichen Kontext, scheint der anonyme Geistliche gedacht zu haben, endlich eine Möglichkeit zur Klärung der brennenden Frage nach der Beschaffenheit jener mysteriösen Frucht gefunden zu haben, welche Eva dank der Überzeugungskraft der Schlange vom Baum der Erkenntnis pflückte.
Der Erfinder des »Eva-biss-in-den-Apfel-Mems« behielt offenbar seine »Entdeckung« nicht für sich, sondern erzählte sie weiter. Andere, die davon hörten, taten das Gleiche. Auf diese Weise breitete sich das Apfel-Mem wie ein Grippevirus aus. So brannte sich das Bild des verführerischen Apfels letztlich ins kollektive Gedächtnis der Menschheit ein, wurde zum Bestandteil von unzähligen Geschichten, Gemälden und Werbespots – ein wunderbarer memetischer Fortpflanzungserfolg, geboren aus einer banalen Fehlübersetzung.
Dieser sensationelle Erfolg des »Eva-biss-in-den-Apfel-Mems« muss uns jedoch nicht sonderlich beunruhigen, schließlich ist es völlig harmlos. Die Welt würde heute kaum besser oder schlechter aussehen, wenn sich an seiner Stelle das realistischere »Eva-biss-in-die-Feige-Mem« verbreitet hätte. Allerdings enthält die biblische Sündenfallgeschichte eine Reihe weiterer Meme, denen man solche Harmlosigkeit keineswegs attestieren kann. Sie haben das Gesicht der Welt nachhaltig mitbestimmt und beeinflussen es bis zum heutigen Tag. Von diesen Memen und ihren weitreichenden Folgen handelt das vorliegende Buch.
Der biblischen Erzählung zufolge schuf Gott am Anfang aller Tage eine heile Welt, in der keine Not, keinerlei Übel existierte: »Gott sah, dass es gut war.«6 Gewissermaßen als Krönung seiner heilen Schöpfung legte Gott in Eden einen wunderbaren Garten an, in den er den Menschen, den er zuvor aus Ackerboden geformt hatte, setzte. Gott erklärte dem Menschen, dass er von allen Bäumen des Gartens essen dürfe. Die einzige Ausnahme sei der »Baum der Erkenntnis von Gut und Böse«. Würde er von diesem Baum essen, drohte Gott, müsse der Mensch sterben.
Nun wissen wir ja (und diese psychologischen Grundkenntnisse sollte man eigentlich auch einem allwissenden Gott unterstellen), wie das so ist mit Verboten und dem aparten Reiz ihrer Übertretung. Salopp formuliert: Was der Mensch nicht haben kann, macht ihn ganz besonders an! So erging es offenbar auch Urmutter Eva. Die Schlange, »schlauer als alle Tiere des Feldes«7, erklärte ihr, dass Gott gelogen habe. Eva müsse gar nicht sterben, wenn sie vom Baum der Erkenntnis esse, vielmehr würden ihr die Augen aufgehen. Sie würde sein wie Gott und könne Gut und Böse unterscheiden. Eva dachte sich daraufhin, dass es doch »köstlich wäre, von dem Baum zu essen« und dadurch »klug zu werden«.8 Also griff sie kurzerhand zu und ließ fürsorglich, wie sie nun einmal war, auch ihren Gatten von den wundersamen Früchten naschen, auf dass dieser nicht ewig dumm bleibe.
Was auf den ersten Blick recht harmlos anmutet (ein Fall von Obstraub beziehungsweise unzulässiger Inanspruchnahme von Bildungsangeboten), ist aus theologischer Sicht die Freveltat schlechthin, gewissermaßen die »Mutter allen Übels«. Denn durch den Akt des Ungehorsams gegen Gott kam »das Böse« in die heile Welt der göttlichen Schöpfung.
Im Katechismus der Katholischen Kirche, dem aktuell gültigen Glaubensregelwerk für die mehr als 1,1Milliarden Katholiken weltweit, heißt es hierzu: »Vom Teufel versucht, ließ der Mensch in seinem Herzen das Vertrauen zu seinem Schöpfer sterben, missbrauchte seine Freiheit und gehorchte dem Gebot Gottes nicht. Darin bestand die erste Sünde des Menschen … Seit dieser ersten Sünde überschwemmt eine wahre Sündenflut die Welt: Kain ermordet seinen Bruder Abel; infolge der Sünde werden die Menschen ganz allgemein verdorben.«9
Theologisch wird aus dem Sündenfall unter anderem die sogenannte Erbsünde abgeleitet. Während dieses spezielle theologische Mem jedoch in Europa keine große Rolle mehr spielt (nur die wenigsten Eltern glauben bei der Taufe ihrer Kinder tatsächlich, dass diese so unschuldig dreinblickenden Wesen mit der »Erbsünde« belastet sind), haben andere Bestandteile der Sündenfallgeschichte den Prozess der Säkularisierung (Verweltlichung) weitgehend unbeschadet überlebt.
So haben selbst areligiöse Menschen das »Sündenfall-Syndrom« nur in den allerseltensten Fällen überwunden. Unter dem Begriff »Sündenfall-Syndrom« fasse ich eine spezifische Normierung des Denkens, Handelns und Empfindens im Sinne des in der biblischen Paradieserzählung angelegten Konzepts von moralischer Schuld und Sühne. Die grundlegenden Axiome (Denkvoraussetzungen) dieses Syndroms lassen sich folgendermaßen formulieren:
1. Axiom: Es wird unterstellt, dass Menschen im Gegensatz zu anderen Lebewesen über »Willensfreiheit« verfügen. Grundlage dieser Idee ist das sogenannte »Prinzip der alternativen Möglichkeiten«. Dieses besagt, dass sich eine Person unter exakt den gleichen Bedingungen prinzipiell auch anders entscheiden könnte, als sie sich tatsächlich entscheidet. Bezogen auf die biblische Sündenfallgeschichte heißt dies: Eva hätte zum Angebot der Schlange unter exakt den gleichen Bedingungen auch »nein!« sagen können. Ihre Entscheidung, gegen die göttlichen Gebote zu verstoßen, wäre demnach also weder durch innere noch durch äußere Faktoren eindeutig bestimmt gewesen.
2. Axiom: Weiterhin wird unterstellt, dass »das Gute« und »das Böse« (beides jeweils im Singular!) als absolute moralische Kategorien existieren. Diese können, wie in der Bibel, im religiösen Sinne gedacht werden (Gott versus Teufel), aber auch als »über den Dingen schwebende« philosophische Ideen (»das Gute an sich« versus »das Böse an sich«). Auch wenn sich die meisten menschlichen Entscheidungen irgendwo auf dem Kontinuum zwischen diesen beiden absoluten Moral-Polen bewegen, also weder »absolut gut« noch »absolut böse« sind, wird der moralische Dualismus von Gut und Böse als sinnvolles, ja unaufkündbares Orientierungskonzept verstanden. Eben deshalb kommt dem »Baum der Erkenntnis von Gut und Böse« in der biblischen Erzählung auch eine so herausragende Bedeutung zu.
Zentral für die Logik des Sündenfall-Syndroms ist die enge Verzahnung beider Axiome: Nur weil Menschen angeblich über Willensfreiheit verfügen (Axiom 1), also die freie Wahl besitzen, sich sowohl für »das Gute« als auch für »das Böse« (Axiom 2) zu entscheiden, können sie in moralischem Sinne überhaupt verantwortlich gemacht werden. Besäßen sie solche Willensfreiheit nicht, würden sie vielleicht »böse Dinge« tun, könnten aber nicht selbst im moralischen Sinne »böse« sein. Erst aus dem Zusammenwirken beider Axiome entsteht somit die dritte, die letztlich entscheidende Säule des Sündenfall-Syndroms: das moralische Schuld-, Sühne- und Sündenprinzip.
Verdeutlichen wir uns dies anhand der biblischen Erzählung: Hätte Eva nicht die Alternative besessen, der teuflischen Versuchung, also dem Bösen, zu entsagen, so hätte man ihr gegenüber keinen moralischen Schuldvorwurf erheben können. Eva wäre in diesem Falle schlichtweg schuldunfähig gewesen. Da in der Logik des Sündenfall-Syndroms jedoch unterstellt wird, dass Eva sich prinzipiell auch anders hätte entscheiden können, als sie sich entschieden hat, beging sie mit ihrem Verstoß gegen Gottes Gebote eine schwerwiegende Sünde.
In eine etwas weltlichere Sprache übersetzt, heißt das: Durch die »freie Willensentscheidung« für »das Böse« lud Eva Schuld auf sich, verursachte also gewissermaßen ein Minus auf ihrem moralischen Konto, das ausgeglichen werden musste. Dieser Schuldausgleich geschah durch die (vermeintlich) »gerechte Strafe« Gottes, die freilich nicht nur Eva, sondern auch alle ihr nachfolgenden Frauen traf: »Zur Frau sprach er [Gott]: Viel Mühsal bereite ich dir, so oft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach dem Mann; er aber wird dich beherrschen.«10
Adam, durch diesen göttlichen Beschluss zwar zum Beherrscher der Frau erkoren, erging es im Endeffekt auch nicht viel besser. Da er die »freie Entscheidung« getroffen hatte, auf seine Frau zu hören (statt ihr »Vergehen« umgehend dem Schöpfer zu melden) und von den verbotenen Früchten zu essen (statt ewig dumm zu bleiben), lud auch er Schuld auf sich. Als »Sühnestrafe« verfluchte Gott den Ackerboden, den der aus dem Paradies ausgeschlossene Adam von nun an zu bearbeiten hatte, und nahm dem Menschen die Gabe der Unsterblichkeit: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.«11
Um die Tragweite des Sündenfall-Syndroms richtig einschätzen zu können, muss man verstehen, dass es in der Regel auch bei jenen wirkmächtig ist, die nicht an die Existenz eines personalen Gottes glauben. Wie ich schon zu Beginn ausführte, hatten sich die meisten Zuhörer meines Vortrags vor rund zehn Jahren vom Glauben an Gott und Teufel bereits verabschiedet. Dennoch hielten sie an der Überzeugung fest, dass sich Hitler und Stalin »aus freien Stücken« (Axiom 1) für »das Böse« (Axiom 2) entschieden und dadurch »große Schuld« (logische Konsequenz des Sündenfall-Syndroms) auf sich geladen hatten.
Dass die beiden Diktatoren trotz des immensen Minus, das sie durch ihr verbrecherisches Wirken auf ihrem moralischen Konto angesammelt hatten, niemals »Sühne« leisten mussten, bezeichnete einer der Zuhörer, ein religionsfreier, pensionierter Ingenieur, als den »unerträglichsten Verstoß gegen das Gerechtigkeitsprinzip«, den er sich überhaupt vorstellen könne. In seinem Versuch, einen akzeptablen moralischen Schuldausgleich für Hitler und Stalin zu finden, steigerte sich der ansonsten recht freundlich wirkende, ältere Herr in sadistisch anmutende Rachephantasien hinein. So meinte er, dass man Hitler und Stalin als Buße für ihre schrecklichen Verbrechen eigentlich über Jahrzehnte hinweg unablässig mit Elektroschlägen hätte foltern müssen. Bemerkenswerterweise stand er mit dieser Auffassung keineswegs alleine da.
Wir sehen: Akzeptiert man die beiden Grundaxiome des Sündenfall-Syndroms, Willensfreiheit und Gut/Böse-Dualismus, so sind die daraus resultierenden Folgen (Schuld- und Sühneprinzip) logisch stimmig – und zwar völlig unabhängig davon, ob man an einen personalen Gott glauben mag oder nicht. Das Sündenfall-Syndrom besticht durch seine inhärente Logik, allerdings hat es einen ganz entscheidenden Schwachpunkt: Die Axiome, die ihm zugrunde liegen, sind nicht wasserdicht.
Unsere Ernte der »neuen Früchte der Erkenntnis« im ersten Teil des vorliegenden Buches wird den Befund erbringen, dass weder die Idee der Willensfreiheit noch der Gut/Böse-Dualismus einer kritischen Überprüfung standhalten können. Stürzen aber diese Axiome des Sündenfall-Syndroms, fällt auch das auf ihnen aufbauende moralische Schuld- und Sühneprinzip wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Grämen sollten wir uns deshalb jedoch nicht! Im Gegenteil: Wie der zweite Teil meiner Untersuchung (»Die neue Leichtigkeit des Seins«) zeigen wird, sind mit dem Abschied von Gut und Böse, Schuld und Sühne vielfältige positive Konsequenzen verbunden – sowohl für das Individuum wie für die Gesellschaft.
Geben wir Adam und Eva also eine zweite Chance! Als sie das erste Mal die Früchte vom Baum der Erkenntnis pflückten, waren diese Erkenntnisfrüchte bedauerlicherweise noch höchst unreif. (Was auch durchaus verständlich ist, schließlich konnten die Verfasser der biblischen Legende nur auf den begrenzten Wissensstand einer archaischen Hirtenkultur zurückgreifen!) Jedenfalls hat sich das Versprechen der Schlange, wir würden durch die »Erkenntnis von Gut und Böse« zu Göttern, nicht erfüllt. Im Gegenteil! Diese vermeintliche »Erkenntnis« hat unseren Denkhorizont weiter verengt und hasserfüllte Rachefeldzüge gegen das vermeintlich »Böse« heraufbeschworen.
Es ist, wie ich meine, an der Zeit, die geheimnisvollen Früchte vom Baum der Erkenntnis neu zu ernten. Sie sind nämlich erst in jüngster Vergangenheit, Jahrtausende nach der Entstehung der biblischen Mär, reif geworden. Diese Reife zeigt sich nicht zuletzt darin, dass heute mit ihrem Verzehr keine unhaltbaren Versprechungen mehr verbunden sind. Klar ist: Die »Erkenntnis der Nichtigkeit von Gut und Böse« wird uns ganz sicher nicht zu »Göttern« machen, vielleicht aber doch – und das ist sicherlich alle Erntebemühungen wert! – zu etwas freundlicheren, kreativeren, humorvolleren Menschen.
Einer derer, die diese Chance erkannten, war Albert Einstein. In seinem ebenso knappen wie bewegenden Aufsatz »Wie ich die Welt sehe« bekannte der große Physiker, dass er keineswegs an die Willensfreiheit und die aus ihr abgeleiteten Konzepte glaube. Dass der Mensch nicht nur aus äußerem Zwang, sondern auch aus innerer Notwendigkeit handle, dass der menschliche Wille also keineswegs frei, sondern durch vielerlei Ursachen determiniert sei, schreckte Einstein nicht. Im Gegenteil: Er sah darin eine »unerschöpfliche Quelle« der Toleranz und des Humors:
»Schopenhauers Spruch: ›Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will‹, hat mich seit meiner Jugend lebendig erfüllt und ist mir beim Anblick und beim Erleiden der Härten meines Lebens immer ein Trost gewesen und eine unerschöpfliche Quelle der Toleranz. Dieses Bewusstsein mildert in wohltuender Weise das leicht lähmend wirkende Verantwortungsgefühl und macht, dass wir uns selbst und die andern nicht gar zu ernst nehmen; es führt zu einer Lebensauffassung, die auch besonders dem Humor sein Recht lässt.«12
Was Einstein hier in wenigen Worten umreißt, ist jene »neue Leichtigkeit des Seins«, die im vorliegenden Buch entfaltet wird.
Bevor wir nun in die Untersuchung einsteigen, noch ein Wort zu ihrer formalen Anlage: Ich habe mich bemüht, die Darstellung möglichst einfach zu halten, den Gebrauch wissenschaftlicher Fachausdrücke auf ein Minimum zu beschränken und weiterführende Fragestellungen, die wohl nur einen Teil der Leserschaft interessieren werden, im Anmerkungsapparat zu behandeln. Die Allgemeinverständlichkeit ist mir ein besonderes Anliegen, weil die Fragen, die wir diskutieren werden, zu wichtig sind, als dass man sie einem kleinen, exklusiven Kreis von Experten vorbehalten sollte. Schließlich geht es hier um Kernfragen unserer Existenz: Wer sind wir? Was wollen wir? Was können, was sollten wir wollen? Worauf dürfen wir hoffen?
Auch ohne die Hürden wissenschaftlicher Sprachpanzerung ist das Terrain, auf dem wir uns bewegen werden, unwegsam genug, gilt es doch, jahrtausendealte Denkmuster durch eine neue Sicht der Dinge zu ersetzen. Ein solcher Perspektivenwechsel wird vielen von uns schwerfallen. Wir sind es nicht gewohnt, Interessenkonflikte moralinfrei zu beurteilen und uns selbst und unser Umfeld jenseits des Schuld- und Sühne-Prinzips zu bestimmen. Doch ich bin überzeugt, dass unser Gehirn sehr wohl in der Lage ist, neue Schaltmuster zu etablieren – Schaltmuster, die uns die Augen dafür öffnen werden, wie einfach und erfüllend das Leben eigentlich sein könnte.
Wenn das vorliegende Buch auch nur einen winzigen Beitrag zur Entwicklung einer solchen alternativen, lebensbejahenden Bewusstseinskultur leisten könnte, hätte es seine Aufgabe erfüllt …
Die neuen
FRÜCHTE DER ERKENNTNIS
TEIL I
ABSCHIED VON GUT UND BÖSE
KAPITEL 1
Die ganze Geschichte der Menschheit durchzieht … ein harter Kampf gegen die Mächte der Finsternis, ein Kampf, der schon am Anfang der Welt begann und nach dem Wort des Herrn bis zum letzten Tag andauern wird.
Zweites Vatikanisches Konzil: Gaudium et spes (1965)1
Wir befinden uns in einem Konflikt zwischen Gut und Böse, und die Vereinigten Staaten werden das Böse beim Namen nennen.
George W. Bush (2002)2
Wenn du wüsstest, welche Überlegenheit die dunkle Seite der Macht verleiht!
Darth Vader in Star Wars – Das Imperium schlägt zurück (1980)
Die »ganze Welt steht unter der Macht des Bösen«.3 Was der Verfasser des Johannesbriefes einst mahnend der frühchristlichen Gemeinde verkündete, gilt Hollywoodproduzenten heute als Erfolgsrezept für veritable Blockbuster. Ob in Gestalt von Darth Sidious (Star Wars), Lord Voldemort (Harry Potter) oder Sauron (Herr der Ringe): »Die finstere Macht des Bösen« sorgt für Rekordumsätze an den Kinokassen. (Einspielergebnis allein dieser drei Spielfilmreihen: mehr als zehn Milliarden US-Dollar!)
Dass »das Böse«, und zwar das »abgrundtiefe, metaphysische Böse«, existiert, daran lassen diese Kassenschlager keinen Zweifel aufkommen. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass sie sich ausgiebig tradierter religiöser Bilder bedienen. Beispiel Star Wars: Anakin Skywalker wird von einer Jungfrau geboren und soll laut einer alten »Prophezeiung« die Welt vor der tödlichen Bedrohung durch die »finstere Seite der Macht« erlösen. Doch »das Böse« ist verführerisch: In der Hoffnung, seine schwangere Frau retten zu können, verlässt Anakin den Pfad der Tugend und stellt sich als Darth Vader in den Dienst des teuflischen Imperators Sidious.
Erst gegen Ende der sechsteiligen Star Wars-Saga wendet sich das Blatt: Als er seinem Sohn Luke Skywalker begegnet, der den Verführungskünsten des finsteren Imperators widersteht, entscheidet sich Vader/Anakin im finalen Kampf zwischen Gut und Böse für die »helle Seite der Macht« und opfert sich selbst, indem er den Imperator tötet. Als Lohn für dieses Sühneopfer, mit dem er »die Prophezeiung« erfüllt, verbleibt Anakin nicht im Reich der Toten, sondern wird unsterblich. Die Parallelen zur christlichen Mythologie sind kaum zu übersehen – auch wenn Anakin/Vader gewissermaßen Christus und Antichrist in einer Person verkörpert.
In den enorm erfolgreichen Harry Potter-Büchern und -Filmen finden sich ebenfalls deutliche Anleihen an religiöse Vorstellungen: Die Funktion des Teufels übernimmt hier der finstere Lord Voldemort, dessen Namen man nicht aussprechen darf (eine Umkehrung des jüdischen Verbots, den Namen Gottes im Munde zu führen). Kontrastierend dazu wird die Figur des »zur Rettung der Welt erkorenen Kindes« gesetzt: Harry, der »Heiland von Hogwarts«. Glücklicherweise versteht es die Autorin Joanne K. Rowling, diese religionsaffine Anlage immer wieder mit skurrilen, witzigen Einfällen ironisch zu brechen.
Tolkiens Fantasy-Klassiker Herr der Ringe ist gewiss nicht weniger skurril, doch dem Werk fehlt jener bodenständige, britische Humor, der die Harry Potter-Bücher und -Filme auszeichnet. Und so gerät die monumentale Verfilmung von Peter Jackson mitunter gefährlich an den Rand des Kitsches: Edle Helden, die todesmutig den Kampf gegen die bösen Mächte der Finsternis antreten (»Den Tod als Gewissheit, geringe Aussicht auf Erfolg: Worauf warten wir noch?«) – so etwas kann man eigentlich nur mit einer gewissen ironischen Distanz ertragen. Eines jedoch muss man Jackson zugestehen: Der archaische Mythos des Kampfes zwischen Gut und Böse wurde niemals so perfekt in Bild und Ton gesetzt wie in dem – mit insgesamt elf Oscars prämierten – Abschlussfilm der Herr der Ringe-Trilogie.
Wie erklären wir uns, dass gleich drei der erfolgreichsten Spielfilmreihen aller Zeiten das »metaphysische Böse« reaktivieren, dass Okkult-Thriller wie End of Days (Nacht ohne Morgen) Zuschauermassen anziehen, dass beliebte Fernsehserien wie Buffy, Angel oder Charmed um einen Konflikt kreisen, der mit dem Auftreten der Aufklärungsbewegung als längst überwunden galt, nämlich den Kampf mit »finsteren Dämonen der Unterwelt«, die sich der »Seelen« der Menschen bemächtigen wollen?
Ich meine, dass es sich hierbei nicht bloß um eine zufällige Modeerscheinung handelt, sondern um die kulturelle Widerspiegelung eines in Europa bislang nicht hinreichend beachteten religiös-politischen Phänomens, nämlich der Wiederkehr der »apokalyptischen Matrix«.
Was hierunter zu verstehen ist, haben Victor und Victoria Trimondi in ihrem Buch Krieg der Religionen herausgearbeitet.4 Ihre detailreiche Studie verdeutlicht, dass Islamisten, fundamentalistische Christen und Juden, radikale Hindus und Buddhisten, obwohl sie sich gegenseitig bekriegen, eine gemeinsame »politische Theologie« teilen, die Religion und Politik miteinander vermischt und von der felsenfesten Überzeugung getragen ist, dass die finale Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse kurz bevorstehe oder gar schon begonnen habe.
Das Geschichtsverständnis, das der apokalyptischen Matrix zugrunde liegt, speist sich aus den Endzeitprophezeiungen, die sich in den jeweiligen »Heiligen Schriften« finden lassen5, bei Juden etwa in den Büchern der Propheten (insbesondere dem Buch Daniel), bei Christen vor allem in der Offenbarung des Johannes, bei den Muslimen in Passagen aus dem Koran und in zahlreichen Hadithen (den Sprüchen des Propheten Mohammed), bei den (lamaistischen) Buddhisten im sogenannten Kalachakra Tantra und bei den Hindus in der Bhagavad-Gita und dem Ramayana.
Als wesentlich für die apokalyptische Matrix arbeiten Victor und Victoria Trimondi unter anderem die folgenden Vorstellungen heraus:
Erstens: Apokalyptiker begreifen die Geschichte der Menschheit als »irdische(n) Ausdruck eines kosmischen Krieges zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis. In diesem universellen Kampf stehen sich Gott und Satan, Engel und Teufel, Oberwelt und Unterwelt als unversöhnliche Feinde gegenüber. Wenn sich die Weltgeschichte der apokalyptischen Entscheidungsschlacht nähert, ist jeder Mensch gezwungen, sich für oder gegen Gott zu entscheiden.«6
Zweitens: Aus apokalyptischer Sicht ist die gegenwärtige Welt gekennzeichnet durch eine »zunehmende Herrschaft des Bösen, die sich ausdrückt in sittlichem Verfall und sexuellen Exzessen, in Ungläubigkeit, Korruption, Krieg, Gewalt, Ungerechtigkeiten, Verbrechen, Seuchen, Naturkatastrophen und Wirtschaftskrisen. Die Gegenwart, so wie sie ist, wird radikal abgelehnt.«7
Drittens: Apokalyptiker erwarten, dass ein »Dämon, der Satan oder dessen Stellvertreter … die Gewaltherrschaft über diese Welt der Niedertracht« ergreift: »Mit Vorspiegelungen, Betrug, Hinterhältigkeit, Manipulation, Terror und Mord zwingt er einen Großteil der Menschheit unter sein Kommando und wird zum Weltenherrscher. Dann versucht er nach dem Throne Gottes zu greifen.«8
Viertens: Hölderlins Vers »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« gilt nicht zuletzt für das apokalyptische Weltbild: »Kurz bevor der satanische Welt-Imperator alle seine Ziele erreichen kann, inkarniert sich im letzten Augenblick das Gute in der Gestalt eines ›Militanten Messias‹, der als Anführer einer ›kosmischen Armee‹ aus Menschen und Überwesen (Engeln, Göttern, Heroen) mit extremer Härte, mit Zorn und mit gnadenloser Grausamkeit gegen die ›Koalition des Bösen‹, den Teufel und sein Pandämonium antritt und diese dann endgültig vernichtet. Beide Parteien kämpfen mit allen Arten von Massenvernichtungswaffen und setzen auch Naturkatastrophen und Seuchen als Kampfmittel gegeneinander ein.«9
Fünftens: Die Unabwendbarkeit der finalen Schlacht zwischen Gut und Böse ruft einen neuen Märtyrerkult hervor: »Die Anhänger des ›Militanten Messias‹ bezeichnen sich als ›Gotteskrieger‹, die bereitwillig das Martyrium auf sich nehmen, um dadurch sofortige ›Erlösung‹ zu erlangen.«10
Gewiss: Im säkularisierten Westeuropa sind derartige Vorstellungen (noch?) nicht allzu stark verbreitet. In den USA, weiten Teilen Südamerikas, Afrikas und auch des Nahen Ostens sind apokalyptische Denkmuster dieser Art jedoch von großer Bedeutung. Eine Umfrage des Time Magazine aus dem Jahr 2002 ergab, dass 59 Prozent aller US-Amerikaner davon überzeugt sind, dass die in der Johannesoffenbarung beschriebenen Endzeit-Ereignisse dabei sind, sich zu realisieren. 1999 lag die Quote noch bei 40 Prozent, 1991 bei mageren 12 Prozent der US-Bevölkerung.11
Dieser starke Zuwachs der Endzeitgläubigen in den USA ist nicht allein auf die Bedrohung durch islamische Terroristen, etwa die Attentate des 11. September 2001, zurückzuführen, sondern vor allem auf die in den Neunzigerjahren intensivierte Missionsarbeit der Christlichen Rechten, die die Botschaft von Armageddon, der bevorstehenden Endzeitschlacht, auf allen erdenklichen medialen Kanälen verbreitete. Mithilfe des Fernsehens, des Internets und des Radios stimmten Prediger wie Pat Robertson und Jerry Falwell über Jahre hinweg ein Multimillionenpublikum auf den »Krieg gegen das Böse« ein. Sekundiert wurden sie dabei von reißerischen Filmen, Computerspielen, Comics und Okkult-Thrillern, die die zentralen Elemente der apokalyptischen Matrix eins zu eins übernahmen, jedoch mit der nötigen Prise zeitgemäßer Action würzten.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die Science-Fiction-Buchserie Left Behind von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins, die mit ihren bislang über 65Millionen (!) verkauften Exemplaren in den USA ähnlich bekannt ist wie Harry Potter hierzulande.12Left Behind beginnt im Stile eines Stephen-King-Thrillers: Während eines Linienflugs verschwinden auf mysteriöse Weise mehr als hundert Passagiere. Übrig bleiben nur Kleidung und Schuhe. Der Pilot der Maschine, Rayford Steele, stellt fest, dass nicht nur sein Flugzeug, sondern die ganze Welt von diesem unerklärlichen Phänomen betroffen ist. Vor allem sind sämtliche Babys und kleinen Kinder verschwunden, was weltweit Panik auslöst.
Während Wissenschaftler sich verzweifelt darum bemühen, rationale Erklärungen für das Phänomen zu finden, entdeckt Steele den wahren Grund für das Verschwinden der Menschen: Gott hat die unschuldigen Kinder sowie die wahrhaft Gläubigen zu sich genommen. Auf der Erde werden zurückgelassen (»left behind«): allzu lasche und zweifelnde Christen sowie alle anders- und ungläubigen Menschen. Sie sind gezwungen, sich entweder »dem Bösen« zu unterwerfen oder sich als neue gute Christen zum Kampf gegen Satan und seine Truppen zu rüsten.
Dabei entpuppt sich der frisch gewählte, charismatische UN-Generalsekretär Nicolai Carpathia als »der Antichrist«. Rayford Steele baut gemeinsam mit anderen Left-Behind-Christen die Untergrundorganisation Tribulation Force (Trübsalsstreitmacht) auf, um »das Böse« zu bekämpfen. Allerdings kann er nicht verhindern, dass durch Carpathias Schreckensherrschaft und die apokalyptischen Plagen Abermillionen von Menschen getötet werden. Letztlich jedoch kommt es, wie auch nicht anders zu erwarten, nach der finalen Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse zum großen Happy End: zur Rückkehr Jesu Christi und der Auferstehung der Märtyrer.13
Das Problematische an dem Erfolg von Left Behind ist, dass viele Amerikaner die Bücher »nicht als Romane lesen, sondern als Tageszeitung von morgen«, bemerkte das Time Magazine.14 Viele Millionen Leser sähen in der Reihe nicht nur einen »spirituellen Führer«, sondern »eine politische Agenda«.
Zu diesen Lesern zählen offenkundig auch weite Teile des wirtschaftlichen, politischen und militärischen Establishments Amerikas. Selbst der als »Büchermuffel« bekannte, ehemalige US-Präsident George W. Bush outete sich als Left Behind-Fan. Die Grundanlage des Romans entsprach nicht nur seinem Glauben als »wiedergeborener Christ«, sondern auch Bushs Überzeugung, dass es feste, unhinterfragbare moralische Standards in der Politik geben müsse. Nie zuvor hat ein amerikanischer Präsident so oft vom »Bösen« gesprochen wie er. In dieser Hinsicht übertraf George W. Bush sogar sein großes Vorbild Ronald Reagan, der einst die Metapher vom »Reich des Bösen« für die Sowjetunion eingeführt hatte.
Der australische Philosoph Peter Singer rechnete in seinem Buch Der Präsident des Guten und Bösen15 vor, dass Bush in fast einem Drittel seiner Reden über »das Böse« sprach. Dabei benutzte er das Wort weit häufiger als Substantiv denn als Adjektiv. Nur in den seltensten Fällen ging es dem Präsidenten darum, mit dem Wort »böse« ein reales menschliches Verhalten zu bewerten. Vielmehr erschien »das Böse« in Bushs Reden als eine Macht, die »unabhängig von den grausamen, gefühllosen, brutalen und selbstsüchtigen Taten, zu denen Menschen fähig sind, eine reale Existenz besitzt«.16
Man muss sich dies bewusst machen, um verstehen zu können, was Bush meinte, als er im Januar 2002 im Hinblick auf islamische Terroristen, Nordkorea, Iran und Irak von einer »Achse des Bösen« sprach. In Westeuropa stieß diese Formulierung auf große Irritationen. Denn was, um alles in der Welt, hatte Osama bin Laden mit dem Irak oder Nordkorea zu tun? Betrachteten sich Saddam Hussein und bin Laden nicht sogar als Erzfeinde? Der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer brachte Licht ins Dunkel europäischer Interpretationsbemühungen, als er mit spöttischem Unterton anmerkte, dass Bush die Angelegenheit wohl »philosophisch« sehe: »Der 11. September war böse, Saddam ist böse, alles Böse hängt irgendwie zusammen. Also: der Irak.«17
Hinter dieser Formulierung steckt weit mehr als bitterer Spott. Denn in der Tat gehen Bush und seine Anhänger davon aus, dass »alles Böse irgendwie zusammenhängt«. Ja, es ist sogar die Grundfunktion der Kategorie »des Bösen«, einen solchen universellen Zusammenhang jenseits aller Fakten herzustellen! Die Fiktion »des Bösen« reduziert die komplexen Ursachen der Entstehung von Übeln auf die Wirkmacht einer einzigen diabolischen Kraft, konstruiert Zusammenhänge, wo keine vorhanden sind, und schafft so den Nährboden für Verschwörungstheorien jeglicher Art. Kurzum: »Das Böse« lässt sich mit Fug und Recht als Wahnidee beschreiben. Denn die mit großer Gewissheit, ja, Starrsinn, vorgetragene Fiktion einer hinter allen Übeln lauernden »finsteren Macht« steht, wie wir noch sehen werden, in krassem Widerspruch zu unserem Wissen über die realen Ursachen der Entstehung von Ungerechtigkeit, Grausamkeit und Not.
Das Wahnhafte an dieser Idee zeigt sich nicht zuletzt in der Austauschbarkeit der jeweiligen Selbst- und Fremdstilisierungen: Denn ob George W. Bush, Osama bin Laden, der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad, ob Vertreter der Christian Coalition, der ultra-orthodoxen jüdischen Siedlerbewegung, der Hamas oder der Hisbollah: Sie alle sehen sich als heldenhafte Kämpfer in einer Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse. Der Unterschied zwischen ihnen besteht allein in der jeweiligen Verortung der »Mächte der Finsternis«. Was dem einen als Inbegriff des Bösen schlechthin gilt, erscheint dem anderen als Ausdruck reiner Tugend. Gemeinsam ist allen Seiten, dass sie unverrückbar am moralischen Dualismus von Gut und Böse festhalten. Man könnte dies auch als eine Art kulturübergreifende Borderline-Störung18 bezeichnen.
Halten wir fest: Dass der Kampf zwischen Gut und Böse derzeit in allen nur erdenklichen Varianten durchgespielt wird – nicht nur bei Star Wars, Harry Potter und Herr der Ringe, aber eben auch dort! –, ist nicht zuletzt der Ausdruck des Wiedererstarkens religiös-apokalyptischer Denkmuster, die zur Überraschung vieler auf die Bühne der Weltpolitik zurückgekehrt sind und die Dramaturgie der globalen Ereignisse munter mitbestimmen. Das heißt natürlich nicht, dass die Produzenten oder Konsumenten von Star Wars & Co. selbst notwendigerweise der apokalyptischen Matrix unterliegen. Harry Potter und die »Achse des Bösen« stehen keineswegs in einem eindimensionalen Verhältnis zueinander, was man auch an den wütenden Aktionen christlicher Fundamentalisten gegen Rowlands Bestseller ablesen kann.19 Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die kulturelle Prägekraft des imaginären Kampfes zwischen Gut und Böse stark genug war, dass sie bis nach Hogwarts reichte.
Wie weitreichend der Einfluss der apokalyptischen Matrix ist, zeigt sich auch darin, dass selbst seriöse Zeitungen und Nachrichtenmagazine sich immer wieder genötigt sehen, auf den Begriff des »Bösen« zurückzugreifen. Nur ein Beispiel unter vielen: Als Ende April 2008 das Doppelleben des Österreichers Josef Fritzl ans Tageslicht kam – Fritzl hatte seine Tochter vierundzwanzig Jahre lang im Keller eingesperrt, wo er sie vergewaltigte und insgesamt sieben Kinder mit ihr zeugte –, versah Der Spiegel seine ansonsten eher nüchterne Berichterstattung mit dem raunenden Titel »Das Böse nebenan«.20 Zwar dürfen wir getrost annehmen, dass die Spiegel-Reporter keineswegs unterstellten, dass Fritzls Taten einer »metaphysischen Macht der Finsternis« zuzurechnen sind. Dennoch griffen sie bereitwillig auf eine Metapher zurück, die ohne derartige Unterstellungen nicht denkbar ist.
Felix D. war ein Musterknabe. Der Siebzehnjährige galt als wohlerzogen, verantwortungsvoll, vernünftig. Er grüßte die Nachbarn auf der Straße und schrieb gute Noten in der Schule. Felix trank nicht, nahm keine Drogen und geriet auch ansonsten mit dem Gesetz niemals in Konflikt – bis zum 13. Januar 2007. An diesem Tag metzelte er gemeinsam mit seinem Freund Torben ein ihm nur weitläufig bekanntes Ehepaar aus der Nachbarschaft nieder. Ein Blutbad, scheinbar aus heiterem Himmel, ohne ersichtliches Tatmotiv. Tatwaffe: die Messer aus der elterlichen Küche. Bei dem Gemetzel hatten sich die beiden Jungen offensichtlich in einen regelrechten Blutrausch hineingesteigert: Zweiundsechzig Messerstiche stellte der Gerichtsmediziner allein am Körper der ermordeten Frau fest.
DieZeit berichtete, dass die schockierten Eltern des jugendlichen Mörders nach der Tat dachten, ihr eigentlich doch so netter, liebenswerter, sozial engagierter Sohn müsse wahnsinnig geworden sein und den Mord »im Zustand geistiger Umnachtung« verübt haben: »Psychiatrische Begriffe wie ›Psychose‹ und ›schizophrener Schub‹ erschienen den D.s plötzlich wie Worte des Trostes. Fachtermini aus der medizinischen Literatur, die dem Grauen, welches das eigene Kind ihnen einflößte, einen irgendwie wissenschaftlichen Rahmen setzten … Inzwischen wissen sie es besser … Felix ist vom Berliner Sachverständigen Hans-Ludwig Kröber untersucht worden, und der erfahrene Kriminalpsychiater hat bei ihm keinerlei krankhafte seelische Störung finden können. Seither versuchen die D.s an der Gewissheit, dass das Böse ihre Familie heimgesucht hat, nicht zugrunde zu gehen.«21
Dieser kurze Ausschnitt aus der gründlichen und einfühlsamen Berichterstattung der Zeit enthält zwei für unser Thema interessante Aspekte: Zum einen finden wir hier einen eigentümlichen Kontrast vor zwischen a) wissenschaftlichen Konzepten, die angesichts des Grauens irgendwie noch »Trost« spenden können, und b) der niederschmetternden Erkenntnis »des Bösen«, die übrig bleibt, sofern wissenschaftliche Konzepte versagen. Zum anderen wird uns »das Böse« gewissermaßen als eigenständiges Subjekt präsentiert, das Familien, ja ganze Ortschaften (der Zeit-Artikel trug den Titel: »Wie das Böse nach Tessin kam«) »heimsuchen« kann.
Analysieren wir kurz diese beiden Aspekte, die, wie wir noch sehen werden, für den Gebrauch des Begriffs des »Bösen« charakteristisch sind. Fragen wir uns zunächst, warum den D.s wissenschaftliche Begriffe wie »Psychose« und »schizophrener Schub« wie »Worte des Trostes« vorkamen. Der Grund hierfür ist einsichtig: Wenn Felix unter einer Psychose gelitten hätte, so wäre er für seine Tat nicht im klassischen Sinne verantwortlich gewesen. Man hätte den Mord an dem Ehepaar nicht auf eine »freie Willensentscheidung« des Siebzehnjährigen zurückgeführt, sondern auf anormale hirnorganische Zustände.
Unter dieser Perspektive wäre der Doppelmord gewissermaßen ein »tragisches Naturereignis« gewesen, vergleichbar einem Erdbeben. Konsequenz: Die D.s müssten sich heute nicht mit »dem Bösen« auseinandersetzen, sondern »bloß« mit den schrecklichen Begleitumständen einer zwar heimtückischen, aber doch profanen, mit wissenschaftlichen Kriterien irgendwie fassbaren Krankheit.
Was hieran auffällt, ist nicht nur die enge Verknüpfung der Idee des moralisch Bösen mit der Unterstellung von Willensfreiheit (mit diesem Thema werden wir uns im zweiten Kapitel ausführlich auseinandersetzen), sondern auch die offenkundig »exorzistische« (das Böse vertreibende) Wirkung wissenschaftlicher Konzepte.
In der Tat ist es auffällig, dass der von Politikern, Theologen und Philosophen immer wieder bemühte Begriff des »Bösen« aus dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch weitgehend verbannt ist. So führt das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen(DSM) zwar zahlreiche psychische Defekte auf, die mit einer Verletzung der Rechte anderer verbunden sind (beispielsweise im Fall der »Antisozialen Persönlichkeitsstörung«), das Etikett des Bösen fehlt dabei jedoch vollständig. »Das Böse« ist ganz offensichtlich eine Kategorie, die nur jenseits wissenschaftlicher Betrachtungsweisen denkbar ist.
Womit ist diese Verbannung des Bösen aus dem Bereich der Wissenschaft zu erklären? Hier muss man zwei Sachverhalte berücksichtigen:
Erstens: Die empirischen Wissenschaften arbeiten rein deskriptiv, das heißt, sie versuchen möglichst exakt zu beschreiben, wie die Welt, in der wir leben, beschaffen ist. Um Realität und Wunschvorstellung voneinander trennen zu können, vermeiden Wissenschaftler tunlichst präskriptive Aussagen, die vorschreiben, wie die Welt gemäß moralischer oder ethischer Erwägungen beschaffen sein sollte. In dieser Erkenntnisbeschränkung liegt eine der großen Stärken der Wissenschaft. Max Weber, der große Soziologe, bemerkte hierzu sehr richtig: »Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann.«22 Nun ist das Böse jedoch eindeutig eine moralisch wertende Kategorie (»böse« Verhaltensweisen sollen schließlich vermieden werden) und somit außerhalb der nüchternen, wissenschaftlichen Beschreibungsebene angesiedelt. Von daher lässt sich »das Böse« zunächst einmal als eine nicht- oder außerwissenschaftliche Kategorie fassen.
Zweitens: Wissenschaftler führen sämtliche Erscheinungen in der Welt auf natürliche Ursachen zurück. Der große Erfolg der Wissenschaften, ihr deutlicher, sich unter anderem in der Entwicklung der modernen Technologie manifestierender Vorsprung gegenüber religiösen Welterklärungsmodellen, beruht nicht zuletzt auf der fruchtbaren (naturalistischen) Unterstellung, dass es im Universum »mit rechten Dingen zugeht«, dass weder Götter noch Dämonen noch Kobolde in die Naturgesetze eingreifen.23 In dieser nüchternen, wissenschaftlichen Betrachtungsweise sind wir Menschen nichts weiter als eine im Verlauf der natürlichen Evolution zufällig entstandene Primatenart. Dabei sind die Eigenschaften, über die wir verfügen, wie auch die anderer Lebewesen, etwa der Fledermaus, ausschließlich über evolutionäre Selektionsprozesse zu erklären. Deshalb ist für eine spezielle Wirkmacht »des Bösen« als einer besonderen Kraft in der Geschichte des Menschen in der wissenschaftlichen Betrachtungsweise kein Platz!
Mit anderen Worten: Die Idee des Bösen, die ja nicht nur dazu herangezogen wird, um menschliche Handlungen zu bewerten, sondern auch um diese zu erklären, stellt aufgrund der in ihr enthaltenen übernatürlichen Unterstellungen (»Es gibt ein eigenes, über natürliche Ursachen nicht zu erklärendes Reich des Bösen!«) einen Verstoß gegen wissenschaftliche Erkenntnisprinzipien dar. Insofern ist »das Böse« nicht bloß eine nicht wissenschaftliche, sondern sogar eine unwissenschaftliche Kategorie.
Diese Unwissenschaftlichkeit spiegelt sich auch in der Formulierung der Zeit wider, dass »das Böse« die Familie D. »heimgesucht« habe. Wie, bitte schön, sollen wir uns dies konkret vorstellen? Ist »das Böse« eine eigenständige, aktive Kraft, die auf geheimnisvolle Weise, etwa per ultrafeinstofflicher Umprogrammierung von Hirnschaltkreisen, in das Leben von Menschen einbricht und deren Schicksal lenkt? Nun, wir dürfen mit einiger Gewissheit davon ausgehen, dass die Autorin des Zeit-Artikels derartige metaphysische Annahmen nicht vermitteln wollte.24 Dennoch: In dem Moment, in dem sie auf »das Böse« zu sprechen kam, verfiel sie – in scharfem Kontrast zu ihrer ansonsten klaren Sprache – in den dunklen Jargon religiöser Metaphysik.
Dieser Rückgriff auf vormoderne Sprachmuster ist keineswegs erstaunlich, denn die Rede von »dem Bösen« ist notwendigerweise mit wundersamen, metaphysischen Unterstellungen verknüpft. Selbst derjenige, der beabsichtigt, den Begriff des »Bösen« in einem rein innerweltlichen Sinne zu gebrauchen, kann sich der religiösen Aufladung des Begriffs nicht entziehen. Wer vom »Bösen« spricht, tappt unweigerlich in die Falle der religiösen Metaphysik.
Warum dies so ist, wird verständlich, wenn wir uns die Entstehungsgeschichte des Begriffs des »Bösen« vor Augen führen. Zwar haben Menschen zu allen Zeiten zwischen Wohl und Übel unterschieden (ein zentrales Erbe der biologischen Evolution!)25, und es bildeten sich auch schon recht früh komplexere Verhaltenskodizes heraus, die innerhalb menschlicher Gemeinschaften berücksichtigt werden mussten. (Wer dies tat, wurde geachtet, wer dagegen verstieß, geächtet.) Doch die strikte Unterscheidung zwischen Gut und Böse, wie wir sie kennen, ist erst im Zuge der Entstehung monotheistischer Religionen entwickelt worden. Es handelt sich also um eine kulturelle Erfindung neueren Datums.
Den polytheistischen Religionen früherer Zeiten war die Abstraktionsebene einer Unterscheidung zwischen »dem Guten« und »dem Bösen« fremd. »Eingebettet« in die Natur versuchten sie (mehr schlecht als recht), konkrete Lebenshilfen in den Nöten des Alltags zu geben. Da die Menschen keine natürlichen Erklärungen für Phänomene wie Gewitter, Hagel, Regen, Hitze, Trockenheit, Krankheit oder Gesundheit besaßen, führten sie diese auf das Wirken übergeordneter Kräfte zurück. Und so gab es Götter für Gewitter und Regen, Hitze und Trockenheit, Fruchtbarkeit und Liebe. Durch mitunter komplizierte Rituale strebten die Menschen danach, die Götter gnädig zu stimmen, in der Hoffnung, auf diese Weise das Eintreffen schlimmer Übel vermeiden zu können.
Diese Götter der Frühzeit waren weder absolut gut noch absolut böse, sondern schrecklich und heilvoll zugleich – eine Ambivalenz, die noch heute für viele hinduistische Gottheiten charakteristisch ist.26 Auch im jüdischen Glauben hatte Gott zunächst mehrdeutige Züge. Er war die Ursache allen Segens, aber auch aller Widrigkeiten des Lebens. Erst durch die Einflüsse des altpersischen Zarathustra-Glaubens, der bereits in einem sehr strikten, monotheistischen Sinne zwischen Gut und Böse, Himmel und Hölle unterschied, verlor Jahwe diese Ambivalenz. In der jüdischen Apokalyptik (später auch im Christentum und Islam) avancierte Gott mehr und mehr zum Inbegriff des absolut Guten, was im Umkehrschluss erst die Möglichkeit der Existenz des absolut Bösen eröffnete. Salopp formuliert: Der liebe Gott trägt den Teufel huckepack.
Mit dem Bremer Religionswissenschaftler Bernd Schipper ist festzuhalten, dass erst »der radikale Glaube an einen guten Gott … den Boden bereitet für die Vorstellung eines absoluten und autonomen Bösen«.27 Wodurch zeichnet sich nun dieses »absolute, autonome Böse« aus? Zusammenfassend lassen sich folgende vier Wesensmerkmale der religiösen Konstruktion des Bösen herausarbeiten:28
Erstens: Das Böse verfügt über eine Doppelnatur. Es ist nicht allein in der menschlichen Sphäre angesiedelt, sondern existiert zudem (in seiner Reinform) auf einer jenseitigen, metaphysischen Ebene (»Mächte der Finsternis«). Katholische wie evangelische Theologen sprechen in diesem Zusammenhang vom »numinosen Bösen«29. Im Kern bestimmt dieses »numinose«, auf einer geheimnisvollen, verborgenen Wirklichkeitsebene beheimatete »radikal Böse« das »menschlich Böse«. Das »an sich Böse« ist also gewissermaßen die Richtschnur zur Konstruktion des »für uns Bösen«.
Zweitens: Gut und Böse werden als absolute Kategorien begriffen. So wie das numinose Gute (Gott) das »absolut Gute« darstellt, gilt das numinose Böse (Teufel) als das »absolut Böse«. Dabei ist in dieser dualistischen Weltsicht eine wie auch immer geartete Relativität oder Pluralität von Wertvorstellungen ausgeschlossen. Dies zeigt sich bereits auf sprachlicher Ebene: »Das Gute« und »das Böse« existieren jeweils nur im Singular.
Drittens: Das Böse wird in erster Linie als »Preis der Freiheit« aufgefasst: Das menschlich-sittliche wie auch das numinose Böse beruhen (siehe die Schilderung des Sündenfall-Syndroms in der Einleitung) auf freien Willensentscheidungen gegen Gott beziehungsweise das Gute. Ohne die Unterstellung solcher Willensfreiheit könnten Menschen und Engel keine »Sünden« begehen. In diesem Fall würden sie vielleicht »böse Dinge« tun, jedoch könnten sie selbst (vergleichbar mit Tieren, die angeblich »bloß biologischen Programmen folgen«) nicht im eigentlichen Sinne »böse« sein.
Viertens: Sofern freie Willensentscheidungen ausgeschlossen werden können, kann »das Böse« auch als Ausdruck von »Besessenheit« wirkmächtig werden. Im Fall einer solchen »Besessenheit« wird die Persönlichkeit eines Menschen von numinosen »Mächten der Finsternis« bestimmt; er tut »böse Dinge«, ohne dass er dies verhindern könnte. Als Gegenmittel zur Besessenheit bieten die Kirchen den Exorzismus an, der etwa in der katholischen Kirche noch heute in zweifacher Weise Verwendung findet: Der »einfache Exorzismus« kommt bereits bei der Taufe zum Tragen (sie enthält eine Art »Standardschutz gegen satanische Einflüsse«), der »große Exorzismus« hingegen, der laut katholischem Katechismus darauf ausgerichtet ist, »Dämonen auszutreiben oder vom Einfluss von Dämonen zu befreien«30, wird nur bei akutem »Dämonenbefall« angewandt und bedarf der ausdrücklichen Erlaubnis eines Bischofs.
Die hier beschriebenen vier Wesensmerkmale bestimmen nicht nur das religiöse Verständnis des Bösen, sondern auch den säkularen Sprachgebrauch: Zwar leiten philosophische Gegenwartsautoren wie Susan Neiman31 oder Rüdiger Safranski32 »das Böse« nicht mehr von der Existenz von Teufeln und Dämonen ab, dennoch meinen sie, am Begriff des »an sich Bösen« unbedingt festhalten zu müssen. Auf diese Weise existiert das numinose Böse weiter, wenn auch nicht mehr in Gestalt supranaturalistischer (übernatürlicher) Wesen, so doch in Form einer »über den Dingen schwebenden« philosophischen Idee. Selbstverständlich wird auch diese »reine Idee« absolut gedacht, sodass uns »das Böse« weiterhin ausschließlich im Singular gegenübertritt.
Ebenfalls erhalten geblieben ist die Konzeption des Bösen als »Preis der Freiheit« (Safranski sieht darin sogar die Quintessenz seines Buches), obgleich die Idee einer freien (naturgesetzlich unbestimmten) Willensentscheidung heute sowohl wissenschaftlich als auch philosophisch hinreichend widerlegt ist (siehe hierzu Kapitel 2 des vorliegenden Buches).
Doch auch das Konzept der Besessenheit hat im säkularen Gewand überlebt: Angewandt wird es auf jene Fälle, in denen man eine vollständig deterministische Erklärung »bösen Verhaltens« nicht ausschließen möchte. Allerdings führen säkulare Denker solche Besessenheit nicht mehr auf Dämonen zurück, sondern auf problematische biologische oder kulturelle Faktoren (pathologische Triebveranlagungen, traumatische Erfahrungen etc.), die in »Sonderfällen« (etwa bei sogenannten Triebtätern) verhindern, dass Menschen von der unterstellten Gabe der Willensfreiheit Gebrauch machen können.
Die besondere Bedeutung, die die Idee der Willensfreiheit für das Konzept des Bösen spielt, zeigt sich, wenn wir dem Begriff des »Bösen« den verwandten Begriff des »Übels« gegenüberstellen: Als Übel bezeichnen wir alle Formen von Leid, die wir als »nicht sein sollend« erleben (übermäßige Schmerzen, Ängste etc.) sowie alle Faktoren (etwa Krankheiten, Naturkatastrophen, Verbrechen), die zu solchem Leid führen.33 Dabei wird in der Regel zwischen zwei großen Gruppen von Übeln unterschieden, nämlich dem natürlichen Übel (malum physicum) und dem moralischen Übel (malum morale).
Die Kategorie des natürlichen Übels umfasst Phänomene wie Krankheiten, Seuchen oder Naturkatastrophen, die nicht in direktem Zusammenhang mit moralisch-schuldhaften Handlungen von Menschen stehen. Hierzu zählen beispielsweise die Tsunami-Katastrophe vom Dezember 2004, die in acht asiatischen Ländern über 230 000Menschenleben forderte, die Überschwemmungen des Jangtse in China, bei der 1931 etwa 1,4Millionen Menschen starben, oder die Spanische Grippe, der zwischen 1918 und 1920 mindestens fünfundzwanzig Millionen, wenn nicht gar fünfzig Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Natürliche Übel können zwar ebenso schreckliches Leid erzeugen wie moralische Übel, doch verarbeiten wir sie emotional auf andere Weise. Das liegt daran, dass wir für natürliche Übel niemanden direkt verantwortlich machen können. Wir sehen in ihnen nicht »das Böse«, sondern Schicksalsschläge, die uns zufällig getroffen haben. Und so verbreiten natürliche Übel »zwar Panik, Schrecken, Betroffenheit und Verwirrung, aber keine Verbitterung oder Rachegefühle«.34
Diese besonderen Emotionen (Verbitterung und Rachegefühle) sind kennzeichnend für unseren Umgang mit moralischen Übeln, denn diese werden nicht auf natürliche Ursachen, sondern auf schuldhafte Entscheidungen von Menschen zurückgeführt. Während wir einsehen, dass es völlig sinnlos ist, auf ein Erdbeben böse zu sein, auch wenn es uns vielleicht das Wertvollste genommen hat, was wir besitzen, sind wir moralisch bereits hochgradig empört über den Dieb, der uns bloß eine halb leere Brieftasche gestohlen hat.
Grund für diese unterschiedliche Reaktion auf natürliche und moralische Übel ist, dass wir intuitiv unterstellen, dass sich der Dieb auch anders hätte verhalten können, als er es tat. Hören wir jedoch im Nachhinein, dass der Dieb ein klappriger, alter Mann war, der schon seit Jahren unter Kleptomanie leidet, so mildert sich unsere moralische Empörung merklich. Zwar ist der Verlust der Geldbörse unter dieser Voraussetzung objektiv nicht weniger ärgerlich, doch subjektiv werden wir uns nicht mehr als Opfer eines moralischen Übels empfinden, sondern den Verlust auf ein natürliches Übel, nämlich die Krankheit eines alten Mannes, zurückführen.
In welchem Verhältnis steht also nun das Böse zum Übel? Es ist klar, dass eigentlich nur das moralische Übel mit »dem Bösen« in Verbindung gebracht werden kann. Hass, Grausamkeit, Selbstsucht, Habgier, Neid und ihre Folgen – all dies sind moralische Übel, die gemeinhin mit »dem Bösen« assoziiert werden. Dennoch kommt es hin und wieder vor, dass natürliche Übel wie Naturkatastrophen oder Krankheiten als »Manifestationen des Bösen« interpretiert werden. Derartige Interpretationen sind allerdings nur unter einer Voraussetzung möglich: Man muss unterstellen, dass diese Übel letztlich doch nicht durch natürliche Faktoren ausgelöst wurden, sondern durch übernatürliche, frei agierende, numinose Mächte.
So interpretierten evangelikale Christen – analog zur biblischen Sintflutgeschichte35 – die Tsunami-Katastrophe in Südostasien als Strafe für sündhaftes Verhalten. Auch den Hurrikan »Katrina«, der 2005 an der amerikanischen Golfküste gigantischen Schaden anrichtete, verstanden sie als »gerechte Strafaktion« Gottes. Als Ursache verwiesen sie auf ein moralisches Übel, nämlich das angeblich zügellose Leben einer sittlich verrohten Bevölkerungsmehrheit, die »dem Bösen« huldige, und nicht auf natürliche Ursachen, etwa die meteorologischen Parameter, die im Golf von Mexiko den zuvor bereits merklich abgeklungenen Tropensturm »Katrina« mit neuer Energie versorgten.
Gewiss: Aufgeklärte Zeitgenossen werden angesichts solcher übernatürlicher Deutungen natürlicher Phänomene den Kopf schütteln. Doch sollten sie sich, bevor sie stolz verkünden, solche Interpretationsweisen längst überwunden zu haben, selbstkritisch fragen, ob die weithin akzeptierte Unterscheidung zwischen natürlichen und moralischen Übeln nicht auf ganz ähnlichen Denkmustern beruht. Denn greifen wir in Moralfragen nicht auch auf übernatürliche Deutungen natürlicher Phänomene zurück? Immerhin scheinen wir ja zu unterstellen, dass moralische Übel über natürliche Faktoren nicht hinreichend zu erklären sind, sonst hätten wir die Kategorie der moralischen Übel nicht eigens einführen müssen. Wie aber könnten moralische Übel andere als natürliche Ursachen haben? Sind menschliche Kultur, menschliche Sprache, menschliches Nachdenken über Handlungsalternativen in irgendeiner Weise übernatürliche Phänomene?
Liest man einschlägige Veröffentlichungen zu diesem Thema, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die allermeisten Autoren eine solche Übernatürlichkeit des menschlichen Geistes irgendwie unterstellen, sich dies allerdings kaum je bewusst machen. In unseren Köpfen hat sich ein Common-Sense-Mythos etabliert, von dem die meisten Zeitgenossen im Sinne einer unausgesprochenen Denkvoraussetzung ausgehen. Dieser Mythos besagt, a) dass wir Menschen etwas völlig anderes sind als Tiere, nämlich frei und vernunftbegabt, sowie b) dass wir aufgrund dieser Voraussetzung, anders als alle anderen Lebewesen, überhaupt erst die Fähigkeit »zum Bösen« entwickeln konnten.
Greifen wir nur ein Beispiel unter vielen heraus: Der Psychiater Theo R. Payk schreibt in dem 2008 erschienenen Buch Das Böse in uns: »Das Tier lebt gemäß seinem angeborenen, lebenserhaltenden Instinkt- und Reflexprogramm jenseits von Gut und Böse. Mit der Menschwerdung vor einigen Millionen Jahren entwickelten sich aus dem ursprünglich lediglich auf die Selbsterhaltung und Fortpflanzung ausgerichteten Aggressionstrieb Verhaltensweisen, die darauf abzielen, andere zu schädigen, zu unterjochen oder sogar zu beseitigen. Das Repertoire der Intelligenz wurde nicht mehr zum bloßen Überleben eingesetzt, sondern darüber hinaus auch zu Betrug, Täuschung, Überfall, Raub und Eroberung …«36
Payks Schilderung wird wohl bei den meisten Leserinnen und Lesern auf Zustimmung treffen. Doch ist wahr, was hier behauptet wird? Treten tatsächlich erst mit der Menschwerdung Verhaltensweisen auf, »die darauf abzielen, andere zu schädigen, zu unterjochen oder sogar zu beseitigen«? Gab und gibt es sogenannte moralische Übel wie »Betrug, Täuschung, Überfall, Raub und Eroberung« wirklich nur in menschlichen Gesellschaften? Oder finden wir, wenn wir etwas genauer hinschauen, derartige Phänomene nicht doch schon in der nicht menschlichen Natur?
»Im Mai 1977 hörten Fischer Kampflärm am Kahama-Fluss und entdeckten bald darauf die arg zugerichtete Leiche von Charlie … Mitte 1977 drangen sieben Kasaleka-Männer in die … 1,8Quadratkilometer der Kahamas ein und attackierten Sniff, bis sein linkes Bein gebrochen war und er aus Mund, Nase, Stirn und Rücken blutete … Dann griffen Satan und Sherry sich jeweils ein Bein, um Sniff kreischend einen Hang herunterzuschleifen. Sein Martyrium dauerte 35 Minuten, bevor ihn die Angreifer liegen ließen … Als sich nach einigen Tagen in der Gegend ein starker Verwesungsgeruch einstellte, war klar, dass die Kahama-Gesellschaft aufgehört hatte zu existieren. Kurze Zeit später begannen die siegreichen Kasaleka-Männer samt Familien in jenem Areal zu schlafen und auf Nahrungssuche zu gehen, das in den fünf Jahren zuvor Kerngebiet der Kahamas gewesen war.«37
Was sich im ersten Moment wie eine Beschreibung militanter Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Eingeborenenstämmen anhört, ist in Wirklichkeit die Schilderung einer Episode aus dem mehrjährigen Eroberungs- und Vernichtungskrieg, den die Schimpansen der Kasaleka-Gruppe gegen die Kahama-Schimpansen am Ufer des Tanganjikasees in Tansania durchführten.
Ursprünglich hatten die verfeindeten Gruppen einer gemeinsamen Kommunität angehört, die sich jedoch Ende der Sechzigerjahre spaltete. Ein Teil der Schimpansen lebte weiter am Lauf des Kasaleka-Flüsschens, der andere Teil wanderte ab gen Süden zum Kahama-Bach. In den Siebzigerjahren wuchsen die Spannungen zwischen beiden Schimpansengruppen dramatisch an. Sie mündeten in einen systematischen Ausrottungsfeldzug, den die Kasalekas von 1974 bis 1977 gegen die südlichen Dissidenten durchführten und in dessen Folge sämtliche Männer der Kahama-Gruppe auf verstörend grausame Weise liquidiert wurden.
Jane Goodall, die in ihrem 1971 erschienenen Buch In the Shadow of Man (Wilde Schimpansen) den Schimpansen noch als eine Art »besseren Menschen« beschrieben hatte, musste in ihrem 1986 erschienenen Werk The Chimpanzees of Gombe. Patterns of Behavior einräumen, dass unsere nächsten biologischen Verwandten unter spezifischen sozialen Konstellationen eine erschreckende Brutalität aufweisen. »Wenn sie Feuerwaffen gehabt hätten und jemand hätte ihnen beigebracht, damit umzugehen«, bemerkte Goodall einmal, »ich vermute, sie hätten sie zum Töten genutzt.«38
Der in London lehrende Primatologe Volker Sommer resümiert: »Bei dem Territorialverhalten der wilden Schimpansen geht es … nicht nur darum, Eindringlinge fortzuscheuchen, sondern darum, sie zu verletzen, zu schwächen oder gar auszutilgen. Es geht nicht nur darum, das eigene Wohngebiet mitsamt den Schlafplätzen, Nahrungs- und Wasservorräten zu verteidigen und zurückzuerobern, sondern es auf Kosten schwächerer Nachbarn zu vergrößern. Es geht schließlich nicht nur darum, eigene Weibchen zu schützen, sondern aktiv und aggressiv Sexualpartner aus Nachbargruppen zu rekrutieren … Man kommt nicht umhin, die Schimpansenschlachten mit jenem Konflikt zu vergleichen, der gemeinhin als Erfindung des Menschen gilt: dem Krieg. Ist es nicht ein Charakteristikum des Krieges, dass statt einzelner Kontrahenten einander Gruppen gegenüberstehen? … Sind die effektiven Ausrottungen benachbarter Schimpansengruppen nicht jenen Genoziden ähnlich, von denen wir so überreichlich aus der jüngeren Geschichte wissen? Haben nicht Kriege – gerade jene, die unter der Fahne von Religionen, Kulturwerten oder Ideologien ausgefochten wurden – immer dazu gedient, die Sieger letztlich ökologisch zu stärken, indem sie Lebensraum und Ressourcen sicherten?«39
Klar ist: Die populäre Vorstellung, dass Verhaltensweisen, »die darauf abzielen, andere zu schädigen, zu unterjochen oder sogar zu beseitigen«, erst mit der Menschwerdung aufgetreten seien, lässt sich empirisch nicht aufrechterhalten. Mittlerweile liegen unzählige Belege dafür vor, dass die vermeintlich nur beim Menschen anzutreffenden Übel »Betrug, Täuschung, Überfall, Raub und Eroberung« im Tierreich weitverbreitet sind – und zwar nicht nur bei höheren Säugetieren.
So liefern die Skorpionsfliegen der Gattung Panorpa ein schönes Beispiel für Betrug und Täuschung in der Natur. Während der Fortpflanzungszeit müssen sich die Männchen als Kavaliere erweisen, denn ohne üppiges Brautgeschenk kommen sie bei den Weibchen normalerweise nicht zum Zug. Da es aber für sie recht mühsam ist, ein Hochzeitsgeschenk »legal« zu erwerben (sie müssten beispielsweise ein Insekt erbeuten), haben sich einige Männchen eine kostengünstigere Variante einfallen lassen: Sie tarnen sich als Weibchen und warten auf ein Männchen, das auf sie hereinfällt. Der kanadische Biologe Adrian Forsyth beschrieb den betrügerischen Transvestismus männlicher Skorpionsfliegen wie folgt: »Sie nehmen die typische Lockhaltung eines fortpflanzungsbereiten Weibchens ein, und sobald ein Männchen mit dem Hochzeitsgeschenk heranfliegt, reißt der falsche Transvestit die Gabe an sich und macht sich davon. Vermutlich wechselt er dann wieder das Kostüm und schlüpft in die Rolle eines herkömmlichen Männchens.«40
Die Skorpionsfliegen zeigen mitunter noch eine andere, unfeine Fortpflanzungsstrategie. Neben »ehrlichen Kavalieren«, die in Brautgeschenke investieren, und »betrügerischen Transvestiten«, die anderen Brautgeschenke auf gerissene Weise abjagen, gibt es unter den Skorpionsfliegen »Vergewaltiger«, die auf charmante Avancen gänzlich verzichten.41 Sie stürzen sich auf die widerwilligen, sich wehrenden Weibchen, packen sie mit ihren großen Genitalzangen und versuchen sie mit aller Kraft in eine kopulationsgerechte Lage zu bringen, um sie zu besamen.