The Norsemen-Saga: Der Thron der Wikinger - Cecelia Holland - E-Book
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The Norsemen-Saga: Der Thron der Wikinger E-Book

Cecelia Holland

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Beschreibung

Die Sprache von Axt und Schwert … Der historische Roman »Der Thron der Wikinger« von Cecelia Holland jetzt als eBook bei dotbooks. Irland, 10. Jahrhundert: Die Dorfbewohner erzittern vor Angst, als die Langschiffe von Erik Blutaxt wie Geister am Horizont erscheinen. Der berüchtigte Wikinger-König ist gekommen, um Tod und Feuer über das Land zu bringen und die Frauen der Insel zu rauben. Einzig der junge Corban überlebt den Angriff auf sein Dorf, und schwört ewige Rache an dem, der ihm alles genommen hat. Gemeinsam mit dem Handwerker Einar begibt er sich auf die gefährliche Reise in die Wikingerstadt Jorvik, um seine Zwillingsschwester Mav zu retten. Umgeben von Feinden muss Corban sich in einer fremden, mitleidlosen Welt behaupten, in der ein Machtkampf wütet, der das Schicksal der Wikinger für immer verändern soll … »Ein packendes, sprachgewaltiges Epos, das die Zeit der Wikinger zum Leben erweckt.« New York Times Jetzt als eBook kaufen und genießen: Das Wikinger-Epos »Der Thron der Wikinger« ist der packende Auftakt der Norsemen-Saga von Cecelia Holland, die alle Fans von Bestsellerautor Bernard Cornwell und des Serien-Hits »Vikings« begeistern wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 516

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Über dieses Buch:

Irland, 10. Jahrhundert: Die Dorfbewohner erzittern vor Angst, als die Langschiffe von Erik Blutaxt wie Geister am Horizont erscheinen. Der berüchtigte Wikinger-König ist gekommen, um Tod und Feuer über das Land zu bringen und die Frauen der Insel zu rauben. Einzig der junge Corban überlebt den Angriff auf sein Dorf, und schwört ewige Rache an dem, der ihm alles genommen hat. Gemeinsam mit dem Handwerker Einar begibt er sich auf die gefährliche Reise in die Wikingerstadt Jorvik, um seine Zwillingsschwester Mav zu retten. Umgeben von Feinden muss Corban sich in einer fremden, mitleidlosen Welt behaupten, in der ein Machtkampf wütet, der das Schicksal der Wikinger für immer verändern soll …

Über die Autorin:

Cecelia Holland wurde in Nevada geboren und begann schon mit 12 Jahren, ihre ersten eigenen Geschichten zu verfassen. Später studierte sie Kreatives Schreiben am Connecticut College unter dem preisgekrönten Lyriker William Meredith. Heute ist Cecelia Holland Autorin zahlreicher Romane, in denen sie sich mit der Geschichte verschiedenster Epochen und Länder auseinandersetzt.

Die Website der Autorin: thefiredrake.com/

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre historischen Romane »Im Tal der Könige«, »Die Königin von Jerusalem«, sowie ihre Norsemen-Saga mit den Einzelbänden »Der Thron der Wikinger« und »Der Erbe der Wikinger«. Weitere Bücher sind in Vorbereitung.

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eBook-Neuausgabe Mai 2024

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Originaltitel »The Soul Thief« bei Forge Books, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Der Dieb der Seelen« bei Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2002 Cecelia Holland

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004, Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © Adobe Stock / Nejron Photo

sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)

ISBN 978-3-98952-147-6

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Cecelia Holland

The Norsemen-Saga: Der Thron der Wikinger

Historischer Roman

Aus dem Amerikanischen von Petra Kall

dotbooks.

Für meine Freunde

Bob und Jacki Batjer

Kapitel 1

»Du bist ein Feigling, Corban! Ein Dummkopf! Ein Taugenichts! Nichts machst du richtig! Du bringst nur Ärger!«

Schweigend, mit zusammengebissenen Zähnen, ließ Corban den Zornesausbruch seines Vaters über sich ergehen. Er spürte aller Blicke auf sich gerichtet – den seiner Mutter, die sich neben der großen, wuchtigen Gestalt seines Vaters winzig ausnahm; den seines Bruders, der sich ängstlich wie eine Maus am Tischende duckte; den seiner kleinen Schwester, die ihn aus großen Augen verschüchtert ansah; und den seiner Großmutter, die an der Feuerstelle saß. Keiner sagte ein Wort oder ergriff Partei für Corban. Alle kuschten, während der Vater vor Zorn tobte.

»Im Namen deiner Familie, geh! Ich befehle es dir! Nimm dein bisschen Mut zusammen und erhebe dein Schwert für den König!«

»Nein«, entgegnete Corban standhaft, hielt den Blick jedoch gesenkt, denn er konnte seinem Vater nicht in die Augen schauen.

»Verdammt sollst du sein! Du bist nicht mein Sohn! Du bist ein jämmerlicher Feigling!«

»Vater, bitte ...«

Fest und klar klang die Stimme durch die Stube. Corban hob den Kopf. Hinter ihm war lautlos seine Schwester Mav durch die Tür getreten. Schnellen Schrittes kam sie in die Stube, ging mit hoch erhobenem Kopf an Corban vorbei, stellte sich neben den Vater und legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Sprecht nicht so, Vater. Sagt bitte nichts, das ungesagt bleiben kann.«

Der alte Mann wandte ihr den Blick zu. Wirr stand ihm sein zottiges graues Haar vom Kopf ab. Trotz seiner Wut lächelte er; für Mav hielt er stets ein Lächeln bereit. »Ich wollte, du wärst mein Sohn, Mav, und nicht dieser erbärmliche Versager. Zu dir hätte ich Vertrauen.«

»Vater, ich bitte Euch. Macht Euren Frieden mit Corban. Das hat er nicht verdient.«

Der alte Mann bedachte Corban mit einem flammenden, bezwingenden Blick. Corban senkte erneut den Kopf und starrte zu Boden,– er wollte sich dem Vater auf keinen Fall beugen.

»Ich soll meinen Frieden mit ihm machen?«, rief der alte Mann. »Niemals! Du wirst tun, was ich von dir verlange, Corban, und dem König deine Dienste anbieten, oder du wirst dieses Haus und diese Familie für immer verlassen!« Bei den letzten Worten knallte seine Stimme wie eine Peitsche.

Corban ballte die Hände zu Fäusten. »Ihr lasst mir keine Wahl«, stieß er hervor, wandte sich um und ging zur Tür.

Voller Schmerz schrie seine Mutter auf. Sie rief nicht einmal seinen Namen,– es war eher ein verzweifeltes Jammern, das sich laut und schrill über das erschreckte Gemurmel der anderen erhob.

Corbans letzter Blick, bevor er die Stube verließ, fiel auf seine kleine Schwester, die ihn offenen Mundes anstarrte. Dann trat er durch die Tür hinaus ins Sonnenlicht. Überrascht, wie ruhig und gefasst er war, blieb er für einen Moment stehen und nahm den vertrauten Anblick des Gehöfts in sich auf, betrachtete die steinerne Wand des Kuhstalls, den Haufen gestochenen Torfs, die Leibeigenen, die zur Wiese schlenderten, auf der bereits die Kühe grasten. In einiger Entfernung funkelte das Meer; das gleißende Licht blendete Corban. Er holte tief Luft, dann kehrte er Familie, Haus und Hof den Rücken und stapfte über den langen Pfad, der am Kuhstall, dem Lehmofen und dem Schweinekoben vorbei den Hügel hinaufführte.

Corban blickte sich nicht um, sah nur nach vorn auf den Weg, den er in seinem bisherigen Leben schon oft gegangen war. Als er die Stelle erreichte, wo der Pfad sich den Hügel hinaufwand, holte die vom schnellen Lauf keuchende Mav ihn ein. Corban sagte nichts, warf nur einen kurzen Blick auf seine Schwester. Eine Weile gingen sie nebeneinander, stiegen gemeinsam den grasbewachsenen, baumlosen Hügel hinauf.

Der kühle Wind blies Mav das lange schwarze Haar aus dem Gesicht und färbte ihre Wangen rot. Leise murmelte sie vor sich hin; dann drehte sie sich um und blickte den Weg zurück. Immer noch bewegten sich ihre Lippen. Corban ging ein paar Schritte vor ihr auf die Kuppe des Hügels zu. Wie sein weiterer Weg durch das Leben aussah, wusste er nicht. Er würde einfach fortgehen, nur mit der Kleidung, die er am Leibe trug, und mit der Schleuder bewaffnet, die unter seinem Gürtel steckte. Das Herz wurde ihm schwer.

»Ich bin kein Feigling ...«, begann er mit leiser Stimme, stockte dann aber, als Mav wieder zu ihm aufschloss und neben ihm schritt. Die langen Röcke wogten ihr um die Beine.

Die Augenbrauen gehoben, blickte Mav ihn erwartungsvoll an, als erwartete sie, dass er etwas sagte. Doch er schwieg.

Schließlich wandte sie den Blick von ihm, drehte sich um, sah wieder zurück auf den Weg, den sie gekommen waren, und seufzte tief.

Auch Corban blieb stehen und wandte sich um. Sie waren nun auf der Hügelkuppe angelangt, wo grauer Fels aus der vom Gras grünen Scholle ragte. Die Oberfläche des Steins war von Flächen rauer, schwarzgrüner Flechten bedeckt.

»Was ist, Mav?«

Sie zitterte heftig und senkte den Blick. Ohne ihm eine Antwort zu geben, holte sie einen Laib Brot und einen Krug unter ihrem Mantel hervor und reichte ihm beides.

»Nimm das, Corban.«

»Du hast ein gutes Herz.« Dankbar nahm er Krug und Brot, stellte den Krug auf dem Felsboden ab und legte den Brotlaib daneben.

Mit der freien Hand zog Mav sich den Mantel wieder straff um den Körper. Der Wind zerrte an ihrem Haar, und der Leinensaum ihres Gewandes flatterte. Plötzlich erstarrte sie, begann zu zittern und sagte mit leiser, angespannter Stimme: »Da kommt etwas ... jemand ... auf uns zu ...«

Ihre schlanken Finger schlossen sich um Corbans Hand.

Unwillkürlich blickte er den Pfad zurück auf das elterliche Gehöft. Er wollte Mav nicht glauben, dass jemand in der Nähe war; nur wenige Reisende verirrten sich nach hier draußen. Doch Corban wusste auch, dass seine Schwester eine besondere Gabe besaß: Sie wusste, was geschehen würde, bevor es geschah. Mav spürte Verlorenes auf und konnte sehen, was verborgen lag und wo. Fast jedes Mal, wenn Corban sie so erlebt hatte wie jetzt, war irgendetwas geschehen, und meist waren es schlimme Dinge gewesen. Besonders gut erinnerte er sich daran, wie Mav zwei Tage lang gezittert und gemurmelt hatte, so wie jetzt, bevor ein plötzlicher Sturm ihre Fischerboote zu Wracks zerschmettert und die Hälfte von ihrem Vieh getötet hatte.

Manche sagten, dass Mav es selbst sei, die schlimme Dinge geschehen ließ. Doch Corban, der ihre Hand hielt, wusste genau, dass dem nicht so war. Seine Schwester war ein guter, tugendhafter und aufrichtiger Mensch. Wenigstens was Mav betraf, hatte sein Vater recht.

Corban fragte sich, ob Mav auch seine Verbannung vorhergesehen hatte. »Vater wird mich zurückkehren lassen«, sagte er, obgleich er sich da ganz und gar nicht sicher war. »Vielleicht schon morgen. Du weißt ja, wie er ist.« Die Wut, die in ihm gewütet hatte, war verflogen, und nun wusste Corban nicht mehr, ob er tatsächlich gehen sollte und wohin.

Im Westen stieg das Land an, erhob sich zu niedrigen Hügeln, die sich nun, mit dem nahenden Winter, braun verfärbten. Mit einem Mal schien Corban das heimatliche Feuer der einzige warme Platz auf der Welt zu sein – und seine Familie die einzigen Menschen, die ihn jemals lieben würden.

Mav entzog Corban ihre Hand. Mit beiden Fäusten packte sie den Saum ihres Mantels, den Blick starr auf das ferne Meer gerichtet. »Ich werde dir helfen, Corban. Ich rede mit Vater und lege ein gutes Wort für dich ein.« Sie strich sich das Haar aus der Stirn und umarmte Corban.

»Ja, ich werde ihn dazu bringen, dass er dich heimkehren lässt. Wenn nicht, gehen wir zusammen fort, Corban, du und ich. Wir treffen uns morgen Mittag wieder hier, wenn die Sonne hoch am Himmel steht.« Abrupt löste sie sich von ihm, wandte wieder den Blick ab und schaute aufs Meer.

Corban fand, dass seine Schwester wunderschön aussah mit den im Wind flatternden dunklen Haaren, den rosigen Wangen und den leuchtenden Augen. Und er hoffte, dass sie ihr Heim niemals verlassen würde, um mit ihm auf eine Reise ohne Wiederkehr zu gehen.

»Morgen also«, wiederholte er.

Sie wandte sich ihm wieder zu, lehnte sich an ihn und küsste ihn auf die Wange. Dann sah sie ihm tief in die Augen.

»Ich werde alles versuchen, dich wieder nach Hause zu holen, Corban«, sagte sie. »Doch es wäre besser, du kämst von allein und würdest dafür sorgen, dass Vater dich so nimmt, wie du bist.« Wieder küsste sie ihn, trat dann zurück, runzelte die Stirn und musterte ihn von oben bis unten. Sie machte Anstalten, ihren Mantel abzulegen und ihn Corban zu geben.

Trotz seines Kummers musste er lachen und nahm ihre Hand. »Nein, nein, mir ist warm genug.«

Sie zuckte die Achseln. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging den Pfad zurück zum elterlichen Gehöft.

Corban blickte ihr nach, und der Anflug von Frohsinn verflog.

Er und Mav waren am selben Tag geboren; die Leute sagten, sie sähen einander ähnlich wie ein Ei dem anderen, und doch sah Corban nichts von sich selbst in seiner Schwester. Mav war immer frei heraus, war mutig und ehrlich und kümmerte sich um alles und jeden. Stets dachte sie gründlich nach, bevor sie etwas tat, und sie kannte keine Angst.

Corban hingegen war weder weise noch tapfer, sondern dümmlich und träge.

Er nahm den Brotlaib aus dem Beutel und aß ein Stück davon, wobei er den Blick über die Hügel und den Eichenwald schweifen ließ.

Nach der kargen Mahlzeit stapfte Corban am Rand des Großen Waldes entlang, wo das Gehen leichter war; er durchquerte ein Stück tückisches Sumpfland und kam an Wiesen vorüber, auf denen Rotwild graste. Im Vorbeigehen pflückte er Nüsse und Beeren. Ein Schwarm kleiner Sumpfhühner flatterte aufgeschreckt hoch und flog mit schwirrenden Flügeln über eine der Wiesen davon, auf denen sich das Gras bereits gelb färbte; nicht mehr lange, und der Winter würde Einzug halten. Dieser Tag aber war noch recht warm geworden, sodass Corban seinen Mantel über der Schulter und sein Hemd um die Taille geschlungen trug.

Am Fuß eines mit Büschen bestandenen Hügels entdeckte er Bärenlosung gespickt mit Samen. Einige Zeit später erlegte er zwei Eichhörnchen. Er wusste, wie rasch sie die Stämme der Bäume hinauf und hinunter huschten, deshalb legte er sich in guter Deckung auf die Lauer und wartete geduldig, bis sie zu neugierig oder zu dreist wurden, um sie dann mit der Schleuder zu erlegen. Die abgezogene Beute ließ er von seinem Gürtel baumeln.

Die Sonne wanderte weiter nach Westen, und Corban entfernte sich immer mehr von zu Hause. Vor ihm lag dicht und schattig der Große Wald; zu seiner Rechten, im Norden, senkten sich die Hügel ins Tal. In einiger Entfernung sah er eine große Wasserfläche schimmern – der Lange See. Corban schlug diese Richtung ein, wobei er auf einem alten, mit Steinen markierten Pfad einen Sumpf durchquerte,– dann führte ihn ein steiler, lang gezogener Abhang weiter in Richtung des Sees. Nachdem er einen letzten Hügel umrundet hatte, stand er schließlich am Seeufer. In der Ferne sah er Männer in einem Boot, die im Langen See fischten. In kleinen, sich kräuselnden Wellen schlug das Wasser ans Ufer. Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont.

Müdigkeit überkam Corban, und ihm wurde kalt. Er zog sich das Hemd über und wickelte sich in seinen Mantel. Am Fuße eines verwitterten grauen Felsens entfachte er ein kleines Feuer, spießte die Eichhörnchen auf Stöcke und briet sie über den Flammen.

Daheim waren jetzt alle zum Essen versammelt; sein Vater würde wie immer neben seiner Mutter sitzen, und sein jüngerer Bruder brachte ihnen und seinen Schwestern Fleisch und Brot und füllte ihre Becher. Corban wurde es schwer ums Herz. Plötzlich wünschte er sich, bei ihnen zu sein, umhüllt von ihrer Wärme, ihrem Lachen und dem Duft der Speisen. Er musste an seine kleine Schwester denken, an den Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sein Vater ihn hinausgeworfen hatte. Mit großen Augen hatte sie ihm hinterhergeschaut, und ihr Blick war ihm den ganzen Weg durch die Stube bis zur Tür gefolgt.

Corban fragte sich, ob er jemals zurückgehen würde. Er brauchte die anderen nicht, so sehr er sich auch danach sehnte, bei ihnen zu sein. Sollte er seinen Weg jetzt allein gehen? Er dachte an Dun Maire, das große Gehöft im Landesinnern. Dort wohnte ein Mädchen, das ihn mit begehrlichen Blicken betrachtet hatte, als er das letzte Mal dort gewesen war. Ja, er könnte nach Dun Maire gehen. Vielleicht würde er dort eine neue Heimat finden, ein neues Zuhause ...

Dann aber dachte er an Mav, und seine Zuversicht schwand. Mochte er sie alle jetzt auch hassen – seinen Vater, der so ungerecht zu ihm war; seine Mutter, die sich nicht für ihn eingesetzt hatte; seinen Bruder Finn, der immer nur betete und sich bekreuzigte und versuchte, fromm und gottgläubig zu wirken, weil er nach dem Wunsch des Vaters Priester werden sollte – mochte Corban sie alle jetzt auch hassen, seine Schwester liebte er über alles.

Ja, er würde heimkehren, Mav zuliebe. Unbehagen überkam ihn bei diesem Gedanken, und doch wusste Corban, dass er irgendwann auf das elterliche Anwesen zurückkehren würde ...

Die Sonne ging unter und tauchte den Himmel und den See in eine prachtvolle rote Glut, die jedoch bald verblasste. Auf dem See ruderte das kleine Boot gemächlich davon. Corban spürte beinahe körperlich, wie die Dunkelheit sich auf ihn senkte, wie sie den Schein seines Feuers stärker werden ließ. Er fühlte das Alleinsein plötzlich überall um ihn herum,– es war wie die kalte Luft, die ihn umhüllte.

Corban schüttelte das Gefühl ab. Am Morgen würde er zurückkehren zu dem Felsen oberhalb des elterlichen Gehöfts, um dort Mav zu treffen. Gewiss hatte sie seinen Vater überzeugt, seinen älteren Sohn heimkehren zu lassen. Corban verzehrte das Fleisch der Eichhörnchen, saugte das Mark aus den winzigen Knochen und warf die Essenreste zwischen die Bäume. In seinen Mantel gehüllt sprach er einen alten Zauber gegen Feen und legte sich dann schlafen. Sein Vater war ein gläubiger, ja fanatischer Christ; er hatte Corban das Kreuz und den Glauben an Dreifaltigkeit sein Leben lang eingebläut. Doch Corban hatte keine Verwendung dafür – weder für das Kreuz noch für die Dreifaltigkeit noch für sonst etwas vom Christentum. Auch Mav ging ihren eigenen Weg, was das betraf. Und manche der Leibeigenen, die nach außen hin den Christen spielten und mit Corbans Vater beteten, brachten dem Alten Volk dennoch heimlich Opfergaben dar. Corban selbst glaubte ebenso wenig an die Sidhe wie an Christus – Christus hatte sie schließlich besiegen können.

Weder im Glauben noch auf der Welt schien es einen Platz für Corban zu geben. Er war bei allem ein Außenseiter, gehörte nicht mehr auf den elterlichen Hof, ja nicht einmal mehr zur eigenen Familie. Während Corban dort lag und beobachtete, wie das Feuer zu Asche verglühte, fühlte er sich leer wie die hohle Hand eines Bettlers.

Das Feuer wurde dunkler, bis es unter dem Gewicht der Asche zu einem einzelnen roten Auge geworden war. Der See schimmerte im Mondlicht.

Corban schlief.

»Sprich in meiner Gegenwart nie wieder von meinem missratenen Sohn, Mav!«, sagte der Vater schroff. »Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Verdammt soll er sein! Ich hoffe, er kommt nie mehr nach Hause!«

»Oh, Vater«, rief Mav, und Tränen stiegen ihr in die Augen. »Warum sagt Ihr so etwas?« Sie beide standen mitten in der Stube, in der die Familie sich zum abendlichen Mahl versammelt hatte. Die Gespräche der Leibeigenen übertönten ihre Unterhaltung. Mav ergriff einen Arm ihres Vaters. »Einmal noch, Vater!«, bettelte sie. »Vergebt ihm nur noch dieses eine Mal! Ich flehe Euch an!«

»Pah!« Er schüttelte ihre Hand ab. Unter den dichten, buschigen Wülsten seiner Brauen loderten seine Augen wie Feuer. Er packte Mavs Arm mit beinahe schmerzhaft festem Griff, doch seine Stimme war sanft.

»Für dich, mein Liebling, würde ich fast alles tun, das weißt du. Diesmal aber... nein.« Er beugte sich vor und drückte die Lippen auf ihre Stirn. Dann ging er ans andere Ende des langen Raumes.

Mav blieb stehen, wo sie war. Um sie her stopften die Leibeigenen und deren Frauen und Kinder sich mit Fisch und Brot voll. An der Feuerstelle erzählte jemand eine Geschichte. Die Luft im Raum war abgestanden und rauchgeschwängert, und es war viel zu heiß. Mavs Inneres war aufgewühlt. Sie sehnte sich danach, bei ihrem Bruder zu sein, draußen in der freien Natur, in der Einsamkeit der Wildnis.

Ihr Vater hatte Unrecht. Corban war zwar ungeschliffen und nicht so, wie ihr Vater es wollte, doch er war ein guter und aufrechter Mensch. Sie musste ihn wieder nach Hause holen! Doch eine seltsame, kalte Angst bannte sie an Ort und Stelle. Einen Moment lang schwanden die Gedanken an Corban, und Mav dachte an etwas anderes, etwas Schreckliches, doch es war verschwunden, bevor sie es mit dem Verstand hatte fassen können.

Mav entfernte sich vom Feuer, näherte sich der Kühle an der Tür. Ihre Mutter saß noch am Tisch und aß ein Stück Fleisch. Ihr Kopfschmuck hatte sich gelöst und hing ihr über die Ohren. Mavs kleine Schwester kam herbeigelaufen, die Hände ausgestreckt vor sich. Ihre Mutter nahm sie und hob sie sich auf den Schoß. Dann steckten beide die Köpfe zusammen. Die Wangen des Kindes waren glatt, die der Mutter rau; das Haar des Kindes war schwarz, das der Mutter grau.

Ihr jüngerer Bruder Finn trat zu Mav. »Was hat Vater gesagt?«

»Du solltest darauf hoffen, dass er Corban zurückkehren lässt«, erwiderte Mav mit Schärfe in der Stimme. Manchmal hegte sie den Verdacht, dass Finn ihren Vater gegen Corban aufbrachte. »Sonst wird er als Nächsten dich zu König Brians Hof jagen!«

»Nicht mich«, erwiderte Finn, steckte sich eine Hand voll Nüsse in den Mund und fügte kauend hinzu: »Ich werde Priester und predige in ganz Irland!«

»Hoffentlich nicht mit vollem Mund. Es würde den Menschen sicher nicht gefallen, wenn du sie anspuckst, so wie mich«, sagte Mav und wischte sich Nussstückchen vom Ärmel.

Finn schnaubte. »Wenn ich erst Bischof bin, wirst du mich schon achten lernen!«

»Ehe du Bischof wirst, werde ich Königin!«

Wieder erhob sich eine dunkle Woge in Mavs Innerem, die ihren Geist durchflutete wie die gischtende Brandung des Meeres bei Sturm den Strand überspült. Mav schloss die Augen und kämpfte gegen einen plötzlichen, überwältigenden Anfall entsetzlicher Angst an.

Als Mav die Augen schließlich wieder öffnete, war Finn gegangen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, blickte durch den großen Raum und fühlte sich schrecklich allein. Ohne Corban kam sie sich wie ein halber Mensch vor.

Er musste zurück nach Hause kommen! Sie würde dafür sorgen!

Drüben an der Feuerstelle begann eine der Frauen mit hoher, heller Stimme zu singen. Es war ein altes Lied über den heiligen Brendan. Im ganzen Raum fielen andere ein,– ihre Stimmen verwoben sich zu einem Umhang aus Klängen. Mav lehnte sich an die Wand neben der Tür und zitterte im kalten Luftzug. Auch sie hatte ein Lied zu singen, das die anderen aber niemals hören würden. Sie biss sich auf die Lippe, schlang die Arme um den Oberkörper und wartete.

Corban schlief tief und traumlos. Als er am nächsten Morgen erwachte, kam ihm erneut der Gedanke, gar nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Sollte er stattdessen weiterwandern, am Ufer des Sees entlang, und einen anderen Ort suchen, an dem sein Leben weiterführte? Dun Maire vielleicht? Oder O’Banlons Farm weiter im Norden? O’Banlon mit seinen großen Geflügelscharen und Herden brauchte immer Männer.

Doch er dachte an Mav, und tiefe Sehnsucht stieg in ihm auf. Er musste sie wiedersehen. Er erinnerte sich daran, wie sie am Tag zuvor gewesen war, so unruhig und rastlos. Hätte er mit Mav zum Gehöft zurückkehren sollen, um seinen Vater zur Rede zu stellen?

Was aber hätte er ihm sagen sollen? Corban wusste, dass er kein Held war.

Doch was sein Vater von ihm wollte, konnte er nicht tun. Corban hatte schon zu viele solcher Männer erlebt – Männer, die nicht kämpften, um sich und die Ihren zu verteidigen, sondern um den Wünschen des Königs nachzukommen, den Wünschen eines fremden Mannes ...

Du bist ein Feigling!

Noch immer spürte er die Worte seines Vaters wie Peitschenhiebe; selbst in der Erinnerung waren sie wie Schläge ins Gesicht. Corban fragte sich, ob er tatsächlich ein solch feiger und ehrloser Hohlkopf war, wie sein Vater behauptete, als er den steilen Hügel hinaufstieg und sich dem Rand des Mischwaldes näherte. Das Gehen fiel ihm jetzt schwerer,– der Weg führte meist hügelan, während er am Tag zuvor fast nur abwärts gegangen war. Corban durchquerte das Stück Sumpfland und stapfte durch den Eichenwald auf sein altes Heim zu. Die Blätter der Bäume verfärbten sich bereits und fielen von den Ästen und Zweigen, sodass Corban über einen Teppich aus dichtem, feuchtem, vermoderndem Laub ging; es fiel ihm schwer, sicheren Tritt zu finden, und er war hungrig.

Als er die Hügelkuppe erreichte, ließ er den Blick in die Runde schweifen. In einiger Entfernung stieg eine Rauchsäule auf; schwarzer Qualm zog träge über den Himmel.

Einen Augenblick fragte er sich, was sie da kochten, das so viel Rauch machte.

Dann, plötzlich, rannte er los, geradewegs die Schlucht hinunter. Sein Herz hämmerte. Immer dichtere Rauchschwaden breiteten sich aus. Noch im Laufen begann Corban zu schluchzen. Er machte weite, raumgreifende Sätze den abschüssigen Hügel hinunter. Noch war er weit weg von seinem Ziel; dennoch hatte er bereits das Gefühl, seine Lungen müssten platzen. Er stürmte den Hang hinunter, den er tags zuvor mit der Schwester erklommen hatte, und bog in den Pfad ein, der zum elterlichen Anwesen führte.

Das Tal öffnete sich vor ihm. Der Rauch stieg vom Haus auf, vom Kuhstall und vom Küchenhaus. Über allem wogten die dicken schwarzen Rauchwolken, die der Wind zu Boden drückte. Im Laufen sah er Menschen, die auf dem freien Platz zwischen den Gebäuden und der heimatlichen Weide ziellos umherirrten. Durch die beißend riechenden Rauchschwaden hindurch konnte er große Schiffe mit Drachenköpfen erkennen, die auf den Strand gezogen worden waren.

Corban stieß einen Schrei aus. Mit Riesenschritten eilte er auf das Gehöft zu. Jetzt erkannte er, dass zwischen den umhereilenden Gestalten Menschen auf dem Boden lagen, und er hörte verzweifelte Rufe und schrille Schreie der Angst. Corban rannte das letzte Stück des Pfades entlang und zur Rückseite des Gehöfts, am Misthaufen vorbei und auf den hell lodernden Schweinekoben und den Kuhstall zu.

Die Fremden trieben das Vieh fort. Der größte Teil der Herde trottete bereits zum Strand. Wenige Schritte hinter dem Kuhstall traf Corban auf einen großen Mann mit langem, geflochtenem Bart, der einer gescheckten Kuh und ihrem Kalb mit einem Stock vor der Nase fuchtelte. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, sprang Corban den Fremden von der Seite her an.

Mit einem Schrei ging der bärtige Mann unter der Wucht des Aufpralls zu Boden. Auch Corban schlug so heftig auf, dass er für einen Augenblick keine Luft mehr bekam. Er klammerte sich an den Körper unter ihm und versuchte verzweifelt, wieder zu Atem zu kommen. Der Mann brüllte, wand sich unter Corban, rollte sich herum und warf ihn ab.

Corban drehte sich von ihm weg. Nach einem blitzschnellen Blick in die Runde erkannte er verwundert, dass er und dieser fremde Mann jetzt die einzigen Menschen weit und breit waren. Nur die Schreie einer Frau waren irgendwo zu hören. Die Flammen knisterten.

Der bärtige Mann hob seinen Knüppel und näherte sich Corban.

Geduckt, mit gesträubten Nackenhaaren, erwartete Corban den Angriff. Er beugte sich vor, tastete über den Boden und spürte einen großen Stein unter der rechten Hand. Immer noch außer Atem sprang er auf – in dem Moment, als der Fremde mit dem Knüppel ausholte. Der Schlag glitt an Corbans Schulter ab, zwang ihn aber dennoch in die Knie. Der bärtige Mann stieß einen Triumphschrei aus, schwang den langen Knüppel hoch über dem Kopf und ließ ihn mit tödlicher Wucht niedersausen. Nur durch eine blitzschnelle Drehung zur Seite konnte Corban dem Schlag ausweichen. Er riss die Schleuder aus seinem Gürtel. Doch er hatte keine Chance. Noch bevor er den Stein eingelegt hatte, führte der Fremde einen weiteren Schlag und traf Corban am Kopf. Bewusstlos ging er zu Boden.

Als er erwachte, war es so dunkel, dass Corban zuerst glaubte, erblindet zu sein.

Doch als er blinzelte, nahm seine Umgebung wieder Konturen an. Einen Moment lang konnte er sich nur verschwommen an die Geschehnisse erinnern. Er roch Rauch. Auf den Ellenbogen gestützt, blickte er sich um. Es war tiefste, schwärzeste Nacht. Sein Kopf schmerzte. Über ihm, oberhalb der Steinmauer des Kuhstalls, fehlte das Strohdach; über die Kante der Wand hinweg erhellte ein seltsam rötlicher Schimmer das Dunkel.

Corban sprang auf. Mit einem Mal stürmte alles wieder auf ihn ein,– sämtliche Erinnerungen fluteten zurück. Der Qualm, der bärtige Mann, die Schiffe am Strand ...

»Mav!«, schrie er, und das Herz hämmerte schmerzhaft in seiner Brust.

Er blickte über die Wand des Kuhstalls hinweg. Das Haus dahinter war fast völlig zerstört. In den letzten noch stehenden Wänden knisterte das Feuer, von dem roter Nebel emporstieg. Corban blinzelte erneut, schaute sich weiter um. Die gescheckte Kuh und ihr Kalb waren verschwunden – wie auch der bärtige Mann, der ihn niedergeschlagen hatte.

Corban stöhnte auf. Die Knie wurden ihm weich. »Mav ...» Er stolperte auf das Feuer zu.

Als er die Wand des Kuhstalls hinter sich gelassen hatte, wurde das Licht heller. Bis zum Meer hinunter war die ausgedehnte Grünfläche von einem schwachen, orangefarbenen Schimmer erfüllt – dem Widerschein des brennenden Hauses. Dann sah er einen dunklen Umriss ausgestreckt am Boden liegen, rannte dorthin und kniete daneben nieder. Er berührte die Gestalt mit der Hand. Es war einer der Leibeigenen. Jemand hatte ihm den Schädel eingeschlagen; wie roter Pudding bedeckte das Hirn des Toten den Boden. Corban wurde speiübel; er wankte von der Leiche fort und übergab sich würgend.

Dann entdeckte einen weiteren Toten. Er lag genau vor dem Eingang zum Haus – oder dem, was davon übrig war. Diesmal erkannte Corban sofort, wer da niedergemetzelt vor ihm lag, und für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Mit stolpernden Schritten bewegte er sich auf die Leiche seines toten Vaters zu und ließ sich daneben auf die Knie sinken. Er lag auf der Seite, das Gesicht abgewandt; die im Leben so harten Linien von Kinn und Wangen waren mit geronnenem Blut bedeckt. Doch den toten Vater zu berühren, konnte Corban sich nicht überwinden.

Mav hatte Recht gehabt: Er hätte zurückkommen sollen, hätte herunterkommen sollen aus den bewaldeten Hügeln. Corban brach in Tränen aus,– vom Rauch brannten seine Augen. Mit krächzender Stimme stieß er einen verzweifelten, an Gott gerichteten Ruf aus, verschloss die Lippen jedoch unvermittelt wieder. Gott hatte seinen Vater nicht gerettet.

Corban rappelte sich auf, stolperte davon, ging neben den nächsten Toten auf die Knie nieder: zwei weitere Leibeigene, die aufeinander lagen.

Er richtete sich auf. Die Dämmerung brach an, der Himmel wurde blasser.

»Mav!«, rief er, bekam jedoch keine Antwort.

Er stapfte los, suchte in der zunehmenden Dunkelheit nach den anderen. Wo war seine Mutter? Wo seine Großmutter? Wo seine Schwestern? Sein Bruder Finn? Corban betrachtete eine Leiche nach der anderen, eilte kreuz und quer über das Gras. Zuerst fand er nur die Leibeigenen. Sie waren ein Stück in Richtung des Meeres gelaufen, um das Gehöft in vorderster Linie zu verteidigen. Die anderen fand Corban schließlich dort, wo der Rand der Weide über den abfallenden, sandigen Strand hinausragte. Sein Bruder lag mit dem Gesicht nach unten da, den Knüppel noch in der Faust; sein Rücken war zerfleischt und nur noch eine einzige, große rote Wunde.

»Finn!«

Er hatte gegen die Angreifer gekämpft, sein Bruder, der noch so jung gewesen war, beständig im Gebet versunken. Es schien, als hätte er die Verteidiger angeführt. Corban liefen die Tränen über die Wangen, als er dem tapferen Finn im Stillen Abbitte leistete. Eine ganze Weile stand er neben dem toten Bruder. Es ist besser, so gestorben zu sein, als einen solchen Schmerz tragen zu müssen wie ich, dachte er betrübt.

Schließlich zog Corban sich von Finn zurück, mit wild pochendem Herzen und erfüllt von banger Angst, denn noch hatte er keine Spur von seiner Mutter entdeckt. Er stolperte weiter, folgte der von vielen Füßen getrampelten blutigen Fährte bis zum Strand. Er erinnerte sich wieder daran, durch den Rauch die Schiffe mit dem Drachenkopf am Strand gesehen zu haben. Jetzt aber waren sie fort. Selbst die Fischerboote der Familie waren verschwunden. In der Brandung lagen lediglich Haufen von Knochen, Köpfen und Hufen. Innereien schwappten im Wasser,– überall schimmerten glitschige Pfützen aus Blut: Die Angreifer hatten das Vieh hier am Strand geschlachtet. Der Gestank ließ Corban würgen, und wieder bekam er weiche Knie.

Hinter dem Schlachtplatz flatterten und hüpften mehrere schwarze Vögel über den Strand und wichen ihm aus, als er sich näherte: Sie waren zu vollgefressen, um noch fliegen zu können.

Das Herz krampfte sich ihm zusammen, als er vor sich die Gestalt einer Frau entdeckte ... doch es war nur die alte Spinnfrau seiner Mutter, die verkrümmt im Gras lag. Näher zum Wasser hin fand er einen Säugling, dessen Kopf zertrümmert war. Dann, halb im Wasser treibend, sah er seine kleine, vier Jahre alte Schwester. Ihre Augen waren geöffnet, und ihr Haar wogte auf den sanft ans Ufer schlagenden Wellen. Eine schreckliche Wunde bedeckte ihre Brust, ein klaffender Schnitt, der größer zu sein schien als sie selbst – wie ein riesiges rotes Maul, das aus dem Meer aufgetaucht war, um das kleine Mädchen zu verschlingen.

Corban sank auf die Knie, schwankte vor und zurück und rang wieder um Atem. Seine Hände bewegten sich über seiner toten kleinen Schwester, ohne sie zu berühren: Es sah aus, als wollte Corban versuchen, irgendwie das Loch in ihrer Brust zusammenzudrücken.

Wo war Mav?

Er stand auf, wandte sich um und blickte zurück auf das brennende Haus. Wie eine Trommel dröhnte ihm sein Herzschlag in den Ohren. Das Mädchen, die alte Frau, der Säugling – wo waren die anderen Frauen? Corban beugte sich nieder, nahm seine Schwester in die Arme und machte sich auf den Weg zurück zum Haus.

Allmählich brach der Tag an, klar und kühl. Im ersten Morgenlicht entdeckte Corban nun auch die Spuren, wo die alte Frau entlanggeschleift worden war. Und nun blitzte auch die Erkenntnis in ihm auf, weshalb die Angreifer sie getötet hatten: Sie war zu schwach gewesen, um mithalten zu können. Genau das war auch der Grund gewesen, weshalb sie den Säugling getötet hatten und das Kind in seinen Armen. Sie wollten junge, starke Menschen. Junge, starke Frauen. Frauen wie Mav.

Wieder drohten die Knie unter ihm nachzugeben. Er stolperte zum Haus zurück und legte seine kleine Schwester zu seinem Vater in den Eingang. Mit grimmiger Miene suchte er zwischen Haupt- und Küchenhaus weiter. Schließlich fand er seine Mutter. Zusammengesunken lag sie neben der Tür zum Küchenhaus.

Corban nahm sie in die Arme. Sie wurde bereits steif. Ihre Hände waren zu Klauen verkrümmt; offenbar hatte sie sich gewehrt, so wie Finn. Ohne Erfolg zwar, doch sie hatte sich gewehrt. Ein unerwartetes Gefühl des Stolzes überkam Corban – Stolz darauf, dass seine Familie so verbissen gegen ihr Schicksal angekämpft hatte. Corban trug die Leiche seiner Mutter zu seinem ermordeten Vater an die Türschwelle des Haupthauses und legte sie neben ihn. Tränen strömten ihm über die Wangen. Er wollte etwas sagen, doch wenngleich seine Lippen sich bewegten, bekam er keinen Laut hervor. Sein Verstand war leer. Er verbarg sein Gesicht in den Händen.

Wieder schweiften seine Gedanken zu Mav. Er wusste, dass die Angreifer sie mitgenommen hatten. Er stapfte zurück zum Strand, ging bis dorthin, wo die Wellen sich brachen. Suchend schweifte sein Blick über das Wasser, als hätte Mav auf den Wellen eine Spur hinterlassen. Das Wasser stieg und wich zurück, wieder und wieder. Bevor Corban wusste, was er tat, war er hinaus in die Wellen gewatet, hinaus ins Meer. Er strengte die Augen an, bis sie schmerzten, als er hinter den Horizont zu blicken versuchte, hinter den die Fremden Mav entführt hatten.

Das Meer hob ihn an, als wollte es ihn hinter der Schwester her tragen.

Vor Kälte zitternd wich er zurück an den Strand. Im Geiste hörte er, wie Mav nach ihm rief. Er wusste, dass sie noch lebte, irgendwo da draußen.

Er hätte mit ihr zum elterlichen Anwesen zurückkehren sollen. Corban senkte den Kopf und weinte.

Den Rest des Tages verbrachte er damit, die Toten zusammenzutragen. Er legte sie vor die Schwelle des Haupthauses, um seinen Vater herum. Begraben konnte er sie nicht; es waren zu viele. Es kostete ihn alle Kraft, sie vom äußersten Rand der Weide herbeizuschleifen, kalt und steif wie sie waren. Hoch über ihm kreisten Krähen und Raben. In blinder Wut schoss er mit seiner Schleuder nach ihnen und hielt sie fern.

Ein Stück weiter draußen, am Rande der Weide, sah er einen grauen Schatten, zu weit entfernt für einen Schuss: Die Plünderer hatten eines der Schweine im Koben vergessen, wo es zusammen mit dem Gebäude verbrannt war, was Corban immerhin die Annehmlichkeit verschaffte, den ganzen Tag lang feinstes gebratenes Schweinefleisch zu essen – das ihm beim Gedanken an die Geschehnisse allerdings im Halse stecken blieb.

Die ganze Zeit überlegte er, was er tun konnte, um Mav zu finden. Am Nachmittag hatte er beschlossen, nach Black Pond zu gehen, ein Ort, der ein Stück die Küste entlang an einem Fluss lag. Corban wusste, dass die Fremden dort Markt gehalten hatten. Vielleicht würden sie alles, was sie hier gestohlen hatten, in den Ort schaffen und dort zum Verkauf anbieten.

Vor allem aber dachte er daran, die Männer aufzuspüren, die diese Verbrechen begangen hatten. Was er tun sollte, falls er diese Mörder und Diebe tatsächlich aufstöberte, wusste er allerdings nicht. Letztendlich blieb ihm ohnehin nichts anderes übrig, als vorerst seinen Hass und seine ganze Wut zu bündeln und in einer dunklen Ecke seines Verstandes zu verbergen, außer Reichweite für ihn.

Zuletzt schritt er das gesamte Gehöft noch einmal ab, um sicherzugehen, dass er sämtliche Toten gefunden und geborgen hatte. Am zerstörten Kuhstall erblickte er einen Wolf, der sich in einen Strauch hinter dem Misthaufen zurückzog, als Corban näher kam. Die ersten Vögel ließen sich bei den Leichen nieder. Corban versuchte gar nicht erst, sie zu verscheuchen. Wölfe und Raben würden die Toten letzten Endes ja doch bekommen, so oder so. Sein Verstand war wie betäubt. Er konnte nichts fühlen, nichts denken, war müde bis auf die Knochen.

Als er sein Werk schließlich beendet hatte und die Toten im Eingang lagen, verharrte Corban. Er hatte das Gefühl, irgendetwas für sie sprechen zu müssen. Dadurch, dass er sie berührt hatte, hatten die Toten allen Schrecken für ihn verloren. Er sah sie nun als die Menschen, die sie gewesen waren und irgendwie, zumindest für kurze Zeit, noch bleiben würden. Viele hatten noch die Augen geöffnet, was sie umso lebendiger aussehen ließ; es schien, als wäre in ihrem Inneren noch immer ein Rest warmen Lebens vorhanden. Andere wiederum lagen in verkrümmten und verkrampften Körperhaltungen da; manche schienen in die Luft zu greifen, die Arme unbeholfen ausgestreckt. Doch von ihrem Geruch wurde Corban übel.

Er musste fort von hier, weg von diesem Ort des Todes, an dem er nicht einmal mehr atmen konnte. Sobald er fort war – das war ihm wohl bewusst – würden die Aasfresser kommen.

Doch ehe er ging, sprach er leise ein paar Worte:

»Mehr kann ich nicht für euch tun. Es tut mir leid, dass ich nicht hier war, um mit euch zu sterben, aber Mav lebt, und ich werde sie finden.« Wieder weinte er und fühlte sich Mitleid erregend schwach, zerbrechlich und unfähig, die gewaltige Aufgabe zu lösen, die vor ihm lag. Doch er wankte nicht in seiner Entschlossenheit. Corban streckte die Hände nach den Toten aus.

»Auf Wiedersehen, ihr Lieben. Irgendwann sehe ich euch wieder...«

Schließlich wandte er sich endgültig ab und machte sich zum Aufbruch bereit. Einen Teil des gerösteten Schweins hatte er in einem Beutel verstaut, den er sich jetzt über die Schulter warf. Er fand einen Stecken, den er als Wanderstab benutzen konnte, füllte seinen Wassersack, ergriff den Stab und überquerte das Gehöft. Tränen liefen ihm übers Gesicht.

Er wanderte am Saum der Weide entlang. Wo diese an den sandigen Strand grenzte, überquerte er den kleinen Strom, der sich hier ins Meer ergoss. Am jenseitigen Ufer stieg er den schmalen Pfad zur Klippe hinauf. Oben angekommen, ließ er den Blick in die Runde schweifen. Das Land breitete sich vor ihm aus, um in der Ferne im Dunst zu verschwinden. Corban sank der Mut.

Als er dort stand, unschlüssig, ob er weitergehen sollte, bemerkte er, dass er doch nicht allein war.

Sie waren mit ihm gekommen. Er sah nichts, und doch spürte er sie alle um sich herum und vernahm ihre Worte. Sie schimpften, waren aufgebracht und traurig. Sie zogen an Corbans Ärmeln und stachen ihn wie mit Nadeln, bliesen auf seinen Nacken, legten sich ihm um die Schultern und erfüllten die Luft um ihn herum. Steifbeinig, von Schmerz und Trauer erfasst, stapfte er weiter. Er vernahm die tiefe, grollende Stimme seines Vaters, die Seufzer seiner Mutter und – leise und schrecklich – das hoffnungslose Greinen des Säuglings. Die vielen anderen stolperten jammernd und weinend neben ihm her. Mit steifen Schritten bewegte Corban sich voran. Sein Atem brannte ihm wie Feuer in der Kehle.

So wanderte er in einer großen Wolke von Seelen am Rande der Klippe dahin. Glatt wie eine Narbe schnitt sich der Weg durch das hohe gelbe Gras, das von den heftigen, vom Meer her wehenden Winden gepeitscht wurde. Je weiter Corban ging, stellte er fest, desto geringer wurde die Zahl derer, die ihn begleiteten. Ihre Stimmen klangen gedämpfter, und sie berührten ihn immer seltener. Einer nach dem anderen verschwanden sie und kehrten zum Gehöft zurück.

Jetzt plötzlich hatte Corban Angst, sie zu verlieren. Während die Stimmen erstarben, lauschte er ihnen nach. In den immer leiseren Tönen konnte er als Erstes das Greinen des Säuglings nicht mehr vernehmen,– dann verstummte seine kleine Schwester, dann Finn, dann seine Mutter, bis er zuletzt nur noch seinen Vater hören konnte – und selbst diesen immer schwächer und seltener.

Corban bewegte sich den Pfad entlang, gebeugt von diesem Gewicht, und strengte sein Gehör an, bis er eine lange Strecke zurückgelegt hatte, ohne etwas zu vernehmen.

Erschöpft setzte er sich an den Wegesrand und weinte, bis er keine Tränen mehr hatte. Zusammengesunken blieb er sitzen, stützte die Ellenbogen auf die Knie und ließ die Hände baumeln. Er hatte das Gefühl, so leicht und dünn zu sein wie ein Blatt im Wind. Bisher hatte er geglaubt, er wäre allein und würde nicht zu ihnen gehören, doch er war immer ein Teil von ihnen gewesen. Zu spät erkannte er jetzt, was es wirklich bedeutete, allein zu sein.

Sein Kopf schmerzte an der Stelle, wo der Knüppel des Bärtigen ihn getroffen hatte. Ihm wurde übel. Seine Füße taten ihm weh. Um ihn her kam die gemeine Welt zur Ruhe. Das Zwitschern der Vögel legte sich, das hohe Gras raschelte und wogte im Wind. Der Himmel war unendlich weit und von dünnen Wolken überzogen; darunter segelten Möwen im frischen Wind.

Zwei Nächte zuvor erst hatte Corban sich überlegt, seine Familie zu verlassen. Er erinnerte sich mit einem Schmerz daran, der so schrecklich war, als würde ihm ein glühendes Eisen in den Leib gestoßen. Er hatte es sich selbst zuzuschreiben. Durch seine Schuld war das alles passiert. Grimmig entschlossen richtete er sich auf. Er kam auf die Füße und machte sich auf den Weg, seine Schwester zu finden.

Mav hatte das Gefühl, sterben zu müssen. Es schien ihr, als würde sie sich aus ihrem Körper erheben und unter den Sternen segeln, zurück zum Gehöft. Sie hatte ihren ermordeten Vater gesehen und ihre ermordete kleine Schwester. Sie selbst war in den hölzernen Bauch eines der Schiffe geworfen worden, an andere Frauen gefesselt. Sie hatte daran gedacht, emporzuklettern und sich über die Reling des Schiffes zu werfen, doch die Ketten hielten sie an die anderen Frauen gefesselt, sodass sie sich nicht vom Fleck bewegen konnte.

Kurze Zeit später erreichten sie einen anderen Ort. Sie wurden vom Schiff gezerrt und in den Sand gestoßen. Dann wurden die Frauen von sämtlichen Männern missbraucht. Anschließend entzündeten die Männer ein großes Feuer, rösteten Fleisch, tranken und bedienten sich ein weiteres Mal der Frauen, einer nach dem anderen. Mav lag still da, mit geschlossenen Augen.

Die Frau neben ihr war ebenfalls vom Gehöft. Einmal, als sie dalagen, drehte Mav mühsam den Kopf. Ihre Blicke trafen sich, und erst jetzt sah Mav den Tod in den Augen der Leibeigenen. Kurz darauf schleiften die Männer die Leiche davon.

Mav starrte zum Himmel, zur Sonne, zum Mond, dann wieder zur Sonne, während die Stunden verrannen. Weitere Frauen wurden gebracht, aus anderen Orten. »Unsere Männer werden kommen«, rief eine von ihnen. »Unsere Männer werden kommen, und dann müsst ihr dafür bezahlen!«

Mav lag still da. Nein, dachte sie. Unsere Männer sind tot. Keiner von ihnen wird mehr kommen.

Ihre Gedanken schweiften zu ihrer Mutter und ihrem Vater, ihrer Schwester und ihren Brüdern. Unvermittelt stieg tief in ihrem Innern eine gewaltige Woge der Verzweiflung auf, strömte bis in ihren Kopf, ihre Augen, ihren Mund, dass sie das Gefühl hatte, ertrinken zu müssen.

»Unsere Männer werden kommen ...«

Tot. Alle, bis auf einen. Mav hielt die Augen geschlossen und dachte an ihren Bruder Corban, wobei ihr gepeinigter Körper vor Schmerzen schrie, sodass Erschöpfung und Müdigkeit von ihr abfielen.

Als Mavs Sinne schärfer wurden, wurde sie sich der anderen Frauen um sich herum gewahr. Manche stöhnten, andere weinten, viele lagen nur stumm und bewegungslos auf dem steinigen Strand. Mav fühlte sie um sich herum, ihr Entsetzen, ihren Schmerz. Sie biss die Zähne zusammen. Es war zu viel, als dass sie es ertragen konnte. Sie würde sterben. Sie sah ihre Mutter und ihren Vater um sich schweben und sprach zu ihnen,– sie sah ihren Bruder Finn, der sie anlächelte, wenngleich er tot war. Die Sterne schienen durch ihn hindurch.

Weiter weg erblickte sie ihren Bruder Corban, wie er auf sie zukam.

»Nichtsnutziger Balg«, sagte ihr Vater.

Doch Corban kam ihr unverdrossen nach.

»Verdammt soll dieser Nichtsnutz sein!«, schimpfte ihr Vater. »Er ist nicht mehr mein Sohn.«

Mav sah, wie Corban ihr unbeirrt folgte und den weiten Weg entlang stolperte.

Sie zwang sich zurück in ihren Körper, in ihre Finger und Zehen, zurück sogar in den blutigen Ort ihrer Weiblichkeit, den zuvor kein Mann gekannt hatte – und nun so viele. Mav nahm ihren Schmerz wieder an, nahm sogar den Schmerz und die Angst der anderen Frauen auf sich. Sie würde leben. Corban kam!

Neben ihr weinte jemand, leise und kläglich. Sie drehte sich um, so weit ihre Ketten es erlaubten, und bewegte einen kleinen Arm, berührte das unbekannte Mädchen. Ängstlich zuckte es zusammen. »Ich bin hier.« Bei dem Geräusch ihrer Stimme beruhigte das Mädchen sich und rückte näher zu ihr. Mav legte einen Arm um die Schultern der Kleinen und tröstete sie. »Ich bin hier«, wiederholte sie und drückte die Lippen in das verfilzte, nach Meer riechende Haar. »Ich bin hier.«

Kapitel 2

In seinen Mantel gehüllt schlief Corban in dieser Nacht am Fuße eines uralten Felsens, der neben dem Weg aufragte. Am Morgen lag er in der Wärme seines Mantels und konnte sich nicht dazu durchringen, aufzustehen. Für ihn schien es keinen Grund zu geben, überhaupt noch etwas zu tun. Wie der Schatten des Felsens lag eine finstere, bleierne Schwere auf ihm. Die verschwommene Erinnerung an einen Traum nagte in ihm, und er verspürte die Hilflosigkeit eines kleinen Tieres inmitten großer Vögel, die mit den Schnäbeln auf ihn einhackten. Über ihm spannte sich der Himmel weit und leer ins Nichts.

Schließlich stand er auf, als er wider Erwarten Hunger verspürte. Wachsam, mit wurfbereiter Schleuder, ging er auf dem Weg weiter nach Süden und hielt Ausschau nach Hasen und Vögeln. Der Weg führte durch Farn und Wald, Weide und Sumpf. Endlos zogen sich die niedrigen, sanft ansteigenden Hügel dahin. Er wanderte und wanderte, hatte jedoch zugleich das Gefühl, nirgendwohin zu gelangen. Er dachte an Mav und wie sie ausgesehen hatte, als er sie das letzte Mal sah: Der Wind hatte ihr das Haar aus dem schönen Gesicht geweht. Die Flut der Erinnerungen fesselte ihn. Er hatte so unendlich viel hinter sich gelassen. Vor ihm jedoch war nichts ...

Wenn er nach Black Pond kam und Mav nicht dort war – was dann? Er hätte den ganzen Weg umsonst gemacht. Wann würde er die Suche aufgeben können, ohne ein schlechtes Gewissen dabei zu haben? Niemand würde erfahren, wenn er einfach aufgab. Es gab niemanden mehr, der ihm vorschrieb, was er zu tun hatte, und niemand kümmerte sich darum, was er tat – aber das spielte ohnehin keine Rolle.

Im Geiste sah er Mav, wie der Wind ihr das Haar aus dem Gesicht blies. Sie blickte aufs Meer hinaus und wartete. Erst jetzt bemerkte Corban, dass er angehalten hatte. Er stand mitten auf dem Weg und starrte ins Leere.

»Hilf mir!«, dachte er. Doch es gab niemanden, den er um Hilfe bitten konnte.

Ihn schauderte. Der Fluch seines Vaters verfolgte ihn. Und doch stand er lange Zeit dort, mir leerem Blick und einem flauen Gefühl im Leib. Wieder vermisste er die Stimmen seiner Familie, doch sie waren jetzt alle fort. Er war allein.

Es half nichts – er konnte nicht wie ein Fels mitten auf dem Weg stehen bleiben, sondern musste weiterziehen. Im Gehen pflückte er Beeren und Nüsse und trank aus einer kalten Quelle. Danach fühlte er sich ein bisschen besser. Er wanderte unter dem Dach, das die knorrigen Äste der alten Bäume bildeten. Die Blätter sperrten das Licht der Sonne aus.

Im Halbdunkel hielt Corban Ausschau nach Beute. Der Hunger machte ihn zu einem noch besseren Jäger, sodass er mit dem ersten Schuss einen Hasen erlegte. Dazu grub er ein paar wilde Zwiebeln aus. An diesem Abend aß er im Freien an einem kleinen Feuer auf der Klippe, die aus dem Meer ragte. Die Sonne ging unter. Im plötzlich aufkommenden, schneidend kalten Wind zog er den Mantel eng um sich. Wie Tausende sich öffnende, feurig blitzende Augen kamen die Sterne hervor. Er dachte daran, dass er morgens weiter wandern würde, und hob sich ein Stück vom Hasen für das Frühstück am nächsten Morgen auf.

Erstaunt wurde ihm jetzt erst bewusst, dass er nicht aufgegeben hatte. Er hätte es tun können – niemand hätte je davon erfahren. Er selbst aber hätte es gewusst; er hätte dieses Wissen mit sich herumgetragen, zusammen mit dem Fluch seines Vaters und den Erinnerungen an seine tote Mutter, sein brennendes Heim und seine Schwester, wie sie neben dem grauen Felsen gestanden hatte, während ihr Haar wie eine Fahne im Wind flatterte. Mav hatte damals gesagt, dass sie etwas Böses herannahen fühlte.

Corban war stolz darauf, dass er nicht zu den Männern gehörte, die einfach aufgaben, ohne zumindest den Versuch zu unternehmen, das Übel zu beseitigen.

Am nächsten Morgen wanderte er weiter und kam durch dichte Wälder. Noch am Vormittag traf er auf einen Weg, der von Wagenrädern ausgefahren und zerfurcht war. Dieser Weg führte ihn über einen Hügel bis an den Waldrand. Oberhalb eines Flusses trat Corban schließlich zwischen den Bäumen hervor und blickte über das Wasser. Wie das Nest einer Galiwespe an einer dürren Eiche klebte eine Siedlung am jenseitigen Ufer.

Das grüne Wasser strömte von rechts heran und floss nach links, auf das ferne Meer zu. Gegenüber der Stelle, an der Corban stand, floss ein weiterer kleiner Strom aus Süden heran. Kurz bevor dieser in den Fluss mündete, weitete er sich zu einem stillen See, umstanden von den braunen Binsen toter Rohrkolben.

Black Pond. Da war es. Die Siedlung war viel größer als das heimische Gehöft, größer selbst als Dun Maire,– es war der größte Ort, den Corban je gesehen hatte. Auf dem Festland zwischen den zwei zusammenfließenden Strömen standen zwei Reihen solide gebauter, mit Stroh gedeckter Häuser. Das Land am südlichen Ufer stieg vom Fluss aus an. Auf der Anhöhe stand ein weiteres, größeres Gebäude; vielleicht ein Herrenhaus.

Dahinter sah man Menschen an einer Mauer arbeiten, die aus angehäuftem Lehm und Pfählen errichtet wurde. Die Arbeiter trugen Körbe hin und her und gruben in der Erde. Zwei große Bündel Stäbe lehnten am Fuß der irdenen Mauer. Einer der Männer arbeitete nicht; er beobachtete die anderen nur. Als einer der grabenden Männer plötzlich seine Schaufel hinwarf und sich auf den Boden setzte, ging der Beobachter hinüber und trieb ihn mit Fußtritten wieder zur Arbeit. Corban bebte vor Zorn und wandte den Blick ab.

Näher am Fluss, um die Häuser herum, gab es weitere Menschen. Die meisten gingen jedoch keiner Tätigkeit nach; sie standen oder saßen in Gruppen herum oder schlenderten auf dem freien Platz zwischen den Reihen der Häuser umher. Sie hielten sich stets auf Gehwegen aus Bohlen, die über dem Erdboden verliefen. Corban vermutete, dass der Untergrund dort nass und matschig war. Eine Ziege stöberte nahe des flach abfallenden Flussufers schnüffelnd durchs Schilf. Corban beobachtete, wie das Tier seine Hufe mit jedem Schritt aus dem Schlamm ziehen musste.

Ein Stück weiter das Ufer entlang wurde der Boden fester. Dort saßen einige Leute, die Körbe vor sich stehen hatten; andere schlenderten langsam daran vorbei. Corban hatte schon Märkte gesehen und wusste, dass er auch hier einen Markt vor sich hatte. Doch er stellte fest, dass hier keine Menschen verkauft wurden. Er sah keine Stelle, an der seine Schwester hätte sein können.

Vom Markt aus stromaufwärts ragte ein lang gestreckter, hölzerner Pier auf Stelzen in den Fluss hinein. Ein rundbäuchiges Schiff war daran festgemacht. Drei weitere, kleinere Schiffe lagen auf dem Uferstreifen. Keines sah aus wie die Schiffe mit den großen Reptilienköpfen, die er durch den Rauch des brennenden Gehöftes hatte: Die hier waren kleiner und gedrungener.

Aus den Tiefen seiner Erinnerung stieg erneut der Klang der Schreie auf; wieder sah er die Rauchschwaden, roch den Qualm, hörte das Brüllen des Feuers. Energisch schob er all das von sich. Er konnte es sich jetzt nicht erlauben, diesen Gedanken nachzuhängen.

Corban stieg die Böschung hinunter ans Ufer. Vom Pier stromaufwärts spannte sich eine Brücke aus Holzplanken über den Fluss, auf der die Menschen in die Siedlung überwechselten; dorthin lenkte er seine Schritte.

Auf der Böschung stand hoch der Adlerfarn. Seitlich schlängelte sich ein Pfad den steilen Hang hinab. Der Gestank einer Jauchegrube stieg Corban in die Nase. Mav war nicht hier,– dennoch war er begierig darauf, diesen Ort zu erforschen. Außerdem musste er irgendwo bleiben, und diese Stadt zog ihn magisch an. Er überquerte die Brücke, folgte einem Jäger, der Moorhühner an den Füßen aufgehängt mit sich trug, sowie einem alten Mann mit einer Ladung Feuerholz auf dem Rücken. Unrat säumte das Ufer. Genau unterhalb der Brücke verrottete eine Hecke aus Weißdornzweigen in dem grünen, auf dem seichten Wasser treibenden Schaum.

Als Corban auf die andere Seite gelangte, sprangen zwei Männer auf, die dort gesessen hatten. Mit ausgestreckten Armen bedeuteten sie ihm, stehen zu bleiben. Eine Flut von Worten, die er nicht verstand, prasselte auf ihn ein. Corban stand da, am Ende der Brücke, und sah ratlos von einem zum anderen, einem alten und einem jungen Mann. Unsicher fragte er: »Warum kann ich nicht hinein?«

Der junge Mann runzelte die Stirn und murmelte etwas vor sich hin, wobei er ihn scharf ansah. Der alte Mann jedoch trat vor und sprach plötzlich so, dass Corban ihn verstand.

»Wie ist dein Name? Bist du Ire?«

»Mein Name ist Corban Mac ...« Er hielt inne, denn er durfte den Namen seines Vaters nicht benutzen. »Ich heiße Corban und komme von oben, vom Weg.«

Der jüngere Mann hatte offenbar jedes Interesse verloren und schlenderte zurück zu seinem Platz am Flussufer. Der alte Mann jedoch betrachtete Corban wachsam. Sein Kopf war kahl; die Wangen und Kinnbacken hingen in Falten herab. Wie der Schnabel eines Falken stach seine Nase daraus hervor. »Was willst du hier?«

»Ich suche meine Schwester«, erwiderte Corban. »Sie ist gestern Morgen von ... Fremden mitgenommen worden. Ich dachte, sie wäre vielleicht hier.«

Die dünnen Brauen des alten Mannes bewegten sich zitternd auf und ab. »Ich glaube nicht. Wir haben seit dem Sommer keine Sklaven mehr hier gehabt. Man hat sie höchstwahrscheinlich nach Jorvik gebracht.«

Dann war der ganze weite Weg umsonst, dachte Corban bedrückt. Verzweiflung überkam ihn. Er blickte an dem alten Mann vorbei zu den Häusern aus Lehmflechtwerk und zu den Menschenmengen und schaute dann wieder in das wachsam blickende alte Gesicht vor ihm.

»Wo liegt Jorvik?«

»Übers Meer. Weit weg von hier.«

»Darf ich hereinkommen?«

»Nach Dubh Linn?« Die weißen Augenbrauen bewegten sich wieder auf und ab. »Hast du etwas zu verkaufen?«

»Nein«, erwiderte Corban erschreckt.

»Also willst du etwas kaufen?«

»Nein.«

»Hast du Waffen?«

Corban legte eine Hand an die Schleuder in seinem Gürtel. »Nur die hier.«

»Pah«, schnaubte der alte Mann. »Eichhörnchenmörder. Los, rein mit dir.«

Erleichtert stieg Corban die letzten Stufen von der Brücke hinunter und betrat die Stadt. Der alte Mann kehrte ans Flussufer zurück; seine Stimme hob sich und wurde wieder unverständlich. Corban erkannte, dass der Mann die Sprache der Fremden benutzte, die jemand einmal als »dänisch« bezeichnet hatte. Seine Haut kribbelte vor Furcht. Doch niemand hielt ihn an oder betrachtete ihn auch nur neugierig. Die Menschen strömten gleichmütig über die Gehwege. Corban trat hinunter. Vorsichtig suchte er sich einen Weg durch den Unrat. Er kam an einer Gruppe von Männern vorbei, die einander anschrien und wild mit den Armen fuchtelten,– dabei trat Corban unachtsamerweise auf eine nasse Stelle und versank bis zum Knöchel im Schlamm. Es gab einen schmatzenden Laut, als er den Schuh wieder herauszog. Ein nacktes Kind rannte fröhlich kreischend an ihm vorbei, gefolgt von der Mutter, die mit ausgestreckten Armen und laut lachend hinterher eilte. Der kahle, verdreckte Erdboden war übersät mit Abdrücken von Hundepfoten und Ziegenhufen.

Er ging flussabwärts am Ufer entlang, an einer Reihe von Gestellen vorbei, an denen Netze zum Trocknen hingen; vor ihnen saß ein alter Mann und flickte eines davon. Das Schiffchen in seiner Hand flog nur so hin und her. Irgendwo weiter oben begann ein Hammer in stetem, metallischem Rhythmus zu klingen. Corban kannte dieses Geräusch; es kam von einer Schmiede. Also gab es hier einen Schmied wie in Dun Maire.

Sicher gab es hier aber auch viele Dinge, die Corban bisher nur vom Hörensagen kannte. Er ließ den Blick schweifen, nahm alle Eindrücke in sich auf. Im ganzen Ort stank es, und nicht nur nach dem nahen Sumpf: In der Luft hingen die Gerüche von Jauchegruben und Misthaufen, altem Bratenfett und schalem Bier. Vorsichtig bahnte Corban sich seinen Weg am Flussufer entlang, durch geknicktes und fauliges Schilf, über Unrat hinweg und zwischen Muschelschalen, alten Knochen und einer verwesenden Katzenleiche hindurch. Schließlich gelangte er zum Markt.

Hier dösten lediglich zwei alte Frauen über ihren Waren. Corban stahl der einen eine Hand voll Nüsse und ging weiter am Fluss entlang, wobei er mit bloßen Händen die Nüsse knackte und das Fleisch aß. Er würde jetzt öfters stehlen müssen, um zu überleben.

Kurz hinter dem Pier, vor dem die Schiffe am Ufer lagen, hatte sich ein Dutzend Männer versammelt. Sie redeten und stritten, doch Corban verstand kein Wort. Die Gruppe beobachtete zwei weitere Männer, die mit Spielbrettern auf den Knien daneben saßen und sich konzentriert nach vorn beugten. Ein Hund kläffte; andere Hunde nahmen das Gebell auf.

Corban musste daran denken, was der alte Mann gesagt hatte: Dass die Sklaven vermutlich nach Jorvik gebracht worden seien. Den Namen Jorvik hatte er früher schon gehört; es handelte sich um eine andere große Ansiedlung wie diese hier, die weit übers Meer in Richtung Osten lag. Er ging weiter, vorbei an dem hölzernen Pier, von dem die Menschen Säcke und Bündel auf eines der dickbäuchigen Schiffe verluden. Ein Stück weiter, auf einer hügelartigen Landzunge, erspähte er bei einem Blick flussabwärts das funkelnde Meer.

Das war es also – hier endete sein Weg. Das Meer konnte er nicht überqueren. Corban musste aufgeben.

Lange Zeit stand er da und starrte von der Landzunge aus auf den fernen Streifen funkelnden Wassers. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie er das Meer überqueren sollte. Er seufzte tief. Hier hatte die Suche ein Ende, ohne dass er seine Aufgabe erledigt hatte.

Corban wandte sich um und ging zurück zu der Ansiedlung.

Er sah arbeitende Frauen und schaute sie sich genau an,– vielleicht war Mav ja gar nicht übers Meer entführt worden, sondern befand sich aus irgendeinem Grund mitten unter diesen Frauen. Doch er konnte Mav nirgends erblicken. Um die Häuser herum gab es kleine Gärten, abgezäunt durch ineinander verwachsene Weißdornzweige. Hinter einer dieser Hecken zog ein Mädchen Steckrüben aus der Erde.

Corban blieb stehen, verharrte eine Zeit lang und beobachtete das Mädchen. Rhythmisch bewegte ihr Arm sich vor und zurück, während sie die Rüben aus dem Boden zog. Den Kopf hielt sie gesenkt; ein weißes Tuch verbarg ihr Haar. Doch unter dem Kopftuch lugten Strähnen hervor, sodass Corban sehen konnte, dass sie blond war. Nach einer Weile schien sie zu fühlen, dass sie beobachtet wurde, und hob den Kopf. Ihre Blicke begegneten sich.