The Lies We Hide (Brouwen Dynasty 1) - Kate Corell - E-Book

The Lies We Hide (Brouwen Dynasty 1) E-Book

Kate Corell

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Beschreibung

Er muss die prestigeträchtige Gin Marke seiner steinreichen Familie retten. Sie ist die Barkeeping-Influencerin, die er dafür braucht. Doch ihre Vergangenheit steht zwischen ihnen. Dynastie-Erbe Leenard Brouwer will von seiner Familie in den Niederlanden schon seit Jahren nichts mehr wissen. Bis völlig unvorhergesehen sein Vater verunglückt und sein Bruder spurlos verschwindet. Nun fällt ihm das finanziell bröckelnde Gin-Unternehmen mit all seinen dunklen Familiengeheimnissen in die Hände. Für eine Image-Kampagne engagiert er Miss Cocktailery, eine aufstrebende Barkeeping-Influencerin und echte Gin-Expertin. Für Nika ist das eine unerwartete Chance. Sie nimmt den Job an, obwohl sie Leen seit ihrer gemeinsamen Schulzeit hartnäckig zu vergessen versucht. Doch bald wird ihre Zusammenarbeit nicht nur durch die unbestreitbare Anziehungskraft zwischen ihnen auf eine harte Probe gestellt. Ein dunkles Verbrechen. Ein überraschendes Erbe. Und jede Menge unterdrückte Leidenschaft. »The Lies We Hide« ist eine Forced Proximity Romance mit einer gehörigen Portion Spice.  Alle Bände der New Adult Romance »Brouwen Dynasty«: The Lies We Hide (Band 1) The Secrets We Live (Band 2) The Rivals We Kiss (Band 3) Die drei Bände sind keine Standalones und bauen aufeinander auf.

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Kate Corell

The Lies We Hide (Brouwen Dynasty 1)

Er muss die prestigeträchtige Gin Marke seiner steinreichen Familie retten. Sie ist die Barkeeping-Influencerin, die er dafür braucht. Doch ihre Vergangenheit steht zwischen ihnen.

Dynastie-Erbe Leenard Brouwer will von seiner Familie in den Niederlanden schon seit Jahren nichts mehr wissen. Bis völlig unvorhergesehen sein Vater stirbt und sein Bruder spurlos verschwindet. Nun fällt ihm das finanziell bröckelnde Gin-Unternehmen mit all seinen dunklen Familiengeheimnissen in die Hände. Für eine Image-Kampagne engagiert er Miss Cocktaillery, eine aufstrebende Barkeeping-Influencerin und echte Gin-Expertin. Für Nika ist das eine unerwartete Chance. Sie nimmt den Job an, obwohl sie Leen seit ihrer gemeinsamen Schulzeit hartnäckig zu vergessen versucht. Doch bald wird ihre Zusammenarbeit nicht nur durch die unbestreitbare Anziehungskraft zwischen ihnen auf eine harte Probe gestellt.

Ein dunkles Verbrechen. Ein überraschendes Erbe. Und jede Menge unterdrückte Leidenschaft. »The Lies We Hide« ist eine Second Chance Romance mit einer gehörigen Portion Spice. Die Forced Proximity-Liebesgeschichte zwischen Leen und Nika ist kein Standalone und der Auftakt der Brouwen Dynasty-Trilogie von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Kate Corell.

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Vita

Danksagung

Cocktailkarte

Triggerwarnung

© privat

Kate Corell liebt Charaktere mit Ecken und Kanten, unvorhergesehene Plottwists und das Umgehen literarischer Regeln. Wenn sie nicht gerade am nächsten Roman schreibt, besucht sie Konzerte, reist durch die Welt oder genießt gutes Essen. Sie lebt mit ihrer Familie sowie zwei verrückten Bulldoggen in der Nähe von Leipzig. Ihre »Never Be«-Romance-Serie machte sie zur SPIEGEL-Bestseller-Autorin.

Vor mir liegt ein Buch voller Erinnerungen.

Ein Märchen, in dem die Guten bestraft und die Bösen belohnt werden – erzählt von einem Narren …

MEMORIES

Dark Chocolate, Milk, Cocoa, Salt, Caramel, Cream

Bloemdaalen, Niederlande

LEENARD, FÜNF JAHRE ALT

»Kinder, seid so lieb und schenkt mir für einen winzigen Moment eure Aufmerksamkeit«, sagt die Erzieherin und ich sehe mich nach ihr um.

Vivi steht mit zwei gleich aussehenden Mädchen in der Tür. Es sind Zwillinge, so wie Finn und Lukas. Alle anderen schauen zu ihnen, außer Paul, der stapelt Bauklötze aufeinander, bis der Turm umkippt und Krach macht. Gemma schimpft. Das macht sie immer. Gestern hat sie mich angeschrien, weil ich mein Gesicht mit einem blauen Filzstift angemalt habe. Schlümpfe sind blau. Die Farbe ließ sich nicht abwaschen, deshalb hat Gemma noch mehr geschimpft und behauptet, ich bin ein furchtbarer Junge. Mama hat gelächelt und gesagt, ich sehe toll aus. Papa hat gemeckert, weil auf meinem neuen T-Shirt auch Schlumpfblau war, und gesagt, ich bin ein Dummkopf. Malen ist was für Mädchen so wie Mama. Nicht für Jungs.

»Das sind Noa und Nika. Die beiden sind neu hergezogen. Heißt sie doch bitte herzlich willkommen.« Vivi ist nett. Sie schimpft nie mit mir.

Die anderen sagen Nika und Noa Hallo. Ich nicht. Das Mädchen in dem rosa Kleid lächelt, das andere sieht traurig aus. Mir gefällt es nicht, dass es traurig ist. Meine Mama ist oft traurig und dann bin ich es auch.

»Na los, ihr beiden, lernt die anderen Kinder kennen.« Clara, Fiona und Finn gehen zu dem Mädchen im rosa Kleid. Das traurige Mädchen versteckt sich im Spielzelt. Ich sage zu Vivi, dass ich aufs Klo muss, und schleiche zu meinem Rucksack. Dann gehe ich zu dem Mädchen, krabble ins Zelt und setze mich neben sie.

»Wie heißt du?«

»Nika.«

»Ich bin Leenard Brouwer und wohne auf Bloem. Das ist ein Schloss.« Papa sagt, es ist wichtig, dass die Menschen wissen, wer ich bin, dann mögen sie mich.

»Bist du ein Prinz?«

»Nein. Magst du Prinzen?« Alle Mädchen mögen Prinzen.

»Nein, ich mag Fußball, und du?«

»Ja, Fußball ist toll.« Ist es nicht, aber Mama erlaubt es zu flunkern, wenn man damit jemandem eine Freude macht.

Nika lächelt, also habe ich es richtig gemacht.

»Bist du noch traurig?«

»Ja.«

»Warum?«

»Ich will zu meinen Freunden.«

»Ich kann dein Freund sein.« Ich öffne meine Faust und zeige ihr das in Folie eingepackte Stück Schokolade.

Nika sieht mich an. »Warum willst du mein Freund sein?« Sie nimmt die Schokolade, packt sie aus und steckt sie sich in den Mund.

»Weil ich nicht mag, wenn du traurig bist.«

NIKA, NEUN JAHRE ALT

Ich öffne den Schulranzen und suche nach meiner Brotdose, auch wenn ich weiß, dass ich keine dabeihabe. Mama ist mit Noa zum Fotosmachen in Rotterdam. In der Schule muss ich sagen, meine Schwester sei krank, damit niemand mitbekommt, dass ich alleine zu Hause bin. Niemand außer Leen weiß davon. Das ist unser Geheimnis.

Gerade sitzt er neben mir und packt ein Sandwich aus.

»Hier, ich habe Mama gesagt, ich habe heute viel Hunger, weil ich groß und stark werden will.« Leen holt ein weiteres aus seinem Ranzen.

»Wenn du klein bleibst, ist das dann meine Schuld?«, frage ich Leen, weil er oft sein Pausenbrot mit mir teilt.

»Nein, guck, wie groß ich schon bin«, antwortet er, springt von der Bank auf und stellt sich gerade hin. Leen ist der Größte in der Klasse, aber er ist nicht so groß wie die älteren Kinder.

»Deine Mama macht die besten Sandwiches«, sage ich, nachdem ich aufgegessen habe.

Als es zum Ende der Pause klingelt, gehen wir gemeinsam auf den Eingang zu. Finn schubst mich von hinten und sagt, ich sei hässlich. Dann rennt er ins Schulgebäude.

Im Klassenraum stößt Leen Finn von seinem Stuhl und bekommt dafür von Frau Sommer einen Eintrag ins Hausaufgabenheft.

»Warum hast du Finn geschubst?«, will ich von Leen wissen, als wir mit den Fahrrädern zu ihm nach Hause fahren. Auf Bloem ist es schön. Es gibt einen großen Garten mit bunten Blumen und man kann super Verstecken spielen.

»Weil er gesagt hat, du bist hässlich.«

»Noa meint, Finn ist nur gemein, weil er mich mag.«

»Wenn man jemanden mag, soll man nette Dinge sagen, damit sich der andere freut und nicht damit er traurig ist«, antwortet Leen.

Leen sagt nie gemeine Sachen zu mir oder schubst mich.

LEENARD, ZWÖLF JAHRE ALT

»Deine Pässe sind scheiße!«, brüllt Nika mich an.

»Triff einfach das Tor!«, schreie ich über den Platz zurück.

»Dann spiel einen vernünftigen Pass!«

In gemächlichem Tempo laufe ich zurück auf meine Position. Nika hat recht, ich habe schon besser gespielt.

»Kopf hoch, Leen«, höre ich meinen großen Bruder Bastiaan vom Spielfeldrand aus sagen, als ich an ihm vorbeirenne.

Ich wollte nie Fußball spielen. Es war Papas Idee, um aus mir einen richtigen Jungen zu machen. Macht es mich zu einem richtigen Jungen, weil ich Dinge tue, die Jungs mögen? Ist Nika dann jetzt ein falsches Mädchen, weil sie Jungskram mag? Im Gegensatz zu mir hat Nika Spaß an der Sache. Ich würde lieber mit Mama in ihrem Atelier auf eine Leinwand Blumen malen. Baas meint, ich soll tun, was mir Freude bringt. Papa meint, ich muss tun, was er sagt.

Ich spiele den Ball zu Finn, der geschickt seinen Gegenspieler aussticht und geradewegs auf das Tor zurennt. Kurz vor dem Strafraum passt er zu Nika, die den Ball in die obere rechte Ecke versenkt. Jubel bricht aus, weil wir jetzt in Führung liegen. Finn läuft zu Nika und klatscht mit ihr ab. Ich kann ihn nicht leiden, weil er auch Nikas Freund sein will.

»Hast du das gesehen?«, ruft Nika und kommt auf mich zugerannt. Ich breite die Arme aus und schließe sie um Nika, als sie sich hineinwirft.

Mit Nika fühle ich mich nicht seltsam.

NIKA, VIERZEHN JAHRE ALT

Es ist Freitagabend, ich sitze am Schreibtisch und mache meine Hausaufgaben für nächste Woche, als ein leises Rumpeln meine Aufmerksamkeit erregt.

»Musst du immer durch das Fenster klettern?«, maule ich Leen an, weil er mich damit jedes Mal beinahe zu Tode erschreckt.

»Ja, weil deine Mutter mich so spät nicht zu dir lässt«, antwortet er, als er sich durch die Öffnung quetscht. Dabei weiß er genau, dass meine Mutter und Noa heute Nachmittag zu einer Misswahl nach Amsterdam gefahren sind und erst Sonntag zurückkommen. Er hätte also auch einfach anrufen können und ich hätte ihn durch die Haustür reingelassen.

»Nein, sie lässt dich nicht zu mir, weil sie glaubt, wir machen rum«, erwidere ich genervt. Wie sie darauf kommt, ist mir ein Rätsel. Leen und ich sind Freunde.

»Dann sag ihr, du machst mit Paul rum«, zieht er mich auf. Das macht er, seitdem Paul van den Berg mir im Biologieunterricht einen Zettel zugesteckt hat, dass er mich mag und mit mir gehen will. Dabei weiß Leen genau, Paul fragt jede Woche ein anderes Mädchen, ob es seine Freundin sein möchte. Zuvor ist er bei Noa abgeblitzt. Und nach mir hat er Fiona gefragt.

»Ich mache mit niemanden rum«, zische ich Leen an.

Leen streckt sich auf meinem Bett aus und sieht zur Decke. »Du sollst es ja nur behaupten, damit deine Mutter mich nicht mehr ansieht, als würde ich dich auffressen wollen.«

Ich stehe von dem Drehstuhl auf und setze mich neben ihn. »Du guckst aber nun mal so, als würdest du mich fressen wollen«, stichle ich. In Wahrheit ist es eher so, dass Leen oft Löcher in die Luft starrt, so wie in diesem Moment. Jedes Mal frage ich mich, was gerade in seinem Kopf vor sich geht. Bevor ich die Frage laut aussprechen kann, schlingt er die Arme um mich und wirbelt mich so herum, dass ich plötzlich unter ihm liege. Sein Gesicht schwebt über meinem und für nicht länger als eine Sekunde landet sein Blick auf meinen Lippen. Und genauso lange frage ich mich, ob jetzt der Moment meines ersten Kusses gekommen ist. Vielleicht, aber was würde mit unserer Freundschaft geschehen, wenn der Kuss zwischen uns komisch wäre?

»Vielleicht habe ich dich ja zum Fressen gern«, sagt er und grinst breit.

»Lass den Quatsch«, sage ich und schiebe ihn von mir. Lachend lässt er sich auf den Rücken fallen.

»Kann ich hier pennen?«, will er wissen.

»Was ist es diesmal?«, frage ich, weil Leens nächtliche Besuche immer häufiger werden. Aus der Truhe neben meinem Kleiderschrank hole ich das weitere Bettzeug heraus, das ich dort für ihn deponiert habe.

»Meine Eltern streiten darüber, wie seltsam ich tatsächlich bin«, antwortet er und gibt ein Seufzen von sich.

»Du bist nicht seltsam«, widerspreche ich.

»Sag das meinem Vater. Seiner Ansicht nach stimmt mit mir so einiges nicht.«

LEENARD, FÜNFZEHN JAHRE ALT

Etwas zu lange verharrt mein Blick auf Nika, während sie Aufwärmübungen für das bevorstehende Fußballtraining macht. Sie bemerkt es und hebt mit einem frechen Grinsen die linke Augenbraue. Ich schüttle den Kopf und drehe ihr den Rücken zu, dabei entgeht mir nicht, wie Finn sich neben ihr auf dem Rasen platziert.

Ich hasse diesen Kerl. Das habe ich schon immer, aber seit ein paar Wochen noch mehr als zuvor. Ich habe keine Ahnung, was mit mir los ist, aber er braucht sich Nika nur zu nähern und ich will ihn dem Erdboden gleichmachen. Dabei war mir durchaus bewusst, dass der Tag kommen würde, an dem sich Jungs für meine beste Freundin interessieren werden. Womit ich nicht gerechnet habe, ist, dass es mir derart gegen den Strich gehen würde. Genauso wenig habe ich erwartet, Nika könnte sich in meine Träume schleichen und darin Dinge mit mir tun, die unangemessen sind. Es gibt Tage, da verwirrt mich ihre pure Anwesenheit, und dann sind da diese winzigen Momente, in denen ich mit dem Gedanken spiele, ihr davon zu erzählen. Aber ich kneife jedes Mal, weil ich Angst habe, sie könnte mich auslachen und unsere Freundschaft wäre anschließend nicht mehr dieselbe.

»Irgendwann werde ich dahinterkommen, in welcher Wolke dein Kopf ständig feststeckt«, sagt Nika amüsiert, gleichzeitig stößt sie ihren Ellenbogen gegen meinen. Gerade hoffe ich sehr, sie wird es nie erfahren. Denn die Antwort dürfte ihr nicht gefallen. Immerhin betont sie stets, wie wertvoll unsere Freundschaft ist.

»Was macht Baas hier?«, fragt Nika verwundert.

Als ich meinen Bruder am Spielfeldrand entdecke, stutze ich. Er holt mich nie vom Training ab, das macht meine Mutter.

»Keine Ahnung«, sage ich, vermute aber, dass meine Mutter eine ihrer weniger guten Phasen hat. In den vergangenen Monaten sind ihre Stimmungsschwankungen schlimmer geworden. In der einen Minute ist sie happy und in der nächsten verkriecht sie sich entweder in ihrem Atelier oder verlässt tagelang nicht das Bett. Nika habe ich davon nie etwas erzählt, weil es meine Schuld ist. Meinetwegen streiten meine Eltern sich ständig.

Bastiaan winkt mich mit ernster Miene zu sich heran.

»Hol deine Sachen, wir fahren«, sagt er und geht ohne eine Erklärung zu seinem Wagen, den er nur wenige Meter entfernt auf dem Schotterplatz abgestellt hat. Mein Puls schnellt bei seinen Worten in die Höhe. Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit, als ich zu den Umkleiden gehe, um meine Sporttasche zu holen.

»Verrätst du mir, was los ist?«, will ich von ihm wissen, sobald ich auf dem Beifahrersitz Platz genommen habe.

Baas saugt tief und langsam die Luft ein, während seine Finger das Lenkrad fest umklammern. »Es ist etwas passiert«, sagt er völlig ruhig und doch zittert seine Stimme.

Vier Worte, die in dieser Sekunde die Welt um mich herum zum Einstürzen bringen.

NIKA, SECHZEHN JAHRE ALT

Wenige Zentimeter trennen mich von Leen, aber es fühlt sich an, als wäre er kilometerweit entfernt. Es ist jetzt neun Monate her, dass seine Mutter Agnes gestorben ist, aber in Momenten wie diesen fühlt es sich wie gestern an.

Mit Leen befreundet zu sein ist zum Drahtseilakt geworden. Wir balancieren zwischen Hochgefühlen und tiefen Abgründen. Und ich habe keine Ahnung, wie ich ihm helfen soll. Was hauptsächlich daran liegt, dass er mich nicht lässt. Das tut weh. Auf so vielen Ebenen. So sehr, dass ich mich bei dem Gedanken ertappe, ob all das den Schmerz, den er verursacht, wert ist. Man kann niemanden retten, der nicht gerettet werden will. Ich glaube, bei Leen ist das der Fall. Aber was wäre ich für eine Freundin, würde ich ihn alleine auf dem Boden des Schulflurs sitzen lassen, während er auf seine blutigen Fingerknöchel starrt?

»Verschwinde, Nika«, sagt er, als ich mich neben ihn auf den kühlen Linoleumboden setze.

»Ich gehe nirgendwohin«, sage ich und hole aus meiner Schultasche eine Packung Taschentücher.

»Ich ertrage deine Nähe gerade nicht«, presst er hervor.

»Wirst du aber müssen.« So einfach lasse ich ihn nicht gewinnen. Das habe ich in den vergangenen Monaten zu oft getan. Wann immer er wollte, dass ich gehe, bin ich gegangen. Ich hatte gehofft, er bräuchte nur etwas Freiraum und würde von ganz allein den Weg zurückfinden. Inzwischen befürchte ich, er schafft es nicht ohne Hilfe.

Leen lässt den Kopf gegen die Schulspinde hinter uns sinken. »Hört das irgendwann auf?«, fragt er leise und ein Seufzen entweicht ihm.

»Was genau?«, hake ich nach, weil ich unsicher bin, ob er seine unkontrollierten Wutausbrüche oder die Trauer meint.

»Wehzutun.«

Ich nehme seine linke Hand, tupfe mit dem Taschentuch über seine blutigen Fingerknöchel. »Ich denke, man muss durch den Schmerz gehen, um zu heilen«, antworte ich und wiederhole die Prozedur mit seiner anderen Hand. Er zieht sie zurück und wischt seinen Handrücken an dem weißen Shirt ab, dann sieht er mich an. Lange. Intensiv. Verloren.

»Und wenn ich keinen einzigen Schritt weitergehen will, was ist dann, Nika?« Ein deutlicher Hauch Verzweiflung schwingt in seiner Stimme mit.

Ich schiebe meine Finger zwischen seine. »Dann gehen wir das letzte Stück gemeinsam, dafür sind Freunde da.«

Er steht so ruckartig auf, dass ich ihn loslasse und überrascht zu ihm aufsehe.

»Wir sind schon lange keine Freunde mehr. Du und ich, wir haben uns verändert.«

»Hör auf damit, Leen.«

»Was? Sag nicht, du spürst nicht, dass da plötzlich eine Mauer zwischen uns ist, die immer höher wird.«

»Das ist nicht wahr!«, sage ich schroff und komme ebenfalls auf die Füße.

»Was ist dann wahr, Nika? Dass es okay ist, dass ich zu viel fühle und zu wenig davon verstehe, mich selbst im Gleichgewicht zu halten, und deswegen auf alles und jeden einschlage, sobald man mich aus der Balance wirft?«

Klaas hat ihn provoziert und Leen hat darauf reagiert. Zugegeben, auf die falsche Art und Weise. Ich wünschte, ich könnte sagen, es wäre eine einmalige Sache, aber so ist es nicht. Vielmehr ist es, als würde Leen nur auf eine Gelegenheit warten, sich mit den Fäusten zu wehren.

»Nein, ist es nicht, aber –«

»Ich bin der Junge, der seine Mutter verloren hat und deswegen in einer schwierigen Phase steckt, in der man ihm jeden Mist durchgehen lässt«, unterbricht er mich. So wollte ich es nicht sagen, aber ja, im Kern trifft es das.

»Leen«, sage ich, ohne genau zu wissen, worauf ich hinauswill.

Er macht einen Schritt auf mich zu. Dann noch einen. Instinktiv weiche ich zurück. »Hast du dich schon gefragt, was passieren muss, dass ich bei dir die Kontrolle verliere?«, sagt er und kommt noch näher.

»Nein«, antworte ich, bringe aber unbewusst Abstand zwischen uns.

Ein verletzter Ausdruck huscht über Leens Gesicht, bevor er mich mit starrer Miene ansieht. Er legt die Hände auf meine Schultern. Plötzlich spüre ich kaltes Metall durch den Stoff meines Tops, als ich von ihm gegen den Spind gedrückt werde.

Ich halte Leens Blick stand und stelle schlagartig das Atmen ein, als er sich zu mir herabbeugt und mir ins Ohr flüstert: »Warum kann ich dann die Angst in deinen Augen sehen?« Dann tritt er zurück und schüttelt leicht den Kopf. Der Ausdruck in seinen Augen ist leer, als hätte er jegliches Gefühl verloren.

»Leen, mach das nicht, zerstör uns nicht«, sage ich, weil er gerade dabei ist, einen endlos tiefen Graben um die Mauer zu ziehen, von der er zuvor gesprochen hat.

Er wendet sich ab. »Ich kann dich nicht mehr in meinem Leben haben«, sagt er und verschwindet den Schulflur entlang.

Hat er bewusst »kann« statt »will« gesagt? Besteht für ihn darin ein Unterschied? Ich weiß es nicht. Aber in einem bin ich mir sicher: Das ist keine Phase. Leen hat gerade unsere Freundschaft beendet, und das, ohne mit der Wimper zu zucken.

LEENARD, SIEBZEHN JAHRE ALT

Warum hat mein Vater dieser dämlichen Party zugestimmt?

Vermutlich, weil er der Prinzessin nichts abschlagen kann und es ihr letztes Jahr an der Stedelijk ist, bevor sie zum Studieren nach Rotterdam geht.

Ich beneide meine Schwester um ihre nahende Freiheit. Ich kann es kaum erwarten, meine Sachen zu packen und von hier zu verschwinden. Bloem, ich hasse diesen Ort. Alles innerhalb dieser Mauern fühlt sich kalt und erdrückend an. Der einzige Ort, an den ich je gehört habe, war Nika. Seitdem ich nachts nicht mehr durch ihr Fenster klettern und bei ihr übernachten kann, fühlt es sich an, als würde ich schlafwandeln. Oder zumindest orientierungslos umherirren.

Vermisse ich sie? Ja. Auch wenn mir das nicht zusteht. Ich habe sie aus meiner Nähe verbannt, nicht weil ich sie da nicht wollte, sondern weil ich es nicht länger ertrug. Weil das, was ich für sie empfinde, zu viel ist, genau wie die Angst, es könnte der Tag kommen, an dem ich auch sie verliere. Das Paradoxe an der Sache ist: Ich habe genau das heraufbeschworen, wovor ich versucht habe mich selbst zu schützen. Und zwar in der Sekunde, als ich Nika von mir gestoßen habe. Der Tod meiner Mutter hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Nika zu verlassen hat mich geradewegs in den Abgrund stürzen lassen.

»Wenn du dich hier verkriechst, mache ich mir den ganzen Abend Gedanken um dich«, sagt Demy, die in einem Prinzessinnenkostüm in meinem Zimmer steht. Wie passend.

»Ich hab keinen Bock auf deine bescheuerte Party«, antworte ich und widme mich wieder meinem Handy. Desinteressiert scrolle ich durch Snapchat, bis ich an einem Foto hängen bleibe, das Nika vor zehn Minuten gepostet hat. Sie trägt ein Hexenkostüm und grinst mit ihrer Schwester Noa in die Kamera. Darunter steht: Halloweenparty auf Bloem.

Mein Herz zieht sich zusammen. Nika ist auf dem Weg hierher. Nicht meinetwegen, sondern weil Demy die Schulflure mit Flyern gepflastert hat, die verkünden, dass hier eine riesige Fete steigt. Ich lese die wenigen Kommentare unter dem Bild. War klar, dass Finn schreibt, wie heiß Nika aussieht und dass er sich nur zu gerne von ihr verhexen lässt. Der Typ löst mit seinem Geschleime regelmäßig meinen Würgereflex aus. Es ist kein Geheimnis, dass er ein Auge auf Nika geworfen hat und nichts unversucht lässt, seit ich von der Bildfläche verschwunden bin. Nika hat auf seinen Kommentar mit einem grinsenden Emoji geantwortet. Es macht mich rasend, obwohl es mir egal sein muss. Weil Leen und Nika nicht mehr existieren.

»Ich habe dir das hier besorgt«, teilt mir Demy mit. Erst jetzt entdecke ich den Kleidersack in ihrer Hand.

»Vergiss es!« Nicht einmal im Traum werde ich an dem Blödsinn teilnehmen.

»Komm schon, Leen, mir zuliebe!« Sie setzt ihren Hundewelpenblick auf.

Erneut betrachte ich das Foto von Nika. Fuck!

Ich stehe vom Bett auf und gehe auf meine Schwester zu. »Okay, eine Stunde, wenn du mir nicht länger auf die Nerven gehst«, biete ich ihr als Kompromiss an.

»Deal«, sagt sie und drückt mir den Kleidersack in die Hand.

Widerwillig ziehe ich den Reißverschluss auf und werfe einen Blick hinein. »Dein Ernst?«

»Du bist der Gin-Prinz«, erwidert sie und grinst, während ich nur den Kopf schüttle. Dennoch ziehe ich mich um und stehe eine halbe Stunde später mit einem Bier in der Hand im Salon, in dem die Party bereits in vollem Gange ist. Mein Blick schweift über die Menge, bis er Nika einfängt. Finn neben ihr. Sie lacht. Er lächelt sie an wie ein Volltrottel.

»Hey, wir spielen jetzt Flaschendrehen, machst du mit?« Mein Kopf schnellt nach rechts und damit geradewegs zu Noa. Für einen Augenblick bin ich wie erstarrt, weil sie exakt das gleiche Kostüm wie Nika trägt. Ihre Ähnlichkeit bringt mich aus dem Konzept. Sie sind Zwillinge. Es ist also wenig überraschend, dass die beiden sich kaum auseinanderhalten lassen. Dennoch war es mir noch nie so bewusst wie in diesem Augenblick. Ich habe immer nur Nika gesehen. Das Mädchen, das bei unserer ersten Begegnung so unendlich traurig aussah, dass ich es mir zur Mission gemacht habe, sie zum Strahlen zu bringen. Jetzt ist es ihre Schwester, die mich anlächelt, als würde sie sich freuen, mich zu sehen.

»No way, bei dem Blödsinn mache ich nicht mit«, antworte ich und führe den Flaschenhals an meine Lippen. Noas Blick heftet sich auf meinen Mund und verharrt dort, lange nachdem ich die Flasche wieder abgesetzt habe.

Ich sehe wieder zu Nika, die sich in diesem Moment mit einer kleinen Gruppe kreisförmig auf dem Boden niederlässt.

»Sicher? Finn hat es heute auf Nika abgesehen«, sagt Noa herausfordernd.

»Mir doch egal«, gebe ich unbeeindruckt zurück.

»Na dann.« Sie durchquert den Raum, um sich zu den anderen zu setzen.

Für die nächsten Minuten beobachte ich das Treiben, während ich das Bier austrinke. Mit jeder Runde, in der sich die Flasche dreht, steigt mein Puls. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, worauf dieses Spiel abzielt. Denn Lukas küsst gerade Fiona, nachdem Paul zuvor mit der Schulpetze rumgemacht hat. Als Noa an der Reihe ist, sieht sie kurz in meine Richtung und grinst schelmisch. Gerade hasse ich sie, weil ich ihren Köder schlucke.

Ich setze mich in Bewegung und finde mich plötzlich neben Nika wieder. Irritiert sieht sie mich an. Die Flasche in der Mitte dreht sich. Schnell, bis sie schließlich langsamer wird. Was tue ich, wenn sie auf mich zeigt? Ich sehe wieder zu Nika. Würde ich sie küssen? Und dann? Würde ich ihr sagen, dass ich unsere Freundschaft absichtlich gegen die Wand gefahren habe, weil ich verliebt in sie war, es aber nicht mehr sein wollte? Dass ich längst verstanden habe, ich werde es immer sein, und ihre Nähe genau aus dem Grund nicht ertrage? Vermutlich ergibt das nur in meinem Kopf irgendeine Form von Sinn.

Der Flaschenhals zeigt auf Finn. Ganz automatisch spannt sich mein Körper an. Und dann sagt Noa genau das, was ich erwartet habe. Sie sagt ihm, dass er das Mädchen links von sich küssen muss. Nika.

Ihr Blick landet auf mir, ich schlucke, balle die Hände zu Fäusten. Mein Herz überschlägt sich in meiner Brust, als sie sich Finn zuwendet und er sich zu ihr beugt. Und ich lasse zu, dass es auseinanderbricht, indem ich dabei zusehe, wie er seine Lippen auf Nikas presst.

NIKA, ACHTZEHN JAHRE ALT

Ich streiche den Stoff des blassrosa Kleides glatt, das auf einem Bügel am Kleiderschrank hängt. Heute ist der Abschlussball. Damit endet meine Zeit in Bloemdaalen und ich schlage ein neues Kapitel auf. Eins, in dem Leen kein Teil meines Lebens mehr sein wird, weil uns ein Ozean voneinander trennt.

In meiner Vorstellung waren er und ich immer endlos. Doch menschliche Beziehungen bewegen sich nicht in einer derartigen Schleife, in der es weder Anfang noch Ende gibt. Jede Geschichte beginnt mit einer Begegnung und endet mit dem Loslassen. Ich zwinge mich, Leen loszulassen, so wie er es längst getan hat. Dennoch fühlt es sich seltsam an, den heutigen Abend ohne ihn an meiner Seite zu verbringen. Weil es nicht so sein sollte. Es war immer Nika und Leen. Nicht Nika und Finn. Dabei ist Finn seit sechs Monaten mein Freund und ich mag ihn sehr.

Ein Rascheln hinter mir lässt mich erschrocken herumfahren. Blinzelnd sehe ich Leen an. Als hätte ich ihn herbeigerufen, steht er wie eine längst verblasste Erinnerung vor mir. In einer schnellen Bewegung wischt er sich die inzwischen viel zu langen blonden Haare aus der Stirn. Wir haben nach unserer Unterhaltung auf dem Schulflur kaum mehr als ein paar Worte miteinander gewechselt. Er hat unsere Freundschaft weggeworfen, als wäre sie nichts wert, und jetzt taucht er hier auf, als wäre es okay, dass er ungebeten durch mein Fenster klettert.

»Was willst du hier?«, presse ich hervor.

»Willst du wirklich mit Finn auf den Abschlussball gehen?«, fragt er und vergräbt die Hände in den Hosentaschen seiner Jeans.

»Wie bitte?«

»Komm schon, Nika, so schwer ist die Frage nicht«, erwidert er und sieht mich abwartend an.

»Ich wüsste nicht, warum ich dir eine Antwort schuldig wäre«, zische ich ihn an. Denn er hat auf der Halloweenparty keine meiner Fragen beantwortet. Mich hat nämlich unter anderem brennend interessiert, warum er sich mit Finn geprügelt hat. Dass er zur Krönung des Abends meine Schwester geküsst hat, war wie ein Schlag ins Gesicht. Auf der einen Seite fühlt es sich so an, als hätte er mich gegen sie ausgetauscht, und auf der anderen Seite, als hätte Noa mir etwas weggenommen, was nur mir gehört hat. Was nicht stimmt. Ich habe keinerlei Anspruch auf Leen. Aber Noa bekommt alles, was sie will. Und er wusste das ganz genau. Leen war das Einzige, was ich nie mit meiner Schwester teilen musste.

»Fühlt sich das für dich falsch an?«, fragt er um einiges sanfter.

»Ich habe keine Ahnung, was du meinst.« Das weiß ich sehr wohl, nur zugeben werde ich es nicht.

»Doch, Nika, das weißt du«, enttarnt er meine Lüge.

»Was willst du von mir hören, Leen?«, frage ich ihn, weil ich wirklich nicht verstehe, warum er hier ist.

Er überbrückt die Distanz zwischen uns. »Sag, dass ich mit dir zum Abschlussball gehen soll, und ich werde es tun.«

Ich lache, dann verstumme ich abrupt. »Du meinst das ernst.«

»Mir gefällt der Gedanke nicht, dass er dich abholt, deine Hand hält, mit dir tanzt und dich mitten in der Nacht nach Hause bringt. Das sollte meine Aufgabe sein.«

»Verflucht, Leen, ich bin doch keine To-do-Liste, die man abarbeitet«, platze ich heraus.

Mit den Fingerknöcheln streicht er über meine Wange. Die Berührung trifft mich so unerwartet, dass ich ihn gewähren lasse. »Und wenn du meine Prioritätenliste bist?« Ich blinzle hektisch, als er eine Haarsträhne hinter mein Ohr schiebt und noch näher an mich herantritt. »Wenn du es schon immer warst?« Als er meinen Blick sucht und ihn gefangen hält, muss ich schlucken. »Wenn genau das mein Problem ist, Nika? Was ist dann?« Mit beiden Händen umfasst er mein Gesicht. »Wenn ich ohne dich nicht ich selbst bin und mit dir noch viel weniger?« Er lässt von mir ab und tritt einen winzigen Schritt zurück. »Weil wir alles und nichts sind.«

»Du hast die Entscheidung getroffen, dass wir keine Freunde mehr sind, das war nicht ich«, sage ich.

»Weil sich unsere Freundschaft falsch angefühlt hat.« Er vergrößert den Abstand zwischen uns.

»Für mich hat sie sich immer richtig angefühlt.«

»Verstehe«, erwidert er und lächelt schwach.

»Nein, Leen, du verstehst nicht. Ich vermisse den Jungen, der sein Pausenbrot mit mir teilt. Den Jungen, der mich beim Fußball nicht gewinnen lässt, nur weil ich ein Mädchen bin. Ich vermisse den Jungen, der durch mein Fenster klettert, weil ihm zu Hause die Decke auf den Kopf fällt und ich seine Zuflucht bin. Den Jungen, mit dem ich über alles reden, lachen und schweigen kann. Den Jungen, der alles ein bisschen besser macht, solange wir einander haben. Ich vermisse verflucht noch mal meinen besten Freund. Und ich habe geglaubt, ich wäre für dich genau das, was du für mich bist. Aber das bin ich nicht, richtig? Denn wäre …« Ich halte inne, weil er mich ansieht, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst.

»Nein, das bist du nicht«, flüstert er und verschwindet in der nächsten Sekunde durch das offene Fenster.

Ich halte die Tränen zurück, die sich an die Oberfläche kämpfen. Leen hat mich mehr als einmal verletzt und von sich gestoßen, während ich ihm immer wieder meine Hand entgegenhielt, um ihm aufzuhelfen. Er hat sie nicht gewollt. Also was fällt ihm jetzt ein, hier aufzutauchen und all die Wunden wieder aufzureißen?

RAINY DAYS

Dry Gin, Lime, Orange, Cassis

LEENARD

Royal Borough of Kingston upon Thames, London

»Was zur Hölle«, entfährt es mir, als ich die Wohnungstür aufschließe und mir stickige Luft entgegenschlägt.

Der alte Dielenboden knarrt unter meinen Füßen, während ich durch den Flur in Richtung Schlafzimmer gehe. Gleichzeitig weiche ich Pappbechern aus und steige über einen Kerl, der auf dem Boden pennt. Im Vorbeigehen werfe ich einen flüchtigen Blick ins Wohnzimmer und erspähe zwei Personen schlafend auf dem Sofa, umgeben von einem Saustall. Chipskrümel und Popcorn zieren den hellen Teppich, genau wie Flecken in Farbnuancen, die von Rotwein bis hin zu Pfefferminzschnaps reichen dürften. Jedenfalls weisen die leeren Flaschen auf dem Couchtisch darauf hin. Auf dem Fernseher laufen die Elf-Uhr-Nachrichten, während aus den Boxen What a Feeling von Irene Cara dröhnt.

Schön brav weiteratmen.

Bloß nicht durchdrehen.

Meine Finger schließen sich um die Türklinke zum Schlafzimmer. Für einen Moment zögere ich, den Raum zu betreten, weil mich eine Ahnung beschleicht, was mich hinter der Tür erwarten wird. Mein Bauchgefühl behält recht. Um mich nicht bemerkbar zu machen, stelle ich den Rucksack neben der Tür ab und schließe sie anschließend leise. Mein nächstes Ziel ist die Küche.

»Guten Morgen.«

»Fick dich, Ezra!«, presse ich hervor.

Mein Mitbewohner und bester Freund lacht. Wobei ich allmählich darüber nachdenken sollte, ihm letzteren Status zu entziehen und ihn auf die Straße zu befördern.

»Beschissene Nacht gehabt?«

Ich ignoriere die Frage genau wie das sich stapelnde dreckige Geschirr in der Spüle und nehme ein sauberes Glas aus dem Hängeschrank. »Was zum Teufel macht Heather in meinem Bett?«, frage ich ihn.

»Chelsea hat sie mitgebracht.«

»Und?«, hake ich nach, weil es nicht ansatzweise erklärt, was die Schwester seiner aktuellen Flamme dort zu suchen hat.

»Du warst nicht da«, erklärt er schulterzuckend.

»Und?«, wiederhole ich, weil auch das keine Rechtfertigung ist. Ich habe nicht viele Regeln für unser Zusammenleben aufgestellt. Eine davon lautet, dass mein Zimmer tabu ist, wenn er in meiner Abwesenheit eine seiner Partys schmeißt.

»Was hätte ich tun sollen, sie vor die Tür setzen?«

»Ja«, antworte ich knapp. Wir haben uns vor vier Jahren auf einer Erstsemesterparty der Kingston University kennengelernt. Wir hatten nicht viel gemeinsam. Primär verband uns der Umstand, dass unsere Familien millionenschwer sind und unsere Väter Patriarchen, in deren Wertesystem wir nicht hineinpassen. Daraus hat sich eine Freundschaft entwickelt, die Ezra regelmäßig mit unüberlegten Aktionen auf die Probe stellt.

Vergangenen Sommer ist er von der Uni geflogen und vorübergehend bei mir eingezogen, weil er das Wohnheimzimmer unverzüglich räumen musste. Aus der Notlösung ist inzwischen die Dauerlösung geworden. Mit der ich mal mehr, mal weniger zurechtkomme. Im Augenblick versucht er sich einen Namen in der Eventbranche zu machen und organisiert exklusive Partys für die reichen Kids der Kingston University. Er hat also sein Hobby zum Beruf gemacht, denn Ezra liebt es, Partys zu veranstalten. Weswegen auch regelmäßig meine Wohnung dafür herhalten muss. Er hat gerne Menschen um sich herum, ich habe gerne meine Ruhe. Wir könnten in so vielen Punkten nicht unterschiedlicher sein und doch funktioniert das mit uns im Normalfall erstaunlich gut.

Ezra tritt neben mich, lehnt sich gegen den Kühlschrank und beobachtet, wie ich das Glas mit Apfelsaft fülle. Für den Bruchteil einer Sekunde verzieht er reumütig das Gesicht.

»Wo warst du überhaupt?«, will er wissen.

»Ich brauchte etwas Zeit für mich«, antworte ich.

»Ein Wort und ich zieh aus, wenn ich dir zu viel bin«, erwidert er beleidigt.

»Sei nicht albern, du bist mir nicht zu viel, du gehst mir auf die Nerven.«

»Ist dasselbe, oder?«

»Nein, ist es nicht«, versichere ich ihm.

Mit wenigen Schritten durchquere ich die Küche und öffne die Balkontür, damit der Gestank der letzten Nacht nicht länger die Wohnung verpestet. Dann sehe ich auf die Uhr. »Du hast eine Stunde, um die Leute loszuwerden und hier aufzuräumen«, teile ich ihm mit, trinke den Saft aus und stelle das Glas neben die Spüle. »Wir treffen uns zum Lunch im Woody’s«, sage ich, um meine vorherigen Worte etwas abzumildern.

»Geht klar.«

Ich bin schon beinahe zur Tür hinaus, als ich innehalte und ein unmissverständliches »Allein.« hinzufüge, weil ich Ezra zutraue, Chelsea und Heather mitzubringen, um ein Doppeldate zu veranstalten. Denn genau das hat er letzte Woche eingefädelt, als er mich zu einem Kinobesuch überredet hat. Heather ist okay, nur bin ich so gar nicht an ihr interessiert. Ezra hingegen findet, sie würde perfekt zu mir passen. Was ihn zu der Annahme bringt? Ich vermute, er will sie mir aufs Auge drücken, damit sie nicht ständig wie eine Klette an Chelsea klebt und ihre Zweisamkeit stört.

Erneut weiche ich dem Chaos aus und steige über den schlafenden Kerl im Flur, der sich exakt in dieser Sekunde stöhnend auf den Rücken dreht und die Augen aufschlägt.

»Ist die Party schon vorbei?«, nuschelt er.

Genervt schüttle ich den Kopf und gebe ihm zu verstehen, dass er sich aus meiner Wohnung verdrücken soll.

Lauter als beabsichtigt schließe ich die Wohnungstür hinter mir und atme erleichtert auf, sobald die Stille mich einhüllt und mir der Geruch von Bohnerwachs in die Nase steigt. Ein Seufzen verlässt meine Lippen, als die alten Holzstufen unter meinen Füßen leicht nachgeben und Geräusche fabrizieren, die nur eine hundert Jahre alte Treppe hervorruft. In diesem Wohnhaus zu leben ist wie eine längst eingestaubte Erinnerung an Kindertage. Es versetzt mich in eine Zeit zurück, die sich unbeschwert anfühlte. Eine, in der ich nicht ständig das Gefühl hatte, zu viel zu fühlen und trotzdem bei Weitem nicht genug. Vermutlich bin ich nur deswegen nach London gekommen, um mir das zurückzuholen, von dem ich glaubte, es hier wiederzufinden. Fakt ist allerdings: Die Leichtigkeit kehrt nicht zurück, egal wie lange ich hier ausharre. Nicht Ezra ist mir zu viel, sondern ich selbst.

Das Handy in meiner Hosentasche vibriert in dem Augenblick, als ich ins Freie trete – Demy. Mir steht gerade nicht der Sinn danach, mit meiner älteren Schwester zu telefonieren. Denn unser letztes Gespräch drehte sich darum, dass ich nach Hause kommen solle und warum es unbedingt die Kingston University sein musste. Außerdem hat auch sie mir nahegelegt, meinen bevorstehenden Master in Amsterdam zu absolvieren, damit ich näher bei der Familie bin. Es endete damit, dass ich sagte: Ruf erst wieder an, wenn du mich mein Leben leben lässt.

Ich wollte sie nicht so anfahren. Demy hat nur einen wirklich schlechten Zeitpunkt erwischt, dieses Thema anzusprechen. Zehn Minuten zuvor hatte ich nämlich die Absage der Kingston University aus dem Briefkasten gefischt. Ich war mir so sicher gewesen einen der wenigen Plätze zu bekommen. Der Professor hatte mir den Masterstudiengang indirekt schon zugesichert, weswegen ich mir keine Gedanken über einen Plan B gemacht habe.

Meine Schwester hat die volle Ladung Frust für etwas abbekommen, was ich mir selbst zuzuschreiben habe. Dafür sollte ich mich entschuldigen, das hieße allerdings auch, mich erklären zu müssen – was sich nach einem Eingeständnis des Scheiterns anfühlt.

Die Frühlingssonne scheint mir ins Gesicht, während das Handy verstummt und ich es wieder in der Hosentasche verstaue. Für die nächsten Augenblicke lege ich den Kopf in den Nacken und lasse mir von den Strahlen das Gesicht wärmen, bis sich eine Wolke davorschiebt. Ihr folgen weitere und der Himmel wird zunehmend grauer. Etwas, woran ich mich wohl nie gewöhnen werde: das Londoner Wetter. Statistisch gesehen regnet es hier 149 Tage im Jahr. Das entspricht 41 Prozent. Die Jahreszeit ist dafür völlig irrelevant. Nicht, dass es in den Niederlanden weniger regnen würde, doch der Regen ist anders. Irgendwie milder.

Mein erster Impuls ist mir ein Taxi zu schnappen, um trocken im Woody’s anzukommen. Letztendlich entscheide ich mich aber dafür, mein Glück herauszufordern, also schlage ich den Weg nach rechts ein und laufe die High Street runter. Nach zweihundert Metern biege ich nach links ab und nehme das schmale Gässchen, das mich direkt auf die Queen’s Promenade führt. Das gute Wetter hat überwiegend Touristen aus ihren Hotelzimmern gelockt, denn die nächsten Minuten weiche ich Menschen aus, die sich auf dem Weg entlang der Themse befinden und Fotos knipsen. Normalerweise schaffe ich es zu Fuß in acht Minuten zu unserem Stammlokal, heute brauche ich doppelt so lange.

Kaum schließt sich die Tür hinter mir, vibriert erneut mein Handy. Ich ignoriere es, weil Mildred auf mich zukommt.

»Hallo, bist du heute allein?«, fragt sie und sieht sich unverzüglich nach einem freien Tisch um.

»Ezra kommt später dazu«, antworte ich.

Sie nickt. »Okay, einen Fenstertisch?«

»Wenn du noch einen frei hast.« Suchend sehe ich mich in dem halb vollen Raum um. Besonders groß ist das Woody’s nicht. Ein Grund, warum ich es mag. Denn ich bin kein Fan von großen Lokalen oder Touristenhotspots.

»Für dich immer.« Das Lächeln auf Mildreds Lippen wird breiter und ich folge ihr durch den Gastraum. Mildred jobbt neben dem Studium im Restaurant ihrer Mutter, weil ständig akuter Personalmangel herrscht.

Bevor ich mich setze, sehe ich Millie an. Überlege, was an ihr anders ist, dann greife ich nach einer der dunklen Locken, die ihr am Freitag noch bis über die Schultern gereicht haben und jetzt auf Kinnhöhe enden. »Ich mag deine neue Frisur«, sage ich und erwidere zum ersten Mal ihr Lächeln.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen mustert sie mich argwöhnisch. »Flirtest du etwa mit mir, Leenard Brouwer?«, fragt sie in strengem, aber vor allem missbilligendem Ton.

Lachend ziehe ich die Hand zurück. »Würde mir nie in den Sinn kommen.«

»Gut, Ezra reißt dir sonst die Eier ab.«

Daran habe ich keinerlei Zweifel.

»Was darf ich dir bringen?«

»Gerne einen Cheeze Burger und dazu einen Bourbon Sour.«

»Geht klar.«

Ich sehe ihr nach, wie sie in Richtung Küche verschwindet. Die Schwingtür schließt sich hinter ihr. Nach wenigen Sekunden taucht sie wieder in meinem Blickfeld auf und tritt hinter die Bar. Ed Sheeran hallt in angenehmer Lautstärke durch das Lokal, während ich meinen Blick über die Gäste schweifen lasse. Das Woody’s ist ein beliebter Treffpunkt der Studierenden der Kingston University, weil es sich in unmittelbarer Nähe der Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät befindet. Einige Gesichter sagen mir etwas. Dennoch kenne ich die meisten, die mit mir in den Kursen sitzen, nur flüchtig. Ich bin der Typ, den man zu Partys einlädt, weil sich der Name gut auf der Gästeliste macht und Leute anlockt. Aber ich bin auch der Typ, um den man einen Bogen macht, um ihn aus der Ferne zu betrachten. Der Name Brouwer ist wie ein Fluch, von dem ich dachte, er würde mich nicht bis nach London verfolgen.

Da habe ich mich geirrt.

Millie stellt ein Glas vor mir ab, öffnet den Mund, um etwas zu sagen, als ein Gast zwei Tische weiter nach ihr verlangt. Ein entschuldigender Ausdruck erscheint auf ihrem Gesicht.

Ein, zwei Sekunden lang betrachte ich die goldgelbe Flüssigkeit, die mit einer Zitronenscheibe und einer Cocktailkirsche garniert optisch mehr hermachen soll. Ich nehme eine Papierserviette aus dem Halter, der mitten auf dem Tisch steht, fische die überflüssige Garnitur aus dem Getränk und lege sie darauf ab.

»Ist es nicht ein bisschen zu früh dafür?«, ertönt Ezras Stimme, zeitgleich zieht er den Stuhl mir gegenüber zurück und nimmt darauf Platz. Bevor ich ihn davon abhalten kann, greift er nach dem Glas und genehmigt sich einen Schluck. »Ehrlich, ich check es nicht, deine Familie produziert einen der besten Gins der Welt und du ziehst dir billigen Bourbon rein.«

»Wie du weißt, bevorzuge ich den holzigen, würzigen Geschmack des Whiskeys anstelle von bitterem Wacholder.« Das ist die offizielle Version, warum ich das Familienprodukt verschmähe. Die Wahrheit ist, mit fünfzehn habe ich eine Flasche aus dem Lager mitgehen lassen, um meinen Kummer zu ertränken. Baas musste mich mitten in der Nacht vom Polizeirevier abholen, nachdem mich zwei Beamte betrunken an einer Bushaltestelle eingesammelt hatten. Seither habe ich keinen Gin mehr angefasst. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob es am Gin selbst oder an der Ansage meines Bruders liegt, dass ich kein weiteres Mal in Versuchung geraten bin.

Ich nehme ihm das Glas aus der Hand und stelle es wieder vor mir ab. »Du bist zu früh«, sage ich nach einem Blick auf die Uhr. In der kurzen Zeit hat er unmöglich das Chaos beseitigt.

»Ich habe das Aufräumen auf nach dem Lunch vertagt«, bestätigt er meinen Verdacht.

»Hi, Trottel.« Millie stellt den Cheeze Burger vor mir ab, während sie Ezra auf ihre ihm gegenüber typisch charmante Art begrüßt.

Ezra grinst schief und wendet sich Millie zu. In der nächsten Sekunde reißt er entsetzt die Augen auf. »Fuck, was ist mit deinen Haaren passiert?«, presst er hervor und ich unterdrücke ein Lachen, weil sein Gesichtsausdruck zum Brüllen komisch ist.

»War Zeit für etwas Neues.«

»Das ist mehr als gewöhnungsbedürftig.«

»Leenard findet, ich sehe hübsch aus«, erwidert sie patzig.

»Findet er das?« Ezra fixiert mich mit seinem Blick.

Beschwichtigend hebe ich die Hände. »Haltet mich da raus.« Millie provoziert ihren Stiefbruder absichtlich. Das ist eins ihrer liebsten Hobbys. Ezra würde es zwar nie zugeben, aber er verfügt über einen völlig überzogenen Beschützerinstinkt. Für unsere Freundschaft gibt es genau eine feste Regel: Mildred Josephine McAllister ist tabu. In dem Punkt stimme ich Ezra zu, ich würde ihn auch nicht in die Nähe von Demy lassen. Allein schon, weil er es mit keiner länger als ein paar Wochen aushält.

Als würde eine Erinnerung aufploppen, vibriert mein Handy ein weiteres Mal. Ich ziehe es aus der Hosentasche und es ist tatsächlich meine Schwester. Das ist bereits der dritte Anruf innerhalb von einer Stunde. Was mehr als eigenartig ist, weil sie für gewöhnlich dazu übergeht, mir eine Nachricht mit Du gehst schon wieder nicht ran zu schicken.

»Bringst du mir Fish ’n’ Chips?« Aus Ezras Mund klingt es weniger nach einer Bitte, sondern mehr nach einer Aufforderung.

»Was hältst du davon, deine Bestellung zur Abwechslung mal selbst in der Küche aufzugeben? Bei der Gelegenheit kannst du Mum gleich Guten Tag sagen.«

Ezra lehnt sich auf dem Stuhl zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. »Es gibt einen Grund, warum ich bei der Scheidung meinem Arschlochvater zugesprochen wurde, während Miss Perfect bei ihrer Mummy bleiben musste.«

»Und trotzdem kommst du ständig hierher«, schießt Millie zurück.

»Entschuldigt mich kurz«, sage ich und stehe auf. Zum einen, um die beiden zu unterbrechen, bevor die Sache wieder einmal aus dem Ruder läuft, und zum anderen, um meine Schwester zurückzurufen.

Gerade als ich Demys Nummer wählen will, erscheint die Mitteilung auf dem Display, dass eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen wurde. Also rufe ich die zuerst ab.

»Leen«, höre ich Demy mit zittriger Stimme sagen, dann herrscht Stille, die von einem leisen Schluchzen unterbrochen wird. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Meine Schwester hat das letzte Mal geweint, als unsere Mutter gestorben ist. »Es ist etwas passiert.«

In dieser Sekunde fühlt es sich an, als hätte jemand die Zeit zurückgespult. Ich bin wieder fünfzehn, sehe meinen großen Bruder mit starrer Miene neben mir im Wagen sitzen, wie er genau diese Worte zu mir sagt. Leen, es ist etwas passiert. Immer und immer wieder hallt der Satz in meinen Ohren wider. Sorgt dafür, dass die Welt um mich herum wie in Zeitlupe ein weiteres Mal auseinanderbricht, während mein Herz viel zu schnell schlägt.

»Du musst nach Hause kommen«, spricht Demy aus, was ich tief in meinem Inneren längst befürchtet habe. Ich richte meinen Blick auf die Themse, während der Regen federleicht auf mich niederrieselt. Für die nächsten Sekunden lausche ich der Stille am anderen Ende der Leitung, warte darauf, dass mein Gefühl mich Lügen straft und meine Schwester eine banale Erklärung hinterherschiebt, die darauf hinweist, dass sie überdramatisch ist. Stattdessen ertönt eine mechanische Stimme: Ende der Nachricht.

Mein Herz schlägt mir inzwischen bis zum Hals, als ich Demys Nummer wähle. Es klingelt eine halbe Ewigkeit, bevor ich auf die Mailbox weitergeleitet werden. Als Nächstes versuche ich es bei Baas mit demselben Ergebnis. In meinen Gliedern beginnt es unangenehm zu kribbeln und das Atmen fühlt sich plötzlich unmöglich an. Ganz automatisch setzen sich meine Beine in Bewegung. Ein Fuß vor den anderen. Weg vom Woody’s. Erneut wähle ich Demys Nummer, dann wieder die von Baas, ohne Erfolg.

Genau wie vorhin weiche ich Passanten aus, nur dass ich sie diesmal nur unterschwellig wahrnehme. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, von denen ich hoffe, dass keiner davon real wird. Mein Schritt beschleunigt sich.

Nach kurzem Zögern rufe ich meinen Vater an.

Nichts.

SPRING KISS

Vanilla Gin, Rhubarb, Tonic, Apple

NIKA

Albert Cuypmarkt, De Pijp, Amsterdam

Ich liebe es, über den Markt in meinem Viertel zu schlendern, weil es eine beruhigende Wirkung auf mich hat. Auf dem Wochenmarkt herrscht eine ganz eigene Atmosphäre, die sich mit allen Sinnen erfassen lässt.

»Guten Morgen, Freya.«

»Hallo, Nika, so früh schon auf den Beinen?«, zieht sie mich auf, weil es bereits Mittag ist.

»Ich war erst um fünf im Bett«, sage ich zu meiner Verteidigung, obwohl ich ihr gegenüber keinerlei Rechenschaft ablegen muss.

»Du arbeitest zu viel.«

»Immer das Ziel vor Augen«, erwidere ich.

Freya lacht kurz, dann sieht sie mich mit sanftem Blick an. Die Fältchen um ihre Augen sind deutlicher geworden und lassen vermuten, wie alt sie tatsächlich ist. Ihre pastellrosafarbenen Haare und der etwas eigenwillige Kleidungsstil lassen sie deutlich jünger erscheinen. Ich habe sie nie nach ihrem Alter gefragt, obwohl wir uns seit drei Jahren kennen. Im Grunde ist es auch egal, ob Freya fünfzig, sechzig oder noch älter ist. Sie ist mit Abstand der netteste Mensch, der mir je begegnet ist. Immerhin lässt sie mich für eine winzige Miete bei sich wohnen. Also nicht bei sich direkt, sondern in dem Mehrfamilienhaus, das ihr gehört. Den Marktstand betreibt ihre Familie seit Jahrzehnten. Während ihr Bruder für den Anbau von Obst und Gemüse zuständig ist, kümmert sich Freya um den Verkauf.

Mein Blick schweift über die saisonale Auswahl. Der Frühling ist meine liebste Jahreszeit, weil alles aus dem Winterschlaf aufzuwachen scheint. Die ersten Sonnenstrahlen beleben jedes Jahr aufs Neue das Viertel. Die Menschen zieht es nach draußen in die Cafés oder in den Sarphatipark, der unweit des Marktes liegt.

»Was darf es heute sein?«, fragt Freya.

»Zwei davon bitte«, sage ich und deute auf die Äpfel. »Und hiervon eine Stange«, füge ich hinzu, als ich den Rhabarber entdecke.

»Hast du noch einen Wunsch?«

»Einen Bund Minze, wenn du hast«, antworte ich, weil ich sie nicht auf Anhieb zwischen all den frischen Kräutern ausmachen kann.

Während sie alles in eine Papiertüte packt, krame ich mein Portemonnaie aus dem Rucksack. Freya hebt abwehrend die Hand, als ich ihr zehn Euro reichen will.

»Geht aufs Haus.«

Verhalten lächle ich sie an. Freya weiß, dass ich immer irgendwie knapp bei Kasse bin, weil mein Job im Sole Mio nicht viel abwirft und mein Hobby eine Menge Geld verschlingt. Daher lässt sie mich selten die Dinge bezahlen, die ich bei ihr einkaufe. Aber ich habe eine gute Methode gefunden, mich für ihre Großherzigkeit zu revanchieren.

»Nur, wenn du später meine neuste Kreation probierst«, sage ich und bringe damit ihr Gesicht zum Strahlen. Es gibt zwei Dinge, die Freya liebt: gutes Essen und Gin. Aber vor allem genießt Freya es, Gesellschaft zu haben. Sie ist alleinstehend und hat keine Kinder. Die Hausgemeinschaft ist ihre Familie. Und für mich ebenfalls. Um nichts auf der Welt möchte ich unsere kleine Gemeinschaft missen.

»Gerne, Liebes. Als hätte ich es gewusst, habe ich nämlich gestern Abend die Füllung für Bitterballen vorbereitet. Die bringe ich später mit.«

Irgendwann werde ich Freya beichten müssen, dass ich kein Fan dieser Spezialität bin.

»Unbedingt«, sage ich wie gewöhnlich, denn für sie gehören Gin und Bitterballen zusammen. Wenn man etwas über die kulinarische Geschichte unseres Landes wissen will, dann ist Freya die richtige Anlaufstelle. Dank ihr weiß ich, dass diese frittierte Delikatesse, die in der Regel Fleischragout enthält, nicht bitter schmeckt, sondern traditionell mit Bitterstoffen serviert wird, zum Beispiel Genever, dem Vorboten des allseits bekannten Gins. Beim Thema Gin hingegen harmonieren Freya und ich ganz ausgezeichnet. Denn der Wacholderschnaps ist der Treibstoff meines Hobbys, des Kreierens von Cocktails. Gin-Cocktails, um genau zu sein.

»Ist dir um sieben recht?«, will sie wissen.

»Passt perfekt.«

Wir verabschieden uns voneinander und ich setze meinen Weg über den Markt fort, lege einen Zwischenstopp bei Arjen am Käsestand und bei Benthe ein, um jeweils Gouda und einen Strauß bunte Tulpen für Freya mitzunehmen. Das Schöne in diesem Viertel: Hier kennt nahezu jeder jeden. Und zu Hause ist hier jede Kultur und Gesellschaftsschicht, genauso wie Kreative und Workaholics. Hier hilft man sich untereinander. Alles geht Hand in Hand und das Geld bleibt zu großen Teilen im Viertel.

Kurz darauf biege ich auf die Eerste van der Helststraat und folge ihr in Richtung Sarphatipark. Im Vorbeigehen winke ich Izabell und Joris zu, die in der Wohnung unter mir wohnen, und suche mit dem Blick den Spielplatz nach Amilia ab. Sie hat mich längst erspäht und kommt auf mich zugerannt.

»Niha«, ruft sie laut und einige Passanten drehen sich nach ihr um. Ich gehe in die Knie, um mit der Dreijährigen auf Augenhöhe zu sein.

»Hallo, Amilia, hast du Spaß?«

Eifrig nickt sie und bewundert die Tulpen in meiner Hand. Ich ziehe eine pinke aus dem Strauß und halte sie ihr entgegen. »Hier, eine Blume für dich.« Ich reiche ihr noch eine gelbe, weil es Izas Lieblingsfarbe ist. »Und die ist für deine Mama.«

Ohne ein weiteres Wort dreht Amilia sich um und eilt zu ihren Eltern. Für den Moment beobachte ich sie dabei, bis mich jemand anrempelt und sich rasch entschuldigend weitereilt. Auch ich setze meinen Weg in die Pastelstraat fort. Der Wochenmarkt liegt nur zehn Gehminuten von meiner Wohnung entfernt. Wenn es schnell gehen muss, nehme ich das Fahrrad. Ein Auto könnte ich mir ohnehin nicht leisten und Parkplätze sind obendrein ein Luxus in der Gegend.

Ich schließe die Haustür auf, werfe einen Blick in den Briefkasten und sortiere die Rechnungen zwischen der Reklame heraus. Es gibt keinen Fahrstuhl und überhaupt hätte das Haus einige Modernisierungen nötig. Die Heizung fällt regelmäßig aus, genau wie das Warmwasser, und es zieht durch die Fenster. Dennoch habe ich bisher nie darüber nachgedacht, mir etwas anderes zu suchen. Ich lebe gerne hier und nehme die kleinen Macken des in die Jahre gekommenen Gemäuers schmunzelnd in Kauf. Ja, ich würde sogar behaupten, die Pastelstraat 8 mit ihren Bewohnern ist inspirierend und absolut einzigartig.

Im Erdgeschoss befindet sich Freyas Reich. In der ersten Etage wohnen Akito, Hannah und Pablo. Eine Dreier-WG, die immer für eine Party zu haben ist. Die Wohnung über ihnen gehört Peter und Gerda Müller, einem Paar, das seinen Ruhestand statt in Berlin in Amsterdam genießt. Dann kommen Iza, Joris und Amilia van der Linden. Ich bilde das Schlusslicht im Dachgeschoss.

Die sechsundachtzig Stufen sind mein tägliches Sportprogramm und dennoch bin ich jedes Mal außer Atem, sobald ich die oberste Etage erreiche. Den Einkauf stelle ich in der Küche auf dem kleinen Tisch unter dem Fenster ab und hole eine Vase aus dem Schrank, um die Tulpen für Freya hineinzustellen. Im Wohnzimmer herrscht das übliche Chaos, weil es nahezu unmöglich ist, in diesem beengten Zimmer alles Notwendige zu verstauen und gleichzeitig Ordnung zu halten.

Bevor ich mich meiner Tagesaufgabe widme, füttere ich Gijsbert, der munter in einem Glas auf der Kommode schwimmt. Der Goldfisch war ein Geschenk von Freya, damit ich Gesellschaft habe. Ich bin sehr froh, dass mein Mitbewohner pflegeleicht ist, keine Partys schmeißt und eher zu der schweigsamen Sorte gehört.

»Lass es dir schmecken, kleiner Freund.« Sofort stürzt Gijsbert sich auf die winzigen Flocken, die im Wasser langsam zu Boden sinken.

Im Vergleich zum Rest der Wohnung ist die Küche der größte Raum, weshalb sich hier auch mein Arbeitsbereich befindet. In der Ecke steht ein weiterer Tisch mit dem nötigen Equipment. Okay, Equipment ist übertrieben, es handelt sich lediglich um ein Stativ für mein Handy, ein Ringlicht und einen selbst gebastelten schwarzen Kasten, der als eine Art Fotobox fungiert. Direkt daneben steht ein alter Holzschrank, in dem sich alle Utensilien befinden, die ich für meine Cocktails brauche.

Ich öffne den Schrank und begutachte meinen Bestand.

»Okay, welcher passt am besten zu meiner Idee?«, murmle ich leise, nehme eine kleine Auswahl an Flaschen heraus und stelle sie auf dem Tisch ab.

Das Klingeln an der Tür lässt mich zusammenzucken. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Schon so spät? Dann höre ich, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt wird. Die Wohnungstür quietscht leise.

»Nika, bist du da?«, ruft Selma.

»In der Küche.«

Ihre High Heels klackern auf dem alten Dielenboden. »Ah, du bist schon bei den Vorbereitungen«, merkt sie an, als sie in den Raum tritt.

»Ich wollte gerade loslegen.«

»Können wir vorher kurz über die Anfragen in deinem Postfach reden?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich keine Kooperationen annehme, deswegen.«

Selma seufzt. »Nika, ich sag es wirklich ungern, aber du bist so unfassbar dumm.«

Ich wende mich ihr zu und ziehe die linke Augenbraue hoch. »Nur, weil ich den Leuten nicht vorschreibe, was sie kaufen sollen?«

»Es ist eine Empfehlung, du zwingst niemanden, das Produkt zu kaufen, für das du wirbst.«

Bei diesem Thema werden wir wohl nie auf einen gemeinsamen Nenner kommen. »Wenn ich heute«, ich greife wahllos nach einer Flasche und halte sie hoch, »diesen Gin präsentiere und morgen einen Rabattcode hinterherschiebe, dann um meine Community um ein paar Euro zu erleichtern und den Produzenten zu bereichern.«

»Deine Logik hinkt, das weißt du hoffentlich, denn die Einzige, die aktuell keinen Mehrwert von ihrer Bekanntheit zu verzeichnen hat, bist du.«

»Ich bleibe werbefrei.«

»Was ist mit deinem Ziel, eine eigene Bar zu eröffnen?«

»Das werde ich, es dauert nur noch etwas.«

»Es würde deutlich schneller gehen, würdest du über deinen Schatten springen.«

Niemals hätte ich ihr die Macht über meinen Social-Media-Account geben dürfen. Aber neben meinem Job als Barkeeperin und dem Produzieren von Content sowie dem Schreiben von Blogeinträgen fehlt mir schlichtweg die Zeit, allem gleichermaßen gerecht zu werden. Über mein mangelndes Privatleben will ich gar nicht erst nachdenken. Deswegen hat Selma vor drei Monaten das Beantworten von Anfragen und die Interaktion mit Followern für mich übernommen.

»Und du wärst eine großartige beste Freundin, wenn du nicht immer wieder mit dieser Influencerinnenkarriere-Nummer um die Ecke kommen würdest.«

»Memo an dich, Miss Cocktailery, du bist längst eine, nur leider keine, die Millionen damit verdient, weil sie ihren Input gratis an die Leute verteilt.«

In dem Punkt hat Selma recht, Miss Cocktailery ist längst zu mehr als nur einem Hobby geworden. Nur die miese Bezahlung ist gleich geblieben. Meine Einnahmen belaufen sich nach wie vor auf ein paar Euro durch Affiliate-Links auf meinem Blog, die ich wiederum in die Kreation von neuen Cocktails investiere. Rechnen tut sich die Sache keinesfalls. Im Gegenteil, meistens zahle ich obendrauf. Dennoch liebe ich es. Gerade weil ich niemandem zu etwas verpflichtet bin. Würde ich mich dafür bezahlen lassen, wäre ich in meinem Tun weniger frei.

»Du hast schon einen mies bezahlten Job, da kannst du dir keinen unbezahlten zweiten leisten«, setzt Selma nach.

»Lernst du in deinem Businessmanagementseminar, wie man Menschen vor den Kopf stößt?« Ich trete neben sie. Aus dem Hängeschrank nehme ich mehrere Longdrinkgläser sowie einen kleinen Teller und stelle alles vor mir ab. Anschließend gebe ich eine anständige Menge des braunen Rohrzuckers auf den Teller.

»Nein, das steht im Beste-Freundinnen-Handbuch«, erwidert sie frech und grinst mich an.

»Wirklich?«

Selma reicht mir eine Limette aus der Obstschale. Ich viertle sie und reibe den oberen Rand der Gläser damit ein. »Ja, Paragraf 4: Wenn deine Freundin ihre Chancen nicht nutzt, hau ihr die Wahrheit um die Ohren.«

»Gibt es auch einen Paragrafen, in dem steht, dass man immer hinter den Entscheidungen der besten Freundin steht?«

Ein Glas nach dem anderen tauche ich in den braunen Zucker, bis er daran haften bleibt.

»Möglich«, antwortet sie herzallerliebst und wirft einen Blick in die Papiertüte, die noch unausgepackt auf dem Küchentisch steht.

»Rhabarber?«, fragt sie ungläubig.

»Saisonal, schon vergessen?« Ich nehme ihr den Rhabarber aus der Hand und säubere ihn unter fließendem Wasser. Anschließend schneide ich ihn mit dem Sparschäler in hauchdünne lange Streifen.

»Na, wenn du meinst. Was brauchst du sonst noch?«

»Die Äpfel, Rhabarbersaft und Tonic.«

»Welches Tonic?«, will sie wissen, während sie die Zutaten zusammenträgt.

»Mmh, wir versuchen ein mildes und ein herbes.«

»Was ist mit der Minze?«, fragt sie und nimmt sie aus der Tüte.

»Ja, die auch.«

Selma verteilt die Eiswürfel gleichmäßig auf die Gläser. In das erste gebe ich vier Zentiliter Gin mit der Note rosa Pfeffer und Lavendel, was ihm einen zart roséfarbenen Ton verleiht, und fülle das Ganze zur Hälfte mit dem herben Tonic und Rhabarbersaft auf. Dann reiche ich das Glas an Selma.

Sie rümpft die Nase, weil sie der Geschmacksrichtung nicht traut, dennoch nippt sie daran und macht ein schmatzendes Geräusch, um ihre Geschmacksknospen zu aktivieren.

»Und?«, frage ich sie.

»Könnte sanfter sein. Das Tonic haut ganz schön rein.«

Um mir selbst ein Urteil zu bilden, nehme ich einen Schluck. »Ja, probieren wir die milde Variante und einen Gin mit Vanillenote, um dem Ganzen etwas mehr Substanz zu verleihen und die Säure zu reduzieren.«

Die nächsten Stunden verbringen wir damit, das richtige Verhältnis der Zutaten für den Spring Kiss zu finden. Wir sind so vertieft in die Sache, dass wir das Klingeln an der Tür zuerst überhören, bis es ein weiteres Mal schellt.

»Ich geh schon, zaubere du eine ansprechende Garnitur, damit wir Fotos machen können.«

»Es ist Izabell«, ruft Selma aus dem Flur. »Sie hat Kuchen dabei«, fügt sie hinzu.

»Dann lass sie rein«, erwidere ich laut.

»Freya hat dir einen Tipp gegeben, stimmt’s?«, frage ich Iza, als sie in die Küche tritt.

»Ich dachte, du könntest vielleicht eine Testperson gebrauchen, aber wie ich sehe, hast du schon tatkräftige Unterstützung.«

»Immer, Selmas Geschmacksnerven beschränken sich auf süß und fruchtig«, sage ich und bereite ihr unsere finale Version des Spring Kiss zu, während Selma Teller für den Kuchen aus dem Schrank nimmt.

»Optisch schon mal vielversprechend«, merkt Iza an.

Als Garnitur habe ich hauchdünne Apfelspalten geschnitten und mithilfe eines Spießes zu einem Fächer geformt. Einen Streifen des Rhabarbers habe ich in Schlaufen gelegt und ebenfalls mit dem Spieß fixiert. Ein kleiner Stängel Minze dazu und fertig ist das Kunstwerk.

»Halt«, entfährt es Selma, als Iza den fruchtigen Cocktail an ihre Lippen führen will. »Wir machen erst die Fotos.« Sie nimmt ihr das Glas aus der Hand und geht damit zu dem Tisch, auf dem die provisorische schwarze Fotobox steht. Ich hole die Kamera.