The American Roommate Experiment – Die große Liebe findet Platz in der kleinsten Wohnung - Elena Armas - E-Book
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The American Roommate Experiment – Die große Liebe findet Platz in der kleinsten Wohnung E-Book

Elena Armas

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Beschreibung

Der heiß ersehnte Nachfolger von »Spanish Love Deception« von TikTok-Erfolgsautorin Elena Armas!

Die junge Autorin Rosie hat gleich mehrere Probleme: Die Muse will sie nicht küssen und sie leidet unter einer Schreibblockade. Zu allem Überfluss fällt ihr in ihrem Apartment die Decke auf den Kopf. Wortwörtlich!

Zum Glück hat sie den Ersatzschlüssel zum Loft ihrer besten Freundin Lina, die gerade auf Reisen ist. Doch was Lina vergessen hat zu erwähnen: Ihr Cousin Lucas wohnt auch gerade bei ihr. DER Lucas, für den Rosie schon lange heimlich schwärmt und der in jeder Hinsicht zu gut ist, um wahr zu sein.

Er bietet Rosie nicht nur an, die Wohnung mit ihm zu teilen, sondern schlägt ihr auch ein gewagtes Experiment vor: Um ihre schriftstellerische Inspiration wach zu kitzeln, soll sie eine Reihe von außergewöhnlichen Dates erleben. Rosie hat nichts zu verlieren, oder?

 

Begeisterte Stimmen zu ›The American Roommate Experiment‹:

»Die Lektüre von ›The American Roommate Experiment‹ gehörte zu den schönsten Stunden meines Lebens!« Ali Hazelwood

»Armas‘ bezaubernder Nachfolger der Booktok-Sensation ›Spanish Love Deception‹ wird Fans begeistern, auch wenn er für sich allein steht! Armas versteht es, die Gefühle ihrer Figuren zu zeigen und die romantische Spannung zum Motor der Handlung zu machen. Einfach großartig.« Publishers Weekly

»Ein wahrer Spaß von Anfang bis Ende!« Christina Lauren

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((bei fremdsprachigem Autor))

Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Mrugalla

© Elena Armas 2022

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The American Roommate Experiment«, 2022 erschienen bei Atria Paperback, einem Imprint von Simon & Schuster, Inc., New York.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Sandra Dijkstra Literary Agency. All rights reserved.

© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Simon & Schuster

Coverillustration: Marcela Herrera

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

1

Rosie

2

Rosie

3

Rosie

4

Lucas

5

Rosie

6

Lucas

7

Rosie

8

Lucas

9

Rosie

10

Rosie

11

Rosie

12

Lucas

13

Rosie

14

Rosie

15

Lucas

16

Rosie

17

Rosie

18

Lucas

19

Rosie

20

Lucas

21

Rosie

22

Rosie

23

Rosie

24

Rosie

25

Lucas

26

Lucas

27

Rosie

28

Rosie

29

Lucas

30

Rosie

31

Lucas

32

Rosie

Epilog

Lucas

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Gewidmet all denen, die auf die Liebe warten:

Seid geduldig.

Liebe ist die totale Drama Queen, sie wartet nur auf ihren großen Auftritt.

1

Rosie

Jemand versuchte, in meine Wohnung einzubrechen.

Okay, eigentlich war es nicht meine Wohnung, sondern eher die Wohnung, in der ich mich zurzeit aufhielt. Das änderte nichts an den Fakten. Denn eins hatte mich das Leben in zwei fragwürdigen Vierteln New Yorks gelehrt: Jemand, der nicht anklopfte, hatte kein Interesse daran, hereingebeten zu werden.

Beweis Nummer eins: das anhaltende Rütteln an der – glücklicherweise abgesperrten – Eingangstür.

Das Geräusch hörte auf, was mir erlaubte, die Luft entweichen zu lassen, die ich angehalten hatte.

Den Blick starr auf das Schloss gerichtet, wartete ich ab.

Nun gut. Vielleicht lag ich falsch. Vielleicht hatte sich ein Nachbar in der Tür geirrt. Oder vielleicht würde, wer auch immer dort draußen stand, irgendwann klopfen und …

Etwas, das klang, als würde sich jemand mit der Schulter gegen die Tür werfen, ließ mich hochschrecken und nach hinten zurückweichen. Nein.

Kein Klopfen. Vermutlich auch kein Nachbar.

Ich atmete so flach, dass der Sauerstoff es kaum noch zu seinem Ziel schaffte. Aber verdammt, ich konnte meiner Lunge echt keinen Vorwurf machen. Nicht mal meinem Gehirn konnte ich einen Vorwurf daraus machen, dass es nach einem Tag, wie ich ihn hinter mir hatte, grundlegende Funktionen wie Atmen nicht mehr auf die Reihe bekam.

Vor zwei Stunden war das, was die letzten fünf Jahre meine gemütliche Wohnung gewesen war, über mir zusammengebrochen. Und wir reden hier nicht von einem Riss in der Decke und etwas herabfallendem Putz.

Ein Teil meiner Decke sackte ein und fiel in sich zusammen. Fiel in sich zusammen. Direkt vor meinen Augen. Fast auf mich drauf. Hinterließ ein Loch, das groß genug war, um mir einen uneingeschränkten Blick auf die Genitalien meines Nachbarn von oben, Mr Brown, zu gewähren, während er auf mich herunterstarrte. Und erlaubte mir, etwas zu erfahren, das ich nie hätte wissen müssen oder wollen: Mein etwa vierzigjähriger Nachbar trug nichts unter seinem Morgenmantel. Nicht das Geringste.

Ein Anblick, der ähnlich traumatisierend war, wie beinahe auf dem Weg zur Couch von einem Zementbrocken erschlagen zu werden.

Und jetzt dies. Der Einbruch. Nachdem ich mich so weit erholt hatte, dass ich meine Sachen zusammensuchen konnte – unter Mr Browns wachsamem Blick und seinen noch immer frei hängenden … Teilen – und es an den einzigen Ort geschafft hatte, der mir unter den gegebenen Umständen einfiel, versuchte nun jemand, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen.

Durch das Türschloss drang etwas, das wie ein Fluch in einer fremden Sprache klang.

Oh, Mist.

Von den mehr als acht Millionen Menschen, die in New York City lebten, musste ausgerechnet ich vermutlich ausgeraubt werden?

Ich drehte mich auf Zehenspitzen um und von der Tür des Studioapartments weg, in das ich auf der Suche nach Schutz geflohen war, ließ den Blick rasch über den vertrauten Ort schweifen und überlegte mir, welche Möglichkeiten ich hatte.

Dank der offenen Gestaltung des Apartments gab es keine brauchbaren Verstecke. Das einzige Zimmer mit einer Tür, das Badezimmer, hatte nicht einmal ein Schloss. Es gab auch keine Objekte, die man in Waffen hätte umfunktionieren können, abgesehen von einem schiefen Kerzenhalter aus Ton, entstanden an einem faulen Heimwerker-Sonntag, und einer windschiefen, extravaganten Stehlampe, bei der ich mir nicht recht sicher war. Durch ein Fenster zu fliehen war ebenfalls keine Option, denn ich war im ersten Stock, und es gab keine Feuerleiter.

Das frustrierte Fluchen war jetzt deutlicher zu hören. Die Stimme war tief und klangvoll, und den Worten, die ich keiner Sprache zuordnen konnte und schon gar nicht verstand, folgte ein sehr lautes Schnaufen.

Mein Herz raste, und ich legte die Hände an die Schläfen, um die wachsende Panik in Schach zu halten.

Dies könnte schlimmer sein, sagte ich mir. Wer auch immer dort draußen ist, hat offensichtlich nicht viel Übung mit so etwas. Mit Einbrüchen. Und er weiß nicht, dass ich hier drin bin. Soweit er weiß, ist die Wohnung leer. Das gibt mir …

Mein Handy gab den Ton für eine neu eingegangene Nachricht von sich, und das laute, durchdringende Ping zerriss die Stille.

Und verriet meine Anwesenheit.

Mist.

Ich zuckte zusammen und langte nach dem Gerät, das auf der Kücheninsel lag. Ich konnte nicht mehr als drei oder vier Schritte entfernt stehen. Aber mein Gehirn, das noch Schwierigkeiten mit grundlegenden Funktionen hatte, wie, sagen wir mal, drei oder vier Schritte nach vorn zu machen, berechnete die Entfernung falsch, und meine Hüfte kollidierte mit einem Stuhl.

»Nein, nein, nein«, hörte ich mich selbst jammern und streckte die Hand aus. Erfolglos. Denn …

Der Stuhl krachte auf den Boden.

Meine Augenlider sanken herab. Als wollte mir mein Gehirn zumindest den Anblick dessen ersparen, was ich angerichtet hatte.

Dem lauten Krach folgte Stille und erzeugte eine Ruhe, von der ich wusste, dass es eine trügerische war.

Ich öffnete ein Auge und wagte einen Blick Richtung Tür.

Vielleicht war dies gut. Vielleicht hatte ich ihn? … sie? verjagt.

»Hallo?«, rief die tiefe Stimme auf der anderen Seite der Tür. »Ist jemand zu Hause?«

Verdammt!

Ich straffte die Schultern und drehte mich ganz langsam um. Es bestand noch die Chance, dass …

Der Klingelton für die bescheuerte Motivationsapp, die ich vorhin heruntergeladen hatte, dröhnte ein zweites Mal durch die Wohnung.

Himmel. Irgendjemand hatte es heute auf mich abgesehen. Karma, Kismet, Schicksal, die Glücksfee oder irgendeine übermächtige Existenz, die ich eindeutig nachhaltig verärgert hatte. Vielleicht sogar Murphy und sein dummes Gesetz.

Schließlich bekam ich mein Handy zu fassen und wollte das blöde Ding zur Ruhe bringen.

Ohne es zu wollen, fiel mein Blick auf das Zitat auf dem Display, das vermutlich inspirierend wirken sollte: WENNDASGLÜCKNICHTANKLOPFT, BAUIHMEINETÜR.

»Ernsthaft?«, hörte ich mich flüstern.

»Sie wissen schon, dass ich das hören konnte?«, sagte der Eindringling. »Das Telefon, dann den Knall, dann wieder das Telefon.« Kurzes Schweigen. »Alles … okay bei Ihnen?«

Ich runzelte die Stirn. Wie rücksichtsvoll für einen mutmaßlichen Einbrecher.

»Ich weiß, dass jemand da drin ist«, fuhr er fort. »Ich höre Sie atmen.«

Ich schnappte empört nach Luft. Ich war keine von denen, die laut atmeten.

»Okay, hören Sie«, sagte der Eindringling und kicherte. Kicherte! Machte er sich lustig? Auf meine Kosten? »Ich bin nur …«

»Nein, Sie hören jetzt mal zu«, brachte ich schließlich, wenn auch mit zittriger Stimme, heraus. »Was immer Sie da tun, es ist mir egal. Ich, ich …« Ich hatte da gestanden wie ein Trottel und nichts gemacht, aber das war jetzt vorbei. »Ich rufe die Polizei.«

»Die Polizei?«

»Genau.« Mit zitternden Fingern entsperrte ich mein Handy. Ich hatte die Nase voll von dieser … dieser Situation. Verdammt, ich hatte die Nase voll von heute. »Sie haben noch ein paar Minuten, um sich zu verziehen, bevor sie hier eintrifft. Gleich um die Ecke ist ein Polizeirevier.« Da war keins, aber ich hoffte, er wusste das nicht. »Wenn ich Sie wäre, würde ich mich in Bewegung setzen.«

Ich machte behutsam einen winzigen Schritt Richtung Tür, dann blieb ich stehen, um auf eine Reaktion zu lauschen. Hoffentlich das Geräusch davoneilender Schritte.

Aber ich hörte nichts.

»Hören Sie?«, rief ich, dann fuhr ich mit drohender Stimme fort: »Ich habe Freunde bei der Polizei.« Hatte ich nicht. Am nächsten kam dem noch Onkel Al, der als Wachmann für eine Firma an der 5th Avenue arbeitete. Aber das schien den Eindringling nicht zu beeindrucken, denn auf meine Behauptung hin folgte nur Stille. »Okay, gut. Ich habe Sie gewarnt. Ich wähle jetzt, es ist also Ihre Entscheidung, Sie verfick… verfluchter Wohnungseinbrecher!«

»Was?«

Ohne auf meine unglückliche und so gar nicht bedrohliche Wortwahl zu achten, stellte ich das Handy auf Lautsprecher, und wenige Sekunden später drang die Stimmer der Frau von der Notrufzentrale durch die Wohnung. »9-1-1, welchen Notfall möchten Sie melden?«

»Hallo.« Ich räusperte mich. »Hallo. Jemand versucht gerade, in die Wohnung einzubrechen, in der ich mich befinde.«

»Moment mal, Sie rufen wirklich an?«, kreischte der Eindringling. Doch dann fuhr er fort: »Oh, okay, verstehe.« Es folgte ein weiteres Kichern. Ein weiteres Kichern. Fand er das echt lustig? »Dies ist ein Witz.«

Ich platzte schier vor Wut. »Ein Witz?«

»Hallo?«, kam es aus dem Lautsprecher meines Handys. »Miss? Wenn dies kein Notfall ist …«

»O doch, das ist es«, erwiderte ich umgehend. »Wie ich schon sagte, ich rufe an, um einen Einbruch zu melden.«

Der Eindringling sprach, bevor die Frau antworten konnte. »Ich stehe im Flur. Wie kann ich da eingebrochen haben? Ich habe es nicht mal nach drinnen geschafft.«

Jetzt, da er mehr als immer nur ganz wenige Worte auf einmal sagte, fiel mir sein Akzent deutlicher auf. Die Art, wie er manche Wörter aussprach, war vertraut und ließ irgendetwas in meinem Hinterkopf klingeln. Aber ich hatte im Moment weder Zeit noch Energie für dieses Klingeln.

»Versuchter Einbruch«, verbesserte ich mich.

»Okay, Miss«, erwiderte die Frau. »Ich brauche Ihren Namen und die Adresse der Wohnung.«

»Verstehe«, sagte der Eindringling laut genug, dass ich einen Satz nach hinten machte. »Das ist einer dieser Streiche. Ich habe die Show bei mir daheim im Fernsehen gesehen. Wie hieß der Typ noch mal? Der Showmaster. Der mit dem tollen Haar.« Kurzes Schweigen. »Egal.« Wieder Schweigen. »Sie haben mich erwischt. Der war wirklich gut. Sehen Sie, ich lache«, fügte er hinzu und fing laut an zu gackern, während ich vor Schreck fast das Handy fallen ließ. »Könnten Sie jetzt bitte diese Tür öffnen und damit aufhören? Es ist schon nach Mitternacht, und ich bin erschöpft.« Jetzt klang er nicht mehr humorvoll. »Sagen Sie ihr, sie ist zum Brüllen komisch. Wir werden dies als einen der besten Streiche der Geschichte in Erinnerung behalten.«

Sagen Sie ihr …?

Wem?

Ich runzelte die Stirn, senkte die Stimme und sprach direkt in das Handy. »Haben Sie das gehört? Ich glaube, er ist vielleicht geistesgestört.«

»Geistesgestört?« Der Eindringling schnaubte. »Ich bin nicht verrückt, nur … müde.« Auf der anderen Seite der Tür fiel etwas mit lautem Krachen zu Boden, und ich betete, dass es nicht er war, denn ich konnte mich nicht zusätzlich auch noch um einen bewusstlosen Mann kümmern.

»Ich habe es gehört«, erwiderte die Frau. »Und, Miss, ich …«

»Habe ich etwa die falsche Tür erwischt?«, unterbrach der Eindringling.

Die falsche … Tür?

Das ließ mich aufmerken.

»Miss«, zischte die Frau vom Notruf. »Ihr Name und die Adresse Ihrer Wohnung, bitte.«

»Rosie«, sagte ich rasch. »Ich bin Rosalyn Graham, und … und, nun, eigentlich ist dies nicht meine Wohnung. Ich bin in der Wohnung meiner besten Freundin. Sie ist gerade nicht da, und ich brauchte … einen Ort, an dem ich bleiben konnte. Aber ich bin eindeutig nicht eingebrochen. Ich hatte einen Schlüssel.«

»Und ich habe ebenfalls einen Schlüssel«, behauptete der Eindringling.

In meinem Kopf klingelte etwas.

»Unmöglich«, knurrte ich missmutig in Richtung Tür. »Ich habe den einzigen existierenden Ersatzschlüssel.«

»Miss Graham.« Die Frau vom Notruf klang genervt. »Ich möchte, dass Sie aufhören, mit dem Individuum vor Ihrer Tür zu kommunizieren, und dass Sie mir Ihre Adresse mitteilen. Wir schicken eine Streife vorbei, die das überprüft.«

Ich öffnete den Mund, aber bevor ich ein Wort sagen konnte, sprach der Eindringling erneut. »Diesmal hat sie sich wirklich selbst übertroffen.«

Sie. Wieder dieses sie.

Ein paar Sekunden lang sagte keiner von uns etwas. Dann wurde die Stille von einem dumpfen Geräusch unterbrochen. Es klang ganz danach, als wäre jemand auf der anderen Seite an der Tür hinuntergerutscht.

»Sie?«, fragte ich schließlich, ohne auf das »Miss Graham?« zu achten, das aus dem Lautsprecher tönte.

»Ja«, erwiderte der Eindringling. »Meine sehr lustige und überaus kreative kleine Cousine.«

Mein Atem stockte irgendwo zwischen Brustkorb und Mund.

Kleine Cousine.

Sie.

Der deutliche Akzent des Eindringlings, der so schrecklich vertraut war.

Allmählich kristallisierte sich in meinem Kopf die einzig mögliche Erklärung heraus.

Hätte ich …

Nein.

So blöd konnte ich nun auch wieder nicht sein.

»Miss Graham?«, tönte es erneut aus dem Telefon. »Wenn das kein Notfall ist …«

»Tut mir leid, ich …« Ich schloss die Augen. »Ich rufe wieder an, falls es … nötig wird. Danke.«

Kleine Cousine.

O Gott. O nein. Wenn dies einer von Linas Cousins war, hatte ich Mist gebaut. Großen Mist.

Ich beendete den Anruf, steckte das Handy in die Hosentasche meiner Jeans und zwang mich, tief durchzuatmen in der Hoffnung, dass der Sauerstoff bis zu meinen eindeutig defekten Gehirnzellen vordringen würde. »Wer genau ist Ihre Cousine?«, fragte ich, auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass ich die Antwort kannte.

»Catalina.«

Jetzt stand es fest. Ich hatte Mist gebaut. Jawohl. Und dennoch – schließlich war dies New York, und ich hatte schon mit jeder Menge seltsamer Menschen und seltsamer Situationen zu tun gehabt. »Ich brauche mehr Informationen als nur das. Den Namen könnten Sie vom Briefkasten abgelesen haben.«

Auf der anderen Seite der hölzernen Grenze, die uns trennte, war ein langer, lauter Seufzer zu hören, was meinen eh schon aufgewühlten Magen noch mehr in Aufruhr versetzte.

»Es tut mir leid«, stieß ich hervor, weil ich die vier Wörter einfach nicht zurückhalten konnte. Denn es tat mir tatsächlich leid. »Ich will mich nur vergewissern, dass …«

»… dass ich kein Geistesgestörter bin«, unterbrach mich der Eindringling, bevor ich mit meiner Entschuldigung zu Ende war. »Catalina Martín, geboren 22. November. Braune Haare, braune Augen, lautes Lachen.« Wieder schloss ich die Augen, während sich der Aufruhr in meinem Magen langsam zu meiner Kehle hocharbeitete. »Sie ist winzig, aber wenn sie einen in die Eier tritt, bleibt einem trotzdem komplett die Luft weg. Das weiß ich aus erster Hand.« Kurze Pause. »Was sonst noch? Mal sehen … oh, sie hasst Schlangen und alles, was auch nur ansatzweise wie eine aussieht. Selbst wenn es nur ein paar aneinandergenähte und mit Toilettenpapier ausgestopfte Socken sind. Clever, nicht wahr? Nun, das war seinerzeit der Auslöser für den Tritt in die Eier. Der Streich ging nach hinten los.«

O ja.

Ich hatte Mist gebaut. Riesigen Mist.

Riesigen, riesigen, riesigen Mist.

Und ich fühlte mich schrecklich. Grauenhaft.

Es war so schlimm, dass ich mich nicht einmal in der Lage sah, ihn zu unterbrechen, als er fortfuhr: »Sie ist die nächsten Wochen nicht da. Genießt ihre Flitterwochen in … Peru war es, oder?« Er wartete auf meine Bestätigung, aber vergeblich. Ich war sprachlos. Gedemütigt. »Aaron heißt der Glückliche. Den Fotos nach zu urteilen, die ich gesehen habe, ein großer und Furcht einflößend wirkender Typ.«

Moment mal. Das bedeutete …

»Ich kenne ihn nicht persönlich. Noch nicht.«

Er hatte Aaron noch nicht kennengelernt?

Ich …

Nein. Nein, nein, nein. Das durfte nicht wahr sein.

Doch dann sagte er: »Ich hatte nicht das Vergnügen, bei der Hochzeit dabei zu sein.«

Was bestätigte, dass dies vielleicht tatsächlich wahr war. Und schlagartig waren mein vorheriger Schock oder meine Verlegenheit nichts im Vergleich zu dem, was ich jetzt zu spüren begann.

Denn dieser Mann war nicht irgendein dahergelaufener Einbrecher oder ein geistesgestörtes Individuum, das zufällig vor die Wohnungstür meiner besten Freundin geraten war.

Dieser Mann, wegen dem ich die Polizei angerufen hatte, war Linas Verwandter. Und das war noch nicht alles. Nein. Er musste der eine Cousin sein, der Aaron noch nicht kannte.

Der Einzige auf der langen Liste von Linas spanischen Verwandten, der die Hochzeit verpasst hatte.

Das musste er sein.

»Ich habe gehört, es war ein tolles Fest«, sagte er. Es war, als würde mir jemand einen Schlag gegen die Brust versetzen. »Zu schade, dass ich es verpasst habe.«

Ohne recht zu wissen, wie, bemerkte ich, dass ich auf einmal den Knauf der Wohnungstür gepackt hielt. Als ob seine Worte – das Begreifen, dass er es war – mich irgendwie dorthin katapultiert und die Finger meiner freien Hand dazu gebracht hätten, sich fest darumzulegen.

Er kann es nicht sein, wiederholte unablässig eine Stimme in meinem Kopf. So viel Pech kann ich nicht haben.

Aber das hatte ich. Ich wusste es. Und Kismet, Schicksal, Glück oder welche Kraft auch immer über meine Zukunft entschied, hatte die Koffer gepackt und mich mir selbst überlassen.

Denn dieser Mann war der eine Cousin, von dem ich im Geheimen gehofft hatte, er würde zur Hochzeit kommen. Der Einzige, bei dem ich beim Gedanken daran, ihn kennenzulernen, Schmetterlinge im Bauch hatte. Beim Gedanken an die beiden obligatorischen Wangenküsse. An den Austausch von Komplimenten. An vielleicht einen Tanz mit ihm. Daran, dass er mich in meinem Brautjungfernkleid sah. Daran, ihn endlich leibhaftig vor mir zu haben. An die Möglichkeiten.

Meine Finger bewegten sich, und das Schloss klickte.

Mein Herz raste bei der Vorstellung, dass dieser Mann wirklich er war, und ich klammerte mich voller Spannung und Hoffnung an den Türknauf. All der Unsinn, den sich mein Gehirn in den Monaten vor der Hochzeit zusammengeträumt hatte, vermischte sich mit den neuen Gefühlen, die mich nach diesem Riesenpatzer überfielen, den ich gerade gemacht hatte. Vorfreude vermischt mit Schuldgefühl. Peinlichkeit, die die Aufregung überlagerte.

Mit klopfendem Herzen riss ich die Tür auf und …

Etwas fiel mir vor die Füße.

Ich richtete den Blick nach unten und sah sofort, was da hereingeplumpst war.

Er lag auf dem Rücken. Als hätte er sich an die Tür gelehnt und wäre nach hinten gefallen, als ich sie öffnete.

Die Luft schien es kaum bis in meine Lunge zu schaffen, als ich den Kopf mit den lockigen braunen Haaren betrachtete. Er entsprach nicht dem Bild, das sich in meine Erinnerung eingegraben hatte, beziehungsweise dem Screenshot, den ich heimlich in meinem Handy gespeichert hatte. Ich kannte ihn nur mit Bürstenhaarschnitt.

»Sie sind es wirklich«, hörte ich mich murmeln, während ich ihn anstarrte. »Sie sind wirklich hier. Und Ihr Haar ist anders. Länger und …«

Ich klappte den Mund zu und spürte, wie sich meine Wangen dunkelrot verfärbten.

Das gut aussehende Gesicht, das ich öfter, als ich jemals zugeben würde, auf dem Display meines Handys angeschaut hatte, verzog sich zu einem verwirrten Ausdruck. Doch gleich darauf strahlten mich schokoladenbraune Augen an. »Sind wir uns … schon mal begegnet?«

»Nein«, beeilte ich mich zu antworten. »Natürlich nicht. Ich meinte, Sie sehen anders aus, als ich erwartet hatte. Sie wissen schon, anhand Ihrer Stimme. Das ist alles.« Ich schüttelte den Kopf. »Und ich … Himmel, es tut mir leid. All dies. Ich dachte nur …«

Was dachtest du nur, Rosie?

Die Röte breitete sich bis zu meinen Ohrläppchen aus, und ich dachte, würde jetzt der Boden unter meinen Füßen aufreißen und mich verschlingen – was, wie ich inzwischen wusste, gar nicht so unwahrscheinlich war –, würde ich es widerstandslos geschehen lassen.

»Es tut mir einfach so leid«, hauchte ich. »Darf ich Ihnen aufhelfen? Bitte.«

Aber er, der Mann, der nicht einmal wusste, dass ich existierte – während ich seine Gesichtszüge jederzeit in meinem Kopf abrufen konnte, wenn ich die Augen schloss –, machte nicht die geringsten Anstalten, schnell aufstehen zu wollen. Stattdessen ließ er sich Zeit und inspizierte mein Gesicht, als wäre ich diejenige, die gerade aus dem Nichts aufgetaucht und ihm vor die Füße gefallen war.

Und gerade als ich glaubte, mich genügend gesammelt zu haben, um wieder etwas sagen zu können – hoffentlich etwas ansatzweise Geistreiches –, verzogen sich seine Lippen. Der verwirrte Ausdruck löste sich in nichts auf und machte einem Lächeln Platz. Und was immer ich hatte sagen wollen, war vergessen.

Denn er lächelte, und dieses Lächeln war breit und strahlend und, ehrlich gesagt, auf diese unverschämte Art schön, mit der man nicht so recht etwas anzufangen weiß.

Vielleicht mehr noch als bei dem Lächeln auf dem einen Screenshot, den zu behalten ich mir erlaubt hatte und den ich vielleicht gelegentlich anschaute.

»In dem Fall«, sagte er mit seinem sonnigen Ich-liege-auf-dem-Boden-rum-Lächeln, »wenn wir uns also noch nicht kennen, dann hallo. Ich bin Lucas Martín. Linas Cousin.«

Ja.

Das wusste ich. Ich wusste genau, wer er war. Er würde nicht glauben, wie gut ich das wusste.

2

Rosie

Lucas schaute von unten zu mir hoch und fragte sich vermutlich, was mit mir nicht stimmte.

»Ich …« Herrje. So hatte ich mir mein erstes Zusammentreffen mit Lucas nicht vorgestellt. Dies war nicht einmal mehr in derselben Galaxie wie das, was ich mir für diesen Moment zusammenfantasiert hatte. Und ich hatte Zeit gehabt – mehr als ein Jahr –, um mir Dutzende unterschiedlicher Szenarien auszudenken.

»Hallo, Lucas«, sagte ich. »Es ist … es ist nett, Sie endlich kennenzulernen.«

Endlich?

Ja. Ich hatte endlich gesagt.

Lucas runzelte die Stirn, und ich spürte, wie meine Ohrläppchen noch wärmer wurden. Mein Gesicht war vermutlich ebenfalls knallrot.

»Sie sind definitiv kein Einbrecher!«, platzte ich heraus, um das Gespräch von diesem dummen, dummen endlich wegzulenken. »Und es tut mir auch schrecklich leid, dass ich Sie dafür gehalten habe. So hatten Sie sich Ihre Ankunft in New York sicher nicht vorgestellt. Und auch nicht in Linas Wohnung. Wie auch immer, darf ich Ihnen bitte aufhelfen?«

Aber Lucas blieb auf dem Rücken liegen und behielt dieses Grinsen bei, das jetzt schon minutenlang andauerte. Als ob all dies okay wäre. Normal. Was es nicht war. Wirklich nicht. Denn Lucas Martín war hier. Auf meiner Türschwelle – oder, nun ja, Linas Türschwelle. Und ich machte den denkbar schlechtesten Eindruck.

»Ja, darauf war ich nicht unbedingt gefasst«, erwiderte er, streckte den Arm nach oben und ließ die Hand etwa auf Höhe meines Magens schweben. »Aber, wie auch immer, es ist wirklich nett, Sie kennenzulernen, Rosalyn Graham.«

Ich starrte die Hand an und nahm die daran befindlichen langen Finger in Augenschein. Dann sprang mein Blick zu der gebräunten Haut an seinem Handgelenk, das mit einem Armband aus verwittertem Leder umwickelt war.

Ein kleiner Teil von mir fragte sich, wie sich seine Haut wohl an meinen Fingern anfühlen würde, aber meine Arme blieben wie festgeklebt an meinen Seiten.

»Woher wissen Sie … meinen Namen?«, fragte ich.

Denn Lucas hatte meinen vollen Namen gesagt.

Seine Hand stand in der Luft und wartete. Genau wie sein Lächeln.

»Ich habe ihn vorhin gehört«, erwiderte er lässig. »Sie wissen schon, als Sie ihn der Frau vom Notruf gesagt haben. Gleich nachdem Sie mich als geistesgestört bezeichnet hatten.«

Ich zuckte zusammen. »Himmel, das habe ich wohl tatsächlich getan, oder?« Ich ließ den Atem durch die Nase entweichen. »Das tut mir auch schrecklich leid.« Ich blinzelte noch mehr. Inzwischen war mein Blick auf jenen Teil der Haut an seinem Unterarm fixiert, der nach und nach sichtbar geworden war, als der Ärmel seines Sweatshirts hinunterglitt. Doch noch immer griff ich nicht nach seiner Hand, und er ließ sie an die Seite sinken. »Ich schwöre, ich hatte keine Ahnung, dass Sie heute Abend kommen. Lina hat kein Wort gesagt. Sonst hätte ich nicht die Polizei angerufen. Verdammt, ich wäre nicht mal hier, hätte ich gewusst, dass Sie kommen.«

Lucas legte den Kopf schief, vermutlich ein Zeichen von Neugier. Vermutlich wollte er wissen, warum. Warum zum Teufel sind Sie überhaupt hier?

»Aber Sie können mich Rosie nennen«, fuhr ich fort. »Das tun alle. Das können Sie auch tun. Wenn Sie wollen, natürlich. Aber Rosalyn ist auch in Ordnung.«

Sein Dauergrinsen wich einem leisen Kichern, gefolgt von einem einfachen »Rosie«.

Als würde er sich den Namen auf der Zunge zergehen lassen.

Und Himmel, so wie er ihn aussprach, mit diesem starken spanischen Akzent und diesem auf ganz eigene Weise gerollten R, als ob sein gesamter Körper diesen Klang erzeugen würde und nicht nur seine Zunge und seine Stimmbänder. Es war so … anders, als mein Name jemals ausgesprochen worden war. Interessant. Verwirrend.

»Rosie«, wiederholte er nach ein paar Sekunden. »Qué dulce«, fügte er hinzu, in seiner Muttersprache Spanisch, wie ich wusste, auch wenn ich nicht sicher war, was es hieß. »Er gefällt mir. Er passt zu Ihnen.«

»Danke«, murmelte ich. Inzwischen war mir am ganzen Körper warm. Ich trat von einem Fuß auf den anderen. »Sie haben auch einen schönen Namen, Lucas. Er ist sehr … fetzig.«

Fetzig.

O Himmel. O Gott.

Hatte ich wirklich gerade gesagt, sein Name sei fetzig? Wie eine … eine … Discokugel? Oder eine Party mit dem Thema Siebzigerjahre?

»Danke, sollte ich wohl sagen.« Er kicherte. »Okay, so bequem ich hier auch liege, ich habe es satt, Ihr Gesicht verkehrt herum zu sehen, Rosie.«

Und bevor ich richtig begriffen hatte, was er sagte, schnellte er plötzlich mit einer geschickten Bewegung auf die Füße. Abgelenkt von diesem Manöver, seiner Größe, seinem verführerischen Rollen des Rs, das noch in meinem Kopf nachhallte, und schließlich dem Effekt, dass Lucas Martín – leibhaftig – vor mir stand, hätte ich beinahe nicht mitbekommen, dass er zusammenzuckte und sich krümmte.

»Vorsicht!«, rief ich, als ich mich nach vorne warf und ein paar Sekunden zu spät seine Arme packte. Er hielt den Kopf gesenkt, deshalb konnte ich sein Gesicht nicht sehen. »Alles in Ordnung?«

»Estoy bien«, brachte er mühsam heraus, als wäre er unbewusst in seine Muttersprache zurückgefallen. Er schüttelte den Kopf. »Mir geht es gut. Alles unter Kontrolle.«

Langsam richtete er den Blick auf meine Augen, und sofort kehrte sämtliches Blut wieder in mein Gesicht zurück. Dann senkte er den Blick erneut, als hätte etwas seine Aufmerksamkeit erregt.

Ich tat es ihm nach.

Meine Hände. Sie umklammerten in einem tödlichen Griff seine Unterarme. Sehr kräftige Unterarme, wie ich jetzt feststellte. Durchzogen von Muskeln. Harten Muskeln. Angespannten.

Wir schauten im selben Moment hoch, und ich starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

Amüsiert grinste er mich an. »Guter Fang, Rosie.«

Sofort ließ ich ihn los, als hätten mich diese drei Wörter nach hinten geschleudert.

»Natürlich«, entfuhr es mir. Ich rang die Hände und wandte den Blick ab, der schließlich auf einem Punkt etwas unterhalb seines Kinns zu ruhen kam. »Wirklich alles in Ordnung?«

»Ja, nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.« Er wedelte mit der Hand durch die Luft. »Vermutlich hätte ich ein paarmal meine Beine dehnen sollen, statt fast den ganzen Flug zu verschlafen.«

»Stimmt.« Ich nickte. »Sie haben gerade einen Transatlantikflug hinter sich.« Denn dies war Lucas Martín, und er hatte soeben den halben Erdball überquert, um hierherzukommen. Aus Spanien, woher er stammte. Und was hatte ich getan? Ihn ausgesperrt, die Polizei angerufen und ihn dann unsinnig lange Zeit auf dem Boden liegen lassen.

»O nein«, erwiderte er. »Ich bin von Phoenix hergeflogen.«

»Oh.«

Oh?

»War das ein Zwischenaufenthalt, oder waren Sie bereits in …« Ich bremste mich, denn mir wurde klar, dass es mich eigentlich nichts anging, ob Lucas bereits im Land gewesen war oder nicht. »Wie auch immer, hier bin ich jedenfalls und lasse Sie noch immer in der Tür stehen. Bitte, kommen Sie rein.« Ich trat zur Seite, um ihn in die Wohnung seiner Cousine zu lassen, und fühlte mich dabei in jeder Hinsicht … fehl am Platz.

Lucas hob einen schwer aussehenden Rucksack vom Boden hoch und ging hinein, was mir einen guten Blick auf seine Rückseite gewährte. Jetzt, wo ich nicht mehr in seinem Blickfeld war, erlaubte ich mir endlich, ihn mir genauer anzuschauen und ihn mehrfach von oben bis unten zu mustern.

Und … o Mann! Er hatte lange, schlanke Beine. Lucas war größer, als ich anhand meiner Online-Recherchen vermutet hatte. Auch seine Schultern waren breiter, als ich mir vorgestellt hatte. Und das zerknitterte graue Sweatshirt, das er trug, betonte sie zusätzlich – genau wie die Muskeln, die mir aufgefallen waren, als ich ihn vor ein paar Minuten gepackt hatte. Allein beim Blick auf seinen Rücken war klar, dass er ein professioneller Athlet war. Dass er surfte, bei Wettkämpfen. Und wir redeten hier von Meisterschaften und Turnieren und schönen, aber bedrohlich aussehenden Wellen, die unglaubliche Höhen erreichten. Lucas hatte vermutlich die meiste Zeit seines Lebens auf dem Wasser verbracht, und sein Körper konnte …

Der Knall, mit dem sein Rucksack auf dem Boden landete, riss mich aus meinen Gedanken. Lucas war neben der Insel stehen geblieben, die Küchen- und Wohnbereich der gemütlichen Studiowohnung trennte.

»So, Rosie«, sagte er und beugte sich hinunter, um den Stuhl aufzustellen, den ich vorhin umgeworfen hatte. Er stellte ihn neben den anderen. »Wenn Sie nicht wussten, dass ich komme …« Er drehte sich um und sah mich grinsend an. »… und Sie nicht hier gewesen wären, hätten Sie es gewusst, dann sind Sie vermutlich nicht das Begrüßungskomitee, oder?«

Er hatte eine tiefe Stimme, sein Ton war freundlich, aber scherzhaft. Er brachte irgendetwas in meinem Bauch zum Schwingen, etwas, das ich sofort unterdrückte. »Wie schade. Ich dachte schon, ich sollte meiner Cousine wirklich danken.«

Das Etwas begann zu flattern. Mir fiel keine Antwort ein, und es entstand eine merkwürdige Stille.

Lucas’ Lächeln erlosch.

»Es war ein Witz«, erklärte er. »Ein richtig schlechter, wie es scheint. Es tut mir leid. Normalerweise bin ich etwas gewiefter.«

Ich blinzelte.

Denk nach, Rosie. Denk nach. Sag etwas. Irgendetwas.

»Ashton Kutcher«, beschloss mein Gehirn auszuspucken. Lucas sah mich fragend an. »Der Moderator von Punk’d, der Sendung mit der versteckten Kamera. Der, an den Sie sich nicht erinnern konnten.« Ich warf die Hände in die Luft und senkte die Stimme. »Sie wurden Opfer eines Streichs!«

Er legte den Kopf schief, und ich wünschte mir, ich könnte die letzten zehn Sekunden meines Lebens rückgängig machen. Zurückspulen und etwas anderes sagen. Etwas Kluges. Flirtendes. War das denn zu viel verlangt? Ich wollte ja nicht gleich die letzten Minuten meines Lebens rückgängig machen. Oder die letzten zehn Stunden.

Aber dann gab er ein Lachen von sich, das tief aus seiner Brust kam und fröhlich klang. Und aus irgendeinem unerklärlichen Grund war ich überzeugt, dass es ein echtes Lachen war und nicht auf meine Kosten ging.

»Ja«, sagte er und wurde wieder ernst. »Das ist die Sendung, von der ich geredet habe. Und das ist er, der Typ mit dem tollen Haar.«

Ich starrte ihn an – sein Gesicht, die hochgezogenen Mundwinkel, seine schönen Augen, sein Haar, das deutlich besser war, als Ashton Kutchers jemals gewesen war – und ich spürte, wie auch ich lächelte. Ich konnte es mir nicht verkneifen.

Lucas’ Blick dagegen wanderte zu meinem Mund, und das brachte mein Lächeln irgendwie zum Erlöschen.

»Okay«, sagte ich, straffte die Schultern und schaute woanders hin. »Es war nett.« Eigentlich nicht. »Aber ich glaube, ich sollte jetzt gehen und Sie … Ihnen …«

Ohne weitere Zeit zu verlieren oder auf die Runzeln zu achten, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten, ging ich zu meinen Sachen und kniete mich vor meine beiden Koffer – von denen einer offen stand und halb ausgepackt war – und eine bis zum Rand gefüllte blaue Ikea-Tasche sowie einen Karton mit all meinen verderblichen Lebensmitteln.

Rechts von mir hörte ich ein paar Schritte. Als Nächstes tauchte ein Paar weiße Turnschuhe in meinem Augenwinkel auf.

»Dann gehen Sie also«, bemerkte Lucas, gerade als ich nach einem einzelnen Schuh griff, den ausgepackt zu haben ich mich gar nicht erinnern konnte. »Mit all … dem.«

Ich wusste, das war keine Frage. Trotzdem antwortete ich.

»Natürlich.« Ich schnappte mir den Stapel Sweatshirts, den ich offenbar ebenfalls ausgepackt hatte. »Ich war nur in Linas Wohnung, um … um …« Mich während ihrer Hochzeitsreise in ihrer eindeutig nicht freien Wohnung breitzumachen, weil meine Wohnung zurzeit unbewohnbar war. »Um ihre Pflanzen zu gießen. Den Briefkasten zu leeren. Solche Sachen, Sie wissen schon.«

Kurze Stille.

»Das sieht nicht aus, als wären Sie mal eben kurz vorbeigekommen, Rosie.«

»Oh.« Ich wedelte mit der Hand und presste mit der anderen die Sweatshirts in den Koffer. Himmel, wozu hatte ich bloß derart viel ausgepackt? »Dies. Das ist alles nichts.«

Das war nur ich in dem Versuch, einem Mann keine Unannehmlichkeiten zu bereiten, in den ich mich online vielleicht ein winziges bisschen verliebt hatte.

Er setzte sich vor mich auf den Boden. Als würden wir einfach abhängen.

Mein Mund öffnete und schloss sich ein paarmal, bevor ich etwas herausbrachte. »Was tun Sie da?«

Klug, Rosie.

Lucas kicherte unbekümmert, ganz im Gegensatz zu dem, wie ich mich fühlte. »Ich wollte Sie fragen, was Sie wirklich hier tun, in der Wohnung meiner Cousine. Ich hätte schon vorher gefragt, aber wir waren … beschäftigt.« Er zuckte mit den Schultern. »Nicht, dass ich meine, Sie schuldeten mir eine Erklärung. All das …«, er ließ den Finger durch die Luft wandern, »… ist eindeutig Linas Schuld. Sie hatten keine Ahnung, dass ich komme.«

»Hatte ich wirklich nicht.«

»Weiß sie denn, dass Sie hier sind?«

Ich seufzte. »Nein …« Ich sprach nicht gleich weiter, obwohl ich fand, dass Lucas eine Erklärung verdiente. »Aber nicht, weil ich es nicht versucht habe. Ich habe sie – und Aaron – angerufen, um zu fragen, ob ich den Ersatzschlüssel benutzen und bei ihr übernachten darf.« Oder eher ein paar Nächte, Plural. »Aber keiner von ihnen ist drangegangen. Vermutlich haben sie grad keinen Empfang, da, wo sie sind.«

Sein Blick glitt über mein Gesicht, als wolle er sich etwas zusammenreimen. Dann zog er ein kleines Objekt aus seiner Hosentasche. »Apropos Schlüssel.« Er ließ ihn von den Fingern herabbaumeln. »Ich habe nicht gelogen. Ich habe wirklich einen.«

Ich wollte mich gerade erneut entschuldigen, aber Lucas stoppte mich, indem er den Kopf schüttelte. »Lina hat ihn in der Pizzeria unten in der Straße gelassen. Alessandro’s? Sie hat mir geschrieben, ich könnte ihn dort abholen.«

Das ergab … Sinn. Auch wenn das nichts an der Tatsache änderte, dass sie mir gegenüber nie etwas von Lucas’ Besuch erwähnt hatte.

»Guter Mann, dieser Sandro«, sagte Lucas und nickte. »Ich muss wirklich erledigt ausgesehen haben, er hat mir sogar Essen angeboten.« Lucas’ Gesicht hellte sich unglaublich auf, und ich erinnerte mich an einen Instagram-Post, wo er ein Steak anstarrte, als hätte das saftige Stück Fleisch für ihn gerade die Sterne vom Himmel geholt. »Vermutlich die beste Pizza, die ich seit Langem gegessen habe.«

»Klingt nach Sandro«, erwiderte ich und dachte an den dunkelhaarigen, etwa vierzigjährigen Mann. »Und es überrascht mich nicht. Seit Lina hier vor ein paar Jahren eingezogen ist, haben wir mindestens einmal die Woche Pizza vom Alessandro’s bestellt.«

Vermutlich der Grund, weshalb es meine Freundin für sicher hielt, ihm einen Schlüssel anzuvertrauen.

»Das wurde mir auch erzählt«, erwiderte Lucas mit einem Funkeln in den Augen, und ich fragte mich, was Sandro wohl über uns gesagt hatte. Hoffentlich nicht, dass wir immer genügend Essen bestellten, um eine kleine Armee satt zu bekommen.

Wir starrten uns mehrere Sekunden an. Zwar war das nicht mehr so seltsam wie noch ein paar Minuten zuvor, aber es war auch nicht gerade ein angenehmes Schweigen. Nicht, wenn meine geheime Begeisterung für diesen Mann, der da vor mir auf dem Boden saß, wie ein Ballon anzuschwellen und sämtlichen Raum einzunehmen schien. Und schon gar nicht, wenn all diese Fakten und Details, die ich über ein Jahr gesammelt und in ein Geheimfach in meinem Gehirn abgespeichert hatte, auf einmal wieder präsent waren.

Zum Beispiel wusste ich, dass Lucas tatsächlich Ananas auf der Pizza mochte, einfach weil es noch echte Nahrung war – etwas, das ich nie verstehen würde. Oder ich wusste, dass er die winzige Narbe an seinem Kinn davongetragen hatte, als er über Tacos – sein wunderschöner Belgischer Schäferhund – Leine und auf das Gesicht gefallen war. Ich wusste auch, dass er Sonnenaufgänge lieber mochte als Sonnenuntergänge.

Meine Güte! Welche Unmengen an Informationen man aus den Social Media bekommen konnte, wenn man oft und lange genug nachschaute, war erschreckend.

»Rosie«, sagte er derart freundlich, dass heiße Scham in mir aufstieg.

Was hatte ich mir dabei gedacht, jemandem so hinterherzustalken? »Ja?«, krächzte ich.

»Was tun Sie wirklich hier?«

Ich überlegte, ob ich ihm eine ehrliche Antwort geben sollte. Nicht weil ich nicht wollte, dass er die Wahrheit erfuhr, sondern weil diese Begegnung schon dramatisch genug war, ohne dass ich ihm auch noch meinen schiefgelaufenen Tag aufbürdete.

»Es gab da ein kleines Problem in dem Haus, in dem ich wohne.« Ich schluckte und entschied mich, die halbe Wahrheit zu sagen. »Nichts Schlimmes, aber ich fand es besser, die Nacht woanders zu verbringen.«

Er zog die Stirn kraus. »Und was war das kleine Problem?«

»Etwas mit der Sanitärinstallation.« Ich zuckte mit den Schultern. »Nichts, was sich nicht reparieren lässt. Ich kann in Kürze zurück.«

Er summte vor sich hin. »Haben Sie deshalb alle Ihre Sachen gepackt?« Er deutete mit dem Kopf auf die Taschen und die zwischen uns verstreuten Sachen. »Und all Ihr … Essen ebenfalls? Nur für eine Nacht?«

»Ich esse gern.« Ich vermied es, ihn anzusehen. »Ich bin eine große … Nachtsnackerin. Das könnte ich locker alles in einer Nacht verputzen.«

»Okay«, erwiderte er, aber es klang, als würde er mir nicht glauben.

Nur fair, schließlich log ich.

Ich sah ihn an, und ich werde nie erfahren, was an seinem Gesichtsausdruck es auslöste, jedenfalls hörte ich mich sagen: »Okay. Es war kein kleines Problem. In der Decke meiner Wohnung ist ein Riss. Groß genug, dass ich alles gepackt und ein Taxi angehalten habe und hergekommen bin, um hier die Nacht zu verbringen.«

Hier, weil Dad nach Philadelphia gezogen war und mein Bruder Olly nicht auf meine Anrufe reagierte. Hier, weil ich die beiden außerdem seit Monaten belogen hatte – seit sechs, um genau zu sein –, und die Nacht bei einem von beiden zu verbringen würde die Wahrheit ans Licht bringen und meine Lügen enthüllen.

»Tut mir leid, das ist nichts, worüber Sie sich Gedanken machen sollten. Es ist alles in Ordnung, wirklich.« Ich sah mich in dem engen Studio meiner Freundin um. »Dies ist ein Einzimmerapartment, und es gibt nur ein Bett, also denke ich … ich weiß, dass wir nicht beide hierbleiben können.«

Ehrlich gesagt, hätte ich durchaus die Couch genommen, aber Lucas in solch eine Situation zu bringen hatte er nach diesem Abend nicht verdient. Und mir war schon alles peinlich genug. »Ich nehme mir für heute Nacht ein Hotel.«

Ich sah ihn an und bekam gerade noch mit, dass seine Lippen zuckten. Es war kein Lächeln. Es war eher eine Grimasse. »Es geht Ihnen aber so weit gut?«, fragte er.

Ich runzelte etwas verblüfft die Stirn. »Wie bitte?«

»Der Riss in Ihrer Decke«, sagte er. »Das klingt ernst. Alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Oh.« Ich schluckte. »Ich … ja, alles in Ordnung.«

Aber Lucas wirkte nicht, als würde er mir glauben. Wieder.

»Ernsthaft. Ich bin New Yorkerin. Ich bin tough.« Ich lachte und hoffte, es klang echt, dann zerrte ich einige weitere der verstreuten Sachen zu mir her. »Lassen Sie mich nur alles zusammenpacken, und ich rufe mir ein Uber.«

Ich betrachtete mein unordentliches Chaos und stopfte rasch alles, so schnell ich konnte, in Koffer und Tasche.

Deshalb bekam ich vermutlich erst mit, dass Lucas aufgestanden war, als er bereits wegging. Bei seinem Rucksack blieb er stehen, hob ihn hoch und warf ihn sich über die Schulter.

»Was …?« Ich erhob mich. »Wo gehen Sie hin?«

Lucas rückte das Gewicht auf seinem Rücken zurecht. Sein Lächeln war wieder da, schief und … ja, noch immer eine Ablenkung. »Irgendwo anders hin. Ich bleibe nicht hier.«

»Was?« Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Wieso?«

Er machte einen Schritt Richtung Tür. »Weil es nach Mitternacht ist und Sie so aussehen, als würden Sie gleich ohnmächtig werden.«

Ich blinzelte. Dann merkte ich, dass meine Hand an mein Haar schoss. Sah ich …

Ich ließ die Hand fallen. Wie ich aussah, war unwichtig. Zum einen, weil sich daran jetzt nichts ändern ließ. Zum anderen, weil … sich daran jetzt wirklich nichts ändern ließ. »Haben Sie etwas, wo Sie bleiben können?«, fragte ich ihn schließlich. »Irgendeine andere Wohnung als Linas?«

»Natürlich.« Er zuckte mit den Schultern. »Dies ist New York – die Möglichkeiten sind endlos.«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf, trat einen Schritt zur Seite und versperrte ihm den Weg zur Tür. »Das kann ich nicht zulassen. Ich bin diejenige, die geht. Dies ist die Wohnung Ihrer Cousine. Sie haben sogar einen Schlüssel. Sie … können die Nacht nicht im Hotel verbringen.«

Sein Lächeln wurde wärmer. »Das ist lieb, Rosie. Aber unnötig.« Er trat um mich herum, und ich machte auf dem Absatz kehrt, um ihm zu folgen. »Außerdem ist es auf diese Weise viel einfacher. Ich habe nur einen Rucksack dabei, und Sie haben …« Sein Blick wanderte zu meinem großen unordentlichen Stapel. »Sie haben viel mehr als das.«

»Aber …«

Er sah mich wieder an, und seine gerunzelte Stirn bildete einen derartigen Gegensatz zu seinem lässigen Lächeln, dass ich nicht mehr wusste, was ich hatte sagen wollen.

»Hören Sie«, sagte er völlig ruhig. »Ich bin ein direkter Mensch, also werde ich es einfach sagen, okay?«

Ich schluckte.

»Ich habe den Eindruck, dass Ihnen meine Anwesenheit sehr unangenehm ist.« Kurze Pause. »Eigentlich bin ich mir sogar sicher. Und das ist okay, wir haben uns gerade erst kennengelernt.«

Was? Ach herrje, und deswegen ging er? Er … »Es ist mir nicht unangenehm«, widersprach ich, aber es klang denkbar unbehaglich. »Es ist nicht aus dem Grund, den Sie annehmen.« Er legte den Kopf schief, und ich öffnete erneut den Mund, um ihm einen anderen Grund anzubieten, irgendeinen. Aber nichts kam heraus. Nur ein gestammeltes: »Es ist … es ist nicht …«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, unterbrach er mich, und aus irgendeinem Grund hatte ich den Eindruck, er täte das, um mich vor mir selbst zu schützen. »Sie bleiben heute Nacht hier, erholen sich ein bisschen, und morgen komme ich wieder. Wir fangen noch mal von vorne an. Vergessen den heutigen Abend. Dann überlegen wir uns, wie wir das mit der Unterbringung regeln.« Nach einer kurzen Pause fragte er vorsichtig: »Was halten Sie davon?«

Wir fangen noch mal von vorne an. Vergessen den heutigen Abend.

Was hätte ich dafür gegeben, wenn wir das tatsächlich gekonnt hätten! »Aber da gibt es nichts zu regeln, Lucas. Lina hat Ihnen die Wohnung versprochen. Sie sollten derjenige sein, der sie nimmt.«

»Okay«, erwiderte er. »Aber nicht heute Nacht.«

Dies war nicht richtig. Dies war so etwas von nicht in Ordnung. Alles war schiefgelaufen, und ich … ich merkte erst, dass ich seufzte, als ich meinen Mund das Geräusch machen hörte.

Lucas gab ein tiefes, männliches Lachen von sich. »Ich komme morgen wieder, versprochen.«

Ich öffnete den Mund, um ihm weiter zu widersprechen, um ihn notfalls zu Boden zu werfen und zum Bleiben zu zwingen.

Aber dann sagte er: »Das wird schon, Rosie.« Sein Gesicht wurde ernst. »Alles wird gut.«

Und meine gesamte Entschlossenheit, mich zu wehren, schwand dahin, und die Erschöpfung brach sich Bahn. All die Jahre, in denen ich versucht hatte, alles zusammenzuhalten, im Griff zu halten, immer allein, fluteten über mich hinweg. Vom Kopf bis zu den Zehenspitzen, wie eine Woge. Und nur einmal, nur dieses eine Mal, dass jemand diese drei Wörter zu mir sagte, alles wird gut, statt dass ich diejenige war, die damit andere tröstete, spürte ich das Bedürfnis, loszulassen.

»Okay. Danke, dass Sie das machen«, murmelte ich und meinte es mehr, als Lucas vermutlich jemals wissen würde.

Er nickte leicht und machte einen weiteren Schritt weg von mir. »Dann bis morgen. Diesmal klopfe ich, versprochen.«

Ich versuchte, etwas Kluges und Witziges zu sagen, aber wozu letztlich? Ich hatte die ganze Sache bereits in den Sand gesetzt. Erste Eindrücke waren wie mit unlöschbarer Tinte geschriebene Wörter. Waren sie erst zu Papier gebracht, ließ sich kaum mehr etwas ändern. Also starrte ich ihn nur an, als er den Knauf drehte und die Tür öffnete.

»He, Rosie?«, sagte er, bevor er über die Schwelle trat. »Es war nett, endlich Linas beste Freundin kennenzulernen.«

Endlich.

Er hatte endlich gesagt.

Genau wie ich vorhin. Aber vermutlich aus einem völlig anderen Grund.

»Gleichfalls, Lucas. Dies war alles … großartig.« Ein großartiges Desaster.

Seine Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln. »Tun Sie mir einen Gefallen und schließen Sie ab, wenn ich fort bin, okay?« Er drehte mir den Rücken zu und schritt davon. »Man weiß nie, wer vielleicht einbrechen könnte.«

Und einfach so sah ich Lucas Martín genauso leichtfüßig die Treppe hinuntergehen, wie er auf meiner Türschwelle gelandet war – oder auf Linas Türschwelle.

Als wäre dies nur ein Traum gewesen, alles ein Produkt meiner Fantasie.

Ein dummer und bizarrer Traum von einem Mann, dem ich per Display auf meinem Handy Monat um Monat nachspioniert hatte, alles dank der Magie der Social Media.

Ein Mann, in den ich mich aus irgendeinem Grund völlig und unsinnig verknallt hatte, obwohl ich ihn noch nicht einmal persönlich kennengelernt und nicht einmal geglaubt hatte, dass das je geschehen würde.

3

Rosie

Als ich am nächsten Morgen aufwachte – genau um sechs Uhr, wie an jedem Wochentag während der letzten fünf Jahre, obwohl es nicht mehr nötig war –, dachte ich sofort an einen gewissen dunkelhaarigen, dauerlächelnden Mann.

Und den Bruchteil einer Sekunde lang war ich überzeugt, alles nur geträumt zu haben.

Lucas Martín vor der Tür. Das anschließende Desaster.

Aber als die Sekunden dahintickten und mein Kopf klarer wurde, begriff ich, dass nichts davon ein Produkt meines Unterbewusstseins war. Es war wirklich passiert. Lucas war tatsächlich hier gewesen. Ich hatte ihn wirklich für einen Einbrecher gehalten. Und ich hatte es geschafft, den schlechtesten ersten Eindruck in der Geschichte erster Eindrücke zu machen.

Wir fangen noch mal von vorne an. Vergessen den heutigen Abend.

Wenn mir doch bloß so viel Glück beschieden wäre!

Ich legte den Arm über das Gesicht und stöhnte laut.

Um alles noch schlimmer zu machen, wurde mir jetzt, wo mein Gehirn nicht mehr so verwirrt war, klar, dass ich ihn hatte gehen lassen – sich in eine Stadt hinauswagen lassen, in der er gerade erst angekommen war –, ohne dass ich groß Widerstand geleistet hätte. Ich hatte die Wohnung genommen und ihn seinem Schicksal überlassen.

Himmel, ich war unmöglich.

Ich weigerte mich, die beruhigende Sicherheit des Betts meiner besten Freundin zu verlassen, und rollte mich auf die Seite. Mein Blick fiel auf ein gerahmtes Foto von Lina und ihrer Großmutter, das in einem Regal stand und mir in Erinnerung rief, wie nah sie ihrer Familie immer gestanden hatte.

Aber wieso hatte Lina dann nichts von Lucas’ Besuch gesagt? Lina war eher der zu mitteilsame Typ, vor allem mir gegenüber. Dies hätte sie doch zumindest am Rande erwähnt.

Zu Linas Verteidigung muss angeführt werden, dass sie, seit ihr Aaron letzten September einen Heiratsantrag gemacht hatte, nur noch mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt gewesen war. Von der anderen Seite der Welt aus eine Hochzeit in Spanien zu planen war nicht gerade einfach, und nachdem sie sich vor zwei Monaten bei einer wunderschönen Zeremonie am Meer das Jawort gegeben hatten, war alles, was darauf folgte, unglaublich überwältigend gewesen, auch wenn sie erst jetzt, im Oktober, in die Flitterwochen gefahren waren. Also nahm ich an … ich nahm an, sie musste es vergessen haben.

Ich schloss die Augen und kam zu dem Ergebnis, dass es so oder so keine Rolle spielte. Jetzt war Lucas in New York, und Aaron und Lina waren in Peru und genossen ihre wohlverdienten Flitterwochen. Ich hatte kein Recht, gekränkt zu sein.

Vor allem zumal ich meiner Umgebung gegenüber auch nicht ehrlich war. Lina hatte keine Ahnung, dass ich heimlich für ihren Cousin schwärmte. Und das war nichts im Vergleich dazu, wie ich Dad und Olly seit Monaten über meine berufliche Situation belog. Seit Monaten.

Auf einmal fasste ich neuen Mut.

All das hörte heute auf. Keine weiteren Lügen.

Ich würde Lina wissen lassen, was gestern passiert war, und ich würde nach Philly fahren und Dad besuchen. Vielleicht konnte Olly dazukommen. Jedenfalls wenn er aufhörte, unsere Anrufe wegzudrücken.

Ich lehnte mich mit dem Rücken an das Kopfteil, griff nach meinem Handy, rief Linas Namen in der Nachrichten-App auf und begann zu tippen.

He, ich hoffe, euch beiden Turteltauben geht es gut in Peru. ❤ Hör mal, gestern Abend …

Mein Daumen schwebte zögernd über dem Display.

Gestern Abend … hätte ich beinahe deinen Cousin verhaften lassen. Überraschung!

Nein. Das war definitiv nichts.

Ich löschte alles und fing neu an.

Gestern Abend … bekam meine Decke einen Riss, deshalb bin ich mit deinem Ersatzschlüssel in deine Wohnung (konnte dich nicht erreichen, wusste aber, du hast nichts dagegen). Jedenfalls war alles bestens, bis Lucas auftauchte und ich ihn irgendwie für einen Einbrecher hielt. Erinnerst du dich an Lucas? Deinen Cousin? Der, dessen Instagram-Profil du mir vor einer gefühlten Ewigkeit gezeigt hast? Nun, ich habe es mir … angesehen. Ein paarmal. Mehr als nur ein paarmal. In etwa jeden Tag? Es ist schwer zu erklären, aber denk an … Joe Goldberg. Ohne die Morde.

Ja, auch ein Nein. Das war zu lang für einen Text.

Das Wort Morde war vermutlich auch ein No-Go.

Mit einem tiefen, lauten Seufzer löschte ich den Text und ließ das Handy in meinen Schoß fallen.

Die Wahrheit lautete, dass ich Lucas in gewisser Weise online nachgestellt hatte. Wenn auch total harmlos.

Seit Lina mir einen seiner Posts in den Social Media gezeigt hatte, war ich neugierig geworden. Aber ich hatte erst seit Aarons Heiratsantrag vor einem Jahr angefangen, Lucas’ Profil regelmäßig aufzurufen, und ich hatte … gehofft, ich würde ihn bei der Hochzeit kennenlernen. Und so einfach hatte sich etwas, das als reine Neugier begonnen hatte, verselbstständigt.

Bei jedem Foto, das er postete, ob er darauf zu sehen war oder nicht, bekam ich Schmetterlinge im Bauch. Jede kurze, aber immer witzige und ehrliche Bildunterschrift brachte mich ihm ein wenig näher. Jeder Clip, den er hochlud, gewährte mir einen Einblick in Tacos und sein Leben. In den attraktiven, gut aussehenden Mann, der er war.

Es hatte natürlich nicht geschadet, dass er als Profisurfer in den meisten Posts kein Hemd trug.

Manche Leute hatten Berühmtheiten wie Chris Evans oder Chris Hemsworth oder irgendeinen anderen Chris, um sich vorm Schlafen einen Serotoninstoß zu gönnen. Ein bisschen Tagträumen und viel Wunschdenken. Und ich nahm an … ich nahm an, ich hatte Lucas Martín gehabt.

Es war nichts als eine dumme, unschuldige Vernarrtheit in jemanden gewesen, den ich im Grunde nicht kannte. Außerdem hatte es in dem Moment aufgehört, als er auf mysteriöse Weise verschwunden war, nichts Neues mehr gepostet hatte – schon Wochen vor Linas und Aarons Hochzeit – und zur Zeremonie nicht erschienen war. Ich hatte den ganzen Unsinn abgeschrieben und mir gesagt, genug ist genug.

Mein Handy klingelte, und all das war sofort vergessen, als das Foto meines kleinen Bruders im Display erschien.

»Olly?«, sagte ich, während mir fast das Herz stehen blieb. »Wo zum Teufel hast du gesteckt? Warum hast du auf keinen meiner Anrufe reagiert? Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?«

Durch die Leitung kam ein tiefer Seufzer. »Es ist nichts passiert, Rosie.« Die Stimme meines Bruders war tief, und dieser Bariton rief mir ins Gedächtnis, dass er kein Kind mehr war. O nein, er war ein neunzehnjähriger Erwachsener, der meine Anrufe wochenlang auf die Mailbox hatte gehen lassen. »Und es tut mir leid. Ich war … beschäftigt. Aber jetzt rufe ich dich zurück.«

»Beschäftigt – womit?«, fragte ich, bevor ich mich bremsen konnte.

Als Dad vor einem Jahr verkündet hatte, dass er Queens verlassen würde, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte und wo Olly und ich aufgewachsen waren, um nach Philly zu ziehen, hatte Olly beschlossen, dazubleiben. Außerdem hatte er uns informiert, dass er nicht wie ich aufs College gehen würde. Und wir hatten ihn unterstützt, hatten ihn ermutigt, herauszufinden, was ihn glücklich machte. Ich hatte ihm bis vor Kurzem sogar mit Miete und Unterhalt geholfen. Aber es fiel ihm schwer, seine Berufung zu finden. Es fiel ihm auch schwer, eine Arbeit länger als ein paar Wochen durchzuhalten.

Es blieb derart lange still, dass ich schon fürchtete, er hätte aufgelegt.

»Olly?«

Ein weiterer Seufzer.

»Hör mal«, sagte ich, und in diesen zwei Wörtern lagen alle in mir aufwallenden Gefühle. »Ich gehe nicht auf dich los. Ich liebe dich, okay? Du weißt, dass ich das tue, mehr als alles andere. Aber du hast mich seit Wochen ignoriert, hast mir nur kurze Textnachrichten geschickt, damit ich nicht ausflippe und dich als vermisst melde.« Was ich getan hätte. Auf alle Fälle hätte ich das getan, wenn es so weit gekommen wäre. »Also sag bitte nicht, du warst beschäftigt, und erwarte, dass ich das als Erklärung akzeptiere. Sag nicht …«

»Ich hatte in der Arbeit viel zu tun, Rosie.«

Kurz schöpfte ich Hoffnung, aber sogleich türmten sich Hunderte weiterer Fragen auf.

»Großartig«, erwiderte ich und schob meine Sorgen beiseite. »Was für eine Arbeit ist es?«

»Es ist … in einem Club. Einem Nachtclub.«

»Einem Nachtclub«, wiederholte ich und zwang mich, objektiv zu bleiben. »Als Bedienung? Das hast du versucht und …« Nach drei Wochen aufgegeben. »Du hast es versucht, und es war nichts für dich. In einem Café, erinnerst du dich?«

»Ich serviere keine Drinks«, erklärte er. »Ich mache etwas anderes. Es ist … nicht so leicht zu erklären. Aber ich verdiene gutes Geld, Rosie.«

»Mir ist egal, wie viel du verdienst, Olly. Mir ist wichtig, dass du glücklich bist. Dass du …«

»Das bin ich, okay? Ich bin kein Kind mehr, und du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.«

Bei seinem du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen hätte ich beinahe spöttisch gelacht, verkniff es mir aber. Olly war erwachsen, und ich verstand sein Bedürfnis nach Grenzen. Seinen Wunsch, nicht bemuttert zu werden. Aber ich war noch immer seine große Schwester, und er war noch immer das Kind, das ich mit Froot Loops vollgestopft hatte, wenn abends unser Kühlschrank leer war und Dad Nachtschichten arbeitete. »Okay, okay, schon gut. Ich sage nichts mehr.« Dann fügte ich hinzu: »Für heute.«

Er murmelte ein halbherziges »danke«.

»Hör mal.« Ich lenkte das Gespräch auf sichereren Boden. »Ich habe mir gedacht, ich kaufe ein paar Würstchen im Schlafrock und fahre heute nach Philly. Überrasche Dad mit Brunch. Magst du nicht mitkommen? Am Abend wärst du wieder zurück. Wie wäre es, wenn wir uns am Bahnhof treffen und gemeinsam fahren?«

Kurze Stille, dann fragte er: »Musst du heute nicht ins Büro? Es ist Montag.«

Ich zuckte zusammen und verfluchte mich lautlos für meinen leichtsinnigen Schnitzer. Oh, Mist. »Ich … ja. Du hast recht.« Genau genommen hatte er das. Was Olly – oder Dad – nicht wusste, war, dass ich InTechs Manhattaner Zentrale schon seit sechs Monaten nicht mehr das Büro nannte. »Aber ich habe mir den Tag freigenommen. Nur heute. Mein Chef ist … flexibler mit meinen freien Tagen, jetzt, wo ich, du weißt schon, Teamleiterin bin.«

»Ach, stimmt. Meine große Schwester ist jetzt Chefin.« Er kicherte, und ich wünschte mir, ich würde das häufiger hören. Ich wünschte mir, ich würde ihn nicht anlügen und er würde auch nichts vor mir verbergen. »Dann zahlt sich die Beförderung, die du letztes Jahr bekommen hast, also aus, wie? Hast du vor, die Leiter noch weiter hinaufzuklettern, große Schwester?«

»Oh, das habe ich nicht vor, glaub mir.« Nicht, da ich doch in Wirklichkeit hinuntergestiegen und weg von der Leiter war. Ich streckte meine Beine, schwang beide Füße auf den Boden und stand auf. »Also, kommst du mit? Zu Dad?«

»Ich …« Er sprach nicht weiter, was mir deutlich genug zeigte, dass er mich gleich abwimmeln würde.

»Bitte, Olly. Es gibt da etwas, das ich euch erzählen will. Euch beiden. Und Dad vermisst dich. Ich erfinde seit Wochen Ausreden für dich, und allmählich fallen mir keine mehr ein. Bitte, komm mit.«

Er seufzte. »Okay, ich schaue mal, was sich machen lässt.«

Ein Fortschritt, hoffte ich. »Ich schicke dir die Abfahrtszeit des Zugs, ja? Wir können uns am Bahnhof treffen.«

»Ja«, erwiderte er, und meine Hoffnung wuchs wieder. »Ich … liebe dich, Bean.«

Bean. So hatte er mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr genannt. »Ich liebe dich auch, Olly.«

Und mit diesen Abschiedsworten stand mein Entschluss fest, dem Mann die Wahrheit zu sagen, der mehrere Jobs gleichzeitig gemacht hatte, um meinem Bruder und mir ein gutes Leben zu ermöglichen, nachdem er mit uns allein zurückgeblieben war. Dem Mann, der uns allein großgezogen hatte, nachdem unsere Mutter auf und davon war und uns zurückgelassen hatte. Dem Mann, der mich mit seinem Schweiß und seiner stahlharten Entschlossenheit durch das College gebracht hatte. Dem Mann, dem ich die finanzielle Sicherheit verdankte, die der Ingenieursabschluss bis vor Kurzem für mich bedeutet hatte. Bis zu jenem Tag vor sechs Monaten, als mich ein Sinneswandel dazu gebracht hatte, mein Leben zu ändern. Meinen Beruf.

Oh, verdammt.

Wie sagte man solch einem Mann, dass ich beschlossen hatte, die sichere, gut bezahlte Stellung aufzugeben, für die er – und ich – so hart gearbeitet hatte, nur um Träumen hinterherzujagen, die nicht mehr als Tinte auf Papier waren?

Wie sagte man einem Mann, der so viel geopfert hatte, dass ich eine gesicherte Karriere mit großartigen Aussichten für eine aufgegeben hatte, für die es keine Garantien gab?

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Und genau deshalb lastete das Gewicht dieses Geheimnisses seit Monaten auf meiner Schulter.

Aber das hörte heute auf.

Dieses Mantra murmelte ich wieder und wieder, während ich mich fertig machte. Ich zog das Erstbeste an, was ich aus meinem Koffer ziehen konnte: eine hellblaue Jeans und ein übergroßes burgunderrotes Sweatshirt. Und wie quasi jeden Morgen versuchte ich vergeblich, meine widerspenstigen dunklen Locken zu bändigen, und steckte sie schließlich locker oben auf meinem Kopf fest.

Sobald ich draußen war, überlegte ich, wie ich vorgehen wollte.

Zuerst würde ich bei O’Brien’s, einer Bäckerei hier in Brooklyn, nur wenige Minuten von Linas Wohnung entfernt, Dads Lieblingswürstchen im Schlafrock holen. Ich würde warten, bis er in die leckere gebackene Köstlichkeit gebissen hatte, und peng, würde ich die Bombe platzen lassen.

Es war ein guter Plan.

Zumindest versuchte ich mich davon zu überzeugen, als ich die Bäckerei betrat, meine Bestellung aufgab und sie mit dem Bestechungsmaterial für Dad in der Hand wieder verließ. Deshalb wäre ich vermutlich auch beinahe gestürzt, als ich auf den Bürgersteig hinaustrat und mein Blick in das Fenster des Diners auf der gegenüberliegenden Straßenseite fiel.

Ich schaute ein zweites Mal hin. Ein drittes. Vermutlich starrte ich mehr als eine Minute lang.

Aber wie hätte ich das auch nicht tun sollen, wenn Lucas dort am Fenster des Diners saß, die Haare völlig verwuschelt, die sehnigen, kräftigen Arme vor der Brust verschränkt? Der Mund, den ich die meiste Zeit hatte grinsen sehen, hing offen, sein Kopf lehnte an der Rücklehne des Sitzes, und ich stellte fest, dass er dieselben Sachen trug wie am Abend zuvor.

Aber ich musste mich irren. Das konnte nicht Lucas sein.

Er konnte nicht in diesem Diner schlafen, vor einem Becher und einem leeren Teller. Er sollte doch in einem Hotel sein. Außer …