Tod auf dem Campus - Emma Goodwyn - E-Book

Tod auf dem Campus E-Book

Emma Goodwyn

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Romantik liegt in der Luft: Während die Raben im Tower mit der lang ersehnten Familiengründung beschäftigt sind, laufen die Vorbereitungen für die Hochzeit von Beefeater John Mackenzies Nichte Renie auf Hochtouren. Just am Valentinstag jedoch wird eine Studentin in Cambridge getötet. Schon findet sich John, der in der Studentenberatung der Universität aushilft, erneut in einen Mordfall verwickelt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

 

Tod

auf dem

Campus

 

 

 

John Mackenzies neunter Fall

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Emma Goodwyn

 

 

Im Gegensatz zu den Schauplätzen

sind alle Personen und Ereignisse der Handlung rein fiktiv, mögliche Ähnlichkeiten zu echten Personen und Geschehnissen keinesfalls beabsichtigt.

 

 

Mehr von Emma Goodwyn:

 

Tod im Tower

Tod im Kilt

Tod im Museum

Tod im Schatten der Tower Bridge

Tod in Westminster

Tod im Tropenhaus

Tod in Tintagel

Tod im House of Lords

Tod auf dem Campus

 

Besuchen Sie die Autorin unter

www.emma-goodwyn.com!

 

Copyright Text und graphische Gestaltung

Emma Goodwyn

c/o Hartmut Albert Fahrner

Am Tannenburganger 36

84028 Landshut

 

Kontakt: [email protected]

 

Veröffentlichungsdatum: 1. Februar 2021

 

Alle Rechte vorbehalten

(V2.1)

 

 

Prolog

 

 

Flach geduckt kauerte Leo im hohen Gras der Uferböschung. In der klaren Februarnacht war kaum ein Laut zu hören. Auch die Wasser des Flüsschens Cam glucksten nur leise auf ihrem Weg nach Norden, wo sie sich mit der Great Ouse vereinigen würden.

Im Licht der schmalen Mondsichel war das Mauseloch kaum zu erahnen. Aber Leo wusste, dass dort drinnen ein recht wohlgenährtes – jedoch bedauerlich flinkes – Exemplar wohnte. Mehrere Nächte hatte er schon damit verbracht, auf diese Beute zu lauern, doch bisher stets vergeblich. Heute würde sie ihm nicht wieder entwischen!

Als eine zierliche Schnauze sich aus dem Loch schob, witternd die Tasthaare nach vorn gestreckt, verharrte der Kater reglos. Nun kamen die Vorderpfoten in Sicht … gleich würde der gesamte Körper das schützende Erdloch verlassen haben. Offenbar wähnte das Tier sich in Sicherheit. Leos Schnurrhaare sträubten sich erregt. Die Muskeln in seinen kräftigen Hinterbeinen spannten sich an, bereit zur tödlichen Attacke –

Dumpfe Tritte ließen den Boden vibrieren. Blitzartig war der appetitliche Nager wieder verschwunden.

Gänzlich in den Rhythmus ihrer Schritte und in die Musik versunken, die aus ihren Kopfhörern drang, federte eine junge Läuferin vorbei. Aus der Uferböschung folgten ihr ungehaltene Blicke, bis ihr mitgeträllertes „Uh-uh … uh-uh … uh-uh …“ verklang. Leo hatte diesen weiblichen Zweibeiner schon oft gesehen. Sie hatte noch nie etwas für den stattlichen Jäger, einen herausragenden Vertreter seiner noblen Gattung felis felis, übriggehabt. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.

 

In der Hoffnung, die Maus würde sich wieder hervorwagen, blieb der Getigerte noch eine Weile auf seinem Lauerposten. Als ihm die Kälte in die Pfoten kroch, gab er schließlich auf und beschloss, in Ermangelung von Frischfleisch mit einer Schüssel Whiskas mit Lachs vorlieb zu nehmen. Er streckte sich und machte sich auf den Heimweg.

Der Pfad wand sich ein Stück durch die Wiesen am Fluss entlang, bevor er auf Höhe des Kanuclubs der Universität nach links zum St. Patrick’s College abbog. Die Flusswiesen, die von den Mauern des Colleges bis zum Cam reichten, betrachtete Leo als sein ureigenstes Revier. Eindringlinge gestattete er nicht. Ein, zwei Narben unter seinem dichten Fell und ein angebissenes Ohr zeugten von vergangenen Auseinandersetzungen mit Rivalen. Als wackerer Kämpfer, der schon einige Sommer auf dem Buckel hatte, war er stets siegreich hervorgegangen. Selbst ein junger Fuchs, der Anstalten gemacht hatte, ihm die Beutetiere streitig zu machen, hatte sich nach einer Begegnung mit ihm aus dem Staub gemacht. Es war klar: Hier durfte es nur einen geben, der auf die Pirsch ging.

Jäh unterbrach Leo seinen Trott, als er einen unverwechselbaren Geruch wahrnahm. Er verließ den gekiesten Weg und strebte zum Flussufer, das an dieser Stelle mit mannshohen Büschen bewachsen war. Etliche abgebrochene Zweige zeugten davon, dass sich hier vor kurzem jemand durchgezwängt hatte. Vorsichtig schlich er an den reglosen Körper heran, der halb im Wasser lag. Instinktiv wusste er, dass kein Leben mehr in dieser Hülle war. Das Blut, das er gewittert hatte, sickerte langsam aus dem Hinterkopf der Läuferin, rann hinab und wurde vom Fluss träge glucksend davongetragen.

In dieser Nacht war Leo in den Grantchester Meadows schlussendlich doch nicht der einzige Jäger gewesen.

 

Kapitel 1

 

„Sieh doch“, wisperte George aufgeregt und packte John am Ärmel. Der Ravenmaster erinnerte John an ein kleines Kind, das am Weihnachtsmorgen ins Wohnzimmer stürmt und entdeckt, dass Santa Claus sich in der Tat durch den Kamin gezwängt und einen Berg bunt glänzender Päckchen hinterlassen hat. Wohlgemerkt, nachdem ihm von seinen boshaften Geschwistern mit düsteren Worten prophezeit worden war, dass es dieses Jahr keinesfalls Geschenke geben würde.

„Sie tun es! Sie tun es wirklich!“ Überschwänglich reckte George beide Arme nach oben und machte Anstalten, ein traditionelles schottisches Tänzchen aufzuführen. Mit einem Grunzen ließ er gleich darauf wieder von diesem Vorhaben ab und stieß ersatzweise ein paarmal die geballte Faust in Richtung des grauen Februarhimmels.

Ein unbeteiligter Zuschauer hätte sich sicherlich gewundert, warum ein wettergegerbter Veteran der britischen Armee, der stramm auf die Sechzig zuging, derart in Euphorie verfiel – und das angesichts zweier Vögel, die Zweiglein von der Erde auflasen.

John Mackenzie, Assistent des Ravenmasters im Tower von London jedoch wusste, dass sich für George Campbell gerade ein langgehegter Traum erfüllte.

Seit über einem Vierteljahrhundert war es nicht gelungen, den Bestand der königlichen Raben durch eigene Nachzuchten zu sichern. Der Legende nach spielte das Fortbestehen der Rabenpopulation im Tower eine wichtige Rolle für die Zukunft des Landes. Seit Charles II. im 17. Jahrhundert vorhergesagt worden war, dass sein Königreich stürzen würde, sollten die Raben den Tower verlassen, hatte er der Überlieferung nach verfügt, es müssten stets mindestens sechs dieser Vögel hier leben.

In früheren Zeiten hatte man einfach wild lebende Kolkraben gefangen und hierher gebracht. Dies war zum Schutz der seltenen Vögel glücklicherweise nicht mehr gestattet. Da die Zahl der Züchter immer geringer wurde, hatte George in den letzten Jahren immer wieder darüber nachgedacht, wie er den Mitgliedern seiner gefiederten Schar eine erfolgreiche Brut im Tower ermöglichen konnte.

Die meisten Experten hatten abgewunken. Kolkraben suchen in freier Natur stets nach den abgelegensten Plätzen, um ihr Nest zu bauen. Hohe Bäume, Felsüberhänge, Strommasten – die intelligenten Vögel legen Wert auf Privatsphäre. Die Voraussetzungen dafür waren in einer der größten Touristenattraktionen des Vereinten Königreichs, wo sich Tag für Tag Tausende tummeln, nicht gerade günstig.

Das vergangene Jahr hatte ganz im Zeichen des hart erkämpften Neubaus der Rabenvoliere gestanden – ein Projekt, das den Blutdruck des Ravenmasters in schwindelerregende Höhen trieb. Insbesondere, als der Fund einiger menschlicher Knochen in der Baugrube das gesamte Vorhaben beinahe zum Scheitern brachte. An jenen Herbst dachte John mit Schaudern zurück, war er doch in vielerlei Hinsicht eine aufreibende Zeit gewesen.

Selbst die feierliche Eröffnungszeremonie des neuen Rabenhauses war von einem tragischen Verlust überschattet gewesen. Florrie, eines der älteren Tiere in Georges Obhut, war kurz zuvor von einem Fuchs erlegt worden. Diese listigen Raubtiere fanden trotz aller Gegenmaßnahmen immer wieder einen Weg in die Festung. Sie zwängten sich durch winzigste Löcher oder krochen durch die Abwasserkanäle. Florrie war zum Verhängnis geworden, dass sie sich abends gern zierte, wenn es darum ging, ins Rabenhaus zurückzukehren. Wie so oft hatte George in der Dämmerung an ihren Lieblingsverstecken nach ihr gesucht, aber er konnte nur noch ohnmächtig dabei zusehen, wie der Fuchs, den Vogel im Maul, davon trabte.

Kurze Zeit später hatten sie sich von einem weiteren Mitglied der ‚Rasselbande‘, wie George sie liebevoll nannte, verabschieden müssen.

Das ranghöchste Männchen Bran vermisste seine langjährige Partnerin Florrie so sehr, dass seine ohnehin griesgrämige Art in unverhohlene Aggression umschlug. Der kräftige Schnabel eines Kolkraben kann klaffende Wunden reißen, wie John aus eigener Erfahrung wusste. Die Narbe an seiner linken Hand war auch drei Jahre nach Brans Attacke noch gut sichtbar.

Auch wenn der Rabe seinen Pflegern gegenüber durchaus rabiat werden konnte, wenn ihm etwas nicht in den Kram passte, hatte er bisher nie fremde Personen angegriffen. Im vergangenen November jedoch hatte er einem kleinen Mädchen, das eine Rolle der von Bran besonders geliebten Kartoffelchips mit Sourcream-Geschmack nicht freiwillig herausrücken wollte, um ein Haar einen Finger abgebissen. Damit kam Brans Zeit im Tower zu einem jähen Ende. Mit dem Vermerk ‚Dienste nicht länger benötigt‘ wurde er in Rente zu einem Vogelzüchter nach Sussex geschickt.

Dem Ravenmaster hatte die Dezimierung seiner Schützlinge schwer zugesetzt. Zu allem Überfluss hatte er sich auch noch einen Bandscheibenvorfall zugezogen, als er gemeinsam mit John das Inventar des alten Rabenhauses in den neuen Lagerraum in der Water Lane schaffte. Vergeblich hatte John gedrängt, für den Transport der großen Kühltruhe für die Fleischvorräte ein paar Beefeater-Kollegen hinzuzuziehen.

„Du tust ja gerade so, als wäre ich ein alter Mann“, hatte George gebrummt. „Das kriegen wir beide doch allein hin, Jungchen. Also, auf drei heben wir an. Eins, zwei, drei – “ Unmittelbar danach war ein Schmerzensschrei durch das alte Rabenhaus gegellt.

Das Urteil der Ärzte war vernichtend: Operation und sechs Wochen Auszeit für den Ravenmaster. Ein schwerer Schlag, nicht nur für George.

Die Verantwortung für die sieben verbliebenen Raben lag damit allein bei John. Und auch wenn die neue Rabenvoliere ein echter Gewinn war und den Vögeln ein großzügigeres und artgerechteres neues Heim bot, stellte sie doch eine Veränderung in ihrem Lebensraum dar. Als absolute Gewohnheitstiere standen die Raben jeglichen Neuerungen argwöhnisch gegenüber und freundeten sich nur zögerlich mit der luftigen Konstruktion aus Eichenholz und feinem Maschendraht an. Auch die neuen Nachtboxen, in die die Vögel sich zum Schlafen zurückziehen konnten, wurden erst einmal misstrauisch beäugt.

John brauchte einiges an Geduld und Überredungskunst, um die Tiere an den ersten Abenden in ihre neue Behausung zu locken. Als unerwartete Hilfe stellte sich dabei sein besonderer Liebling Gworran heraus. Mit bald vier Jahren war er das jüngste Tier unter den Towerraben und hatte in der Rangfolge stets ganz unten gestanden. Doch nun, da Bran und Florrie nicht mehr da waren, hatte sich das soziale Gefüge der Gruppe geändert. Wie John bemerkte, trat Gworran mit einem Mal wesentlich kecker auf. Da ihn ein enges Vertrauensverhältnis mit John verband, folgte er ihm bereitwillig in die neue Voliere und sorgte so dafür, dass auch die anderen Vögel sich allmählich herantrauten. Nach einigen Wochen schien es so, als hätte Gworran sich als neues Leittier etabliert, was John diebische Freude bereitete.

Auch für ihn selbst hatte der Umzug in den Neubau eine Herausforderung dargestellt. So passierte es häufig, dass er irgendein Utensil im neuen Lager- und Arbeitsraum in der Water Lane vergaß und wieder zurücklaufen musste. Im alten Rabenhaus dagegen war alles unter demselben Dach gewesen. Zudem bedeuteten die vergrößerten Volieren, dass mehr sauberzumachen war.

Da die von John entwickelten Rabenführungen für Schulklassen oder Kindergeburtstage immer populärer wurden, hatte er eine Reihe von zusätzlichen Terminen zu bewältigen. Bonnie Sedgwick, die rechte Hand des Kommandanten der Tower Einheit der Yeoman Warders, gemeinhin Beefeater genannt, versuchte ihr Möglichstes, um John mehr Freischichten im Wach- und Besuchsdienst zu verschaffen. Dennoch hatte er innerhalb weniger Wochen einen ansehnlichen Berg Überstunden angehäuft und bekam zunehmend das Gefühl, dass sein Leben nur noch aus Arbeiten und Schlafen bestand. Weihnachten rückte näher und er hatte bisher kein einziges Geschenk besorgen können.

An einem düsteren Dezembernachmittag war Marcia, Georges altgediente Ehefrau zu John gekommen. Sie zog die schwere Eisentür des neuen Lagerraums hinter sich zu und ließ sich auf einen Schemel fallen.

„Ich schwöre dir, John, wenn er so weitermacht, dann verpasse ich ihm noch selbst den Gnadenschuss. Oder mir“, stieß sie hervor. „Nichts kann er abwarten. Alles dauert ihm zu lang. Nun hat Chief Mullins ihm schon diesen Physiotherapeuten aus dem Army-Hospital organisiert, der zusätzlich zweimal die Woche zu uns kommt. Aber George ist … einfach unmöglich. Entweder ist er am Zetern, weil er mit den kleinen Fortschritten nicht zufrieden ist oder er versinkt komplett in Verzweiflung, weil er sich als Krüppel sieht, der allen nur zur Last fällt. Und heute hat er wieder einen besonders schlechten Tag.“ Sie seufzte schwer. „Hättest du vielleicht Zeit, nachher zum Abendessen zu kommen, John?“

John konnte ihr die Bitte nicht abschlagen, auch wenn er sich auf einen ruhigen Feierabend in seiner Wohnung und ein langes Telefonat mit Pauline gefreut hatte.

So trottete er an jenem feuchtkalten Dezemberabend müde und fröstelnd über das Tower Green zurück in seine Wohnung, um sich vor dem Abendessen bei den Campbells umzuziehen. Sehnsuchtsvoll blickte er auf seine Couch und spielte kurz mit dem Gedanken, Marcia doch noch abzusagen, gab sich dann aber einen Ruck. Schließlich hatte George ihm in der Vergangenheit oft genug den Rücken freigehalten. Und er konnte verstehen, dass seinem alten Freund die Decke auf den Kopf fiel. John konnte sich gut erinnern, wie es ihm selbst vor einigen Jahren ergangen war, als er nach einem Kreuzbandriss wochenlang zur Untätigkeit verdammt war. Für George, den zusätzlich das Gefühl des Versagens plagte, war die Situation noch wesentlich schlimmer. Auch wenn ihm von allen Seiten versichert worden war, ihn träfe keine Schuld am Ableben Florries und der notwendigen Außerdienststellung von Bran, haderte er immer noch mit sich.

Gerade, als John dabei war, sich einen Pullover überzustreifen, klingelte das Telefon. Er brummelte ein wenig vor sich hin und schlurfte in den Flur. Als er die Stimme von Dr. Mike Nichols, Vogelkundler am Naturhistorischen Museum, hörte, heiterte sich seine Miene auf.

„Howdy, John! Wie ist die Lage?“, begrüßte Mike ihn munter.

„Bescheiden“, gab John zurück, musste aber unwillkürlich grinsen, als er sich seinen amerikanischen Freund vorstellte, der seinen voluminösen Körper so gut wie immer in kurzärmelige, in der Regel mit Papageien bedruckte Hemden hüllte.

„Was hast du an?“, fragte er spontan.

„Uuh, John, du Schwerenöter. Wenn du es genau wissen willst: Sophie hat mir heute meine blauen Boxershorts mit dem Bart Simpson-Motiv rausgelegt“, flötete Mike belustigt.

John brach in Gelächter aus. „Danke für diese Enthüllung. Eigentlich wollte ich wissen, ob du auch bei den Gefriergraden draußen eins deiner Papageienhemden trägst.“

„Wo denkst du hin. Meine liebe Ehefrau hat mir etwas zur Jahreszeit Passendes besorgt. Ein Hemd mit Tukanen, die Weihnachtsmannmützen tragen. Cool, was?“

Während John noch rätselte, wo man so etwas kaufte – gab es einen Katalog ‚Herrenoberbekleidung für Ornithologen: Weihnachtsedition?‘ – fuhr Mike fort. „Apropos Weihnachten. Es könnte sein, dass ich ein verfrühtes Geschenk für euch habe. Ihr sucht doch immer noch nach neuen Mitgliedern für eure Rabenbande?“

„Ja. Du weißt, es gibt im ganzen Land so gut wie keine Nachzuchten. George überlegt jetzt, mit ausländischen Rabenforschungsinstitutionen Kontakt aufzunehmen, aber das hat bei manchen Leuten schon wieder für einen Aufschrei gesorgt. Von wegen, ein Rabe in Diensten der Königin darf doch nicht vom Kontinent oder sonst woher stammen.“

„Klar, das sind die Dumpfbacken, die immer noch den Zeiten eures großen englischen Empires hinterhertrauern“, schnaubte Mike. „Aber lassen wir das. Ich könnte euch eine potenzielle Kandidatin für eure vakante Stelle vorschlagen, noch dazu waschechte Engländerin. Ein junges Weibchen, drei Jahre, das mit einem gebrochenen Flügel in eine unserer RSPCB-Rettungsstationen in Kent kam. Der Bruch war so komplex, dass die volle Flugfähigkeit nicht mehr herzustellen ist, also kann sie nicht mehr ausgewildert werden. Ich denke, bei euch wäre die junge Dame – die Kollegen dort haben sie Victoria getauft – bestens aufgehoben. Wenn du möchtest, fahre ich in nächster Zeit mit dir runter nach Dover. George nehmen wir natürlich mit, wenn er sich dazu in der Lage fühlt.“

Und ob der Ravenmaster sich dazu in der Lage fühlte! Doc Hunter, der Arzt der Tower-Einheit, raufte sich die Haare, als George sich wenige Tage später, schwer auf zwei Krücken gestützt, aber von eisernem Willen getrieben, zu Mikes Auto schleppte.

Während der Doc Mike beschwor, „Fahren Sie, als würden Sie ein rohes Ei transportieren! Vermeiden Sie um Gottes Willen Schlaglöcher und ähnliches – “, kommandierte George mit funkelnden Augen, „Junge, drück auf die Tube. Wir haben eine wichtige Verabredung. Die holde Victoria erwartet uns!“

 

Das war nun zwei Monate her. Victoria – oder vielmehr Vicky, wie sie schnell von allen genannt wurde – hatte alle Herzen im Sturm erobert. Seit ihrem Einzug in den Tower hatte sie nicht nur Georges Lebensgeister wieder erwachen lassen. Gworran war dem Charme des vorwitzigen Rabenweibchens von der ersten Begegnung an erlegen. Wie ein Hündchen folgte er ihr überallhin. Als er ihr eine Erdnuss in der Schale zu Füßen legte – seinen absoluten Lieblingsleckerbissen – und geradezu andächtig zuschaute, wie sie sie verzehrte, stand für John fest: Das war Liebe auf den ersten Blick.

„Oh, wie romantisch“, sagte Pauline gerührt, als er ihr davon erzählte. „Ich hoffe, Vicky erhört Gworrans Werben und es gibt ein Happy End mit den beiden.“

John schmunzelte. „Ich habe schon den Eindruck, dass sie ihn auch mag. In freier Natur würden wir es besser erkennen können. Da würden die beiden jetzt zum Balzflug aufbrechen und wir könnten uns die spektakulären Flugmanöver anschauen, die Kolkraben dabei aufführen. Salto, Schraube, auf dem Rücken fliegen, sich aus großer Höhe zu Boden trudeln lassen und erst im letzten Moment die Schwingen ausbreiten …“

„Das alles tun sie?“ Pauline lachte. „Sie sind schon verrückte Kerle.“

„Das kannst du laut sagen. Ich selber habe bis jetzt nur Videos davon gesehen. Unsere kleine Truppe hier wäre zu solch akrobatischen Einlagen nicht in der Lage. Wir stutzen zwar immer weniger von den Schwungfedern, weil George die Vögel möglichst wenig beeinträchtigen will. Aber für diese Manöver bräuchten sie definitiv ihr komplettes Gefieder, sonst würden sie abstürzen. Noch vor Georges Zeit hier sind zwei Rabenmännchen tatsächlich ums Leben gekommen, als sie vom White Tower herabfliegen wollten.“

„Das ist ja tragisch! Aber wie sind sie denn überhaupt da hinaufgekommen?“

„Damals fanden hier Sanierungsmaßnahmen statt und die beiden sind über das Baugerüst bis nach oben gelangt. Georges Vorgänger als Ravenmaster hat ihm erzählt, dass sich die zwei Kamikaze-Flieger offenbar von den Zinnen gestürzt haben, um einem Weibchen zu imponieren.“

„Du liebe Güte. Wie bei ‚Denn sie wissen nicht, was sie tun‘“, kommentierte Pauline trocken. „Ich dachte, nur die menschliche Spezies ist zu solchen hirnlosen Aktionen in der Lage. Raben hätte ich für klüger gehalten. Hoffentlich lässt Gworran sich nicht zu so einem gefährlichen Unsinn hinreißen.“

„Glücklicherweise haben wir momentan keine Gerüste auf dem Gelände, von denen er sich in die Tiefe stürzen könnte. Und ich glaube, dass er gar keine extremen Aktionen braucht, um Vicky zu erobern. Auch ohne die Möglichkeit für einen Balzflug kann man schon erkennen, dass sie sich wie ein Paar verhalten. Sie verbeugen sich gegenseitig voreinander oder plustern ihr Federkleid auf und reiben ihre Schnäbel aneinander.“

„Ooch, das klingt süß“, seufzte Pauline. „Wie lange hält dann so eine Rabenbeziehung normalerweise?“

„Sie sind sehr treue Partner. Meistens bleiben sie ein Leben lang zusammen und ziehen jedes Frühjahr gemeinsam eine neue Kinderschar groß. Und genau damit liebäugelt George gerade. Er will den Turteltäubchen eine Extravoliere bauen in einem abgeschiedenen Teil der Festung, damit sie da in Ruhe eine Familie gründen können. Aber dafür muss er erstmal die Genehmigung von Dr. Whyte kriegen …“

„Oje“, gluckste Pauline. „Da fällt mir schon wieder ein Film ein. ‚King Kong gegen Godzilla‘. Der Ravenmaster gegen den Chefhistoriker – Showdown der Giganten.“

John lachte auf. „Dr. Whytes Ego hat nach dem Debakel um den Knochenfund im letzten Herbst einen schweren Dämpfer einstecken müssen, aber mittlerweile trommelt er sich sozusagen wieder kräftig auf die Brust. Ich denke auch, dass er das, was er für sein Revier hält, mit Zähnen und Klauen verteidigen und um jeden Handbreit Boden kämpfen wird – vor allem, weil es gegen ein Vorhaben seines Erzfeindes George geht.“

 

In der Tat hatte der Historiker in der Folge versucht, Georges Plan mit allen Mitteln zu vereiteln. Aber nachdem der Ravenmaster klargelegt hatte, dass die neue Zusatzvoliere nur eine temporäre Behausung werden und zudem an einer Stelle platziert würde, an der keine der historischen Quellen bedeutsame Funde vermuten ließ, konnte auch Dr. Whyte seine Zustimmung nicht mehr verweigern.

Anders als beim Neubau des Rabenhauses, der unzähligerGremiensitzungen, Expertenrunden und Budgetplanungen bedurft hatte, ging diesmal alles ganz schnell. Nicht zuletzt deswegen, weil die Paarungszeit der Kolkraben vor der Tür stand. Also besorgten John und George kurzerhand im Baumarkt Holz und Maschendraht und bauten das Gehege innerhalb weniger Tage selbst.

Genauer gesagt führte John die handwerklichen Tätigkeiten aus, während der Ravenmaster sich damit zufriedengeben musste, die ganze Sache zu überwachen und allenfalls den Akkuschrauber oder ein Winkeleisen anzureichen. Mittlerweile hatten ihm die Ärzte immerhin erlaubt, einige Stunden täglich wieder seiner Arbeit nachzugehen. Dazu musste er sich jedoch strikt an einige Verhaltensregeln halten, die ihm wenig behagten.

„Kein Bücken, kein Heben, keine Drehbewegungen blablabla. Als nächstes werden sie mir noch einen Kran über dem Bett installieren, der mich heraushebt. Lauter Quacksalber“, nörgelte er, fügte sich aber zähneknirschend den Anweisungen.

Rechtzeitig Anfang Februar war die neue Anlage zu Füßen des äußeren Mauerrings fertig geworden und das hoffungsvolle junge Paar war dort einquartiert worden.

 

Und nun, eine Woche vor dem Valentinstag, während die Meteorologen des britischen Wetterdienstes erste Warnungen vor einem heranbrausenden Sturmtief namens Imogen über den Äther schickten, war der Moment gekommen: Gworran und Vicky lasen einträchtig die Zweige und Moosballen auf, die John in der Voliere platziert hatte. Danach verschwanden sie mit dem Nistmaterial in der bereitgestellten Holzkiste, in der George eine Webcam installiert hatte.

„Sie tun es!“, stieß George zum wiederholten Male aus. „Das ist der entscheidende Schritt. Jetzt ist es bald soweit!“

John blickte ihn fragend an.

George wackelte belustigt mit den Augenbrauen. „Na, die Geschichte mit den Blumen und den Bienchen muss ich dir ja wohl nicht erklären, was, Jungchen? Sobald das Nest fertig ist, wird Gworran sich daran machen, den Nachwuchs für die königliche Schar zu zeugen. Das wird ein historischer Augenblick – und das buchstäblich, weil er nur ein paar Sekunden dauern wird.“ Er keckerte. „Ich muss auf jeden Fall dabei sein und mir das ansehen. Du etwa nicht, Junge?“

John lehnte dankend ab. Auch ein königlicher Rabe hatte Anspruch auf ein Privatleben, fand er.

 

Kapitel 2

 

Zischend fuhr der spärlich besetzte Zug der Great Northern Railway drei Tage später aus King’s Cross hinaus. John erlaubte sich für ein paar Momente den Tagtraum, er wäre auf dem Weg nach York. Zu Pauline. Zu ein paar herrlichen Tagen ungetrübter Zweisamkeit. Gemeinsam kochen, lesen, einfach die Zeit in ihrer entzückenden Wohnung am Kanal verbummeln … sie würde ihm mit einem strahlenden Lächeln in ihren meergrünen Augen die Tür öffnen …

„Den Fahrschein bitte, Sir.“

Mit Bedauern verabschiedete sich John von seinem Phantasiebild und wandte sich dem Zugbegleiter zu, der ihn kritisch musterte. Nach einem Blick auf das Ticket nickte er knapp und äußerte, „Die Oberleitungsschäden durch den Sturm sind beseitigt. Wir werden Cambridge also pünktlich um 9.11 Uhr erreichen. Guten Tag, Sir.“

John zog sein altertümliches Mobiltelefon heraus. Gleich darauf hatte er Dr. Geoffrey Tomlinson am Apparat.

„Geoff, guten Morgen. So, wie es aussieht, laufen die Züge wieder planmäßig, also bin ich gegen viertel nach neun am Bahnhof.“

„Wunderbar. Mit dem Taxi brauchst du keine zehn Minuten bis zum College. Oder läufst du lieber? Ich denke, die Entfernung dürfte nicht mehr als eine Meile sein.“

„Bei dem schönen Wetter gehe ich zu Fuß. Ich habe mir die Strecke schon im Stadtplan angesehen, das müsste in zwanzig Minuten zu schaffen sein.“

„Im Stadtplan?“, entfuhr es Geoff. „Das nenne ich … old school.“

John überhörte den gutmütigen Spott und erwiderte gleichmütig, „Der lag bei Mum und Dad herum. Ich denke, David hat ihn mal mitgebracht.“

Johns Bruder lebte mit seiner Frau Annie und dem kleinen Christopher seit vielen Jahren in der Universitätsstadt. Die beiden hatten sich dort eine erfolgreiche Steuerberatungskanzlei aufgebaut. Im vergangenen Jahr hatte Christopher seine Eltern mit bemerkenswerter Beharrlichkeit so lange zermürbt, bis sie schließlich kapitulierten und seinem Wunsch nachkamen, einen Hundewelpen ins Haus zu holen. Joey Junior hatte mittlerweile die Größe eines mittleren Braunbären erreicht und für zahllose Anekdoten gesorgt.

 

Geoff versicherte John noch einmal, sein Name wäre bei der Pförtnerloge des Colleges hinterlegt und der Pförtner würde ihm den Weg zu seinem Büro weisen. Nachdem er aufgelegt hatte, lächelte er in sich hinein. Ein Stadtplan! Das war wieder echt John. Vergangene Weihnachten hatte die ganze Familie über den Vorschlag diskutiert, ihm ein Smartphone zu schenken. Maggie, Renies Mutter – und bald seine Schwiegermutter, wie Geoff wieder einmal mit einem freudigen Erschauern bewusst wurde – hatte schließlich abgewunken.

„Vergesst es, Leute. Mein Bruderherz ist nun mal – “

„Ein Dinosaurier“, war ihr Tommy, ihr außerordentlich medienaffiner Sohn, ins Wort gefallen.

„Technologisch gesehen kann man das so sagen“, räumte Maggie ein. „Selbst wenn wir ihm jetzt ein topmodernes Gerät besorgen, glaube ich, er wird es in eine Schublade legen und weiter seinen alten Knochen benutzen, mit dem er außer Telefonieren und höchstens mal eine SMS verschicken nichts machen kann.“

„Ich verstehe den Jungen zwar nicht – ich für meinen Teil finde es großartig, wenn ich meine Enkel beim Telefonieren auch sehen kann und Davids Hundevideos sind auch immer ganz köstlich anzuschauen – aber ich glaube auch, dass es hinausgeworfenes Geld wäre, wenn wir John ein neues Handy kaufen“, hatte Emmeline ihrer Tochter beigepflichtet. Und so war die Idee, Renies Onkel mit einem zeitgemäßen Kommunikationsmittel auszustatten, begraben worden.

 

Brunswick Park, Hatfield, Knebworth – hier war John schon Dutzende Male vorbeigefahren auf dem Weg nach Norden. Nach einer guten halben Stunde jedoch verließ der Zug die gewohnte Strecke und folgte den Gleisen nach Nordosten.

Zum wiederholten Male überlegte John, ob es richtig gewesen war, den Auftrag an der Universität anzunehmen. Mit der Unmenge an Überstunden, die allein im letzten Vierteljahr zusammengekommen war, hätte er sich auch zwei Wochen komplett freinehmen können.

Jetzt, da die Brutvoliere fertiggestellt war, gab es keine größeren anstehenden Projekte. Mit Hilfe seines Kollegen Michael Conners hatte er einen großen Vorrat an Trockenfutter herangeschafft, der für mindestens zwei Monate reichen würde. Auch der Fleischvorrat war dank der neuen zweiten Kühltruhe üppig bemessen. Bis auf die gröberen Reinigungsarbeiten in den Volieren, für die zur Not auch Michael einspringen konnte, war George mittlerweile wieder in der Lage, die alltägliche Rabenversorgung selbst zu übernehmen. Vom Wach- und Besucherdienst blieb der Ravenmaster vorerst noch freigestellt, so dass er sich ganz auf seine ureigenste Aufgabe konzentrieren konnte.

 

„Mackenzie, ich weiß Ihren Einsatz in diesen Monaten sehr zu schätzen. Aber sehen Sie zu, wie Sie Ihr Arbeitszeitkonto wieder ausgeglichen kriegen“, hatte Chief Mullins John Anfang des Jahres ermahnt. „Die ganze Truppe schleppt Plus-Stunden noch aus der Gebein-Krise im letzten Herbst mit, aber Sie sind jetzt der einsame Spitzenreiter. Möglichst zum Ende des ersten Quartals müssen die Überstunden abgebaut sein. Also: Sobald George den Laden wieder allein in Schwung halten kann, schnappen Sie sich am besten Ihre Holde und düsen mit ihr irgendwo hin.“

Leichter gesagt als getan, wenn die ‚Holde‘ als stellvertretende Schulleiterin arbeitete und sich frühestens in den Osterferien freimachen konnte. Während John überlegt hatte, was er mit den unverhofften Urlaubstagen anfangen sollte, war die Anfrage der Universität Cambridge gekommen. Genauer gesagt, hatte sich Geoffrey Tomlinson an John gewandt. Renies Verlobter hatte nach seiner Rückkehr aus Costa Rica ganz kurzfristig eine Stelle als Dozent und Kurator in einem brandneuen Forschungszentrum der Universität erhalten.

„Wie gewonnen, so zerronnen“ – Johns Freund Mike Nichols, der sich schon darauf gefreut hatte, dass Geoff wieder an seinen alten Arbeitsplatz im Naturhistorischen Museum zurückkam, hatte ihm mit einem weinenden und einem lachenden Auge nachgesehen. „Nun müssen wir uns doch einen neuen Lepidepterologen suchen. Aber dafür haben wir durch Geoff jetzt einen direkten Draht in eins der besten Forschungsinstitute der Welt.“ Er hatte sich erwartungsvoll die Hände gerieben. „Yeah. Connections muss man einfach haben.“

Einen ähnlichen Gedanken hatte Geoff wohl seinerseits gehabt, als im Intranet der Universität händeringend ein Psychologe gesucht wurde, der Erfahrung in Krisenintervention hatte und zudem in der Lage war, Einführungskurse für Tutoren anzubieten, die für die Betreuung der Studenten an den Colleges zuständig waren.

„Ich erlebe es selber ständig, wie unzureichend diese Leute ausgebildet sind, John“, hatte er in einer außerordentlichen langen Nachricht auf Johns Anrufbeantworter gesprochen. „Meistens sind das Leute, die eine Postdoc-Stelle haben oder ein Forschungsstipendium. Neben ihren eigenen Forschungsprojekten müssen sie meistens noch in der Lehre mitarbeiten, also Laborübungen leiten oder ähnliches. Und nebenher hat sich jeder noch um einige Studenten zu kümmern. Manche werden dabei als Supervisoren eingesetzt, das heißt, sie sind für das akademische Fortkommen ihrer Studenten zuständig. Andere bekommen Studenten zugewiesen, die sie als Tutoren unterstützen sollen. Der Tutor soll der Ansprechpartner sein, wenn es um alles andere als das Fachliche geht.“ Nach einem Schnauben fuhr er fort.

„Und glaub mir, bei einem Haufen von Kids, die gerade mal 17, 18 Jahre alt sind und das erste Mal von Zuhause weg und dann in einem hochkompetitiven Umfeld wie Cambridge bestehen sollen, ist das ein weites Feld. Da kannst du als Wissenschaftler noch so hochqualifiziert sein – für so eine Rolle hat dich keiner vorbereitet. Und das geht dann zu Lasten aller. Der Tutor fühlt sich hoffnungslos überfordert und der arme Student bekommt keine wirkliche Unterstützung. Also, bitte, John: Renie hat mir erzählt, du musst deine Urlaubstage irgendwie losbekommen. Ich weiß, du hast dir diese freien Tage sauer verdient und du könntest dich mit gutem Gewissen auf die faule Haut legen … aber, ähm … es wäre großartig, wenn du es dir überlegen könntest, hier bei uns tätig zu werden. Du kannst sicher sein, dass dir sehr viele Leute dankbar wären. Also, nun … ich würde mich wirklich über einen Rückruf von dir freuen.“

John war hin- und hergerissen gewesen. Einerseits klang die Aufgabe interessant, andererseits hatte er sich bereits ausgemalt, wie er nach York hinauffahren und die Zeit bei Pauline verbringen würde. Auch wenn sie arbeiten musste, hätten sie doch wenigstens die Abende miteinander. Pauline jedoch war von dieser Idee nicht besonders angetan gewesen.

„John, mein Schatz, du weißt ja, im Februar haben wir Projektwochen, die müssen erstmal vorbereitet werden, dann bin ich währenddessen den ganzen Tag im Einsatz und hinterher steht dann Dokumentation und Evaluation und dieser ganze Mist an. Ich weiß jetzt schon, dass da nach Feierabend nicht viel mit mir anzufangen sein wird.“

„Ich könnte aber doch abends schön für dich kochen und wir könnten auch gemeinsam frühstücken und – “

„Du hast Recht. Das klingt verlockend“, hatte sie etwas wehmütig eingestanden. „Trotzdem: Ich glaube, dass du mit deiner Zeit etwas Sinnvolleres anfangen kannst, als hier bei mir den ganzen Tag darauf zu warten, dass ich nach Hause komme. Sei ehrlich – es reizt dich doch, wieder mal etwas intensiver in deinem eigentlichen Beruf arbeiten zu können, oder nicht?“

„Hm. Schon …“, meinte er gedehnt.

„Und ich könnte mir auch vorstellen, dass du Geoff damit einen Gefallen tust. Scheinbar gefällt es ihm ja in Cambridge und wenn er sich jetzt erfolgreich als Headhunter betätigt, hat er vielleicht schon mal einen Stein im Brett für seine künftige Karriere dort.“

„So ähnlich hat Maggie es mir auch erklärt. Sie ist so glücklich über das unerwartete Comeback ihres Traumschwiegersohns, dass sie am liebsten alles täte, um ihm den Weg zu ebnen. Sie hat sogar schon David gefragt, ob er über seine Steuerkanzlei nicht vielleicht Kontakte zu irgendwelchen wichtigen Leuten in der akademischen Führungsetage dort hat.“

Pauline kicherte. „Das glaube ich. Maggie, die geborene Strippenzieherin. Aber im Ernst, ich bin der Meinung, du solltest den Auftrag annehmen. Ich freue mich wahnsinnig, wenn du in nächster Zeit für ein Wochenende herauf kommst, aber deine restlichen freien Tage kannst du von mir aus gern in Cambridge verbringen. Am ersten Tag der Osterferien werde ich ohnehin sofort in den Zug springen und zu dir fahren. Und dann haben wir zwei wunderbare Wochen zusammen.“

Auch wenn John zuerst etwas verschnupft gewesen war, war er doch zum Schluss gekommen, dass Pauline Recht hatte.

 

Wie drängend der Notstand in Cambridge war, wurde ihm klar, als der Leiter der Zentralen Beratungsstelle für psychische Gesundheit, Dr. Davies, am Ende ihres gerade einmal viertelstündigen Telefonats schlicht die Frage stellte, „Wann können Sie anfangen? Sagen Sie mir, an welchen Tagen Sie hier sein können und ich stelle sofort die Gruppen für die Einführungskurse zusammen und organisiere ein Büro für Ihre Sprechstunden.“

Etwas verspätet war John eingefallen, dass er das Einverständnis seines Kommandanten brauchte, wenn er an seinen Urlaubstagen einer anderen Beschäftigung nachgehen wollte. Glücklicherweise hatte Chief Mullins auch früher schon Johns gelegentlichen Ausflügen in sein früheres Arbeitsgebiet wohlwollend gegenübergestanden.

„So, wie ich Sie kenne, ist das ein besserer Ausgleich zu Ihrem Job hier, als wenn Sie irgendwo am Strand liegen würden, was, Mackenzie? Also von mir aus können Sie das machen. Aber eins sage ich Ihnen: Wehe, Sie lassen sich wieder in so eine Mordgeschichte hineinziehen. Dann kriegen Sie Ärger mit mir.“

John zog den Kopf ein. „Ich tue mein Bestes, damit so etwas nicht wieder vorkommt, Sir.“

„Das will ich hoffen. Und jetzt gehen Sie und stimmen sich mit Bonnie und George ab. Suchen Sie nach den Tagen, wo Sie hier am entbehrlichsten sind. Cheerio.“

Bonnie Sedgwick stellte die Dienstpläne der Yeoman Warders auf. Geübt darin, mit den Schichten der drei Dutzend Mann starken Truppe zu jonglieren, drückte sie John nach kurzer Zeit einen Zettel in die Hand.

„Voilà, wie gewünscht: Acht freie Wochentage zwischen dem 11. Februar und dem 11. März, sowie zusätzlich ein Wochenende, beginnend ab dem Ende der Frühschicht am Freitag mit Arbeitsbeginn in der Spätschicht am Montag.“

„Du bist genial, Bonnie.“

„So einen Service gibt’s natürlich nur für meinen Lieblings-Beefeater. Den, der das beste Panang-Curry überhaupt macht.“ Sie zwinkerte ihm zu.

„Oh, natürlich. Wir müssen unbedingt bald einmal einen Curry-Abend zusammen machen.“

„Und als Nachspeise gibt es deinen Apple Crumble.“

„Dein Wunsch ist mir Befehl“, versicherte er ihr mit einem charmanten Lächeln.

Sie sah ihm mit einem Seufzen nach, als er ihr Büro verließ. Damals, als dieser John Mackenzie nach einem Hörsturz und von Tinnitus geplagt den Dienst in der Truppenbetreuung der Britischen Armee quittiert hatte und reichlich verunsichert, wie er in dieses neue Leben hineinpassen würde, der königlichen Wachtruppe beigetreten war, hatte Bonnie ihn ins Visier genommen. Eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als hätte aus der Freundschaft mehr werden können, aber dann war diese rothaarige Schottin aufgetaucht und seither hatte er für keine andere Frau mehr Augen. Was für ein Jammer.

 

 

Der Zug erreichte pünktlich nach 50 Minuten Cambridge. John ging über den Bahnhofsvorplatz und wandte sich nach links. Als er am Botanischen Garten vorbeikam, fiel ihm unversehens ein Ausflug ein, den er in grauer Vorzeit mit seiner Mutter hierher unternommen hatte.

Seit er denken konnte, war Emmeline Mackenzie eine treibende Kraft im Gartenbauverein von Kew. Während seine Geschwister sich nicht für Grünzeug begeistern konnten, hatte John seine Mutter oft begleitet, wenn sie ehrenamtlich in den Gewächshäusern der königlichen Gärten arbeitete. Diese lagen nur einen Steinwurf von seinem Elternhaus entfernt. Er mochte etwa zehn Jahre alt gewesen sein damals, als sie zusammen hierher nach Cambridge gefahren waren. Es war ein warmer Abend in den Sommerferien gewesen.

John konnte sich erinnern, dass er es herrlich aufregend gefunden hatte, in der zunehmenden Dunkelheit das tropische Gewächshaus zu erkunden. Der hiesige Chefgärtner, mit dem Emmeline rege Korrespondenz pflegte, hatte sie eingeladen, ein seltenes Schauspiel mitzuerleben: Das Aufblühen von Victoria cruziana, einer südamerikanischen Riesenseerose mit gigantischen Blättern, so groß wie der Esszimmertisch der Mackenzies. Nur an zwei Nächten im Jahr entfaltete sie ihre prächtigen Blütenkelche. Der besondere Clou war, dass sie in der ersten Nacht weiß blühte und sich innerhalb der nächsten Stunden von einer weiblichen in eine männliche Pflanze verwandelte, die am nächsten Abend ihre dann rosafarbenen Blütenblätter öffnete.

John war fasziniert gewesen von diesem wundersamen Geschöpf, das noch dazu verführerisch nach Ananas duftete. Er nahm sich auf der Stelle vor, den Botanischen Garten in nächster Zeit einmal zu besuchen und Ausschau nach den Nachfahren jener Pflanze zu halten.

Wenige Minuten später bog er in die Latham Road ein und folgte den Schildern zum Eingang des St. Patrick’s College. Bewundernd blieb er vor einem wuchtigen, mit schweren Metallbeschlägen versehenen Holztor stehen, das man bequem hoch zu Ross hätte passieren können – was zur Gründungszeit des Colleges im Mittelalter sicher an der Tagesordnung gewesen war, wenn hohe Würdenträger die Lehranstalt mit ihrer Anwesenheit beehrten.

In das überdimensionale Tor war eine Tür mit einer fein gearbeiteten, von Generationen um Generationen von Studenten abgegriffenen Klinke eingearbeitet. John konnte sich einer gewissen Ehrfurcht nicht erwehren, als er den Griff herabdrückte und eintrat. Er blinzelte ins Halbdunkel eines langgestreckten Torbogens, an dessen Ende eine gepflegte Rasenfläche zu erkennen war.

„Guten Tag, Sir. Was kann ich für Sie tun?“, kam eine Stimme aus einem Mauerdurchlass zu seiner Linken. Hinter einer halbhohen Brüstung saß ein älterer Herr mit dunkelgrauem Jackett und Krawatte und beäugte John interessiert.

„Guten Tag. Mein Name ist John Mackenzie – “

„Ah ja, ich weiß Bescheid. Willkommen in St. Patrick’s, Mr. Mackenzie. Wenn Sie mir einen kurzen Blick auf Ihren Ausweis gestatten möchten, kann ich Ihnen gleich den Schlüssel für Ihren Seminarraum überreichen.“ Interessiert beäugte er Johns Truppenausweis, gab ihn jedoch ohne weiteren Kommentar zurück.

„Wenn Ihr Einsatz bei uns am letzten Tag des Trimesters endet, geben Sie die Schlüssel bitte wieder hier bei mir ab. Nun brauche ich nur noch eine Unterschrift von Ihnen, hier bitte.“ Er drückte John einen Kugelschreiber in die Hand.

„Sehr gut. Hier ist eine Kopie der Empfangsbestätigung für Ihre Unterlagen und der Schlüssel. Die Raumnummer steht auf dem Anhänger. Damit hätten wir die Formalitäten erledigt.“ Er nickte zufrieden. „Dr. Tomlinson erwartet Sie. Warten Sie, ich komme hinaus und weise Ihnen den Weg.“

Der Mann stülpte sich formvollendet eine Melone auf den Kopf und trat durch eine kleine Tür aus seiner Pförtnerloge.

„Ich bin übrigens Adams, Sir. Ich habe die Ehre, diesem College seit elf Jahren als Chefpförtner zu dienen. Wenn Sie jemals etwas benötigen, was auch immer, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich oder meine Mitarbeiter.“

„Vielen Dank, Mr. Adams, das ist sehr freundlich.“

John folgte dem Pförtner hinaus in den Innenhof und blickte sich beeindruckt um. Selbst im fahlen Licht des Februarmorgens gaben die zinnenbekränzten Gebäude mit den spitzgiebeligen gotischen Fenstern ein imposantes Bild ab.

Mr. Adams lächelte stolz. „Das ist der erste von unseren drei Höfen und der repräsentativste, wenn ich das so sagen darf. Er stammt noch aus der Gründungszeit des Colleges im Jahre 1453. Genauso unsere kleine, aber architektonisch bedeutsame Collegekapelle, deren Portal Sie hier auf der linken Seite sehen. In den anderen beiden Höfen werden Sie ganz andere Baustile erkennen, stammen sie doch aus späteren Jahrhunderten. Wir haben dort Gebäudeteile aus der Tudorzeit und dem viktorianischen Zeitalter sowie einen zeitgenössischen Anbau aus den sechziger Jahren. Dort befindet sich im Übrigen Ihr Seminarraum. Ich könnte Ihnen gern eine umfassende historische und kunstgeschichtliche Einführung über unser College geben, aber ich möchte Sie nicht aufhalten. Ich weiß, Sie haben heute bereits Ihre ersten beiden Einführungsseminare zu halten und möchten sich sicher noch vorbereiten.“ Er wies auf einen Durchgang auf der gegenüberliegenden Seite der quadratischen Rasenfläche.

„Dort müssen Sie hindurch. Dann queren Sie den zweiten Hof, wo Sie einen ähnlichen Durchlass finden. Dr. Tomlinson hat sein Büro im dritten Hof, Stiege F, Zimmer 224. Oh, und noch eine Sache: Bitte treten Sie nicht auf den Rasen.“ Er fixierte John mit einem strengen Blick. „Ich wäre gezwungen, Ihnen eine Geldstrafe über 20 Pfund aufzuerlegen.“

„Gott bewahre. Ich werde keinen Fuß auf das Grün setzen.“

Mr. Adams nahm dieses Versprechen mit einem kaum merklichen Kopfnicken zur Kenntnis.

„Wissen Sie, da gab es eine Geschichte, die unter uns Collegepförtnern zur Legende geworden ist. Kennen Sie Bill Nighy?“

„Den Schauspieler? Natürlich. Der Altrocker Billy Mack in ‚Tatsächlich Liebe‘. Meine Lebensgefährtin besteht darauf, dass wir uns den Film mindestens einmal im Jahr ansehen.“

„Ist das so? Nun, auf jeden Fall hat Mr. Nighy hier in Cambridge vor fünf Jahren einen Spionagefilm gedreht. Am Jesus College wurden einige Außendrehs gemacht. In deren erstem Hof steht eine lebensgroße Pferdestatue. In einer Drehpause kam Mr. Nighy doch tatsächlich auf die Idee, mir-nichts, dir-nichts den Rasen zu überqueren und sich auf das Pferd zu schwingen. Ein absolutes Sakrileg! Einer meiner Kollegen konnte ihn glücklicherweise gerade noch stoppen.“

Er schüttelte missbilligend den Kopf. „Es ist schon unbegreiflich, wozu manche Menschen sich hinreißen lassen. Also, Sir, hüten Sie sich vor Fehltritten.“ Er legte grüßend die Hand an den Rand seines Hutes und ging davon.

 

Kapitel 3

 

„John, schön, dich zu sehen“, begrüßte Geoff ihn kurz darauf freudig und nahm ihm die Jacke ab. „Setz dich, setz dich. Möchtest du erstmal eine Tasse Tee?“

Aufatmend ließ John sich auf ein Sofa mit buntem Überwurf fallen und nickte. Während Geoff den Wasserkocher einschaltete, sah er sich in dem geräumigen, halbhoch mit dunklem Holz getäfelten Raum um.

Er fühlte sich eher an ein Wohnzimmer als an ein Büro erinnert. Außer der Couch gab es noch drei Sessel, gruppiert um einen niedrigen langgezogenen Tisch. Eine Wand war mit zimmerhohen Buchregalen bedeckt. Auf dem Schreibtisch fiel ihm ein Foto von Renie auf, das in einem silbernen Rahmen steckte. Es zeigte sie mit einem breiten Lächeln an das Geländer der Westminster Bridge gelehnt, im Hintergrund war schemenhaft der Parlamentsbau zu erkennen.

„Wie ist dein erster Eindruck von unserem College?“, erkundigte sich Geoff, während er Tee in zwei Tassen goss.

„Es ist alles ein bisschen überwältigend“, gab John freimütig zu. „Nicht nur die Architektur. Allein schon der Pförtner – “

Geoff lachte auf. „Mr. Adams! Der ist schon ein Unikat. Stets untadelig höflich, aber es reicht eine hochgezogene Augenbraue von ihm und man erzittert förmlich.“

„Das kann man so sagen“, grinste John und warf ein paar Kandiszuckerbrocken in seine Tasse. „Er schien auch bestens über meine Tätigkeit hier informiert zu sein.“

„Er ist beinahe erschreckend effizient“, stimmte Geoff ihm zu. „Er weiß grundsätzlich Bescheid über alles, was bei uns vor sich geht. Wenn es nach ihm ginge, hätten wir nicht nur am Eingang und an der Außenmauer Überwachungskameras, sondern in jedem einzelnen Winkel.“

Er stellte einen Teller Ingwerkekse auf den niedrigen Couchtisch. „Aber er ist auch ein sehr hilfsbereiter Mensch und er hält mit seinem Team den Laden hier tipptopp in Schuss. Deswegen bin ich auch froh, dass ich diesem Haus zugeordnet worden bin. Ich höre von Kollegen aus anderen Colleges ständig Geschichten über verstopfte Klos, unauffindbare Zimmerschlüssel, nicht funktionierende Heizungen und was weiß ich noch alles. Bei uns dagegen kann man sich darauf verlassen, dass sich sofort gekümmert wird, falls es ein Problem gibt. Natürlich im Rahmen der Möglichkeiten“, setzte er hinzu. „Große Modernisierungen hat es hier wohl seit dreißig, vierzig Jahren nicht gegeben. Wir gehören zu den eher armen Colleges, unser Vermögen liegt bei einem winzigen Bruchteil im Vergleich zum dem der wohlhabenden, wie zum Beispiel dem Trinity oder dem St. John’s College.“

„Darüber hat der Guardian erst kürzlich etwas geschrieben. Trinity besitzt wohl Werte von rund einer Milliarde Pfund, das ist unglaublich.“

Geoff nickte. „So ist es. Ich schätze, unser Master – also unser Collegeleiter – hat vielleicht fünf Prozent der Geldmittel zur Verfügung, die Trinity hat. Deswegen gibt es bei uns auch nicht Perlhuhnbrüstchen und Jahrgangsweine in der Mensa wie mancherorts in Cambridge. Verglichen mit den meisten anderen Unis im Land können wir uns natürlich trotzdem nicht beschweren.“

„Den Eindruck habe ich auch“, meinte John trocken. „Wenn man wie ich ganz profan in Birmingham studiert hat, ist das wie eine fremde Welt hier, glaub mir. Bis jetzt war meine einzige Berührung mit dem Leben an einer Eliteuni, wenn ich mir ‚Inspektor Lewis‘ im Fernsehen angeschaut habe.“

Geoff grinste. „Als ich in Oxford studiert habe, ist dort oft mit Stolz erzählt worden, dass Colin Dexter seine Stories dort angesiedelt hat, weil er da lange an der Uni gearbeitet hat und sich bestens auskannte. In Cambridge kriegt man oft mit demselben Stolz erzählt, dass Dexter hier sein Studium absolviert hat. Jeder reklamiert ihn quasi für sich. Du wirst es schnell merken, wenn du hier arbeitest: Die Rivalität zwischen den Städten ist keine Legende, sondern wirklich spürbar. Du wirst auch kaum jemanden finden, der den Namen Oxford überhaupt in den Mund nimmt. ‚Der andere Ort‘ sagt man hier dazu.“

„Das merke ich mir. Ich möchte ja nicht gleich ins Fettnäpfchen treten“, sagte John.

Geoff nahm einen Schluck Tee. „Wenn mein Vorgänger hier nicht so überstürzt seine Zelte abgebrochen hätte, hätten sie so einen wie mich wohl gar nicht eingestellt.“

„Er hat eine Professorenstelle auf dem Kontinent bekommen, nicht wahr?“

„Salamanca“, bestätigte Geoff. „Hat natürlich nicht ganz so viel Prestige wie Cambridge, aber die Uni spielt durchaus in der oberen Liga mit. Und da Jorge sowieso aus Spanien kam, war das für ihn ein naheliegender Schritt. Eigentlich wollte er hier Karriere machen, aber das zunehmende Gerede über das Referendum hat ihn beunruhigt und deshalb hat er sich woanders umgesehen.“

Geoff lehnte sich in seinem Sessel zurück und blickte nachdenklich in seine halbleere Tasse.

„Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass die Brexit-Spinner sich im Sommer durchsetzen werden, aber definitiv profitiere ich von den Ängsten, die sie unter etlichen Wissenschaftlern hier verbreiten. Ich verdanke ihnen die Chance, die ich jetzt bekommen habe. Traurig, aber wahr.“

„Cambridge kann sich auf jeden Fall glücklich schätzen, dich bekommen zu haben“, meinte John entschieden. „Ich verstehe ja nichts von deinem Fachgebiet, aber Mike hat mir in den letzten Monaten oft genug sein Leid geklagt, wie schwierig es für das Naturhistorische Museum ist, einen Wissenschaftler deines Kalibers als Nachfolger zu finden.“

„Danke.“ Geoff lächelte verlegen. „Ich weiß nicht, ob ich unbedingt der große Gewinn für diese Universität bin. Hier bist du ständig von brillanten Leuten umgeben. Alles absolute Größen in ihrem Fach. Da ist es nichts Besonderes, wenn du irgendein Spezialgebiet hast, mit dem du dich gut auskennst.“ Er stellte seine Tasse ab, griff nach einem Keks und fuhr fort.

„Es war einfach Glück, dass sie für das neue Attenborough-Forschungszentrum ausgerechnet einen Schmetterlingskundler suchten, der sich auch mit dem Aufbau von Sammlungen auskennt. Dafür war meine Zeit im Naturhistorischen Museum einfach Gold wert. Und der zweite Faktor war, denke ich, meine Landeskenntnis und dass ich einigermaßen Spanisch spreche. Dieses Jahr stehen noch zwei Exkursionen für die Masterstudenten nach Mittelamerika an, da bin ich mit der Leitung beauftragt worden.“

„Das ist ja großartig, Geoff.“ John wusste, dass der Regenwald das Einzige war, das der junge Biologe nach seiner traumatisch zu Ende gegangenen Zeit in San José vermisste.

„Du hast Recht. Wir werden jeweils zwei Wochen in Panama und Costa Rica unterwegs sein. Ich freue mich schon wahnsinnig darauf.“ Er lächelte glücklich. „Aber auch abgesehen von solchen Highlights ist der Job hier ein Volltreffer. Die Arbeit ist so vielseitig, dass buchstäblich jeder Tag spannend ist. Mal bin ich im Zoologischen Museum und bereite mit Kollegen alles für die Neueröffnung vor – ich muss dich unbedingt mal dorthin mitnehmen, wenn du Zeit hast. Dann bin ich in zwei interdisziplinären Biodiversitäts-Forschungsprojekten involviert. Und schließlich halte ich noch zwei Vorlesungen pro Woche und bin Supervisor für sechs Masterstudenten. Ich arbeite so viel wie nie zuvor, aber eigentlich fühlt es sich gar nicht wie Arbeit an. Natürlich braucht man für so einen Job eine Partnerin, die das mitträgt.“ Sein Blick schweifte zum Schreibtisch, wo er liebevoll auf Renies Bild verweilte.

„Das kann ich mir gut vorstellen, dass Renie dir nicht die Hölle heißmacht, wenn du mal später nach Hause kommst“, grinste John. „Wahrscheinlich kommt sie selbst noch später als du.“

Geoff lachte und wandte sich wieder John zu. „Das gibt es durchaus. Aber ich finde es toll, dass sie sich so in ihr Studium reinkniet.

---ENDE DER LESEPROBE---