Sybil kennt die Wahrheit - Patricia Vandenberg - E-Book

Sybil kennt die Wahrheit E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Nun gibt es eine Sonderausgabe – Dr. Norden Aktuell Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Auf sie kann er sich immer verlassen, wenn es darum geht zu helfen. Sybil Rodian begann zu zittern, als sie die zornige Stimme ihrer Tante vernahm. Ihr Kopf schmerzte, ihre Augen tränten, sie konnte kaum noch schlucken, doch darauf nahm man im Hause Rodian keine Rücksicht. Man war bei den Trojers eingeladen, und aus einem Sybil unerfindlichen Grund sollte sie da unbedingt mitgehen. »Kommt du jetzt endlich, Sybil?« rief Valerie Rodian mit schriller Stimme. Sybil nahm allen Mut zusammen. Sie verließ ihr Zimmer und stieg langsam die Treppe hinab, auf unsicheren Füßen und gewaltsam gegen die Schwäche ankämpfend. »Mir ist nicht gut, Tante Valerie«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. »Ich glaube, ich habe Fieber.« »Das hat uns gerade noch gefehlt!« stöhnte Valerie. Rolf Rodian, ein blasser junger Mann, betrachtete seine Kusine mitleidig. »Sie sieht wirklich schrecklich aus, Mama«, sagte er. Er wollte noch etwas sagen, aber ein flammender Blick seiner Mutter brachte ihn zum Schweigen. Man merkte, wer zu bestimmen hatte im Hause Rodian. August Rodian, der Hausherr, brummte nur etwas in seinen Bart. »Vermissen wird man sie ja nicht«, sagte Lilo, die mal wieder ein traumhaft schönes Kleid für diese Party bekommen hatte.

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Dr. Norden Aktuell – 54 –

Sybil kennt die Wahrheit

Patricia Vandenberg

Sybil Rodian begann zu zittern, als sie die zornige Stimme ihrer Tante vernahm. Ihr Kopf schmerzte, ihre Augen tränten, sie konnte kaum noch schlucken, doch darauf nahm man im Hause Rodian keine Rücksicht. Man war bei den Trojers eingeladen, und aus einem Sybil unerfindlichen Grund sollte sie da unbedingt mitgehen.

»Kommt du jetzt endlich, Sybil?« rief Valerie Rodian mit schriller Stimme.

Sybil nahm allen Mut zusammen. Sie verließ ihr Zimmer und stieg langsam die Treppe hinab, auf unsicheren Füßen und gewaltsam gegen die Schwäche ankämpfend.

»Mir ist nicht gut, Tante Valerie«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. »Ich glaube, ich habe Fieber.«

»Das hat uns gerade noch gefehlt!« stöhnte Valerie.

Rolf Rodian, ein blasser junger Mann, betrachtete seine Kusine mitleidig. »Sie sieht wirklich schrecklich aus, Mama«, sagte er. Er wollte noch etwas sagen, aber ein flammender Blick seiner Mutter brachte ihn zum Schweigen. Man merkte, wer zu bestimmen hatte im Hause Rodian. August Rodian, der Hausherr, brummte nur etwas in seinen Bart.

»Vermissen wird man sie ja nicht«, sagte Lilo, die mal wieder ein traumhaft schönes Kleid für diese Party bekommen hatte. Sie war zwanzig, aber nicht mädchenhaft. Allerdings konnte man nicht leugnen, daß sie sehr attraktiv war. Die achtzehnjährige Sybil wirkte neben ihr wie eine kleine graue Maus, und das war auch so, wenn sie nicht von einer Grippe wie dieser geplagt wurde.

»Morgen gehst du zum Arzt«, sagte August Rodian. »Leg dich jetzt hin, Sybil.« Dabei warf er seiner Frau einen warnenden Blick zu.

Sybil atmete auf, als sich dann die Tür hinter der Familie schloß, zu der sie eigentlich gehörte, der sie sich aber nicht zugehörig fühlte. Vor drei Jahren waren ihre Eltern bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Nur dieses eine Mal hatte Alfred Rodian seine Frau auf eine Geschäftsreise mitgenommen, weil Sybil die Ferien im Schüleraustausch in England verbrachte. Ein grausames Schicksal hatte es gewollt, daß Sybil so beide verlor. Ganz besonders schmerzlich vermißte sie noch immer ihre geliebte Mutter. Aus dem frischen, lebensfrohen Mädchen war ein Schattengewächs geworden. Freilich trug dazu auch bei, daß man ihr in diesem Hause weder Liebe noch Verständnis entgegenbrachte. Der einzige, der halbwegs nett zu ihr war, war Rolf, aber der hatte überhaupt nichts zu sagen. Er hatte die Erwartungen seiner ehrgeizigen Eltern schon in der Schulzeit nicht erfüllt;?das hatte ihn noch gehemmter gemacht, und da er Tag für Tag zu hören bekam, was sein Vater leiste und wie weit er es gebracht hätte, konnte er sich überhaupt nicht entfalten.

Für Sybil war es bitter, wenn sie die Lobeshymnen vernahm, die August Rodian auf sich anstimmte, denn sie wußte sehr gut, daß ihr Vater derjenige gewesen war, der das Tiefbauunternehmen international bekannt gemacht hatte. Es war ein kleines Familienunternehmen gewesen, als der Vater der Brüder Rodian starb, und August war viel zu schwerfällig gewesen, um dem jüngeren Bruder Alfred an Weitblick und intelligenter Wachsamkeit folgen zu können. Alfred war ein cleverer Geschäftsmann gewesen, in mancher Beziehung genauso rücksichtslos wie sein Bruder August, aber eben erfolgreich mit seiner Initiative. Man konnte nicht sagen, daß er ein nachsichtiger Vater gewesen wäre, aber seine Frau Helen hatte er abgöttisch geliebt.

Wenn Sybil an ihre Kindheit zurückdachte, kamen ihr immer die Tränen, doch an diesem Abend fühlte sie sich so elend, daß sie nicht mal weinen konnte.

Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, und panische Angst erfüllte sie, als sie dann auch noch seltsame Geräusche zu vernehmen glaubte.

Völlig benommen griff sie zum Telefon und rief Dr. Norden an.

Fee Norden nahm den Hörer ab. Sie lauschte, denn sie konnte kaum verstehen, was diese heisere Stimme sagte.

»Natürlich kommt mein Mann, Sybil«, sagte sie dann beruhigend. Und zu Daniel sagte sie: »Die kleine Rodian, sie kann kaum sprechen, und sie ist allein. Ich weiß nicht, Daniel, ich habe da ein ungutes Gefühl. Man scheint nicht besonders nett mit ihr umzuspringen.«

Dr. Daniel Norden griff schon nach seinem Arztkoffer.

»Vielleicht ist es ganz gut, wenn ich mal allein mit ihr sprechen kann«, sagte er rasch. »Sonst steht ja immer die strenge Tante daneben.«

Sybil war öfter krank, aber ins Haus gerufen wurde Dr. Norden nur, wenn eine ansteckende Krankheit gefürchtet wurde. Bei Lilo war es anders. Da genügte die kleinste Unpäßlichkeit, daß man ihn dringendst herbeizitierte.

Jetzt stand Sybil am Fenster und wartete auf Dr. Norden. Doch da läutete das Telefon.

Die Tante will sich überzeugen, ob ich auch wirklich daheim bin, schoß es Sybil durch den Sinn. Und das war ein Grund, sich zu melden. Aber es war eine Männerstimme, die nur »Hallo« sagte. Sybil kannte diese Stimme. Ihr Herz begann rasend zu klopfen.

»Ich konnte nicht kommen, Xander«, flüsterte sie. »Ich bin krank. Gleich kommt der Arzt. Nein ich bin allein, sie sind zur Party. Ich warte auf den Arzt. Jetzt kommt er schon.«

»Ich muß dir etwas sagen, Billi, es ist sehr dringend, sonst hätte ich nicht angerufen.«

»Ruf später noch mal an. Sie kommen nicht so schnell zurück. Entschuldige, ich muß öffnen.«

Sie legte den Hörer auf. Der Anruf hatte sie noch mehr erregt. Sie taumelte Dr. Norden in die Arme. Er spürte, daß sie hohes Fieber hatte. Er hob die federleichte Gestalt empor und brachte sie zu ihrem Zimmer, das er bereits kannte.

Er stellte fest, daß es eine hochfieberhafte Grippe war, verbunden mit einer gefährlichen Mandelentzündung. Es war fast nicht zu verantworten, das Mädchen allein zu lassen.

»Ich bringe Sie in die Klinik, Sybil«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, brachte sie mühsam über die Lippen, denn jetzt dachte sie daran, daß er noch einmal anrufen wollte. Er, der einzige Mensch, dem sie vertraute, Alexander Lucas.

»Wo sind die andern?« fragte Dr. Norden, während er Sybil eine Penicillinspritze gab.

»Bei den Trojers«, murmelte sie. Dann schlief sie ein.

Dr. Norden suchte aus dem Telefonbuch die Nummer der Trojers. Der Name war ihm bekannt. Trojer war Finanzberater. Dr. Norden ging es durch den Sinn, daß der sich des Rufes eines Halsabschneiders erfreute, oder besser gesagt, nicht erfreute.

Während er noch suchte, läutete das Telefon, und rein mechanisch nahm er es ab. Er war fast erschrocken, als die Stimme seiner Frau an sein Ohr tönte.

»Gut, daß ich dich noch erreiche, Daniel. Dr. Ambach hat einen schweren Herzanfall. Es eilt.«

»Und hier liegt ein schwerkrankes Mädchen. Ich muß jemand von der Familie herbeizitieren.«

»Das kann ich doch tun. Wo stecken sie?«

»Bei den Trojers«, erwiderte er.

»Gut, ich rufe dort an. Bitte, fahr du schon zu Ambach.«

Das war mal wieder eine Situation, wo er an zwei Stellen zugleich sein mußte. Aber Dr. Norden nahm doch an, daß die Rodians auf Fees Anruf sofort heimkehren würden.

Sybil schlief jetzt. Im Augenblick konnte er gar nicht mehr für sie tun. Es war selbstverständlich für ihn, daß er später nochmals hierherkommen würde, wenn er Dr. Ambach versorgt hatte, der schon lange sein Patient war, gerade erst fünfzig Jahre, aber an Herzkranzgefäßverengungen leidend. Die Rodians würden sicher Verständnis dafür haben, daß er sich dieses Patienten annahm, denn Dr. Norden wußte, daß Dr. Ambach der Anwalt der Familie Rodian war.

Dr. Rodian zog die Haustür hinter sich ins Schloß und überzeugte sich, daß die auch fest geschlossen war. Er bestieg seinen Wagen und fuhr davon.

Wenige Minuten später hielt an der nächsten Seitenstraße ein kleiner Wagen, dem ein Mann entstieg. Er ging zu dem Hause der Rodians, einer Villa aus der Gründerzeit, die von hohen, schon rostigen Eisengittern umgeben war. Er läutete mehrmals, als aber nicht geöffnet wurde, kletterte er über das Gitter. Er versuchte es, aber seine Hose verfing sich in den recht scharfen Spitzen der Gitterstäbe, und bei dem Versuch sich zu befreien, verspürte er einen stechenden Schmerz und stürzte kopfüber in den Garten. Nur ein Stöhnen kam noch über seine Lippen, der Name »Sybil«.

Doch Sybil konnte ihn nicht hören. Die Spritze und ihr noch immer hohes Fieber hatten sie betäubt.

*

Fee Norden rief bei den Trojers an. Dort ging es laut zu. Sie mußte in das Telefon schreien, um sich verständlich zu machen, aber schließlich wurde Valerie Rodian ans Telefon geholt.

Fee versuchte, ihr zu erklären, worum es ging. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es plötzlich so schlimm sein soll«, sagte Valerie. »Es ist doch nur eine Erkältung. Na gut, ich werde nach Sybil sehen.«

Fee legte erbost den Hörer auf, als nichts mehr kam. Valerie Rodian ging zur Gesellschaft zurück.

»Was ist denn los?« fragte ihr Mann.

»Dieser Dr. Norden ist mal wieder übermäßig besorgt«, sagte sie spitz. »Sybil hat ihn gerufen, und nun rief seine Frau an, weil er noch zu Ambach mußte, dringend. Ambach wird es nicht mehr lange machen, denke ich, aber das kann uns ja nur willkommen sein. Mit Cremers kommen wir bestimmt besser klar. Ich werde gleich mal Lilo Bescheid sagen, daß sie ein bißchen netter zu ihm sein soll. Gut, daß er heute abend auch da ist.«

August Rodian starrte seine Frau mit einem Ausdruck an, in dem sich Bewunderung und Angst mischten. »Du denkst an alles, Valerie. Aber jetzt sollte wenigstens einer von uns heimfahren.«

»So schlimm wird es nun auch wieder nicht sein, aber Rolf kann ja nachschauen. Er benimmt sich sowieso wieder mal unmöglich. Anstatt sich mit Karin Trojer zu befassen, steht er nur herum. Ich weiß nicht, womit wir diesen Sohn verdient haben.«

Aus solchen Worten sprach nun gewiß kein mütterliches Verständnis, aber August Rodian verübelte ihr das nicht, denn er hatte an seinem Sohn genug auszusetzen. Er setzte alle Hoffnungen auf seine Tochter Lilo, die zwar auch nicht mit großen Geistesgaben ausgestattet war, aber ihre Chancen zu wahren wußte. Jedenfalls brauchte sie nicht eindringlich ermahnt zu werden, sich um Boris Cremer zu kümmern, den Dr. Ambach als Sozius in seine Kanzlei aufgenommen hatte.

Rolf schien geradezu erleichtert zu sein, als seine Mutter ihm sagte, daß er heimfahren und sich um Sybil kümmern solle.

»Geht es ihr so schlecht?« frage er nur bebend.

»Sie stellt sich ja immer so an, aber Dr. Norden soll nicht denken, daß wir gleichgültige Pflegeeltern sind«, erwiderte Valerie, »und zum Samariter eignest dich ja.« Ein spöttisches Lächeln kräuselte ihre Lippen. Viel hatte sie für ihren Sohn wirklich nicht übrig, so blaß und unscheinbar wie er war. »Nimm ein Taxi«, herrschte sie ihn an, als er so unentschlossen vor ihr stand. »Meine Güte, muß man dir alles sagen?«

Rolf schlich davon. Valerie kehrte zu ihrem Mann zurück. Lilo tanzte mit Boris Cremer inzwischen schon Wange an Wange, und die, die davon Kenntnis nahmen, begannen zu tuscheln.

*

Dr. Norden bemühte sich um Dr. Ambach, dessen Frau mit angstverzerrtem Gesicht diese Bemühungen verfolgte.

»Wir müssen Ihren Mann in die Klinik bringen, Frau Ambach«, sagte Dr. Norden. Er sagte ihr eine Nummer. »Rufen Sie bitte an«, drängte er, »ich muß jetzt bei Ihrem Mann bleiben.«

»Ruf du an, Reni«, sagte Frau Ambach leise zu ihrer Tochter.

Renate Ambach, ein niedliches schlankes Mädchen, auch gerade erst achtzehn wie Sybil Rodian, ging sofort zum Telefon.

»Hatte Ihr Mann heute Aufregungen?« fragte Dr. Norden indessen Frau Ambach.

»Ich weiß nicht. Er redet mit mir ja kaum über den Beruf. Natürlich gibt es da manchen Ärger. Aber er hat sich immer an Ihre Vorschriften gehalten und die Medikamente genommen, die Sie ihm verschrieben haben.«

»Ich hatte ihm zu einer Kur geraten«, sagte Dr. Norden.

»Er wollte sie auch machen, aber Cremer ist doch noch nicht so eingearbeitet. Mein Mann ist so gewissenhaft, das wissen Sie doch.«

»Seiner Gesundheit kommt das nicht zugute«, sagte Dr. Norden ruhig.

»Vielleicht hat er sich aufgeregt, weil Reni sich mit Cremer gestritten hat. Sie ist so impulsiv. Aber so sind die jungen Mädchen heutzutage. Aber ich will Reni keinen Vorwurf machen.«

Reni kam heraus. »Der Krankenwagen kommt gleich«, flüsterte sie. »Sorgen Sie dafür, daß Papa diesmal Ruhe gibt, Herr Dr. Norden.«

Hoffentlich nicht für immer, dachte Dr. Norden, denn Dr. Ambachs Zustand war sehr bedenklich. Und wieder einmal mußte er seinem Freund und Kollegen Dr. Dieter Behnisch einen schwierigen Fall in die Klinik bringen.

Er dachte jetzt an Sybil Rodian, deren Zustand man durchaus auch als kritisch bezeichnen könne. Er führte ein kurzes Telefonat mit Dr. Behnisch.

»Ich muß schnell noch mal bei den Rodians vorbeifahren, dann komme ich«, sagte er.

Reni hörte seine Worte. »Wer ist denn bei denen krank?« fragte sie.

»Sybil«, erwiderte er.

Ihr hübsches Gesicht bekam einen nachdenklichen Ausdruck.

»Ihretwegen werden sie geholt?« fragte sie. »Sie ist doch nur das Aschenputtel.«

»Sie ist sehr krank«, sagte Dr. Norden, der solche Worte in die falsche Kehle bekam.

Reni sah ihn mit einem eigenartigen Ausdruck an. »Ich habe nichts gegen Sybil«, sagte sie. »Ein leichtes Husten von Lilo wird mehr beachtet, als wenn Sybil Tbc hätte. So sieht sie ja aus. Hat sie Tbc?«

»Nein«, erwiderte Dr. Norden. »Sie hat eine schwere Grippe.«

»Und die Familie tanzt bei den Trojers. Da sollten wir auch tanzen, aber Papa klappte zusammen.«

»Tut es Ihnen leid?« fragte Dr. Norden, der nicht recht wußte, was er mit solcher Aussage anfangen sollte.

»Keineswegs«, erwiderte Reni aggressiv. »Von diesem Gesindel läßt sich Papa tyrannisieren, und das verstehe ich nicht.«

Das klang hart, sehr hart. Dr. Norden sah die niedliche Reni plötzlich mit anderen Augen. »Darüber könnten wir uns ein andermal unterhalten, Fräulein Ambach«, sagte er. »Ich muß jetzt schnellstens zu Fräulein Rodian und dann in die Behnisch-Klinik.«

»Kümmern Sie sich um meinen Vater«, sagte Reni. »Wenn er nicht durchkommt, schafft es Mutti auch nicht mehr, und dann bin ich genauso übel dran wie Sybil.«

Merkwürdige Worte. Dr. Norden erinnerte sich später wieder daran, und sie gaben ihm zu denken. Aber nun hatte er an anderes zu denken.

Es war nur ein kleiner Umweg zu den Rodians, wenn er dann weiter zur Behnisch-Klinik fahren wollte. Flüchtig dachte er an seine Frau, die sicher auf ihn wartete, aber er wußte, daß Fee für alles Verständnis hatte.

Als er vor der Villa Rodian hielt, vernahm er schon wirre Worte.

»Mein Gott, mein Gott, was ist denn? Was ist mit Ihnen passiert? So sagen Sie doch was!«

Die Gartentür stand offen. Dr. Norden sah Rolf Rodian, der sich über eine leblose Gestalt am Boden beugte.

»Herr Rodian!« rief er. Rolf schaute ihn mit abwesendem Blick an. »Ich habe den Mann gefunden«, stotterte er. »Er rührt sich nicht.«

Dr. Norden kniete bei dem Bewußtlosen nieder und fühlte seinen Puls, und er wußte, daß er wieder ein neues Problem hatte.

»Und was ist mit Sybil?« fragte er.

»Ich weiß es nicht. Mutter hat mich hergeschickt. Ich sollte nach Sybil sehen. Ihre Frau hatte bei den Trojers angerufen. Ich bin gleich hergefahren, und dann fand ich den Mann. Er muß über das Gitter gestiegen sein.«

Monoton plapperte Rolf alles herunter. Er schien völlig verwirrt.

»Der Mann ist schwerverletzt«, sagte Dr. Norden. »Eine Gehirnerschütterung. Na, das ist wieder eine Nacht«, stöhnte er, »aber rufen Sie die Ambulanz. Ich muß ja auch noch nach Ihrer Kusine sehen.« Er blickte auf. »Kennen Sie den Mann?«

Rolf schüttelte verneinend den Kopf, dann wankte er zur Haustür und es dauerte Sekunden, bis er sie aufgeschlossen hatte.

*

Eine Viertelstunde später wurde in der Behnisch-Klinik ein zweiter Patient eingeliefert, der von Dr. Daniel Norden eingewiesen war.

»Daniel ist heute wieder mal sehr aktiv«, sagte Dr. Dieter Behnisch zu seiner Frau Jenny.

»Drei Wochen hatten wir Ruhe vor ihm«, sagte sie mit einem flachen Lächeln, »aber ein Unglück kommt ja nie allein. Meckere nicht, Dieter, er hat auch eine schlaflose Nacht.«

»Ich meckere ja nicht«, erwiderte der Chefarzt der Behnisch-Klinik. »Ich kann in der Klinik wenigstens alles überblicken, Daniel wird hin und her gejagt.«

Dr. Norden fühlte in diesem Augenblick Sybils Puls. Das Fieber schien etwas gesunken zu sein. Er wollte das noch kontrollieren, aber ein bißchen mußte er sich doch verschnaufen, und Rolf Rodian war ihm keine große Stütze. Kreidebleich und zitternd lehnte er an der Wand, und auch er schien ärztliche Hilfe zu brauchen. Dicke Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

»Wie geht es Sybil?« fragte er stockend.

»Anscheinend etwas besser. Kommen Ihre Eltern?«

»Ich glaube es nicht. Sie nehmen das nicht so tragisch«, stieß der junge Mann zwischen den Zähnen hervor.

»Benachrichtigen Sie Ihre Eltern, daß Sie einen schwerverletzten Mann gefunden haben.«

»Können Sie das nicht tun, Herr Doktor? Mir glauben sie doch gar nicht«, murmelte Rolf.

Was ist das bloß für eine Familie, dachte Dr. Norden. Ihm tat Rolf leid, denn er sah ganz erbarmungswürdig aus.

»Wie ein Einbrecher sieht er doch nicht aus«, stotterte Rolf, »aber Mutter wird wieder mal ein irrsinniges Geschrei erheben. Vielleicht ist es bloß einer von Lilos zahlreichen Freunden, der Pech beim Einsteigen gehabt hat. Mir ist es wichtiger, daß Sybil gesund wird.«

Diese Einstellung konnte man ihm nicht übelnehmen. Es war ein menschlicher Zug, aber Dr. Norden wußte

ohnehin, daß Rolf Rodian der wohl menschlichste dieser Familie war, abgesehen von Sybil. Er mochte ein verklemmter junger Mann sein ohne große Intelligenz, aber er hatte doch Gefühl, was Dr. Norden bei seinen Eltern und seiner Schwester noch nicht hatte feststellen können.

»Sybil wird schon wieder gesund werden«, sagte er. »Ich habe ihr vorhin Penicillin verabreicht, und darauf spricht sie gut an. Dann wurde ich zu Dr. Ambach gerufen und mußte ihn in die Klinik bringen lassen.

»Ambach ist Vaters Anwalt«, stotterte Rolf, »was fehlt ihm denn?«

»Ein Herzanfall. Es drängt sich leider mal wieder alles zusammen, aber ich halte es im Augenblick doch für besser, daß Sie Ihre Eltern benachrichtigen, Herr Rodian. Ich muß in die Klinik, und wenn niemand diesen jungen Mann kennt, muß auch die Polizei benachrichtigt werden.«

»Um Himmels willen, dann dreht meine Mutter durch.«

»Aber es könnte doch ein verhinderter Einbrecher sein«, sagte Dr. Norden.

»Wir wollen lieber erst Lilo fragen, ob sie ihn nicht kennt«, sagte Rolf leise. »Meine Schwester hat viele Freunde.«

*

Nun wurden die Rodians doch noch von der Party weggeholt. Lilo murrte. Sie amüsierte sich gerade mit Boris Cremer.

»Erst so, dann so«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Wie macht man es euch recht?«

»Jemand hat versucht, bei uns einzubrechen«, erklärte Valerie.

»Wir sind doch versichert«, widersprach Lilo.

»Aber Rolf ist dem nicht gewachsen, und Sybil ist krank.«

»Schiebt sie doch endlich ab, warum füttert ihr sie eigentlich durch? Sie ist doch zu nichts nütze.«