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Nevea Muller, 12 Jahre alt, lebt in einem Vorort von Los Angeles. Sie gilt aufgrund des Reichtums ihrer Eltern als eingebildet und unnahbar. Weil scheinbar niemand sie versteht, flüchtet sie sich mehr und mehr in einen immer wiederkehrenden Traum, surreal, mysteriös und gruselig. Je öfter sie dort ist, je mehr verschmelzen Traum und Realität für Nevea, und bald kann sie nicht mehr unterscheiden, was echt ist und was nicht. Kitty Linnore, einst die Kaiserin einer fantastischen, zauberhaften Parallelwelt, erlebt als junge Erwachsene den blanken Horror, als ihr Freund Dennis plötzlich spurlos verschwindet. Als er nach einem halben Jahr für tot erklärt wird, begibt sie sich in der ehemaligen Traumwelt ihrer Kindheit auf die Suche nach ihm. Hannah Fanning, 17-jährige Schülerin eines geheimnisvollen Internats, besitzt ein altes Möbelstück, in dem die Ecke eines Spiegels fehlt. Als die passende Glasscherbe gefunden wird und entgegen des Verbots der damaligen Verkäuferin eingesetzt wird, wird Hannah mit ihrer Zimmerkollegin in eine fremde, surreale und apokalyptische Welt geholt, von der man sagt, es seien die Überreste des Sterns der Reiche, seinerzeit unter dem Namen Naytnal bekannt. Drei Geschichten, drei unterschiedliche Wege, drei völlig verschiedene Menschen. Sie alle haben jedoch eines gemeinsam: Wo immer sie sind, jedem von ihnen begegnet ein seltsames, geheimnisvolles Mädchen, die auf den Namen Avalonie hört. Was will Avalonie von ihnen? Wer ist sie, und warum hat sie zu Nevea, Hannah und Kitty Verbindung aufgenommen?
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Seitenzahl: 395
Für Nadja.
Weil du diejenige warst, die mir eine Türe in eine andere Welt geöffnet hat. Diejenige, die mit ihrer Inspiration meinen Geschichten Leben einhaucht.
Für Jana.
Illusionen sind die Wahrheit unserer Welt.
Ein leises Geheul wimmerte durch den langen, düsteren Gang und schien an den dicken Steinwänden links und rechts abzuprallen. Aber das Geräusch, das so klang als ob ein kleines Kind weinen würde, war so leise, dass sie es fast nicht wahrnahm.
Sie schien schon seit Stunden zu laufen. Ihre Beine waren müde, und sie sah fast nicht, wohin sie trat. Einerseits fühlte es sich so an, als würde sie ständig auf der Stelle gehen, andererseits war der schmale Gang so lange, dass man weder seinen Anfang noch sein Ende sehen konnte, zumal es hier drin zappenduster war und nur das schwache Licht ihrer kleinen Kerze, die sie in der Hand hielt, das seltsame Gewölbe matt erhellte.
Nevea atmete heftig. Ihre Schritte verlangsamten sich, und nach einer Weile blieb sie dann stehen.
„Hallo?“, rief sie laut aus.
„Hallo?“, hallte es von den Wänden wieder.
Ruckartig drehte sich das etwa 12-jährige Mädchen um… aber da war niemand.
Die Kerze glitt ihr dann in der nächsten Sekunde aus den Händen und fiel auf den Boden. Nevea wollte sich gerade bücken, um sie wieder aufzuheben, aber dann ging die Kerze aus.
Nevea zitterte. Sie zitterte am ganzen Körper. Aber nicht, weil es hier unten kalt war, sondern weil sie Angst hatte. Sie hatte große Angst, und mit jedem Schritt, den sie schon gemacht hatte, wurde sie stärker.
Das Jaulen wurde plötzlich lauter. Nevea suchte etwas, irgendetwas, in das sie sich vergraben oder verkriechen konnte. Aber sie sah rein gar nichts, und sie hatte auch nichts bei sich, keine Jacke, keine Decke.
Plötzlich vermochte sie das Knarren einer riesigen Türe zu hören.
„He!“, rief sie. „Wer ist da?“
Keine Antwort.
Dann schlug die Türe scheinbar zu und fiel ins Schloss.
Und in der darauf folgenden Sekunde erhellte ein matter Schein von irgendwoher den schmalen, langen unterirdischen Gang des Kellergewölbes, in dem sie sich befinden musste.
Auf einmal sah Nevea vor sich diese riesige Türe. Sie war aus Gusseisen, war mehr als drei Meter hoch und oben abgerundet. Auf ihr waren seltsame Muster und noch seltsamere Schriftzeichen zu sehen, geschrieben in einer Sprache, die sie nicht zu kennen vermochte.
Nevea machte einen Schritt auf die Türe zu.
„Geh nicht hinein“, schien plötzlich eine Stimme aus dem Nichts zu ihr zu sagen.
Erschrocken drehte sich Nevea nach hinten, aber da war niemand. Hinter ihr war nur der endlose, lange Gang, und vor ihr war nur diese riesige Türe.
Wie lange mochte Nevea jetzt schon hier unten sein? Wie lange suchte sie schon nach einem Ausgang, irgendwohin nach draußen, ins Freie. Ganz gleich, ob es draußen Tag oder Nacht war, ganz gleich, wo sie sich befand, sie wollte einfach raus.
Und vor ihr war diese riesige Türe, von der sie nicht wusste, wohin sie führt. Es gab nur diese eine Möglichkeit.
„Geh nicht hinein“, ertönte die Stimme wieder.
Aber Nevea hörte sie nicht.
Vorsichtig legte sie ihre zarte Hand auf den riesigen Türknauf. Sachte rüttelte sie mehrmals daran.
Plötzlich sah sie für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht eines Jungen. Er steckte seinen Kopf durch die Türe hindurch, die noch verschlossen war, so wie ein Geist, der durch Wände gehen kann.
Und in der nächsten Sekunde war er weg.
Nevea bebte vor Angst. Ihre Hand hatte sie noch immer auf dem Türknauf liegend.
„Wer ist da?“, fragte sie leise.
Vorsichtig drückte sie den Knauf hinunter.
Die große Türe öffnete sich ganz langsam mit einem lauten Knarren… und dann wurde es plötzlich wieder stockfinster.
Nevea wischte sich ihre langen, dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und streifte sie über beide Ohren. Ihre Lippen zitterten so stark, dass sie ihren Mund nicht schließen konnte, abgesehen davon, dass das sowieso unmöglich war, weil sie so heftig atmete.
Die Türe ging ganz auf.
Und ganz vorsichtig tapste Nevea durch sie hindurch, alleine, in völliger Dunkelheit. Sie wusste, sie sollte nicht hier rein gehen, denn alle Gesetze sprachen dagegen. Alles, was sie wusste, verbot es ihr eigentlich, diesen Raum zu betreten und durch diese Türe hindurch zu gehen aber sie tat es. Sie tat es, obwohl sie wusste, dass dies das Falscheste war, was sie machen konnte.
Keine zwei Sekunden darauf fiel die Türe wieder ins Schloss.
Zitternd drehte sich Nevea um – und die Türe war weg. Einfach weg. Wie nie da gewesen. Völlig weg.
Nevea tastete an die Wand. Der Stein war nass und kalt. Und es fühlte sich ein bisschen so an, als würden zwischen den Ritzen der Backsteine, aus denen die Wand gemacht zu sein schien, Moose wachsen.
Wo auch immer sie jetzt war, sie war hier drin gefangen.
Plötzlich erhellte sich der Raum.
Wie?
Nevea hatte ihre Kerze verloren. Nevea hatte nichts, was brennen oder leuchten könnte. Sie hatte weder Streichhölzer noch eine Taschenlampe.
Aber da war ein seltsames Licht. Sie konnte nicht orten, woher es kam.
Nevea blickte nach hinten. Die Türe war nicht mehr da, nur eine karge, nasse Wand aus Backstein.
Vorsichtig drehte sich Nevea um.
An der linken Seite des scheinbar viereckigen Raumes war eine weitere Wand, genau so karg wie die hinter ihr. Und an der rechten Seite war es nicht anders.
Nevea blickte nach vorne, und sie glaubte nicht – wenn sie hier noch irgendetwas glauben konnte – was sie sah.
Vor ihr war ein riesiger Spiegel, der sich von der einen Zimmerecke bis zur anderen erstreckte.
Neveas Atem stockte, als sie es bemerkte: Sie sah sich nicht selbst.
In dem Spiegel war die Wand hinter ihr zu sehen. Aber sie hätte eigentlich auch sich selbst sehen müssen, wie sie davor steht und in den Spiegel starrt. Aber das war nicht so. Nevea sah im Spiegel nur einen leeren, dunklen Kellerraum.
Plötzlich gab es einen Schrei.
Und in der nächsten Sekunde starrte Nevea gebannt auf den Spiegel… weil sie auf einmal ein kleines Etwas sah. Eine Figur. Sie sah ein Kind in der Ecke des Raumes zusammengekauert in der Hocke sitzend.
Warum war ihr diese Person nicht eben schon aufgefallen? Wer war sie?
Nevea sah ruckartig in die Ecke hinter sich, die sie eben im Spiegel sah, aber da war keiner. Der matt erleuchtete Raum war noch immer leer.
Zaghaft schaute sie wieder in den Spiegel. Sie sah etwas. Sie sah ein Maisfeld? Bei Tageslicht? Ein kleines Mädchen, das durchs Maisfeld rannte, so als ob sie vor irgendetwas davon lief?
Nevea wollte losrennen, ihr durch den Spiegel folgen, den sie für einen Moment lang für einen Ausgang nach draußen hielt, aber dann verschwand das Bild wieder.
Ein weiteres Bild tauchte auf.
Nevea sah sich selbst. Sie lag auf einer Decke. Es war dunkel, und das Licht, das die Szenerie erleuchtete, mochte vom Mond kommen, der hell in ihr Zimmer schien. Nevea sah sich in ihrem eigenen Bett liegen.
Und dann kam dieser Mann, der dann etwas hervor holte, was sie nicht genau erkennen konnte. Es sah aus wie ein Seil.
Es wurde dunkel, und die Bilder verschwanden wieder, aber Nevea spürte noch den Lufthauch, der ihr um das Gesicht wehte.
Sie war die Zuseherin. Sie sah im Spiegel Bilder, die sie fühlen konnte. Aber etwas sagte ihr, dass sie nur eine Beobachterin war und dass dieser Spiegel ihr diese Bilder nur zeigte.
Warum?
Reflexartig machte Nevea einen Schritt nach hinten.
Plötzlich rempelte jemand sie an.
Sie drehte sich um, doch da war keiner.
Und dann sah sie wieder in den Spiegel.
Da war wieder das kleine Mädchen, das zusammengekauert in der Ecke des großen Raumes sitzen mochte.
Nevea sah sie im Spiegel an. Sie wusste, wenn sie sich zur Wand dreht, wo sie Laut Spiegel sein sollte, dann wäre das Mädchen nicht da.
Nevea drehte sich nicht zur Wand. Sie betrachtete das Mädchen im Spiegel und sah, dass es ihren Kopf in ihren Armen vergrub, immer noch in der Hocke sitzend. Sie sah nur das weiße Nachthemd, das sie trug, und ihre langen, blonden Haare.
„Wer… wer bist du?“, fragte Nevea das Kind im Spiegel.
Plötzlich hob das Kind seinen Kopf an.
So sehr hatte Nevea noch nie vor Angst gezittert. Ein solcher Schauer ist ihr noch nie über den Rücken gelaufen.
Das kleine Mädchen, das Kind… hatte keinen Kopf. Es hatte nichts an der Stelle, wo der Kopf sein sollte. Es hatte keinen Mund, keine Nase und keine Augen.
Und trotzdem sah es Nevea an.
Auf einmal reckte sich das kopflose Kind in die Hohe und stand auf. Und in der nächsten Sekunde machte das Mädchen einen Schritt auf Nevea zu.
Plötzlich blitzten zwei rote, feuerrote Augen aus dem Nichts, wo ihr Kopf sein sollte.
Ein Schrei, der vermutlich von dem Kind kam.
Nevea zuckte zusammen.
Im gleichen Moment stürmte das kleine Mädchen aus dem Spiegel heraus. Der Spiegel zerbrach jedoch nicht. Das Mädchen lief einfach aus ihm heraus.
Sie hatte plötzlich ein reißendes Gebiss mit Haifischzähnen, die sie fletschte.
Dann breitete das Mädchen ihre Arme aus und wollte Nevea packen…
Die Tränen hatte sie noch immer in ihren Augen. Ihr Zittern war noch immer so stark, dass man sehen konnte, wie ihr Körper bebte. Nur ganz langsam klang es ab, aber sie wusste nicht einmal, warum es so war.
Schritt für Schritt ging das vielleicht 12-jährige Mädchen mit den langen, nach hinten gekämmten und streng zusammengebundenen Haaren auf die Ampel zu. Als sie sah, dass die Fußgängerampel noch rot zeigte, fiel ihre Brille von der Nase. Schnell bückte sie sich, hob sie auf und setzte sie wieder auf, bevor noch irgendjemand merken könnte, wie durcheinander sie zu sein schien.
Was war nur geschehen? Irgendetwas war geschehen in den vergangenen Stunden, aber was?
Die Ampel wurde grün, und Nevea schien es nicht zu bemerken.
„Hey, du Troll“, sagte plötzlich ein Junge, der wie aus dem Nichts neben ihr aufzutauchen schien. „Grüner wird’s nicht.“
Das Mädchen blickte zur Seite und sah, dass neben dem Jungen noch zwei oder drei andere Kinder in ihrem Alter standen. Alle lachten. Sie sahen sie an und lachten.
„Na, Nivea, hast du dich wieder mit Hautcreme schick gemacht?“, sagte eines der Kinder.
„Wieder die teuersten Klamotten an, nicht?“, machte der Junge, der sie eben schon ansprach, zu ihr. „Deine Eltern können dir ja alles kaufen. Du wirst nie arbeiten müssen.“
„Lasst mich in Ruhe“, sagte Nevea verängstigt. „Ich werde wohl arbeiten. Ich werde eine berühmte Forscherin werden.“
„Nerd. Nerd.“ Die Kinder machten sich lustig.
„Ein normaler Beruf ist dir wohl nicht gut genug, stinkreiche Fotze.“ Der Junge stieß sie leicht.
„Fass sie doch nicht an, Joey“, meinte ein anderes Mädchen zu ihm. „Du holst dir noch die Reichen-Krankheit und wirst genauso eingebildet wie sie.“
„Die hat doch nichts, worauf sie eingebildet sein kann“, antwortete Joey dann. „Warte nur bis zur großen Pause, dann bist du dran.“
Die Kinder lachten hämisch und überquerten dann die Straße.
Als Nevea die Ampel überqueren wollte, war sie bereits wieder rot.
Los Angeles war um diese Jahreszeit, Ende September, immer noch recht warm. An den Stränden war noch immer viel los, und die City war auch noch überfüllt. Aber es waren jetzt nach den großen Ferien nicht mehr überwiegend die Touristen, nein, immer mehr Einheimische liefen durch die Stadt. Und auch die Berühmtheiten, die hier wohnten, trauten sich wieder mehr aus ihren prachtvollen Villen heraus.
In Burbank, einem Vorort von Los Angeles, waren die meisten Leute reich und hatten große Häuser. Und die Schulen waren Elite-Schulen, den Reichen vorbehalten. So auch Neveas Schule.
Aber Nevea Muller war noch reicher als reich. Ihrem Vater gehörten über 50 Prozent der Anteile der führenden Bank, und er machte einen Jahresumsatz, den andere, normale Menschen nicht in ihrem ganzen Leben machten. Die Familie hatte mehrere Dienstboten im Haus, für jeden Bereich einen. Und das Haus erst – es war immens. Nie mussten die Mullers einkaufen gehen, weil ihre Dienstboten alles, was sie brauchten, abholten oder sie es geschickt bekamen. Die Mullers hatten sogar ihre eigene Postvertriebsstelle und – natürlich – eine stehende Leitung und Verbindung zur Wallstreet.
Nevea Muller hätte es also nicht besser treffen können. Und doch war sie unglücklich, denn das, was sie sich wünschte, konnte man mit allem Geld der Welt nicht kaufen – einen wahren Freund.
In der Pause standen die Schüler und Schülerinnen in Gruppen zusammen, diskutierten die neuesten Kinofilme, erzählten sich, was sie am Vorabend gemacht haben oder auf welchen Feten sie waren.
In einer Ecke saß Nevea alleine auf einer Steinmauer und las in einem Buch. Ihr Gucci-Anzug, den sie trug, glich einer Schuluniform, und das, obwohl man in dieser Ecke von LA keine brauchte, weil die Schüler hier sowieso alle aus den gleichen Kreisen kamen.
Sie holte dann einen Stift heraus, während sie das Buch zur Seite legte. Erst jetzt konnte man erkennen, dass es kein gekauftes war, sondern eher eines mit leeren Blättern zum Reinschreiben.
Nevea klappte schließlich das Buch wieder auf und schrieb etwas hinein.
Plötzlich fiel es hinunter.
Aber Nevea machte keine Anstalten, es aufzuheben. Sie starrte es an.
Mit einem Mal schoss ihr ein Bild durch den Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte es sich so an, als wäre Nevea nicht hier.
Sie konnte nicht orten, was sie sah, dafür war es zu kurz. Sie wusste nur, dass sie möglicherweise einen Schatten sah, einen Schatten von irgendwas, das nicht hierher gehörte und ihr unheimlich war. Und sie konnte den Schatten nur deshalb kurz sehen, weil sie das Gefühl hatte, dass für den Bruchteil einer Sekunde ein seltsames Licht aufflackerte, während die Sonne für eine Sekunde lang zu verschwinden schien.
Was war das? Hatte das mit den merkwürdigen Dingen zu tun, die sie letzte Nacht gesehen haben mochte, als sie schlief und an die sie sich aber nicht auch nur ansatzweise erinnern konnte, so sehr sie sich auch anstrengte?
Vielleicht wollte sie sich auch gar nicht erinnern, was sie letzte Nacht sah. Sie wusste nicht, warum, aber vielleicht wollte sie es nicht sehen.
Und in weniger als dem Bruchteil einer Sekunde war alles wieder ganz normal, und Nevea starre auf ihr Buch, welches am Boden vor ihren Füßen lag.
„Hey, Nivea, du Troll“, sagte ein Mädchen, das mit einer Gruppe weiterer Mitschülerinnen plötzlich in der Ecke auftauchte. „Was hast du da?“
„Ich heiße Nevea“, betonte Nevea. „Nicht Nivea.“
Sie wollte gerade das Buch wieder aufheben… da packte das eine Mädchen es und lief zwei Schritte von Nevea weg. Zitternd und regungslos saß Nevea auf ihrer Steinwand.
„Gib es wieder her“, sagte sie.
„Ein Notizbuch“, meinte eines der Mädchen.
„Noch besser“, sagte diejenige, die das Buch in der Hand hatte. „Es ist ein Tagebuch.“
„Gib!“, rief Nevea.
Aber die Mädchen reagierten nicht, und Nevea war zu ängstlich, um aufzustehen und es sich wieder an sich zu reißen.
„Lies vor“, sagte das eine Mädchen.
Und das andere Mädchen las: „Er hat mich heute Morgen berührt. Joey hat mich berührt. Wäre ich nicht so durcheinander gewesen, hätte ich ihn vielleicht sogar angelächelt. Es war so schön, wie wir beide letzte Nacht im Traum zusammen durch den Mondschein gegangen sind und er mir sagte, dass er auf mich steht. Joey, ich liebe dich. Wirklich. Aber vielleicht wirst du es nie erfahren.“
„Hahaha…“, lachten die anderen.
„Die krasseste Außenseiterin, die Streberin, der Nerd, sie steht auf den beliebtesten Jungen in unserer Schue“, stellte das eine Mädchen fest, die das Buch hatte.
Nevea zitterte.
„Du Troll, meinst du wirklich, er wird dich jemals bemerken?“ Das Mädchen lachte Nevea aus.
Und dann schmiss sie das Buch vor Neveas Füße.
Und Nevea nahm es wortlos, und dann ging sie langsam weg. Als sie ein paar Meter entfernt war, rannte sie. Sie rannte raus aus dem Hof, rannte über die Straße und lief dann in die angrenzende Siedlung.
Jetzt schien es vertan. Joey wusste jetzt Bescheid, sie würden es ihm in jedem Fall sagen, dachte sie bei sich. Und dann würde er zu ihr kommen und sie auslachen, genau wie die anderen. Und sie hätte nie wieder eine Chance bei ihm. Weil er sich mit so einer wie Nevea ja nie abgeben würde. Nevea wusste das, aber sie hatte bis eben noch einen Funken Hoffnung gehabt. Der schien jetzt aber verflogen.
Langsam lief Nevea nach Hause zurück. Es war egal, wenn sie einen Tag schwänzte, ihre Eltern hatten Privatlehrer für die Ferien engagiert, und einer von ihnen würde jetzt einfach rauskommen und mit ihr den heute verpassten Stoff nacharbeiten.
Den Dienstboten, der ihr die Türe öffnete, registrierte Nevea schon gar nicht mehr. Und als sie der Butler ansprach – oder einer von ihnen, denn die Familie hatte insgesamt fünf Butler – schien sie das auch nicht zu bemerken. Ihre Eltern waren sowieso nicht da, der Vater war wie immer im Büro, und die Mutter auf irgendwelchen Veranstaltungen zur Repräsentation von irgendwas.
Nevea blieb bis zum späten Abend einfach auf ihrem Bett liegen und starrte in die Leere. Sie starrte nicht mal aus dem großen mit Gardinen verzierten Fenster. Einfach nur an die Zimmerdecke schaute sie.
Nach und nach begann sie, die Stuckverzierungen daran zu zählen. Als sie fertig war, zählte sie die vielen hundert kleinen Glühbirnen ihres goldenen Kronleuchters, der an ihrer Zimmerdecke hing.
Plötzlich klingelte ihr Handy.
Wer könnte sie anrufen? Es rief sie außer Mom und Dad nie jemand an. Wer könnte es sein?
Zaghaft ging Nevea dran.
„Ja?“, sagte sie.
„Troll“, sagte die Stimme am anderen Ende. Sie gehörte zu einem Mädchen, und Nevea erkannte sie als die ihrer größten Gegnerin Melissa, die ihr heute Morgen auch das Buch entrissen hatte und Nevea eigentlich schon immer auf dem Kieker hatte. „Du Nivea-Troll. Du eingebildete Schlampe, du hast ja gar nichts, worauf du eingebildet sein könntest. Du hast nur das Geld deiner Eltern. Du hast nichts Eigenes und bist nichts. Und vergiss Joey, du wirst ihn nie bekommen.“
Dann legte Melissa auf, ehe Nevea antworten konnte. Und vielleicht wollte sie auch gar nicht antworten.
Und schon schoss ihr Joey wieder in den Kopf. Ob er es schon wusste? Ob sie es ihm gesagt haben, und sie sich morgen in der Schule auf wer weiß was gefasst machen könnte?
Nevea atmete resigniert aus und wischte sich eine kleine Träne aus den Augen.
Dann klingelte das Handy wieder, diesmal war es der Ton einer Nachricht.
Nevea reagierte erst gar nicht.
Nach einer Minute nahm sie dann doch das Handy in die Hand. Sie öffnete die Nachricht…
„Wann kommst du?“, las sie.
Der Absender war unbekannt.
Nevea sah auf das Handy.
„Wann kommst du?“
Wer hatte diese Worte geschrieben? Und warum?
Plötzlich donnerte es, und ein Blitz zuckte draußen.
Und schon in der nächsten Sekunde fielen die Lichter im Raum aus.
Nevea sah nur auf ihr matt beleuchtetes Handy. Noch immer war die Nachricht geöffnet, die Nachricht, die nur aus den Worten bestand: „Wann kommst du?“
Sie wusste nicht, warum, aber plötzlich hatte sie Angst.
Dann zuckte wieder ein Blitz draußen, und wieder erschallte ein lauter Donner.
Und aus irgendeinem Grund fiel es Nevea plötzlich schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Diese Worte fesselten sie auf einmal und gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf…
Als es erneut blitzte, schreckte Nevea hoch und sah auf einmal einen Schatten, mitten in ihrem Zimmer. Eine Silhouette.
„Wann kommst du?“, hörte sie die verzerrte Stimme eines kleinen Mädchens.
Plötzlich ging das Licht im Raum wieder an.
Und der Kronleuchter wackelte, genauso wie der Schaukelstuhl, der rechts neben ihrem großen Himmelbett stand.
War jemand hier in ihrem Raum gewesen?
Nevea zitterte.
Nach Minuten nahm sie wieder ihr Handy. Sie tippte vorsichtig auf der Tastatur herum und wollte noch einmal die unheimliche Nachricht sehen, die sie vorhin bekam, aber als sie im Feld Nachrichten nachlas, war die Nachricht verschwunden. So als habe sie nie existiert.
Nachdenklich und voller Angst ließ Nevea sich ins Bett fallen.
Ihre Gedanken und Gefühle verschwammen. Bald schon wusste sie nicht mehr, wo sie war.
Oder wer sie war.
Wieder war es dunkel.
Und still. Nevea hörte nur den Herzschlag ihres eigenen Herzens, und das heftige Atmen, welches ebenso von ihr kommen musste. Immer schneller atmete sie ein und aus. Es fühlte sich an, als ob sie rennen würde, aber in Wahrheit stand sie still auf einem Fleck, angstvoll und zitternd.
Für einen Moment dachte sie, sie hätte einen Lichtschein gesehen, aber das war wohl eine optische Täuschung, und in ihren Augen flimmerte lediglich das Restlicht des vergangenen Tages.
Wo zum Henker war sie? Und wann ist sie hierher gekommen?
Nevea versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Es schien ihr nicht zu gelingen.
Eben noch lag sie doch in ihrem Bett, dachte sie bei sich. Wann ist sie aufgestanden, wann ist sie hinaus gelaufen aus ihrem Haus, und wann ist sie nach dorthin, wo immer sie jetzt war, gelaufen?
Vielleicht war sie ja immer noch in ihrem Zimmer, könnte ja sein. Aber irgendetwas war ganz seltsam und völlig unheimlich. Nevea hatte Angst. Sie versuchte es nicht zu zeigen, aber sie war sehr ängstlich.
Vorsichtig stapfte sie mit einem Fuß auf. Der Boden war steinig und hart. Sie trug nur Socken, keine Schuhe, und sie spürte, dass der Boden nass war. Nass und glitschig.
Schnell wischte sie sich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Dann fuchtelte sie langsam mit ihren Armen vor sich herum.
Es war, als gäbe es nichts, woran sie sich hätte fest halten können. Es war so, als wäre da nichts in ihrer Nähe, keine Wand, keine Türe, geschweige denn ihr Bett oder der große Schaukelstuhl.
Nevea schien definitiv nicht mehr in ihrem Zimmer zu sein. Aber wo war sie dann?
Plötzlich hörte sie ein Poltern. Der Klang verhallte schnell, aber das Echo hallte noch eine ganze Weile nach, und es wurde scheinbar mehrmals wiederholt, so als würde es von vielen Wänden abprallen.
„Hallo?“, fragte Nevea vorsichtig.
„Hallo?“, ertönte ihr Echo mehrmals.
Dann war es wieder totenstill. Nevea hielt den Atem an, und das Einzige, was sie hörte, war das Schlagen ihres Herzens.
Ganz vorsichtig und auf zittrigen Beinen stehend lief Nevea einen Schritt. Dann noch einen, dann einen weiteren… und dann blieb sie wieder stehen, weil sie dachte, sie hört etwas, aber da war nichts.
Plötzlich wieder dieses Poltern. Es hörte sich an, als würde jemand etwas ganz Schweres verrücken auf diesem steinigen, kalten, nassen Boden. Es polterte und quietschte mehrere Sekunden, und Nevea blieb vor Angst wie angewurzelt stehen.
Auf einmal wieder Stille.
Nevea hob ihren Arm und tastete nach rechts, und wie aus dem Nichts heraus war dort eine Wand. Sie schien genauso nass zu sein wie der Fußboden. Sie schien aus massivem Stein zu sein.
Nevea tastete vorsichtig auf die andere Seite. Dort war auch eine Wand.
Sachte tastete sie an der Wand entlang, dann lief sie nach vorne. Sie lief neben der Wand her, bis sie vor sich plötzlich eine Sackgasse vorfand, eine dritte Wand.
Auf einmal kam eine Stimme zum Vorschein. Nevea konnte nicht feststellen, was es war. Aber es klang wie ein Schrei oder ein Rufen. Aber es schien, dass sie die Worte nicht verstand.
„Hallo? Wer ist da?“, fragte sie dann laut.
Ihr Echo hallte wieder. Mehrmals.
„Ist da jemand?“, fragte sie schließlich.
Aber als Antwort bekam sie nur ihr Echo zu hören.
„Hallo, wer ist da?“, hörte sie sich selbst immer noch rufen, und der Klang vermische sich mit ihrem zweiten Satz, den sie sagte: „Ist da jemand.“
„Wo bin ich?“, rief sie.
Sie lauschte, ob ihr Echo wieder hallen würde, aber dann hörte sie nichts. Ihr letzter Satz klang so, als wäre sie eingeschlossen in einen kleinen Container. Es klang so, als wäre sie irgendwo auf engstem Raum.
„Avalonie“, hörte sie plötzlich eine Stimme. Die Stimme kam von ganz weit her und schien erst mit dem letzten Buchstaben nah zu kommen.
„Avalonie“, hörte sie wieder.
Plötzlich erleuchtete eine kleine, einsame Fackel. Sie schwebte von der Decke herunter und schwebte direkt in Neveas Hand. Vorsichtig nahm Nevea sie dann und sah sich um.
Nevea schien in eine Art Korridor zu sein. Ein langer, schmaler Gang erstreckte sich vor ihr, dessen Ende sie nicht ausmachen konnte.
Sie sah nach hinten, aber dort sah sie genau das Gleiche.
„Avalonie“, hörte sie die Stimme aus der Ferne wieder, die dann heranzunahen schien.
Plötzlich packte etwas oder jemand Nevea an der Schulter.
Nevea drehte sich um, und da stand ein Mädchen, vielleicht in ihrem Alter. Sie hatte lange, blonde Haare, genau wie Nevea. Sie trug ein weißes Gewand. Und sie sah mit ihren leuchtenden, blauen Augen Nevea an.
„Avalonie“, wisperte das Mädchen.
Jetzt klang die Stimme sehr nah, obwohl sie tonloser war als die ersten Male, als Nevea sie hörte.
„Wo bin ich hier?“, fragte Nevea das Kind.
„Avalonie“, hauchte das Mädchen.
Daraufhin nahm sie Nevea an die Hand. Nevea lief ein kalter Schauer über den Rücken, denn die Hand des Mädchens fühlte sich eisig kalt, fahl und tot an.
Das fremde Mädchen führte Nevea zu einem Gang, der vom Hauptkorridor rechts abbog. Sie liefen hinein und liefen den Gang dann bis zum Ende, und plötzlich tauchte ein weiterer Gang auf, diesmal zur linken Seite.
Als auch dieser durchschritten war, kamen sie an eine Gabelung, und dann ließ das Mädchen die Hand von Nevea wieder los.
Das Mädchen drehte sich zu Nevea.
„Valaya lasinja Avalonie“, sagte sie ganz leise.
„Ich verstehe nicht, was du sagst“, erläuterte Nevea ihr. „Ist Avalonie dein Name? Weißt du, wo ich hier bin?“
„Kojo simma lentje sontje navalis Avalonie“, sprach das Mädchen.
Und dann, als sie sich einen Schritt rückwärts von Nevea davon bewegte und in den linken Gang der Gabelung eintrat, verschwand der linke Gang auf einmal, und dort, wo er eben noch war, war jetzt eine Wand.
Und das fremde Mädchen war weg.
„Sontje navalis… Avalonie… wann kommst du?“, hörte sie sie noch rufen, aber zu sehen war sie nicht mehr.
Den letzten Satz hatte Nevea verstanden. Es war der gleiche Satz, den sie kurz zuvor auf dem Display ihres Handys als Nachricht erhielt. Der Satz, den sie in ihrem Zimmer zu hören glaubte, gesprochen von einer Stimme, die der des kleinen Mädchens von eben sehr ähnlich war.
Also hatte sie sich nicht getäuscht. Es gab diese Nachricht. Und es gab diese Stimme, die sie hörte.
Aber wo war sie nur? Was war das für ein merkwürdiges, scheinbar unterirdisches Kellerlabyrinth, durch das sie lief? Wie ist sie hergekommen, und wie um alles in der Welt würde sie wieder raus kommen?
Wieder veränderten sich die Wände mit einem Mal. Und vor ihren Augen… entstand plötzlich eine große, dunkle gusseiserne Türe.
Nevea stand vor ihr und sah sie an.
Sie wusste, sie dürfte nicht hinein gehen. Sie wusste irgendwie, dass es verboten war, sie zu durchschreiten und nachzusehen, was sich hinter ihr verbarg.
Aber eine unheimliche Macht gab Nevea das Gefühl, dass sie genau das tun müsste. Sie musste diese Türe öffnen.
Dann erinnerte sie sich anscheinend plötzlich ganz dunkel. Diese Türe… sie hatte sie schon einmal gesehen. Und mehr und mehr bekam Nevea das Gefühl, dass sie schon einmal hier gewesen war. Dass sie schon einmal vor dieser Türe stand und sie öffnete.
Aber was sich hinter ihr verbarg, was sie gesehen hatte, das wusste sie nicht mehr.
Vorsichtig öffnete Nevea die Türe, und plötzlich ging ihre Fackel aus, und es war wieder stockfinster.
Das Knarren der Türe hallte im ganzen Labyrinth wieder… und als Nevea den Raum betrat, fiel hinter ihr die Türe zu.
Nevea drehte sich um.
Die Türe verschwand aus der Wand, während zeitgleich ein mattes Licht zu leuchten begann. Ein Licht, dass von irgendwo her kam.
Nevea drehte sich nach vorne… und da war ein Spiegel. Ein Spiegel, der sich von der einen Seite des Raums bis zur anderen erstreckte.
Nevea sah in ihn hinein.
Da saß hinten in der Ecke dieses kleine Mädchen im weißen Gewand.
Nevea blickte in ihr Spiegelbild, aber als sie sich nach hinten drehte, wo sie sitzen mochte, war da niemand.
Sie sah erneut in den Spiegel, und da sah sie noch immer das Spiegelbild des kleinen fremden Mädchens.
„Avalonie?“, fragte Nevea. „Bist du das?“
Und mit einem Mal stand das Mädchen auf.
Als sie Nevea ansah, erkannte Nevea, dass die Kleine keine Augen hatte. Keine Nase, keinen Mund, keinen Kopf. Dort, wo er sein musste, war nichts gewesen.
Und das Mädchen im Spiegelbild reckte ihre Arme nach oben und machte einen Schritt auf Nevea zu.
Nevea suchte die Türe, den Ausgang, aber sie fand ihn nicht.
Sie schien hier gefangen zu sein. Und das kopflose Mädchen war dabei, sie in irgendeiner Weise anzugreifen. Langsam ging es auf Nevea zu, reckte beide Arme in die Höhe und schien sie packen zu wollen.
Nevea machte angstvoll einen Schritt zurück. Sie zitterte. Und fast war es, als würde das fremde Mädchen aus dem Spiegel heraus kommen.
Nevea wollte raus, einfach raus. Sie sah zur Wand und suchte nach irgendeiner Möglichkeit, diesem Raum zu entkommen, aber da gab es keinen Weg nach draußen.
Sie sah wieder in den Spiegel.
Es war für einen Moment so, als hätte die Zahnbürste, die in einem Glas auf dem Spiegelbord stand, sich bewegt. So, als hätte sie gerade jemand hinein geworfen, und jetzt zappelte sie noch zwei, drei mal hin und her.
Das Licht war weiß, aber nicht zu hell. Der Spiegel war von Kondenswasser durchtränkt, und der Hauch von Nebel, der aus Wasserdampf bestehen mochte, huschte noch durch das große Badezimmer. Man könnte meinen, jemand habe gerade gebadet oder geduscht, in der golden verzierten Wanne, die inmitten des riesigen Raumes stand.
Nevea starrte in den Spiegel. Mit großen Augen betrachtete sie das junge Mädchen, welches sie aus dem Spiegelbild heraus ansah. Nevea sah ihr nacktes Spiegelbild. Sie betrachtete ihre dünnen Arme, die beide eng an ihrem Körper lagen. Mit einer Hand tastete sie über ihren nackten Bauch und anschließend über ihre Brust.
Sie versuchte zu hören, ob das Wasser noch plätscherte. Aber es war stumm. Nicht mal das Ablaufen des Wassers, falls jemand hier gebadet hätte, war zu hören.
Und die Wanne schien trocken zu sein.
Hatte sie gerade gebadet? Geduscht, oder sich die Zähme geputzt?
Nevea sah noch immer in den Spiegel und sah aber nur ihren nackten Körper, der rötlich verfärbt war.
Wann war sie ins Badezimmer gegangen? Sie konnte sich nicht erinnern, geschweige denn einen klaren Gedanken fassen.
Sie drehte sich um und lief zur Wanne. Als sie feststellte, dass sie nicht nass war, schloss sie daraus, dass sie nicht gerade eben gebadet hatte. Aber warum stand sie dann splitternackt im Badezimmer? Ihr Körper war rötlich, so wie man es nach einer heißen Dusche oder einem heißen Bad kennt. Warum?
Vielleicht wollte sie gerade baden. Oder das hatte sie schon, und sie stand bereits seit Stunden hier vor dem großen Spiegel. Nevea rätselte, dachte nach, aber sie wusste es nicht mehr. Nichts, was in den letzten Minuten oder Stunden geschehen sein mochte, wusste sie.
Was ging hier vor?
Wo war sie eben noch? Sie war doch nicht hier, soviel wusste sie. Sie war vor einer Minute noch ganz woanders. Wie ist sie hergekommen, und wann ist sie – sollte sie in ihrem Bett gelegen haben und die Bilder, die sie matt in Erinnerung hatte, nur geträumt haben – hierher ins Badezimmer gegangen? Wann ist sie aufgestanden? Oder aufgewacht?
„Hallo?“, fragte sie ihr Spiegelbild, das sie sah.
Nevea sah in ihre großen Augen. Sie wischte sich ein paar Haare aus dem Gesicht und strich sich dann über ihre Augenbrauen.
„Hallo? Ist hier jemand?“, fragte sie und hörte gleichzeitig ihr Spiegelbild das Gleiche sagen.
Sie erhielt keine Antwort.
Nevea drehte sich um und band systematisch ihre schulterlangen, dunkelblonden Haare zu einem Zopf zusammen. Sie sah in die hintere Ecke des Raums. Sie sah zur Wanne, zur angrenzenden Umkleidebank und dann zu den Waschbecken.
Aber in der Zwischenzeit geschah etwas Eigenartiges, das Nevea nicht bemerkte. In dem Moment, als sie weg sah, bewegte sich ihr Spiegelbild nicht mehr. Das Ich im Spiegel folgte Neveas Bewegungen nicht, sondern sah mit seinen großen tiefblauen Augen aus dem Spiegel hinaus und blickte in den Raum hinein. Die Augen des Spiegelbildes verfärbten sich für Sekunden schwarz. Die Hand des Mädchens im Spiegel glitt in Sekunden zu ihrer Scham, verdeckte sie kurz oder rieb daran. Währenddessen schien das Spiegelbild die Augen zu schließen.
Nevea drehte sich wieder um zum Spiegel und das Spiegelbild öffnete ruckartig die Augen, nahm die Hand von ihrer Scham und sah sie an.
Daraufhin schnappte sich Nevea ein Handtuch, band es sich um und lief in Richtung Türe. Und ihr Spiegelbild blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete sie. Langsam folgten die Augen des Mädchens im Spiegel Nevea.
Als sie sich wieder zum Spiegel drehte, sah sie, dass ihr Spiegelbild noch immer splitterfasernackt war, obgleich sie selbst ein Handtuch umgebunden hatte. Das Spiegelbild hielt sich erneut eine Hand vor den Schoß, während die andere Hand versuchte, Nevea durch den Spiegel hindurch zu packen. Das Mädchen im Spiegel schien heftig zu atmen.
Nevea kniff ihre Augen kurz zu, und als sie sie wieder öffnete, sah sie sich ganz normal im Spiegel. Mit dem Handtuch, das sie um hatte.
Sie hob erst ihren rechten, dann ihren linken Arm, und das Spiegelbild machte das Gleiche.
Danach fiel das Handtuch herunter. Nevea nahm es – und in der Sekunde dachte sie schon anscheinend nicht mehr an den seltsamen Traum, den sie gehabt haben musste – und dann verließ sie den Raum.
„Avalonie…“, hauchte ihr Spiegelbild, das immer noch da war, auch als die Tür schon zu war und Nevea den Raum längst verlassen hatte.
Als das Licht im Raum aus ging, war auch im Spiegel niemand mehr zu sehen.
Nevea zog sich daraufhin in ihrem Zimmer an.
Langsam und scheinbar in Gedanken versunken schlenderte Nevea nach unten in den großen Saal, wo bereits der Frühstückstisch gedeckt war. Ihre Eltern saßen dort und aßen ihren Kaviar auf Baguette-Brot.
„Nevea, du bist spät dran“, mahnte der Vater sie.
Nevea reagierte nicht.
„Was ist los?“, wollte der Vater wissen.
Aber anscheinend erwartete er keine Antwort, denn schon im nächsten Moment sah er auf die Uhr und stand dann ruckartig auf.
„Wir reden heute Abend“, sagte er nur knapp und ging.
Wenig später machte sich auch Neveas Mutter zum Gehen auf, ohne Nevea Beachtung zu schenken.
„Nevea, soll ich Ihnen Rührei mit Austern machen?“, schlug der Butler vor, der neben dem Tisch stand.
Nevea reagierte nicht und sah auch nicht, dass ihre Mutter ihr kurz zunickte, als sie ging.
An der Ampel, die über die große Straße führte – es war der Schulweg, den sie jeden Tag ging – erwartete sie eigentlich wieder die üblichen Schüler und Schülerinnen, von denen sie immer gehänselt wurde. Aber sie waren nicht da. Gott sei Dank, dachte Nevea bei sich.
Plötzlich wurde sie von jemandem angerempelt.
„He“, machte sie und drehte sich um… und da stand auf einmal Joey, ihr Schulkamerad.
Neveas Herz schlug heftig.
Joey.
In ihren Träumen verbrachte sie schon so manche Nacht mit ihm. In ihren Träumen hat sie ihm schon längst gesagt, dass sie heimlich in ihn verliebt war.
Ob er es wusste? Ob die anderen es ihm gesagt haben und er schon Bescheid wusste, nachdem sie ihr Tagebuch in den Händen hatten und es wussten?
Nevea stand einfach da und starrte ihn an.
„Kannst du nicht aufpassen?“, fragte Joey dann im ruhigen Ton.
Nevea brachte keinen Ton heraus.
Sie hatte eigentlich damit gerechnet, dass er sie anspricht auf das, was gewesen war. Aber nichts dergleichen geschah.
Joey sah sie einfach an und schnaufte aus.
Die Ampel wurde grün, und Nevea und Joey überquerten die Straße.
„Stumm geworden über Nacht, was?“, machte Joey schließlich.
Oh, mein Gott, oh, mein Gott, dachte Nevea nur. Er redete mit ihr. Was sollte sie nur sagen? Jetzt bloß nichts falsch machen.
„Ich… ich…“
„Hör mal, ich weiß das von deinem Tagebuch“, sagte Joey dann nur knapp. „Ist alles okay bei dir?“
Was? Er schien nicht sauer zu sein? Er lachte sie nicht aus? Er fragte sogar, ob alles okay wäre?
Das war es aber nicht.
Nevea schüttelte ihren Kopf.
„Ich weiß nicht, wer du wirklich bist“, sagte Joey dann. „Ich kenne dich nicht richtig. Vielleicht bist du nicht die, die du augenscheinlich bist. Vielleicht bist du nicht so, wie die anderen dich sehen, das weiß ich nicht. Ich weiß nicht mal, ob du selbst weißt, wer du wirklich bist.“
„Was?“, stammelte Nevea.
„Ich bin auch nicht so, wie die anderen mich sehen“, meinte Joey. „Aber bitte tu mir den Gefallen und sag das niemandem.“
„Wie… wie bist du dann?“, traute Nevea sich schließlich zu fragen, während sie den Weg langsam neben Joey hertrottete, der den Hügel rauf zur Schule führte.
„Ist besser, das weißt du nicht“, meinte Joey dann nur. „Ich bin jedenfalls nicht so einer, wie sie mich sehen, die anderen. Und jetzt lass mich bitte, Nevea.“
Nevea blieb stehen. Und Joey lief weiter.
Er drehte sich noch mal zu ihr um und gab ihr dann noch ein Zeichen, indem er seinen Finger auf seine Lippen legte und lächelte.
Meine Güte, dachte Nevea.
Joey hat wirklich mit ihr geredet. Er hatte sie nicht nur bemerkt, nein, er war sogar… richtig freundlich? Warum? Kein beleidigendes Wort, keine gespielte Coolness – Joey war sogar fast nett zu ihr.
Nevea rutschte das Herz in die Hose, und es dauerte gefühlte Stunden, ehe sie weitergehen konnte.
In der ersten Stunde hatten sie Unterricht bei ihrer Klassenlehrerin.
„Freudige Nachricht“, meinte die Lehrerin dann, als die Klasse sich beruhigte. „Morgen findet ein Ausflug zum Strand statt, da die Temperaturen einfach zu warm sind, um zu lernen.“
Großer Jubel brach in der Klasse aus.
„Na, wird Nivea dann wieder ihr cremefarbenes Gucci-Kleid anziehen?“, fragte Melissa, die hinter ihr saß und die von Nevea meistgehasste Mitschülerin war, schon alleine deshalb, weil sie schon mehrmals versuchte, Joey anzubaggern.
„Was willst du?“, fragte Nevea dann forsch. „Und ich heiße Nevea, nicht Nivea.“
„Hautcreme, Hautcreme…“, riefen einige Kinder, während ein Gelächter losbrach.
„Schluss jetzt!“, mahnte die Lehrerin.
Dann begann der Unterricht.
In der Pause ging Nevea wieder in ihre gewohnte Ecke.
Ihren nächtlichen Traum, an den sie sich wenn überhaupt nur schemenhaft erinnern konnte, hatte sie schon längst nicht mehr auf dem Schirm.
„Hey, Nevea“, machte plötzlich die Stimme eines Jungen hinter ihr. Und plötzlich stand dort Joey.
Wahnsinn… sie und er alleine in der Ecke des Schulhofs…
Auf einmal wurde es Nevea schwummerig. Für einen Bruchteil einer Sekunde schien ihr die Luft wegzubleiben.
Daraufhin schloss sie kurz ihre Augen.
Als sie sie wieder öffnete, sah sie mit einem Mal so etwas wie ein Gitter. Einen Käfig aus Holz, und sie war dort drin? Und Joey stand neben ihr und sah sie lächelnd an?
Plötzlich verschwand das merkwürdige Bild wieder, und Nevea stand wieder im Schulhof. Aber was die Hauptsache war – sie stand dort zusammen mit Joey.
„Kann ich dich was fragen?“, meinte Joey dann auf einmal.
Nevea nickte.
„Kennst du manchmal auch solche Momente, die… die du einfach nicht zuordnen kannst oder nicht erklären kannst?“
Nevea nickte. Sie wusste nicht, was er meinte, oder warum er das sagte. Aber sie nickte.
„Ich kenne sie auch“, sagte Joey.
„Ey, Nivea“, rief plötzlich eine Mädchenstimme. „Was ist der Unterschied zwischen Wasser und dir? Wasser ist flüssig, du bist überflüssig. Also verpiss dich hier aus unserer Ecke.“
Melissa kam auf Nevea zugestürmt und stieß sie zu Boden.
„Das ist meine Ecke“, sagte Nevea leise, während sie sich versuchte, hochzuziehen. „Ich war zuerst hier?“
„Du siehst doch, dass Joey und ich uns hier ungestört unterhalten wollen, also zieh Leine. Aber schnell.“
Woher Nevea die Kraft nahm, wusste sie nicht. Aber auf einmal stürmte sie auf Melissa los und schmiss sie auf die Erde.
Melissa hob ihre Hände schützend vor ihr Gesicht.
Dann kratzte Nevea Melissa an der rechten Wange, dann noch mal an der linken Wange.
Melissa schrie und begann, Nevea an den Haaren zu ziehen. Dann zerkratzte sie auch ihre Wangen, und Nevea begann zu bluten.
„Hört doch auf“, meinte Joey dann, als er dazwischen ging und die beiden Mädchen trennte.
„Das kannst du vergessen“, sagte Melissa zu Nevea. „Du bekommst ihn nie. Eine wie du kriegt keine gut aussehenden Jungs, die stehen nicht auf Streberinnen.“
Und Nevea wollte gerade auf Melissa losgehen, da hielt Joey sie fest.
„Aber auf Schlampen, oder was?“, fragte Nevea nur.
Woher nahm sie nur diesen Mut?
„Jetzt hört sofort auf“, sagte Joey.
„Hey, Joey, was ist los?“, fragte Melissa. „Bist du cool, oder bist du cool? Warum verteidigst du die superreiche, eingebildete Nerd-Schnepfe noch?“
Nevea hörte gar nicht zu, was Melissa sagte. Sie holte ein Tuch aus ihrer Tasche und wischte sich damit ihre Blutstriemen aus dem Gesicht.
Und Joey warf Melissa einen verachtenden Blick zu.
„Das kriegst du wieder“, meinte Melissa dann nur zu Nevea.
Dann ging sie.
„Ist alles okay?“, fragte Joey Nevea dann.
„Geht schon“, sagte Nevea nachdenklich, während sie sich setzte.
„Die letzten Tage waren etwas seltsam, nicht wahr?“, wollte Joey dann wissen.
„Wie meinst du das?“, fragte Nevea.
„Nur so“, meinte Joey. „Ich wollte sagen, für mich waren sie auch seltsam… irgendwie.“
Und dann ging er.
Als sie von der Schule nach Hause kam, hatte sie immer noch einen hohen Herzschlag, weil sie einfach nicht glauben konnte, dass Joey so zu ihr war wie er war. Er hatte sie doch nie bemerkt. Er hatte sich doch nie um eine wie sie geschert oder sich daran die Hände dreckig gemacht.
Und jetzt war er so freundlich?
Mechanisch wackelte Nevea ins Badezimmer, zog sich die Jeans aus und streifte sich ihre Bluse ab. Dann wusch sie sich das Gesicht und die Haare, ohne den Gedanken an Joey zu verlieren.
Sollte sie bei ihm wirklich einen Hauch von Chance haben?
Warum war er so freundlich? Warum schien er sie sogar zu mögen?
Nevea wischte sich mit dem Handtuch die Wangen und Augen ab. Als sie in den Spiegel sehen wollte, stand sie auf einmal in einem großen Raum. Einem großen dunklen Raum. Der Spiegel war größer als der im Badezimmer. Er reichte von einem Ende zum anderen. Das Licht war matt und leuchtete nur düster. Der Boden war steinig und erdig. Und die Wände… waren wie die einer alten Burg komplett aus Backstein.
Im Badezimmer war sie jetzt definitiv nicht mehr.
Aber wo dann?
Erst jetzt bemerkte Nevea… dass sie ihr eigenes Spiegelbild nicht sah. Sie stand direkt vor dem Spiegel und sollte sich eigentlich sehen – aber da war nichts.
Plötzlich sah sie für den Bruchteil einer Sekunde mehrere Bilder. Sie konnte sie nicht zuordnen, aber sie bemerkte, dass sie aus dem Spiegel kamen.
Ein Maisfeld.
Ein Mann, der sie verfolgt.
Ein Flugzeug, dass über ihr fliegt.
Als sie dann ein kleines Mädchen in der Ecke des Raumes sitzen sah, dort, wo sie dem Spiegelbild zufolge sein sollte, zusammengekauert und ihren Kopf in ihren Armen vergrabend, blieb das Bild stehen.
Plötzlich tauchte ein Junge neben dem Mädchen auf.
Und als das Mädchen aufsah… sah Nevea, dass sie keinen Kopf, kein Gesicht und keine Augen hatte. Dort, wo der Kopf sein sollte, war nichts.
Und trotzdem fühlte Nevea, dass dieses Mädchen ohne Augen sie ansah.
Daraufhin sah sie das Gesicht des Jungen…
„Joey?“, flüsterte sie.
Und dann fiel ihr Handtuch zu Boden, und der Lichtschein des Badezimmers spiegelte sich in ihren frisch polierten Wangen wieder.
Nevea stand wieder mitten im Badezimmer.
„Was war das?“, flüsterte sie.
Plötzlich klingelte ihr Handy, welches sie auf das Bord des Spiegels gelegt hatte. Eine Nachricht, genauer gesagt, eine Sprachnachricht, kam herein.
Nevea rief sie ab.
„Avalonie“, hauchte eine flüsternde Mädchenstimme leise.
Es war dunkel und nass. Es schien, als hörte Nevea das Tropfen von Wasser an eine Fensterscheibe oder eine Wand klopfen, aber als sie genauer hin hörte, war es wieder still.
Sie hatte nur kurz ihre Augen geschlossen, aber plötzlich spürte sie, dass sie nicht mehr dort war, wo sie vor einer Minute zu sein schien.
Nevea erinnerte sich nicht. Sie wusste nicht, wann sie ins Bett gegangen war, wann sie eingeschlafen war, und ob überhaupt. Aber jetzt war sie sich sicher, dass sie träumte. Anders konnte sie sich nicht erklären, wie sie innerhalb einer Sekunde von ihrem Badezimmer an diesen Ort kam.
Nevea zitterte vor Angst. Aber irgendein Instinkt verriet ihr, dass sie jetzt keine Angst zeigen durfte. Still stand sie da und lauschte in die Dunkelheit hinein.
Dann hörte sie plötzlich ein heftiges Atmen.
Nevea erstarrte.
Sollte sie sich jetzt bemerkbar machen? Oder sollte sie lieber still sein und hoffen, dass man sie nicht bemerkt?
Das Atmen verstummte dann wieder.
Nevea tapste einen Schritt weiter, dann noch einen. Als sie offenbar auf ein Stück morsches Holz im Raum trat, knarrte es…
Und plötzlich hörte sie wieder das Atmen. Es ging schnell, war fast schon ein Hecheln.
„Ist da jemand?“, fragte sie.
Eigentlich wollte sie nichts sagen, aber es ist aus ihr raus gerutscht.
Das Atmen verstummte sofort wieder.
„Da ist doch jemand“, sagte sie. „Wo bin ich hier?“
Es kam keine Antwort.
„Ist das ein Traum?“, fragte Nevea leise.
Und plötzlich begann das Hecheln wieder, und es war lauter als zuvor. Diese Person, wer immer es war, musste genau neben ihr stehen.
Nevea blickte sich so gut es ging um, aber es war noch immer stockfinster, und sie konnte nichts erkennen.
Nevea ertastete dann eine Wand. Sie fühlte sich kalt und nass an. Vorsichtig streifte sie an der Wand entlang. Dabei bekam sie plötzlich eine ebenso kalte Hand zu fassen.
„Avalonie“, hörte sie eine Stimme, die so klang als ob sie rückwärts gesprochen wäre.
Nevea zuckte zusammen und drehte sich um. Schnell kramte sie in ihrer Hosentasche herum. Warum hatte sie Hosen an? War sie nicht eben noch im Badezimmer nackt?
Nevea holte ein Feuerzeug aus der Tasche und machte es an…
Dann sah sie neben sich plötzlich ein kleines, blondes Mädchen stehen. Flehend sah dieses Mädchen sie an. Ihre Hand, die noch immer in Neveas Hand lag und sie nicht loslassen wollte, zitterte.
„Ist ja gut“, flüsterte Nevea. „Du musst keine Angst haben. Ich bin ja bei dir.“
Das Mädchen sagte nichts.
„Wer bist du? Wo sind wir hier?“, wollte Nevea wissen.
Das Mädchen atmete heftig.
„Du kannst nicht sprechen, nicht wahr?“, fragte Nevea.
Die Kleine nickte.
„Ich habe dich schon einmal gesehen“, überlegte Nevea schließlich laut. „Ich weiß nicht, wo, aber ich habe dich schon mal gesehen. Du bist Avalonie…“
Das Mädchen nickte wieder.
Nevea befreite sich dann aus Avalonies Hand und tastete weiter an der Wand entlang.
„Ich gehe nicht weg, Avalonie“, sagte Nevea. „Ich muss nur irgendetwas finden, womit wir hier Licht machen können.“
Daraufhin ging das Feuerzeug plötzlich aus. Nevea wartete einige Sekunden, bis es abgekühlt war, und dann machte sie es wieder an.
Plötzlich erspähte sie im matten Schein des Feuerzeugs eine Fackel an der Wand, die nicht angezündet war. Nevea lief hin und machte die Fackel an…
Der Raum, in dem sich die beiden Kinder befanden, war nicht groß. Er war viereckig und glich einer Gefängniszelle. Seine Wand war aus Backstein, und es gab keine Fenster.