Sturmbeben - Melanie Völker - E-Book

Sturmbeben E-Book

Melanie Völker

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Beschreibung

Mit vier von sieben machtvollen Artefakten aus alten Tagen setzen Elyjas und seine Freunde ihre Mission fort. Obwohl die restlichen Artefakte im Norden Shaendâras verborgen liegen, führt der Erzmagier Albwin seine Weggefährten ins südliche Wüstenreich Tâlameth. Dort kündigen sich unheilvolle Vorzeichen durch die Machenschaften des selbsternannten Herrschers von Ajjadûr an. In den Weiten Uskûndors schlagen die Gefährten unterschiedliche Richtungen ein und stehen überraschenden Herausforderungen gegenüber, während ihre Seelen zunehmend mit eigenen Schatten konfrontiert werden. Um die Zukunft zu erhellen, müssen sie durch das Dunkel der Vergangenheit reisen. Und bald schon scheint eine grausige Wahrheit die Hoffnung der Freunde zu verdrängen. Wird ihre Kraft ausreichen, gegen die Schatten zu bestehen und ihre Mission zu erfüllen? Ein fantastisches Abenteuer geht in die zweite Runde ...

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Über das Buch

Erst vier von sieben machtvollen Artefakten, die Elyjas und seine Freunde brauchen, um das Licht der Seelenflamme zu stärken, wurden zusammengeführt. Die fehlenden Artefakte liegen bei den Treuen der alten Tage im Norden Shaendâras verborgen. Dennoch führt der Erzmagier Albwin die Gefährten ins südliche Wüstenreich Tâlameth, wo sich Unheil durch die Machenschaften des selbsternannten Herrschers von Ajjadûr ankündigt.

Während ihre Seelen zunehmend mit eigenen Schatten konfrontiert werden, müssen Elyjas und Andrûs entscheiden, welchen Pfad sie einschlagen. Und bald wird ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt.

Können sie das Bündnis neu schmieden oder ist ihre Gemeinschaft längst zerbrochen? Wird es ihnen gelingen, ihre Mission zu erfüllen?

Das Abenteuer geht weiter ...

Über die Autorin

Melanie Völker wurde 1980 in Dortmund geboren und lebt seit ihrer Kindheit in Schwerte. Seit 2010 widmet sie sich dem Schreiben, überwiegend von Fantasy und Lyrik. Mehrere ihrer Gedichte und Geschichten wurden bereits in Anthologien veröffentlicht.

Mit »Flamme der Seelen« verwirklicht sie ihre Idee zu einer magischen Fantasy-Trilogie. Der Auftakt »Dämmernebel« erschien im Oktober 2014 und findet im zweiten Band »Sturmbeben« seine Fortsetzung.

Mehr zur Autorin und ihrem kreativen Schaffen finden Sie unter www.melanievoelker.de

Ankunft in Tagris Mor

Shaendâra

Ajjadûr

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Wolkensturz

Stilles Erwachen

Die Stätte der Seher

Gebors Vermächtnis

Die Nabri’l von Ajjadûr

Den Becher leeren ...

Anbruch und Abschied

Wüstenlieder

Aza‘Dhaan

Wind und Feuer

Im geifernden Rachen

Ursprünge und Umwege

Das Hämmern des Frostes

Am Hort des Lichts

Die Krallen des Adlers

Vier Köpfe und ein Fallbeil

Die Felsigen Hallen

Der Rhythmus des Steins

Tanz unter dem Berg

Das Erbe Aearns

Drachenhäupter

Einer wird kommen ...

Nachtfieber

Das Splittern der Schilde

Feuer und Eis

Pfade ins Zwielicht

Im Auge des Sturms

Epilog

Anhang

Alphabetisches Verzeichnis der Personen

Alphabetisches Verzeichnis der Schauplätze

PROLOG

Wie ein Schwarm gefräßiger Wanderameisen, deren Zahl kein Ende nahm, überrannten die Schatten das Land. Beinahe acht Meilen erstreckte sich ihre finstere Front, räuberisch jagend nach Beute, und was einmal in ihre Klauen geriet, blieb verloren. Asche und Rauch brachten die dichten grauen Nebelgeister, die lawinenartig über die Ebene walzten und grasige Weiten zu grauer Dörre verbrannten. Bäume, junge Triebe gleichermaßen wie altgewachsene Stämme fuhren entzwei; jeder Tropfen ihres Marks verdunstete in den feurigen Winden.

Das Leben floh vor der vernichtenden Glut, vergrub sich vor dem Brandmal des Todes, indes der Boden brodelte und spuckte. Doch nirgendwo fand es Schutz. Erdlöcher erhitzten wie Öfen, in denen die Verzweifelten rösteten wie Spanferkel über der Flamme, und Flüsse kochten ihre Leiber wie siedendes Öl. Die Wenigen, die entkamen, trugen Brandblasen davon, groß wie Äpfel, und ihre Haut zerbröselte gleich der knusprigen Schwarte eines Schweinebauchs. Das Atmen schmerzte, es brannte in ihnen und versengte ihre Lungen zu rohem Fleisch. Hinter ihnen blieben nur staubige Erde und zerborstenes Totholz zurück, wo einst Puls und Blut des Lebens geflossen waren. Die Welt erzitterte unter einem qualvollen Schrei, der sich in Ohren und Herzen bohrte wie tausende Nadelstiche. Die Schatten hinterließen eine Schneise der Verwüstung in ihrem Rücken ...

Reglos saß er inmitten der Stille, die er sich selbst geschaffen hatte. Im Inneren des kleinen Raumes herrschte Dunkelheit. Durch ein schmales Fenster drang Luft ein, doch sie war stickig und schwül. Die leichte Brise, die noch am Morgen vom Meer heraufgeweht war, war einer bleischweren Last gewichen. Die kahlen Steinwände schirmten ihn vom lärmenden Ungeziefer ab, das die Straßen füllte. Mit den Fingernägeln kratzte er über sein borstiges Kinn.

Ungeziefer. Waren das wirklich seine Gedanken?

Schweiß glänzte auf seiner Stirn und tropfte in die zerrupften grauen Barthaare, während sein Geist die Schatten beobachtete, die von Süden herankrochen. Sie waren schwächer, als jene, die ihnen von Norden her entgegenkamen, und deren schwarze Wucht noch immer das Land überspülte. Nach all den Jahren fühlte sein Geist sie so grausam wie damals, als er jung und unwissend gewesen war, und die stürmischen Wogen ihn direkt in den Tempel geschwemmt hatten. Wieder und wieder hatte er es gesehen, hatte die Erinnerung ihn verfolgt. Manches Mal wusste er nicht, ob er Vergangenheit oder Zukunft sah.

Er fühlte den Brand tief in seinen Eingeweiden, ungnädig und fordernd. Qual und Pein brachte die Schwärze mit sich, deren Flut unablässig gegen die Küste brandete. Mit jeder Welle preschte sie härter heran, und wenn sie sich zurückzog, riss sie ein weiteres Stück Herz und Geist mit sich. Er spürte das Elend. Schmerz und ... freudige Erregung?

Seine fleckigen Hände zitterten ob dieses Gedankens und als er den Atem ausblies, glaubte er, seine Lippen würden verbrennen.

Zweieinhalb Jahre waren vergangen, grübelte er und griff mit kraftlosen Fingern nach dem Silberbecher, der neben ihm auf dem Boden stand. Er hatte den Wasserkrug innerhalb der letzten Stunde zu drei Vierteln geleert, nur ein paar Tropfen waren übrig. Doch noch immer empfand er solchen Durst, als habe er seit Tagen nichts getrunken. Inzwischen war das Wasser warm geworden und schmeckte abgestanden. Hastig kippte er es hinunter.

Der Frühling würde erst kommen. Und bald schon die heißeren Tage. Er fühlte ihre Hitze bereits in seinen Knochen. Trotzdem würde er es wagen, entschied Gorgas. Es wäre riskant, doch erforderlich. Er musste aus dem Kessel trinken ...

WOLKENSTURZ

Der Nachthimmel funkelte wie Diamanten auf schwarzem Samt, während Elyjas und seine Gefährten auf dem Rücken der Draeghan den Wolkenschleier überflogen. Lautlos glitten die Schwingen des Drachenfürsten Ârachpor und seiner beiden Brüder nach Südosten. Ein zarter blaugrüner Dunst färbte den Schleier, wo fahles Mondlicht diesen durchschnitt. Der Morgen lag noch fern.

Seit Stunden saßen Elyjas und seine Freunde starr hinter den wellenartigen Hornkragen ihres jeweiligen Drachenträgers. Ihre Beine und Arme krampften, dennoch wagte keiner von ihnen, sich nur eine Handbreit zu bewegen.

Elyjas ritt mit Albwin und Andrûs auf Ârachpors Rücken; hinter dem Erzmagier und über den riesigen Kopf des Drachenfürsten hinweg konnte er nicht erkennen, was vor ihnen lag. Grrruuuargh, Aegnon und Häuptling Bhreac vom Stamm der Zodh’rra kauerten dicht an Yhyfrurs hartgepanzertem Rumpf, derweil Prinz Faras von den Ellyllîm, Aenna und E’aven sich auf Nrgwors Rücken festklammerten. Elyjas‘ Wolfsgefährte Farnaell und Aegnons Wolf Nilremh hingen hilflos in Ârachpors langgebogenen Adlerkrallen und denen seines gelben Bruders.

Im nächtlichen Mantel verborgen waren die Gefährten vom Klippenfels inmitten der Bucht der rauen Wogen, deren unbändiges Peitschen weit unter ihnen verhallte, nach Südosten geflogen. Nun endlich näherten sie sich der Küste Tâlameths, der heißen Erde, auf der Suche nach einer Zauberin, deren Namen Elyjas bisher nur einmal gehört hatte und über die er nichts weiter wusste: Atalaya.

Stundenlang ehe sie aufgestiegen waren und noch während ihres Ritts, hatte Elyjas sich den Kopf zerbrochen, wer sie sein könne und gedanklich die seitenlangen Stammlinien der Westreiche durchblättert, die sein Freund Andrûs und er in den Chroniken Drâeas in der Zauberschule in Dh’Aschjar studiert hatten. In der Liosta Amn‘nan Dhraidar e Dhraimna waren die Namen sämtlicher Zauberer und Zauberinnen aufgelistet, die jemals an der Scolai aufgenommen worden waren und dort ihre Prüfungen abgelegt hatten. Doch hatten einst noch andere Zauberschulen in Shaendâra existiert.

Ein plötzliches Zucken durchlief die stahlharten Muskeln des Drachenfürsten, als dessen Körper sich abrupt in den Sinkflug stürzte. Mit der Geschwindigkeit eines ellyllischen Pfeilgeschosses sauste Ârachpor, die Flügel eng an den massigen Körper gelegt, hinab in den schlierigen Wolkennebel; kühle Feuchte benetzte seine glänzenden roten Schuppen. Auf seinem Rumpf kippte Elyjas nach vorne und seine Hände klammerten sich fester um die Taille des Erzmagiers vor ihm. Verkniffen verbarg er sein Gesicht dicht an Albwins weißem Mantel, um den scharfen Sog zu mindern, der an seinen Wangen zerrte.

Andrûs, der hinter Elyjas saß, trotzte dem kalten Wind mit verengten Augen, die wachsam Ârachpors Flug folgten. Elyjas blieb es ein Rätsel, wie wenig der Magen seines besten Freundes unter dem hastigen und ruckartigen Schwenken der Draeghan litt. »Als sei ich hunderte Male auf einem Drachen geflogen«, erinnerte er sich an Andrûs‘ Worte nach ihrem ersten Drachenritt zu den Schwebenden Inseln hoch über den Wolken, während das unruhige Ziehen aus seinem eigenen Bauch allmählich in seinen Hals kroch.

Minuten verstrichen und es schien, als sänken die Wolken mit ihnen, ehe die Gefährten im lichter werdenden Schleier den Ozean erspähten, in sanften Wellen schimmernd wie dunkelblaue Seide. Die flache Küste Tâlameths wölbte sich hauchdünn in der Ferne.

Knapp eine weitere Stunde glitten sie durch den zarten Saum des Dunstes, ehe der Drachenfürst seine riesigen fledermausartigen Flügel ausbreitete und den Sturz ebenso unsanft bremste, wie er ihn begonnen hatte. An seinen Seiten taten Yhyfrur und Nrgwor das Gleiche.

Anfangs mehr eine Ahnung als Wirklichkeit, öffnete die Sonne ihr schläfriges Auge über dem Horizont. Noch schimmerte es zu weit entfernt, um das Blau der Nacht zu verdrängen, verbarg sich stattdessen als lichte Scheibe im violett getrübten Frühnebel.

Erst als sie den Spülsaum des Meeres fast erreicht hatten und der karge Landstrich schärfere Konturen zeichnete, glitten die Draeghan erneut hinab. Ihre verzerrten Schatten flackerten auf der Wasseroberfläche. So sanft es ihre massigen Körper erlaubten, landeten Ârachpor und seine Brüder auf dem schmalen Steinstrand, derweil eine Hügelkette im Osten ihre Ankunft verhüllte.

Ârachpor spähte die Küste entlang nach Norden, wobei ein brummiges Gurgeln seinem Rachen entfuhr. Der keimende Morgen zauberte einen hauchdünnen Flammenstreif auf seinen gigantischen Rumpf.

»Trocken und heiß sind die Winde Tâlameths, sogar zu dieser Jahreszeit. Doch mag sich das bald ändern.«

Auch Albwins Augen streiften umher. »Ihr solltet aufbrechen, Ârachpor. Im Licht reichen die Schatten länger.«

»Meine Brüder und ich werden ihren Lauf beobachten, bis das Geteilte vereint sein wird und wir erneut zusammenkommen. Möge eure Suche erhellt sein und das Auge Licht blicken. Lebt wohl, Söhne und Töchter der Erdverhafteten.«

Der Boden vibrierte, als die Drachen sich erneut in die Lüfte emporstießen. Elyjas blickte ihnen nach, während sich das sanfte Rauschen ihres Flügelschlags in der Ferne verlor und ihre Gestalten sich mit den Wolken vermischten.

»Etwa fünf Meilen landeinwärts verläuft die Straße nach Norden und Süden«, verkündete Albwin. »Doch halten wir uns lieber davon fern.«

Bhreacs Blick wanderte finster über die staubige Steppe. Im Halbdunkel wirkte das entstellte, vernarbte Gesicht des Kriegers noch unheimlicher als bei Sonnenlicht. »Welche Richtung, Magier?«

»Wir ziehen südwärts, bleiben vorerst nahe der Küste, bis wir Atara Sahar passieren.« Übermüdet und mit verhärteten Muskeln, dank ihres nächtlichen Ritts, zogen sie los.

»Was ist Atara Sahar?«, hakte Aenna unterwegs nach.

Andrûs sah zu ihr hinüber. »Es ist die Krone des Morgens. Ein Ring aus gezackten Felsen, der hoch auf den Klippen am Meer steht. Zwar habe ich es noch nie beobachtet, aber es heißt, wenn der Morgen heranbricht, leuchten die Steine golden im Glanz der Sonne.«

Elyjas schaute zu den krummen Palmen, die auf den Hügeln im Osten standen und zwischen deren Schatten der Himmel blassgelb erwachte. Davor bildeten Sand und Kies rund hundert Spannen weit die flache unbewachsene Küste Tâlameths. Ein sanfter Lufthauch wehte in dieser Nähe zum Ozean, der vollständig verebbte, als sie landeinwärts schwenkten. Hohe Dattelpalmen wuchsen auf den gelbgrauen Hügeln. Die untersten ihrer lang gefiederten Blattwedel bargen lange Stacheln; rote und schwarze Beeren hingen in traubenartigen Dolden darüber. Während über den entfernten nördlichen Ländern Shaendâras die weißen Zipfel des Winterkleides gebreitet lagen, kündeten die blass umschatteten Savannen Tâlameths bereits zu dieser Stunde frühsommerliche Temperaturen an. Das Licht kroch schläfrig nach Westen und Albwin führte sie in südlicher Richtung über die trockene, einsame Ebene.

»Wie weit ist es bis nach Ajjadûr?«, fragte Elyjas beim Anblick dieser verlassenen Ödnis.

Andrûs stierte geistesabwesend in die Ferne. »Die Straße, die von Jal’Dharbheira herabkommt, biegt etwa fünfzehn Meilen südlich von uns nach Osten. Von dort erreicht man die Stadt in zwei Tagen.«

»Glaubt ihr, Ajjadûr sei unser nächstes Ziel?«, überlegte Aenna.

Andrûs antwortete nicht und Elyjas betrachtete ihn eindringlich.

»Existieren noch andere Städte im Süden?«

»Tagris Mor in entgegengesetzter Richtung«, antwortete E’aven, als Andrûs wiederum schwieg und die Jüngeren drehten sich zu der Qa’nai um.

»Tagris Mor entstammt uralten Zeiten«, erklärte E’aven. »Jene, die die Stadt erbauten, verließen längst ihre Körper. Doch leben noch wenige der Alten Sippe inmitten der Tûlla.«

Elyjas war bekannt, dass die Tûlla überwiegend im Westen und Süden von Tâlameth lebten. Aus dem Osten hingegen stammten die Daraner, ein Nomadenstamm, dessen Heimat im Sandigen Meer, der großen Wüste Daran, lag. Fast ganzjährig trieben die Daraner ihre Karawanen von Norden nach Süden und umgekehrt, pendelten zwischen den Wüstenstädten Jar’Dorrh und Kel’Aydhar oder darüber hinaus, um mit den Tûlla Handel zu treiben.

»Und wohin ziehen wir nun?«, überlegte Aegnon. »Nach Ajjadûr oder Tagris Mor?«

»Wir folgen den blassen Spuren der Vergangenheit, auf denen Erinnerungen uns begleiten.« E‘avens Augen huschten zu Andrûs, bevor die Qa’nai zu Albwin aufschloss. Andrûs beobachtete sie und blies hörbar aus.

Häuptling Bhreac trat an seine Seite. »Dieses Land war deine Heimat?«, erkundigte er sich.

»Meine Mutter war eine Uskar. Doch schon vor meiner Geburt zog sie nach Tâlameth und ich wurde hier geboren«, bejahte Andrûs.

Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr war er in diesem Land aufgewachsen. Doch verrieten sein rötlicher Schopf und die hellere Haut, dass in seinen Adern das Blut der Nordmenschen floss.

»Weißt du etwas über diese Alte Sippe?«, wollte Aenna wissen.

»Nein«, erwiderte Andrûs und zog dabei die Brauen zusammen. »Ich war nie in Tagris Mor.«

Das Land unter ihren Füßen wandelte sich von Kiesgrau zu Ocker, dann zu Oliv. Spröde Gräser sprossen aus dem trockenen Lehmboden und hier und da erhoben sich niedrige Felshügel. Die Gefährten wanderten südwärts, außer Sichtweite von Reisenden, die womöglich auf der Straße unterwegs waren. Der Tag war weitgehend herangebrochen und trotz der Frühe spürten sie die schwüle Wärme, die dieser versprach.

Auf einmal reckte Aenna den Arm nach Westen. »Da drüben.«

Die Sonne hatte die Küstenlinie inzwischen erreicht und ihr Licht schimmerte auf eine Gruppe ringförmig angeordneter Steinsäulen; aus der Ferne wirkten sie kaum größer als Menschen. Das untere Drittel ruhte noch in mattem Schiefergrau unterhalb der aufgestiegenen Sonne, darüber war der Stein heller doch immer noch schattig. Die Spitzen aber schimmerten golden wie die Krone eines Königs.

»Atara Sahar«, bewunderte Elyjas das Schauspiel. Dann sah er Aenna an und beide lächelten.

Südlich der Buchtschneise verlief die Küste nach Westen und ließ das Meer dahinter bald kaum noch erkennen. Gelegentlich entdeckten die Freunde handbreite Löcher in der Erde, die auf Wüstenmäuse, Echsen oder Insekten hindeuteten. Auch Fenneks lebten in den ausgedehnten Steppenwüsten Tâlameths. Jedoch bekamen die Gefährten keinen dieser nachtaktiven Füchse, die sich tagsüber in ihrem Bau vor der Hitze schützten, zu Gesicht.

Eine weitere Stunde liefen sie ohne Unterbrechung, derweil die Sonne höher stieg und ihre volle Kraft entfaltete. Elyjas schwitzte schon jetzt und dankte dem Umstand, dass das Jahr eben erst den Frühling einläutete, glaubte er die Sommerhitze in Tâlameth sei unerträglich. Die schlaflose Nacht machte sich zunehmend bemerkbar; seine Knochen fühlten sich träge und schwer an und sein Magen knurrte.

Sie waren noch rund anderthalb Meilen von der Straße entfernt, als Albwin plötzlich stehen blieb. »Bedeckt sind einstige Schritte, lediglich nach Süden wies die alte Spur und nun stehen wir vor einer Wegscheide – nach Ajjadûr im Osten oder südwärts nach Tagris Mor?«, schien er zu sich selbst zu sprechen.

»Die Wolken im Norden kündigen Sturm an, Hüter«, sagte der Elfenprinz. »Ein Gewitter tobt in ihrem Inneren, das sich bald entladen wird.«

Albwin stimmte zu. »Die Ereignisse drängen uns und weder die eine noch die andere Richtung verspricht mehr. Beide erfordern unseren Blick. Wir müssen uns aufteilen.«

»Mich drängt es nach Westen. Ich werde in Tagris Mor nach Spuren suchen«, schlug E’aven prompt vor.

»So soll es sein.« Albwins Finger strichen über seinen weißen Bartzopf. »Diese Reise bietet selten die Möglichkeit, in Ruhe zu erkunden. Doch mag ein Besuch der alten Stätte sich für einen Printi als interessant erweisen. Darum schicke ich meine Lehrlinge mit Euch.« Seine Augen schwenkten flüchtig zu Andrûs und Aegnon.

Andrûs linste zu E’aven hinüber und sein Herz schlug freudig in seiner Brust.

»Elyjas und Aenna begleiten Prinz Faras und mich nach Ajjadûr«, entschied Albwin darüber hinaus, woraufhin nun Elyjas Andrûs, der es gar nicht bemerkte, einen betrübten Blick zuwarf.

Grrruuuargh brummte. »Mmmpff. Vorräte füllen und andere Dinge ich kann erledigen in Ajjadûr. Besser ich gehen dorthin.«

»Dann schließe ich mich Euch an, Quellfrau, wenn es Euch recht ist«, beschloss Bhreac.

E‘aven neigte das Kinn.

»Tagris Mor liegt anderthalb Tagesmärsche südwestlich von uns«, meinte Albwin. »Nach Ajjadûr benötigen wir nur ein wenig länger. Damit bleiben Euch nicht mehr als drei Tage in der Stadt. Dann folgt uns nach Osten. Ich erwarte Euch vor Anbruch des neunten Mondes an der südlichen Wehr.«

»Wir sehen uns dort«, bekräftigte E’aven.

Andrûs trat an Elyjas‘ Seite. »Ajjadûr ist zweimal so weitläufig wie Dh’Aschjar und nicht alles, das leuchtet, birgt Licht«, warnte er. »Sei vorsichtig.«

»Du auch«, erwiderte Elyjas und schaute Andrûs nach, als dieser hinter E’aven, die umgehend losgeschritten war, her eilte.

Elyjas war neugierig auf die Stadt Ajjadûr, in der sein bester Freund gelebt hatte, hätte er sie auch lieber gemeinsam mit diesem erkundet. Zugleich fühlte er sich nervös wegen der Suche, die sie dort hinführte. Denn obwohl der Schatten bisher nur das nördliche Tâlameth trübte, barg jeder Abschied die Gefahr, dass sie einander niemals wiedersahen. Darum spähte er noch einige Male über die Schulter zurück, bis die schrumpfenden Gestalten von Andrûs, Aegnon, Nilremh, Bhreac und E‘aven seinem Blick entschwanden.

Auch Andrûs wusste nicht, was ihn in Tagris Mor erwartete. Doch fühlte er ein eigenartiges Kribbeln in seiner Brust, das er nicht zu deuten vermochte. Seine Gedanken schweiften einmal mehr ab, zu Elyjas und zu seiner einstigen Heimat, in die er bald zurückkehren würde. Die Erinnerungen überfluteten seinen Geist und er schloss für einen Moment die Augen, um sie abzuschütteln. Dann konzentrierte er sich auf die Suche, die sie antrieb, auf den Namen Atalaya, ahnungslos hinsichtlich der Wichtigkeit, die Albwin dessen Trägerin beimass.

Als sein Blick auf E’avens feurigem Haar haften blieb, verengte Andrûs unmerklich die Augen. Die Worte, die E’aven in Draegeyja gesprochen hatte, als Albwin plante nach Süden zu ziehen, fielen ihm ein und er begann zu rätseln. »Um zu suchen, was erforderlich und lange entbehrt.«

Hinter seinen Schläfen pochte es, als wolle etwas aus seinem Kopf herausbrechen und er rieb mit den Fingerkuppen über seine Stirn. Im nächsten Moment war das Pochen verschwunden.

Vor ihnen erstreckte sich die graubraune Weite, deren staubige Erde unter ihren Stiefeln aufwirbelte, nach Südwesten. E’aven schritt zügig voran und die anderen folgten ihr.

Auf in das Gebiet der Tentaken ...

STILLES ERWACHEN

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand noch nicht erreicht, dennoch brannte sie heiß auf Andrûs und seine Begleiter hinunter. In einigen Monaten wäre ihre Hitze selbst in Meeresnähe kaum zu ertragen, geschweige im Landesinneren, wo die Temperaturen schon im Frühling tagsüber um die dreißig Grad betrugen. Ihre Freunde, die zurzeit ostwärts reisten, würden die Glut des Wüstenreiches früher spüren als sie selbst, dachte Andrûs. Zum Schutz vor neugierigen Blicken und um zu verhindern, dass die Schuppenschwinge, die er auf dem Rücken trug, sich in der Sonne erhitzte, hielt er sie unter dunklem Stoff versteckt. Trotzdem fühlte er die Wärme, die das Artefakt speicherte, durch die Schichten seiner Kleider hindurch auf seiner Haut.

Je länger sie unterwegs waren, desto steiniger wurde der Grund, auf dem sie liefen. Felsbrocken, groß wie Kürbisse, gruben Mulden in die sandige Erde; Pflanzen wuchsen in diesem Landstrich kaum und wenn doch, waren es spröde Stängel, die ihnen höchstens bis zu den Knien reichten. Weit im Süden erkannten sie höhere schwarze Stelzen im helleren Sand, die sich dürr gen Himmel reckten wie Hände, die aus den Tiefen der Erde zu entkommen versuchten.

E’aven und ihre Begleiter durchquerten die Steppe in westlicher Richtung und wichen wiederholt herumliegendem Totholz aus, bis sie geradewegs auf einen dicken, knorrigen Baumstumpf zuliefen, dessen rostbraunes Geäst sich in den Sand rekelte. Die mittleren Strünke ragten schräg nach oben und teilten sich unterhalb der Spitzen wie ein Geweih. Dicht über dem Boden wickelte der Stamm sich um die eigene Achse und spreizte seine Wurzeln fast waagerecht in alle vier Himmelsrichtungen. Ein bisschen sah es aus, als hocke eine riesige Spinne vor ihnen.

Etwa eine Meile westlich wuchs die Steppe zu einer leichten Hügelkette an. Dahinter würde sie sich zum Tal von Far Dhembe breiten, dem Zahnigen Schlund, wussten sowohl Andrûs als auch E‘aven. Weißer Sand bedeckte jenes Gebiet, aus dem Hunderte dreieckiger Kalksandsteinsäulen ragten. Andrûs kannte noch einen zweiten Namen, den die Tûlla dem Tal gaben: Knochenwürger. Sein Inneres schauderte bei dieser Erinnerung.

»In Câllveron kalter, harter Lehm und nun heißer Sand«, murrte Aegnon vor sich hin.

Andrûs beobachtete, wie E’aven unauffällig den Kopf in Aegnons Richtung neigte und linste selbst zu seinem Lehrbruder hinüber. Dann schloss er zu der Quelltochter auf.

»Far Dhembe erzählt düstere Geschichten. Der Rachen verschlingt, was sich ihm nicht rechtzeitig entzieht.« Seine Augen blieben auf das Land vor ihnen gerichtet.

E’aven sah ihn an. »Nur die Unbedachten nimmt er auf, deren Sinne verschleiert sind. Gebrauche deinen Geist, Printi. Fühle das Schlucken seines Gaumens.«

»Dort draußen ist mehr als Sand und Stein. Etwas Reißendes«, wandte Andrûs ein.

E’aven richtete den Blick wieder geradeaus. »Es wird bereuen, falls es sich hervorwagt.«

Andrûs spürte ein flaues Ziehen in der Magengegend, dennoch nickte er. Sein Gefühl riet ihm, dass sie Far Dhembe besser vor Einbruch der Dämmerung durchquert haben sollten.

Eine Stunde später spähten die fünf Weggefährten von den flachen Steinkuppen auf die sandige Einöde Far Dhembes hinab.

E’aven deutete zum Horizont. »Zwei Meilen erstreckt sich der Sand. Auf der anderen Seite wird das Land fruchtbarer. Der Boden schläft. Wir sollten ihn nicht wecken«, mahnte sie eindringlich. »Bewegt euch ruhig und setzt leichte Schritte.« Entschieden stieg sie den Hügel hinab und trat in den weichen Sand.

Sie liefen eine Weile geradewegs nach Westen, mit der schweißtreibenden Sonne über ihren Köpfen und keine einzige Regung erkennbar, außer ihrer eigenen. Der feine Sand verschluckte ihre Füße und rieselte bei jedem Schritt davon ab, derweil die steinernen Zähne Far Dhembes ihre Gestalten teils um zehn Fuß überragten.

Andrûs beobachtete aufmerksam die Umgebung; sein mulmiges Gefühl war nicht gewichen, im Gegenteil. In seinem Geist klangen seltsame Laute, würgend und schmatzend, durchdrungen von gehetztem Atem. Seine Hand fuhr an seine Brust, als Angst und Verzweiflung in diese stachen wie eine scharfe Klinge.

»Sand. Nichts als greller Sand«, murrte Aegnon zum zweiten Mal. »Wäre schön, mal was anderes zu sehen!« Flüchtig strichen seine Finger über das silbergraue Fell des Wolfes, den er in Dh’Aschjar zu seinem Gefährten erwählt hatte. Nilremh brummte leise.

Andrûs hoffte, dass dieses Andere nicht schwarz sein würde! Nervös verstärkte er den Griff um den Kiefernstab, den er in Beth’nal’Mâr gefertigt hatte und den er nicht wagte, auf den Sand zu stützen. Vor ihm wirkte E’aven ebenso angespannt; ihre rechte Hand ruhte an ihrem Gürtel, in dem ihr Dolch steckte.

Sekunden später warnte sie die anderen. »Hinter den Felsen, nördlich von uns.«

Die anderen folgten ihrem Blick, konnten aber nichts erkennen. Einen winzigen Moment fühlte Andrûs einen brennenden Schmerz, als risse jemand die Haut von seiner Brust, und zuckte zusammen. In seinen Ohren klang erneut dieses eigentümliche Schmatzen. Er hielt die Luft an und blies sie hörbar aus.

»Nach Südwesten, beeilt euch!«, wies E’aven sie an.

Aegnons Augen suchten noch immer. »Was habt Ihr gesehen?«

»Tentaken«, flüsterte Andrûs. »Ich habe einmal gehört, wie Händler von einem Überfall sprachen.«

Aegnons Mund verzog sich missmutig. Der Wolf an seiner Seite brummte noch immer. »Was sind denn Tentaken? Hast du sie selbst gesehen?«

Andrûs rieb sich die Schläfen. »Ich war noch nie im Südwesten von Tâlameth.«

Bhreac packte die schwere Doppelaxt mit beiden Händen. »Was immer sie sind, sie sollen nur kommen.«

Abwechselnd nach links und nach rechts lenkte die Qa‘nai ihre Begleiter zwischen den Kalksandsteinen hindurch; wiederholt schlugen sie einen Bogen, wo sie kürzere Strecken hätten wählen können. Zwar blieb der Sand unter ihren Füßen ruhig. Doch sie spürten die fremde Gegenwart, die sich im Schatten der Steinsäulen verbarg, und wussten, dass sie ihnen folgte.

»Warum greifen sie nicht an?«, wunderte sich Aegnon. »Worauf warten sie?«

Darauf, dass wir ihnen die Jagd erleichtern, wähnte Andrûs. Sie wollen, dass wir rennen.

»Angst lähmt den Geist und raubt die Kraft derer, die ihre Sinne missachten«, antwortete E’aven. »Sie warten, dass Far Dhembe erwacht.«

Nervös beobachteten ihre Begleiter die weiße Wüste und schließlich entdeckten ihre Augen mehrere schwarze Gestalten mit sehr lang herabschwingenden Armen – viel zu vielen Armen! – zwischen den Säulen. Nilremhs Knurren grollte tief aus der Kehle.

»Sie kommen näher«, stellte Bhreac fest. »Ich zähle acht oder neun zwischen den Steinen, dreißig Spannen nordwestlich.«

Andrûs spähte flüchtig dorthin, dann achtete er wieder auf den Sand, in dem ihre Füße mit jedem Schritt tiefer versanken. Sein Schlucken ... Fühle das Schlucken seines Gaumens ... bald ...

»Haltet das Tempo und meidet die freien Flächen«, riet E’aven. »Der Rachen räuspert sich.«

Vor ihnen weiteten sich die Abstände zwischen den Kalksäulen, und ein Windhauch ließ die Luft über dem Sand flimmern.

Ein einziger Fehltritt konnte den Boden einsacken lassen und einen Körper fest genug umklammern, dass dieser sich nicht aus alleiniger Kraft daraus würde befreien können. Halb vergraben wäre er der Hitze, dem Hunger und Durst und den unbarmherzigen Bewohnern jenes Landstrichs ausgeliefert. Reisende würden hernach nur finden, was der Sand ausspuckte: nackte Knochen.

»Knochenwürger«, hallte die Erinnerung an ein einst belauschtes Gespräch in Andrûs‘ Kopf. Ein Summen wie von einem Schwarm Bienen setzte sich in seinen Ohren fest. Seine Haut kribbelte.

E’aven lenkte ihre Gefährten rasch auf die Zwillinge zu, wie sie die zwei dicht beieinanderstehenden Sandsteinsäulen im Westen bezeichnete. Sie schien zu wissen, welchen Pfad sie einschlagen musste. Dennoch gruben sich auch ihre Füße, die bis zu den Schienbeinen in flauschigem hellbraunem Fell steckten, immer wieder in den schlingenden Sand.

Andrûs zwang sich zur Ruhe. Panik verschleiert die Sinne!, mahnte er sich. Doch sein Atem brannte gehetzt. Schwarzer Nebel durchstreifte seinen Geist und verursachte ihm Kopfschmerzen. »Zwei hatten Glück.«, sprachen die Stimmen in seiner Erinnerung. Zwei ... Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

Das unterschwellige Surren brachte ihn zurück in die Gegenwart. Die schwarzen Gestalten bildeten mittlerweile einen Halbkreis hinter ihnen und versuchten, die kleine Gruppe von den schlanken Steinen fort und mitten in die sandige Senke zu treiben. Das weiße Meer geriet in einen Sturm. Der Boden schluckte und sog den Sand tiefer und tiefer in einen Strudel, der eine Handvoll weißgelber Stelzen auswürgte. Knochen.

Die Verfolger hielten weiterhin Abstand. Trotzdem hatten sie weit genug aufgeholt, dass E’aven und die andren ihre pflaumengroßen pechschwarzen Glubschaugen erkannten. Darunter knautschten sich ihre Gesichter wie Kissen zusammen und formten handlange, nach vorne abgeflachte Schnäbel. Anstelle von Händen endeten ihre vier labbrigen Arme in schleimigen Saugnäpfen. Das innige Surren schien die Sprache dieser Kreaturen zu sein, es grub sich wie ein rotierender Bohrer in die Ohren der Gejagten.

»Sie glauben uns in der Falle«, erwog E’aven. »Macht euch bereit.«

Nilremh stakte unruhig auf den Pfoten, während der Sand um ihn herum nachgab. Aegnon versuchte ihn zu halten. Doch seine eigenen Füße rutschten. Bhreac packte seinen Arm und zog ihn zurück.

Im nächsten Moment sprang einer der Tentaken, halb Mensch, halb Insekt auf sie zu. E’aven zückte ihren Bogen, spannte blitzschnell einen Pfeil auf und ließ die Sehne los. Die stählerne Spitze durchbohrte den Angreifer noch in der Luft und warf ihn in den sandigen Rachen, der seine Beute sofort umschlang. Die Kreatur sank bis zum Hals ein und rief nach den anderen Tentaken, die unschlüssig um die Mulde herum stakten, als vollführten sie einen zeremoniellen Tanz; schaudernd vibrierte ihre Musik.

E’aven scheuchte ihre Gefährten vorwärts. »Bleibt in Bewegung! Lauft zu den Zwillingen!«, rief sie ihnen zu.

Der Sand schlingerte unter ihren Füßen und schaukelte ihre Tritte auf seinen Wogen. Wo sie auftraten, schien er Krallen um ihre Beine zu werfen und es forderte Kraft, sich daraus zu befreien.

Die Tentaken hatten ihren eingegrabenen Kameraden zurückgelassen und jagten weiter nach ihrer Beute, eigenartig tänzelnd, als berührten ihre Füße glühende Kohlen. Flink holten sie auf und versuchten, die Gefährten zu umkreisen. Zwei der schleimigen Fühler schlangen sich um Bhreacs Arm und saugten sich auf seiner Schulter fest. Dabei streifte der Saugnapf Andrûs. Sofort wurde seine Haut rot, sie brannte wie Säure.

Der Zodh‘rra brüllte und riss mit der freien Hand den schleimigen Pfropf von seiner Schulter, wobei die Haut darunter ebenfalls riss und rohes Fleisch zurückließ. Er schwang herum und durchtrennte den zweiten Arm mit einem raschen Schlag seiner Axt vom Rumpf des Tentaken. Doch noch während er den Rest des Saugers mit einem heftigen Ruck von seinem Unterarm löste, schoss ein dritter Fühler auf ihn zu und saugte sich schmatzend unterhalb des Schlüsselbeins an seiner haarigen Brust fest, wo weder Leder noch das grobe Schafsfell diese bedeckten.

Die Tentaken schienen nun furchtloser und griffen von mehreren Seiten an. Einer von ihnen wurde mit dem Sand fortgerissen und stürzte kopfüber in den Schlund, der einen widerlichen Rülpser von sich gab.

Andrûs hieb einem der Angreifer seinen Stab gegen die Schulter. Die Arme des Tentaken schnellten nach vorne, klammerten sich um Andrûs‘ Schienbeine und Handgelenke und Andrûs wurde schwarz vor Augen. Seine Haut schmerzte, als fräße sich Säure hindurch. Er stöhnte und seine Beine gaben unter ihm nach.

E‘aven befreite derweil Aegnon aus der Schlinge eines anderen Tentaken und Nilremh rang damit, einen sabbernden Fangarm von seiner Flanke zu beißen. Bhreac zerhackte indes den anderen Schlaucharm seines Gegners und spaltete dessen Insektenschädel mit einem senkrechten Hieb seiner Axt. Andrûs‘ Hände zitterten. Krampfhaft hielten seine Finger den Stab, den er in Beth’nal’Mâr aus einem Kiefernast geschnitzt hatte und den er nicht verlieren wollte. Entkräftet lenkte er einen Energiestoß auf die Sauger an seinen Beinen und zuckte zusammen, als die zwei Arme seines Angreifers wabernd durch die Luft schwangen. Aus dem Surren des Tentaken erwuchs ein wütendes Zischen. Die langen Kieferzangen schnappten gefährlich an Andrûs‘ Gesicht vorbei. Doch er konnte nicht zurückweichen, denn seine Handgelenke waren noch immer umschlungen. Er ließ sich auf den Rücken fallen, stemmte die Füße gegen den Leib seines Gegners und trat nach dessen Kopf. Das Schnappen des Tentaken klang, als kaue er rohes Gemüse. Andrûs‘ Handgelenkte beizten und der Schmerz ätzte sich bis in seine Brust. Zwei haben überlebt ..., hallte es durch seinen Kopf. Benommen trat er auf den Tentaken ein, während er spürte wie sein Geist abdriftete. Die spitzen Zangen bissen durch die ledernen Stiefel in seine Waden und Andrûs stöhnte erneut. Seine Augen flatterten. Zwei ... der eine gering an Jahren, der andere gering an Verstand ... Seine Gedanken verschwammen. Dann huschte ein Schatten über seine Augen hinweg und der Angreifer ließ zischend von ihm ab. Andrûs‘ Arme schlotterten; die Ärmel seines Mantels waren vom Sabber des Tentaken angefressen und rund um seine Handgelenke zogen sich Ringe aus blutigem Fleisch.

E’aven beugte sich über ihn. »Kannst du laufen, Printi?« Sie sprach gefasst, trotzdem konnte Andrûs ihre Anspannung heraushören. E’aven stützte ihn und half ihm auf.

Andrûs‘ rechte Wade schwoll binnen Sekunden grau an und dunkles Blut sickerte aus den beiden winzigen Einstichen.

»Es wird gehen«, presste er zwischen den Zähnen hervor. Schweiß stand ihm auf der Stirn und der Oberlippe, während E’aven ihn wacklig auf die Beine stellte. Neben ihnen spritzte schwarzes Blut in den Sand, als Bhreac einen der Gegner der Länge nach spaltete.

Der Gegner, der Andrûs verwundet und dem E’aven ihren Dolch durchs Auge gestoßen hatte, rappelte sich auf die Beine; schwärzliche Brühe quoll aus der leeren Höhle und bildete eine Lache vor seinen Zehen. Drei weitere Tentaken versuchten auf der anderen Seite ihnen den Weg abzuschneiden.

»Hilf ihm!«, wies E’aven Aegnon an und zurrte Andrûs‘ Brustgurt enger, der sich gelockert hatte. Sie deutete den beiden Jungen den Weg. Dann stellte sie sich gemeinsam mit dem Kriegerfürsten den verbleibenden Verfolgern.

Andrûs‘ Beine brannten, das rechte schlimmer als das linke. Und doch war dieser Schmerz nichts im Vergleich zu seinen Handgelenken, die unentwegt zitterten. Aegnon hielt ihn aufrecht, soweit Far Dhembe es zuließ. Auch er hatte nässende Wunden an den Oberarmen, wo der Schleim der Tentaken sich durch die Ärmel seines Mantels gefressen hatte. Die Haut darunter war nur leicht verletzt, denn E‘aven hatte den Jungen rechtzeitig befreit. Nilremh blieb dicht hinter den beiden und sein Knurren grollte wie Donner.

E’aven hatte Andrûs‘ Kiefernstab an sich genommen und ließ ihn beherzt kreisen. Dem ersten Tentaken prellte sie das kraftvolle Holz gegen die Stirn, dem zweiten ins Genick, den dritten wuchtete sie ins sandige Grab. Einer der anderen sprang wieder auf die Füße und preschte vor. E’aven riss ihren Kurzspeer herum und reckte ihn auf Brusthöhe von sich fort. Ehe der Tentak reagieren konnte, spießte die Speerspitze ihn auf. Sein schwarzer Insektenkörper sackte in den Sand.

Als die Qa’nai sich nach Bhreac umschaute, der soeben gegen zwei weitere Tentaken kämpfte, schlang sich plötzlich etwas um ihre Wade und riss sie nach hinten. Sie verlor das Gleichgewicht, stürzte und ließ dabei den Speer fallen. E‘aven schlug hart auf die Hände und wurde in die Senke geschleift, wo der Tentak in seinem todbringenden Gefängnis zuckte, vor dem einzig der an E’aven haftende Saugarm ihn bewahrte. Langsam aber stetig zog es E‘aven hinunter. Ihre Finger krallten sich hilflos in den Sand.

Bhreac registrierte aus den Augenwinkeln, dass die Quelltochter Hilfe benötigte, doch seine Gegner standen ihm im Weg.

Auch Andrûs hatte ihre Not bemerkt. »E‘aven«, keuchte er und bedeutete Aegnon, zurückzulaufen. Doch durch dessen hastige Bewegung schlitterte der Sand unter ihren Füßen abermals fort. Unfähig alleine zu stehen, brach Andrûs zu Boden. Aegnon sank ebenso zusammen und glitt ein gutes Stück hinab, ehe seine Hand einen Knochen, dessen Ende im Sand steckte, zu fassen bekam. Nilremh hingegen rutschte tiefer in die Mulde hinunter. Er robbte langsam auf E’aven zu und zerbiss den Saugarm, der die Qa‘nai fesselte. Schleimspritzer verätzten seine Lefzen, und er winselte. Wieder rülpste der Schlund, als er den Tentaken endgültig verschlang und Nilremh sackte noch tiefer.

Aegnon kämpfte sich auf die Knie und warf sich bäuchlings nach vorne, um seinem Wolfsgefährten zu helfen. Dabei geriet der Schlund vollends in Aufruhr und nur Bhreacs flinker Reaktion verdankte Aegnon, dass der Sand ihn nicht unter sich begrub. E’aven hielt ihren Körper flach am Boden und kroch vorsichtig zu dem Wolf hinüber. Dann schrie sie plötzlich auf.

Die zwei letzten stehenden Tentaken attackierten nun gemeinsam E’aven, nachdem Bhreac zu Aegnon gesprungen war. Ihre wabernden Arme saugten sich mit einem schmatzenden Pflllllpp auf ihrem Rücken, ihrer Schulter, an ihrer Hüfte und den Armen fest. Der letzte Schleimpfropf schoss geradewegs auf E’avens Gesicht zu. Brüllend sprang Bhreac neben sie und teilte den sabbernden Arm mit der Klinge entzwei. Er köpfte den vorderen Tentaken bevor dieser begriff, was geschah. Der zweite Tentak fuhr herum, löste zwei Arme von E’avens Schulter und der Hüfte, was sie aufschreien ließ, und griff stattdessen Bhreac an. Sein dritter Saugarm klebte noch immer zwischen E’avens Schulterblättern und die Quelltochter trat stöhnend mit dem Fuß nach dem Tentaken, indes ihre Hand den brennenden Saugnapf von ihrem Arm löste. Dann zerrte sie mit beiden Händen Nilremh, dessen Hinterläufe fast vollständig eingesunken waren, aus der Mulde heraus. Bhreac holte mit der Axt aus. Doch der Tentak tauchte unter dem Streich hinweg und ätzte eine rötliche Blase in Bhreacs Hals. Der Krieger schlug mit der nackten Faust zu und zertrümmerte beide Kieferzangen der Kreatur. Er hob die Axt und im selben Moment, da E’aven ihren Dolch von unten in die Hüfte des Tentaken bohrte, durchschnitt seine Schneide den gegnerischen Rumpf von der anderen Seite. Das Metall klirrte, als es den Tentaken durchfuhr und aufeinandertraf.

Far Dhembe erwachte jetzt endgültig. Rieselnde Sandwirbel bliesen über die weißen Senken und verschluckten, was immer sie zu fassen bekamen.

Aegnon klammerte sich brüllend an den Sandhang, der mehr und mehr unter ihm wegdriftete. Bhreac hatte ihn losgelassen, als er E’aven zu Hilfe geeilt war. Aegnon war erneut hinuntergerutscht; sein rechter Arm lag verschüttet und der wehende Sand bedeckte ihn zunehmend. Mit dem freien Arm stemmte er sich auf, was seine Lage nur verschlimmerte. Andrûs kroch zu ihm und versuchte mit kraftlosen Händen, Aegnons strampelnde Füße festzuhalten. E’aven und Bhreac sanken Sekunden später an seine Seite.

»Zieht mich raus!«, schrie Aegnon.

E’aven gelang es, sein Bein zu fassen. »Lieg still, Printi! Du beschleunigst das Sinken«, fauchte sie. »Pass dich der Umgebung an.«

»Der blöde Sand will mich umbringen«, fluchte Aegnon.

»Hat dein Mestar dich nichts gelehrt? Bist du ein unwissendes Kind?«

»Ich bin Printi des Obersten der Mestari«, schrillte er zornig.

»Dann benimm dich entsprechend.«

Aegnons Hampeleien wirbelten immer mehr Sand auf, der in E’avens und Andrûs‘ Augen wehte und in ihre Wunden. Um sie herum wogte Far Dhembe wie das peitschende Meer in der Baaya Ro‘Wan.

»Halt jetzt still, Bursche«, sagte der Zodh’rra barsch, während er Aegnons Beine befreite. »Wenn du weiter so strampelst, wird es wehtun.«

Aegnon funkelte zornig zu Bhreac hinauf. Doch er erwiderte nichts mehr.

Nachdem Bhreac und E’aven ihn endlich aus dem Sandschlund befreit und auf die Füße gezerrt hatten, stierte Aegnon dem Krieger missmutig ins Gesicht. »Ihr solltet Respekt denen gegenüber zeigen, die das alte Wissen wahren. Ich bin Printi des Paith’an’Leawha.«

Bhreac erwiderte Aegnons Blick gelassen. »Dem Magier zolle ich Respekt. Du, Knabe, musst dir Respekt erst verdienen.«

Knabe? Aegnon tobte innerlich. Wer glaubte dieser wilde Barbar zu sein, dass er so zu ihm sprach? Seine Mundwinkel zuckten.

»Rasch nun!«, beendete E’aven dies. »Wir müssen Far Dhembe hinter uns lassen. Danach versorgen wir die Wunden.« Sie beugte sich zu Andrûs hinunter.

»Ich stütze ihn«, erklärte Bhreac. Er hob Andrûs‘ Arm über seine Schulter, wobei Andrûs ein schmerzhaftes Stöhnen entfuhr. »Mit dem Fuß kommt er nur schleppend voran. Geht Ihr voraus, Quellfrau.«

Aegnon schluckte verbissen. »Verzeiht. Ich war unbeherrscht.«

Flüchtig begegneten Andrûs‘ flatternde Augen Aegnons Blick, der starr auf die Qa’nai gerichtet blieb, und es schien ihm, als blicke er in einen tiefen schwarzen Brunnen.

»Viel muss dein Geist noch lernen, Printi«, entgegnete E’aven. »Der Hüter hat dich als Lehrling erwählt und gewiss ist sein Urteil verlässlich. Lasst uns aufbrechen!«, endete sie und schritt voraus.

Andrûs‘ Geist dämmerte. Die Stimmen der Tentaken summten noch eine Weile in seinem Kopf und viel leiser noch eine andere.

Das Auge, das sieht ... schon einmal ...

Klirrende Kälte glühte in seiner Brust.

DIE STÄTTE DER SEHER

Sie hatten die Zwillinge passiert und waren südwestlich durch die Steppe weitergezogen, bis der Boden unter ihren Füßen nicht mehr fortglitt. Bei Einbruch der Dämmerung rasteten sie inmitten eines Ringes aus kupferbraunen Dornsträuchern, an denen winzige gelbbraune Blüten wuchsen. Keiner von ihnen sprach viel; Angst und Not der letzten Stunden hatten sich in ihren Gedanken eingenistet. Sie alle hatten Wunden davongetragen; Nilremhs verätzte Schnauze und Andrûs‘ Handgelenke waren die schlimmsten.

Die nächtliche Erde war angenehm kühl und vertrieb den Schweiß des Tages. Im Westen des Landes sank die Temperatur nach Sonnenuntergang deutlich. Am Tag jedoch würde es rasch wieder wärmer werden.

E’aven hatte mit ihren Händen flache Erdklumpen geformt und dabei Worte aus dem Ársalon, der Alten Sprache, geflüstert. Sie hatte Andrûs‘ Wunden gesäubert – rohfleischige Streifen, breit wie zwei Finger – und mit einem Breiumschlag umwickelt, woraufhin der Junge zitternd in den Schlaf gesunken war. Anschließend versorgte sie Nilremh und Aegnon, dann Bhreac, zuletzt widmete sie sich ihren eigenen Verletzungen.

Sie teilten den Proviant auf, wobei E’aven einen Kräuterkanten und ein paar Nursablätter aus dem Hain von Beth’nal’Mâr für Andrûs aufhob, die ihn am Morgen stärken würden. Bevor die Nacht sich ein zweites Mal über sie breitete, wären sie in Tagris Mor, wo sie frischen Proviant für den Rückweg erwerben konnten.

Während der Kriegerhäuptling die erste Nachtwache übernahm, versuchte die Quelltochter etwas Ruhe zu finden. Ihre Augen schweiften zu Andrûs, dessen Lippen lautlos flüsterten. Wohin seine Träume ihn führten, verstanden einzig die Seelen, dachte sie.

Als E’aven ihre Begleiter am Morgen weckte, lag Andrûs bereits wach. Er lächelte, während er sie beobachtete.

»Sind deine Schmerzen gelindert, Printi?«, fragte E‘aven.

Er betrachtete seine Arme. »Ja. Habt Dank.«

»In Tagris Mor werden wir die Leinen erneuern.« Ihre Augen forschten in seinen. »Dein Geist hat dich letzte Nacht fortgeführt.«

»Doch weiß ich nicht, wohin.«

»Wenn wir in Träumen wandeln, leitet uns die Seele zu dem, was bestimmt ist. Wir erweitern uns, selbst wenn wir das Ziel nicht erkennen. Wenn die innere Stimme spricht ...«

»Musst du ihr folgen.« Andrûs‘ Gesicht wurde ernst. Ein unsichtbarer Finger klopfte unaufhörlich gegen seine Schläfen.

E’aven betrachtete ihn nachdenklich. Dann nickte sie und trat mit dem Proviant, den sie am Abend aufbewahrt hatte, zu ihm. »Iss! Es wird dich stärken.«

Hungrig schlang Andrûs die bittere Kräuterkruste hinunter, dann die saftigen Nursablätter, die genug Feuchtigkeit speicherten, um sogar in der Fas Daran den Wasserverlust auszugleichen, sofern man genug davon bei sich trug. Im Osten glänzte die Sonne als helle Scheibe und kroch langsam auf sie zu.

Südwestlich von Far Dhembe blieb das Land spröde und von dornigen braunroten Büscheln übersät. Doch in der Ferne ragte eine Reihe hoher sattgrüner Palmbäume auf.

»Wenn das Licht zu fallen beginnt, erblicken wir die Hügel, die Tagris Mor umgeben«, verkündete E’aven.

Andrûs stemmte sich auf dem linken Bein auf, denn seine rechte Wade war nach wie vor geschwollen, wenngleich er den Schmerz unter dem Wickel, den E’aven angelegt hatte, kaum spürte. Seine Wollhosen waren an den Schienbeinen löchrig, wo der Schleim der Tentaken sich hindurchgeätzt hatte. Die Haut darunter war schwach gerötet. Sorgsam streifte Andrûs den Brustgurt über Schulter und Kopf und lud die Schuppenschwinge auf den Rücken. Das Artefakt strahlte eine wohlige Wärme aus, sogar durch die dunklen Stofflagen, die es verhüllten. Es hatte den Anschein, als pulsiere Yoldrurs Lebensessenz trotz all der Jahre unvermindert in dessen einstigem Flügel.

Die Pein seiner Gefährten, die Andrûs am Vortag durchströmt hatte, war durch E’avens Behandlung offenbar ebenso gemildert worden wie seine eigene. Sowohl Aegnon als auch Nilremh wirkten ausgeruht, und als der Wolf sich erhob, bröckelten getrocknete Erdbrösel von seiner Schnauze und der verletzten Flanke.

Andrûs griff nach seinem Stab und strich mit der Handfläche über das gleichmäßige Kiefernholz. Seine Finger berührten die weiche Feder an dessen Schaftende und er erinnerte sich an den Bussard, der diese in Beth’nal’Mâr für ihn hatte fallen lassen. Sailgar Vy’is. Dann folgte er Aegnon, der langsam hinter dem Wolf her stakte. Der Groll seines Lehrbruders schien verflogen, obwohl Aegnon mürrisch dreinschaute.

Schon einmal ..., geisterte es in Andrûs‘ Kopf.

Die steinige Savanne wandelte sich zur grünen Steppe. Seichter Wind milderte die aufkeimende Hitze und etwa eine Stunde nach Mittag erspähten sie die hohen rötlichbraunen Riffelfelsen, in deren Senke Tagris Mor lag. Klobige pilzförmige Steingiganten erhoben sich im Norden und Süden; dazwischen wogten niedrigere Rundhügel. Zur Küste hin ragte ein drittes Felsmassiv auf, das an einen mit angewinkelten Knien dasitzenden Riesen erinnerte. Nach Südosten stieg die Skulptur höher, fiel dann leicht ab, ehe sie zu einer breiteren Pyramide anwuchs, auf deren Spitze der steinerne Kopf saß.

»In zwei Stunden erreichen wir die Stadt«, ermutigte die Quelltochter die anderen und wandte das Gesicht flüchtig zu diesen um. In ihren Augen glaubte Andrûs ein sehnsüchtiges Glitzern wahrzunehmen.

»Wie erkennen wir die Frau, die der Magier sucht?«, wollte Bhreac von E‘aven wissen. »Habt Ihr sie einmal getroffen?«

»Vor einigen Jahren hielt ich mich eine Zeit lang bei ihr auf.«

Aegnon sah sie an. »Ist sie von hohem magischen Rang?«

»Atalaya entstammt dem Blute Dràochs, ebenso wie Vaìrdor, der die Seelenflamme verbarg. Sie gehört zum Inneren Zirkel des Flammenhüters und trägt Weiß.«

»Wie spüren wir sie auf?«, hakte Bhreac nach.

»Falls sie in Tagris Mor weilt, wird sie uns aufspüren.«

Bhreac brummte. Das filzige Haar klebte an seinem Kopf und sein entstelltes Gesicht, durch das sich eine Narbe von der rechten Schläfe bis zur linken Kinnseite hinunterzog, wirkte grimmig.

»Mestra Atalaya besitzt keines der Artefakte«, wandte Aegnon ein. »Wieso ist es für Mestar Albwin so wichtig, sie zu finden?«

E’aven atmete tief durch, ehe sie sprach. »Dràoch begründete die Linie der Mestari, die gelobten, die uralten Kräfte der Shana zu bewahren und jene darin zu unterrichten, die nach ihnen folgten. Seine Weisheit war unendlich und in seinen Kindern vereinigte sich das Blut der Talmar und Penyar. Die Kenntnisse der ersten Shana waren vielseitig und ihr Stamm bildete mehrere Äste. Nam’vanyar, Dràochs Enkel, zeugte Vaìrdor, welcher der erste Paith’an’Leawha wurde. Die Nachkommen seines Bruders Gebor bewahrten eine andere Kraft, deren Ursprung im Anbeginn aller Tage wurzelte. Ihr Wissen mögen nur sie allein ergründen.«

»Dann ist sie, die wir suchen, vom Blut dieses Gebors«, schloss Bhreac.

»Ja«, bestätigte E’aven. »Mächtig ist ihr Wissen für jene, die dem Licht dienen und gefährlich, geriete es ins Zwielicht. Darum will der Flammenhüter Klarheit über Atalayas Verbleib.«

Andrûs hatte ihren Worten aufmerksam gelauscht. In Gedanken versunken schweifte sein Blick zu dem rötlichen Steinriesen im Westen.

Je näher sie der Küste kamen, desto weniger erinnerte Tâlameth an ein Wüstenreich; grüne Sträucher und Bäume sprossen aus der Erde hervor, an denen gelegentlich gelbe Früchte keimten. Der Atem des Ozeans blies mild in ihre Gesichter wie an einem Frühsommertag im südlichen Uskûndor.

Soeben hatten sie die östlichen Ausläufer der Hügel erreicht, als Andrûs laut nachsann: »Die Alte Sippe, die Tagris Mor bewohnte ... das waren Gebors Nachfahren.«

E’aven sah ihn an. »Dein Geist ist wach. Nicht viele der Alten Sippe sind übrig und in der Tat stammte ein Großteil von Gebors Blut. Doch auch unter ihnen entfernten sich manche vom Licht und verloren die Weisheit, die sie einst besaßen. So wurden im Laufe der Jahrhunderte immer weniger darin unterwiesen. Der Letzte wurde vor mehr als einhundert Jahren geboren.«

Andrûs war wohl aufgefallen, dass die Qa‘nai nicht offenbart hatte, worin genau die Macht von Gebors Nachkommen bestand. Trotzdem hielt er seine Neugier zurück und widmete sich vorerst anderen Fragen. »Wie gehen wir vor, nachdem wir die Stadt erreicht haben?«, hakte er nach.

»Tagris Mor ist einer der ältesten magischen Orte, den die Shana erschufen, obwohl in diesen Tagen kaum etwas vom alten Blut in seinen Mauern lebt. Nur wenige heute wandelnde Mestari haben es je mit eigenen Augen erblickt. Sei dir der Ehre bewusst, die der Flammenhüter dir zuteilwerden ließ, während deine Füße dort wandeln, Printi.« Wieder schien sie einen Moment lang seine Augen zu ergründen, ehe sie fortfuhr. »Unter den Tûlla lassen sich jene, die der Magie kundig sind, an zwei Händen abzählen. Sie werden uns für gewöhnliche Reisende erachten und sich nicht für unsere Gemeinschaft interessieren. Doch sofern Atalaya dort ist, wird ihr unsere Anwesenheit nicht unbemerkt bleiben. Drei Tage halten wir Augen und Ohren in der Stadt offen und erwerben Proviant für den Weg nach Osten. Den Flammenhüter wird interessieren, was wir zu berichten haben.«

Sie folgten dem Pfad durch eine Felsöffnung, deren Wölbung an ein Auge erinnerte, und liefen ins dahinter abfallende Tal hinunter. Ihr Weg war von niedrigen Steinkuppeln gesäumt. Dazwischen wuchsen kakteenartige Sträucher, mit dunkelgrünen Blattsprossen und winzigen kirschroten Blüten. Vor ihnen breiteten sich die ockergelben Sandsteinbauten von Tagris Mor aus. Das höchste Gebäude, ein dreieckiger Bau mit geschwungener, ausgemeißelter Säulenfront und goldener Dachkuppel, lag auf einer Anhöhe im Westen der Stadt. Als Andrûs‘ Augen darüber schweiften, begann es hinter seinen Schläfen zu trommeln. Vom Ozean wehte ein schwacher Wind herüber.

E’aven schritt entschieden voran. »Olbor im nördlichen Areal«, entschied sie. »Dorthin gehen wir zuerst.«

Die anderen folgten ihr durch willkürlich verlaufende Gassen. Manche von ihnen waren dreimal so breit wie andere, die Gebäude dazwischen so krumm und schief, dass ihre obersten Stockwerke zusammenstießen. Bauten mit filigran ausgearbeiteten Mosaiken und spitzen Turmdächern glänzten prunkvoll zwischen schäbigen, verwinkelten Flachdachhäusern, die wirkten, als habe man sie aus Platznot im Nachhinein in die verbliebenen Lücken gequetscht. Auf den überfüllten Straßen drängten sich gebräunte Männer, Frauen und Kinder vorüber.

Viele Tûlla besaßen schwarzes Haar und ihre Haut erschien von der ganzjährigen Sonne gegerbt. Meist hüllten sie sich in Gewänder aus hellem Leinen, die ihnen bis auf die Knöchel hingen und nicht wenige von ihnen besaßen kaum mehr als das, was sie am Leibe trugen. Kein König oder Fürst regierte über sie. Doch hatten sich einige Kaufleute über das gemeine Volk erhoben. Drei von ihnen lebten in Jal’Dharbheira, die übrigen zwei in Ajjadûr.

Ajjadûr, sann Andrûs nach. Tagris Mor erinnerte ihn an den Ort, an dem er einst gelebt hatte. Doch war die Stadt im Osten schon lange nicht mehr sein Zuhause. Er war gerade vierzehn geworden, als er Tâlameth verlassen und sich auf den Weg in den Westen begeben hatte, getrieben von einem einzigen Satz, einem einzigen Wort. Dh’Aschjar, klang es wie damals in seinem Kopf. Die Reise war beschwerlich gewesen und obgleich Andrûs sich nicht mehr erinnerte, weshalb er jene Stadt als Ziel ausgewählt hatte, war dies ein glücklicher Wink des Schicksals gewesen, denn in Dh’Aschjar hatte er ein neues Zuhause gefunden. Einen Freund, eine Aufgabe und ... sich selbst?

Laut pumpte Andrûs‘ Herz Blut in seine Adern. Er spürte Wärme, die nicht von der Sonne herrührte, und seine Gedanken drifteten zu Elyjas, der recht bald in Ajjadûr einträfe. In einigen Tagen werde auch ich dorthin zurückkehren. Er atmete tief ein. Zurück ...

Leise Gesänge drangen aus den Gassen hervor. Auch in den Straßen Ajjadûrs hatte Andrûs oftmals Frauen singen hören.

Tagris Mor glich in mancher Hinsicht jener Stadt im Osten des Landes. Doch existierten ebenso deutliche Unterschiede. Ajjadûr ähnelte einer Festung, von zweifach hochgezogenen Mauerwällen umringt, in denen zwanzig massive Bollwerke errichtet worden waren. Die Stadt, die sie soeben passierten, war nahezu rundum zugänglich. Im Angriffsfall sähen die Bewohner den Feind erst, wenn dieser bereits die Hügel hinabstürmte. Der Schatten könnte einfach hereinmarschieren, fuhr es Andrûs in den Sinn und ein dunkler Schleier huschte über seine Augen.

Am Ende einer holprigen Gasse überquerten sie einen Hof, in dessen Zentrum drei Bäume standen. Trotz der Jahreszeit trugen sie blassrosa Blüten und winzige orangefarbene Fruchtkugeln. Bald darauf kreuzten sie eine breitere Gasse, die sich nach Westen wand.

E’aven deutete zu einem abseits gelegenen Gebäude inmitten eines hohen Palmenzirkels hinüber. »Olbors Haus. Dort finden wir Unterkunft.«

»Wer ist dieser Olbor?«, wollte Bhreac wissen.

»Jemand, der sieht.«

Aegnon zog die Stirn kraus. »Und was sieht er?«

E’avens Blick blieb auf das Haus gerichtet. »Mehr als andere, Printi«, antwortete sie.

»Vertraut Ihr ihm, Quellfrau?«

»Olbor wahrt das Wissen der Shana. Die Diener des Lichts brauchen ihn nicht zu fürchten, Häuptling.«

Das Haus besaß zwei Stockwerke und eine abgewetzte rostbraune Holztür, an die E’aven nun klopfte.

Es dauerte einen Moment, bis der Türspalt geöffnet wurde. »Wer seid ihr?«, fragte eine dumpfe Stimme aus dem Hintergrund.

»Freunde der alten Weisheit, die Magus Olbors Rat erbitten.«

»Olbor nicht da. Rork ist alleine«, kam es zurück.

»Gestattet Ihr uns, mit Euch im Haus zu warten, bis der Magus zurückkehrt?«, fragte E’aven höflich. »Wir beabsichtigen nichts Böses. Ihr habt mein Wort.«

Die Tür schwenkte weiter auf und offenbarte einen stämmigen Kerl, der sie alle an Höhe überragte. Mit offenem Mund und verdrehtem Blick, als wollten seine Augen in seine Stirn schauen, schien ihr Gegenüber nachzudenken. Schließlich lächelte der Hüne arglos: »Ihr könnt mit Rork gemeinsam warten.«

E’aven dankte ihm und trat mit ihren Gefährten ins Haus. Die kahlen Steinwände wiesen haarfeine Risse auf. Mehrere Türen zweigten vom Korridor zu beiden Seiten ab und im hinteren Teil führte eine Treppe ins Obergeschoss.

Rork fuchtelte mit den Armen. »Kommt. Rork euch alles zeigen.« Er war siebeneinhalb Fuß groß, hatte kurze flachsblonde Haare und ein stoppeliges Kinn. Auf seinen muskelbepackten Oberarmen, die zweimal so dick waren, wie die des Zodh‘rra, glänzte Schweiß.

Schwerfällig hüpfte er von einem Bein aufs andere. »Nehmt Platz. Rork ist guter Gastgeber. Wollt ihr essen?« Er deutete auf einen geflochtenen Korb mit Pfirsichen, Orangen und grünen und roten Trauben.

Ein zweites Mal dankte E’aven ihm, während Aegnon bereits gierig nach den Trauben griff. »Könnt Ihr mir sagen, wann Magus Olbor zurückkehrt?«

Rorks unbedarftes Grinsen verschwand und er stierte fragend in die Luft. »Olbor nicht da. Rork ist alleine.«

Aegnon rollte mit den Augen.

»Aber wann wird der Magus wieder hier sein?«, wiederholte E’aven noch einmal.

»Olbor erst hier, wenn er zurückkommt«, erklärte Rork und Andrûs unterdrückte ein Schmunzeln. »Ich hole Wein für euch. Ihr wartet.« Schon war Rork davon.

Bhreac wandte sich an E‘aven. »So kommen wir nicht weiter. Äußerlich mag er wie ein Mann scheinen. Aber sein Geist ist der eines Kindes.«

»Sein Blut entstammt den Kindern Gebors, wenngleich es schwach durch seine Adern strömt. Er dient den Mestari, die noch in Tagris Mor leben.«

»Also ist dieser Olbor nicht der Einzige, der sieht?«

»Zwei weitere leben in der Stadt.«

Aegnon mampfte gelangweilt einen knackigen Pfirsich. »Uiie-jo geh-n uir dann nich ssu de-en?«, fragte er mit vollgestopftem Mund.

»Ich hoffte, schnelle Kunde von Olbor zu erfahren, da sein Haus am nächsten lag. Doch Magus Rakin ist der Zweitoberste von Gebors Erben nach Atalaya. Gorgas‘ Haus befindet sich im Süden«, erklärte sie. »Nun, uns bleibt keine Zeit, untätig zu warten.«

»Was schlagt Ihr vor, Quellfrau?«

»Das magische Blut ist spürbar für jene, die es kennen, Ihr jedoch würdet nicht auffallen, Häuptling. Hierbei könnt Ihr nicht viel tun. Doch uns bleiben nur drei Monde und wir benötigen Proviant, ehe wir fortziehen. Wenn es Euch recht ist, begebt euch zum Marcadee und kauft Brot, Früchte und Blätter der Sukkul. Ihr Nektar wird unseren Durst löschen, wenn wir nach Osten reisen.«

Der Krieger brummte. »Ich werde gehen.«

»Olbors Haupt ist geschoren und er trägt einen spitzen weißen Bart. Sein Gewand ist von gelber Farbe und er wandelt zumeist barfüßig. Solltet Ihr ihm begegnen, wird es genügen, ihm meine Anwesenheit mitzuteilen«, sagte E’aven, bevor sie sich Andrûs zuwandte. »Du, Printi, wirst Rakins Haus innerhalb der oberen Mauer aufsuchen. Es liegt nahe den westlichen Hügeln. Richte aus, wer dich schickt und welches Wissen wir erbitten.« Zuletzt wies sie Aegnon an: »Du hingegen wendest dich nach Süden. Suche Gorgas‘ Haus südwestlich des Brunnenplatzes und teile dem Magus die gleichen Worte mit. Bezeugt eure Nachricht mit dem Siegel der Lichtwahrer, das eure Hände ziert. Sollten die Mestari etwas über Atalayas Verbleib wissen, werden sie es euch verraten. Ich werde hier warten, falls Olbor in der Zwischenzeit zurückkehrt.«

Rork polterte mit einem beladenen Silbertablett in den Raum. Der Krug und sechs Kelche schunkelten gefährlich, ehe sich ein Teil des rosafarbenen Weins beim Abstellen über den Tisch ergoss.

»Oooh ...«

»Es ist nicht tragisch«, beschwichtigte E‘aven. »Meine Begleiter müssen sich ohnehin in der Stadt umschauen.«

»Alle wieder gehen?«

»Ich werde hier mit Euch warten.«

Rork lachte unbedarft. »Jaaa. Feuermädchen bleiben ... Feuerjunge geht und kommt wieder.«

Andrûs hörte den Hünen, als er zur Tür hinaustrat. Feuerjunge. Seine linke Augenbraue zuckte und er fuhr sich mit den Fingern durch den rötlichen Schopf. Abermals schmunzelte er.

Draußen folgten Bhreac, Andrûs, Aegnon und Nilremh dem Weg zurück, den sie gekommen waren, bis sie erneut den Hof mit den drei Bäumen passierten. Dort zweigten sie nach Süden, wo eine steinerne Treppe hinunter zum Hauptplatz, dem Marcadee, führte. Hohe Sandsteingebäude begrenzten diesen im Norden und Osten; kleinere gelbe Lehmbauten reihten sich ans südliche Ende. Der Platz war voll belebt. Händler hockten inmitten der Massen auf dem Boden, bunte Tücher und Körbe mit allerhand Waren lagen vor ihnen ausgebreitet; feinste rote Seide, nachtblaue Perlen und Silberschmuck. Andere hatten Holzstände aufgebaut, auf deren Theken Zitronen, Orangen, Nüsse, Datteln, Feigen und Oliven auslagen.

Bhreacs Augen schweiften wachsam durch die Menschenmenge. »Tun wir, wozu wir hergekommen sind.«

Aegnon und Nilremh liefen an Karren mit Mangos, Papayas und Melonen oder frisch gebackenen Brotlaiben vorbei, ehe das südliche Gassenlabyrinth sie verschluckte. Andrûs hingegen kreuzte den Platz in westlicher Richtung, geradewegs auf eine Reihe hoher Dattelpalmen zu, hinter denen sich die rötliche Ziegelmauer der Qytet i Pem, der Erhöhten Stadt, erhob.

Obwohl Andrûs in Tâlameth geboren und aufgewachsen war, lag seine Herkunft deutlich erkennbar in den nördlichen Landen. Seine Haut war die starke Sonne des Südens gewohnt und hatte im Gegensatz zu Aegnon seit ihrer Ankunft an der Küste rasch Bräune angenommen. Dennoch kennzeichnete ihn sein rotbraunes Haar.

Feuerjunge, hallte Rorks Stimme in seinem Kopf nach und ein seltsames Gefühl beschlich ihn.

Händler bedrängten ihn von allen Seiten und hielten ihm bunte Stoffe, Korallenfundstücke oder Holzschnitzereien vor die Brust. »Dua blej? Dua blej?«,

»Nuk blej.« Andrûs wollte nicht kaufen.

Säcke mit vielerlei Gewürzen dufteten betörend, nach Curry, Knoblauch, Zimt, Anis, Kümmel oder Zwiebeln. Daneben lagen Säcke mit Hirse, Weizen, Gerste und Mais aufgereiht vor Schalen mit Rosinen, Mandeln und Trockenfrüchten.

Andrûs lief an einer Gruppe verschleierter Tänzerinnen vorbei, die von singenden Trommlern begleitet ihre Hüften kreisten. Scherben klirrten, als ein Mann einen Tonkrug vom Wagen stieß und eine ältere Frau fuchtelte aufgebracht mit ihren Händen und schimpfte lautstark.

Es dauerte, sich durch das Gedrängel zu schieben, doch Andrûs hatte das Ende des Platzes fast erreicht, als seine Augen an einem der Randstände etwas entdeckten.

»Ju pelqe, Djale? Dua blej?«, bestürmte der schnauzbärtige Händler ihn, ob ihm gefalle, was er sehe und er es kaufen wolle. »Try Argjen.«

Wie er es von den Basaren in Ajjadûr kannte, überstieg der Preis von drei Silbermünzen deutlich den Wert der Ware. »Nje Argjen, dy Bakrit«, handelte er auf einen Silber- und zwei Kupfertaler herab.

Der Mann betrachtete ihn missmutig, willigte aber ein. Er hielt Andrûs ein winziges, an der Kante rissiges Plättchen entgegen.

Andrûs lehnte ab und verlangte stattdessen, das Stück selbst zu wählen. Er zeigte auf einen ovalen Schmuckstein, dessen azurblauer Rand zur Mitte hin in sattes Blattgrün überging, gekrönt von einem hauchdünnen gelblichen Streif. Das untere Drittel schimmerte rotbraun, durchbrochen von winzigen opalblauen Pigmenten. ››Kete kjo‹‹, wählte Andrûs und fischte die vereinbarten Münzen aus der Tasche seines Umhangs.

»Edhe«, stimmte der Händler verdrießlich zu und händigte Andrûs murrend seinen außergewöhnlichsten Stein aus.

Behutsam strich Andrûs mit dem Daumen über die glänzende Oberfläche. Das Braun war die schöpfende Erde, die die Kraft des Wassers enthielt, sinnierte er. Nach oben wandelte es sich grün, wie ein Baum, der im Licht wächst. Das Sinnbild der Tallocs und auch der Qa’nai. E’aven. Sein Daumen glitt über den blauen Rand. Der allumschließende Himmel. Er bedankte sich und ließ den Stein in die Tasche gleiten. Dann ermahnte er sich selbst, zügig seiner Aufgabe nachzugehen.

Als er das Tor in der rötlichen Ziegelmauer passierte und die Erhöhte Stadt betrat, beschlich ihn abermals ein eigenartiges Kribbeln und er schloss einen Moment lang die Augen.

Die Gebäude in der Qytet i Pem standen weiträumiger verteilt und waren aus Ziegeln und rötlichem Sandstein errichtet worden. Trotz schmückender Verzierungen wirkten sie bescheiden. Auch den Straßen schien ein System zugrunde zu liegen; sooft Andrûs auch abbog, sie führten ihn jedes Mal auf das dreieckige Gebäude mit der goldenen Kuppel zu, das seine Gefährten und er schon bei ihrer Ankunft in Tagris Mor erspäht hatten. Als er sich schließlich der breiten Säulenfront näherte, verharrte er bei deren Anblick.

Acht Steinsäulen waren erkennbar, wenngleich jede einzelne im oberen Teil gebrochen war. Dahinter mussten früher Stufen ins Innere geführt haben. Schutt und geschwärztes Geröll erweckten den Eindruck, als habe sich einst an diesem Ort eine gigantische Explosion ereignet. Flüchtig wie ein Wimpernschlag, klang deren erschütternder Knall in Andrûs‘ Ohren.

Er umrundete das Gebäude in südwestlicher Richtung, wobei er zahlreiche Risse in der Fassade entdeckte. Auch die Kuppel war auf dieser Seite beschädigt. Das strahlende Gold war finsterem Schwarz gewichen; ein boshafter Schleier, der die fein gemeißelten Linien unterhalb der Zinnen nur schwach erkennen ließ: ein geöffnetes Auge.

Jemand, der sieht. So hatte E’aven die Frage nach Mestar Olbor beantwortet. Mestar Rakin und Mestar Gorgas sahen ebenfalls. Gebors Nachfahren, die Alte Sippe ... dies war ihr Tempel, mutmaßte Andrûs. Doch irgendwann hatte ihn offenbar jemand angegriffen.

Andrûs‘ Schläfen pochten, sein Herzschlag beschleunigte und das heftige Ziehen in der Magengegend verriet ihm nichts Gutes. Eilig lief er die Straße entlang und verlangsamte erst, als er vor dem letzten Haus ankam, das unmittelbar an das schroffe rote Gestein grenzte. Dort stieß er den Atem aus.

Mestar Rakins Haus. Irgendwann einmal.

Er betrachtete die zerbröckelte Steinmauer und das zerborstene hölzerne Türblatt.

An diesem Ort wohnte niemand mehr.

GEBORS VERMÄCHTNIS