Tod im Tropenhaus - Emma Goodwyn - E-Book

Tod im Tropenhaus E-Book

Emma Goodwyn

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Beschreibung

Frühlingstage voller Romantik – davon hat Beefeater John Mackenzie lange geträumt. Doch nun fegen drei quirlige Neffen durch seine Wohnung und dann geschieht auch noch ein Mord. Zur Freude von Superintendent Simon Whittington ist der vermeintlich Schuldige schnell ausgemacht. Doch John ist überzeugt, dass mehr hinter der Bluttat im Zoo von London steckt. Inmitten von Faultieren, Fledermäusen und falschen Fährten fühlt er sich bald wie in einem echten Dschungel...

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Tod

im Tropenhaus

 

 

 

John Mackenzies sechster Fall

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Emma Goodwyn

 

Im Gegensatz zu den Schauplätzen

sind alle Personen und Ereignisse der Handlung rein fiktiv, mögliche Ähnlichkeiten zu echten Personen und Geschehnissen keinesfalls beabsichtigt.

 

 

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Besuchen Sie die Autorin unter

www.emma-goodwyn.com!

 

 

Copyright Text und graphische Gestaltung

Emma Goodwyn

c/o Hartmut Albert Fahrner

Am Tannenburganger 36

84028 Landshut

 

Kontakt: [email protected]

 

Veröffentlichungsdatum: 8. Oktober 2016

 

Alle Rechte vorbehalten

(V2.1)

 

 

 

 

 

Für alle zoologisch Bewanderten:

Die Faultiere, die im Londoner Zoo leben (besondere Grüße an Marilyn, Leander und ihr im Juni 2016 geborenes Baby Edward, die ich bei den Recherchen zum neuen John Mackenzie-Fall besuchen durfte), gehören zur Gattung der Zweifingerfaultiere. Das Bild auf dem Cover dieses Buchs zeigt dagegen ein Dreifingerfaultier, das mir im Nationalpark Manuel Antonio in Costa Rica begegnet ist.

 

 

Prolog

 

Norma Jean erwachte mit einem Ruck. Trotz ihres schlechten Gehörs nahm sie wie an jedem Morgen das Klappern der Küchentür draußen wahr. Welchen Snack würde der Zweibeiner heute bringen? Vielleicht ein Stück Birne? Chicoree? Trauben? Träge streckte sie eines ihrer krallenbewehrten Vorderbeine aus und begann, sich zum Futterplatz zu hangeln. Auch Alexander, der weiter oben in einer Astgabel geruht hatte, regte sich. Unten auf dem weichen Waldboden stelzte einer der Gefiederten noch ein wenig schlaftrunken herum, während die Langschwänzigen wie üblich schon munter waren und im ersten Tageslicht, das durch das Glasdach der Halle fiel, mit großen Sprüngen durch die Bäume turnten. Frech waren sie, diese pelzigen Gesellen, schnappten immer schnell nach dem besten Futter. Aber der Zweibeiner achtete schon darauf, dass Norma Jean ihre Leckerbissen bekam.

Ein zweites Mal öffnete sich draußen die Tür und fiel wieder ins Schloss. Der Boss der Langschwänzigen stimmte ein ungeduldiges Gekreisch an, in das die ganze Schar seiner Artgenossen einfiel. Der Regenwald hallte wider von ihrem Radau. So konnte keines der Tiere den kurzen Aufschrei hören, der aus der Küche erklang, bevor das Klappern der Tür ein drittes Mal zu hören war und hastige Schritte sich entfernten.

Kapitel 1

 

„Achtung bitte auf Gleis elf. Die Einfahrt des Zuges aus York – geplante Ankunft 16 Uhr 51 – verzögert sich um zehn Minuten.“

John Mackenzie, der schon seit einer Viertelstunde mit wachsender Ungeduld den Bahnsteig hinauf und hinab tigerte, grummelte und sandte einen bösen Blick in Richtung des Lautsprechers, aus dem die lapidare Ansage gekommen war. Jede Minute Verspätung schmälerte die kostbare Zeit, die er mit Pauline verbringen konnte.

Seit jenem denkwürdigen Abend im letzten Herbst, an dem Pauline Murray ihn bei der Junggesellenauktion zugunsten der Königlichen Gärten in Kew ersteigert hatte, schien ihm sein Leben zu einem viel zu großen Anteil aus Warten zu bestehen. Nun, da sie endlich ein Paar waren, konnte John es kaum ertragen, dass über zweihundert Meilen zwischen ihnen lagen.

Pauline wohnte in York, wo sie an einer großen Mädchenschule unterrichtete. Er selbst war vor drei Jahren vom Auslandseinsatz in seine Heimatstadt London zurückgekehrt, nachdem er den Dienst als Psychologe in der Truppenbetreuung der Britischen Armee quittiert hatte. Auf Empfehlung seines Kommandanten war er in die Einheit der königlichen Yeoman Warders, gemeinhin Beefeater genannt, aufgenommen worden. Er liebte es, im Tower von London zu leben und zu arbeiten – aber im letzten halben Jahr hatte er mehr als einmal über den Schichtdienst geflucht, der ihm kaum Zeit ließ, Pauline zu besuchen.

Einmal hatte er sich sogar nach einer Nachtschicht frühmorgens zum Bahnhof King’s Cross und von da aus auf die zweistündige Zugreise in den Norden aufgemacht, nur um am selben Abend wieder zurückzufahren und nach ein paar Stunden Schlaf zum Frühdienst anzutreten. Egal – solange er sich wenigstens ein paar Stunden mit Pauline stehlen konnte, nahm er das gerne in Kauf. In den letzten Wochen jedoch war nicht einmal das möglich gewesen. Paulines Mutter, die wie der Großteil des Murray-Clans in Schottland lebte, hatte nach Weihnachten einen Schlaganfall erlitten und war nun auf Hilfe angewiesen. Keines von Paulines Geschwistern konnte kurzfristig einspringen: Mary lebte mit ihrer Familie auf den Hebriden, Padraig war als Ingenieur auf einer Ölplattform in der Nordsee eingesetzt. Die jüngste Schwester Alison, die mit ihrer Familie ganz in der Nähe ihrer Eltern in North Berwick wohnte, war mit ihrem vierten Kind hochschwanger. Daher war es an Pauline, jedes Wochenende in ihrem Heimatort nahe Edinburgh zu verbringen, um ihren Vater zu unterstützen. Vor einer Woche nun hatte sie John aufgeregt angerufen.

„Stell dir vor, Mary kann sich in den Osterferien kurzfristig frei machen und sich um Mum und Dad kümmern. Also könnte ich dich besuchen kommen, wenn dir das passt!“

Johns Herz tat einen Sprung.

„Was für eine Frage – natürlich kommst du! Du weißt, wie sehr ich dich vermisse. Wie lange kannst du bleiben?“

„Ich denke, eine Woche müsste gehen.“

„Eine ganze Woche! Das ist ja wunderbar! Ich werde sofort mit Chief Mullins reden, ob ich ein paar Schichten schieben kann, damit ich dann frei habe.“

„Da wäre nur eine Sache …“, meinte sie zögernd.

„Was meinst du?“

„Ich habe Alison versprochen, mich in den Ferien um die Jungs zu kümmern. Sie hat nur noch ein paar Wochen bis zur Geburt – ehrlich gesagt glaube ich, sie schielt immer auf die Nachrichten, um zu sehen, wann es bei William und Kate mit ihrem zweiten Nachwuchs soweit ist. Ich habe den Verdacht, dass sie das Kind partout am selben Tag zur Welt bringen möchte, so ein alter Royals-Fan wie sie ist.“

John verdrehte die Augen. Das Brimborium um die Geburt des nächsten Urenkels der Königin, das seit Wochen alle Schlagzeilen bestimmte, ging ihm gewaltig auf die Nerven. Staatskrisen, Erdbeben, kleinere Kriege – alles rutschte auf Seite 2, sobald ein Reporter auch nur das Tor des Kensington Palace aufgehen sah.

„Von geschwollenen Füßen über Kreuzschmerzen bis zu Schwangerschaftsdiabetes hat sie alles, was man als neununddreißigjährige Spätgebärende so haben kann“, sprach Pauline weiter über ihre jüngste Schwester. „Und dazu noch die drei Racker, du kennst sie ja …“

John musste lächeln. Oh ja, an Paulines drei Neffen konnte er sich sehr gut erinnern. Er hatte sie beim großen Clantreffen in Edinburgh im vorletzten Sommer kennengelernt.

„Barry, Neil und Justin, nicht wahr? Wie alt sind die drei mittlerweile?“

„Dreizehn, neun und fünf. Sie sind echt liebe Kerle – aber manchmal rauben sie einem auch den letzten Nerv. Auf jeden Fall hätte Alison keine Ruhe, wenn die drei zuhause herumfegen –“

„Bring sie doch mit“, schlug John spontan vor.

„Daran hatte ich auch schon gedacht, aber … wird dir das nicht zu viel? Und wo würden wir die drei unterbringen?“

„Mein Wohnzimmersofa lässt sich ausklappen und in ein Doppelbett verwandeln. Natürlich wäre es ein bisschen beengt, aber für ein paar Tage ginge es schon.“

„Ehrlich? Du bist ein Goldschatz, John. Die drei werden ausflippen, wenn ich ihnen sage, dass sie mit nach London dürfen. Sie sind unglaubliche Harry Potter-Fans und werden uns zu jedem einzelnen Drehort in der Stadt zerren, fürchte ich. Und natürlich werden sie jeden Winkel des Towers erkunden wollen und dich unentwegt mit Fragen löchern. Sag mal, bist du sicher, dass du dir das antun willst?“

„Ich bin zu allem bereit“, versicherte er ihr. „Mir fällt gerade ein, dass Maggie in den Ferien mit Bella raus in die Leavesden-Studios will. Das wäre doch etwas für die Jungs.“

„Die Studios, in denen die Potter-Filme produziert wurden? Die drei werden im siebten Himmel sein, wenn ich ihnen davon erzähle! Sie werden die Tage zählen, bis unsere Reise losgeht.“

„Nicht nur die Jungs, Pauline, glaub mir“, meinte er mit Inbrunst.

 

John blickte zur großen Bahnhofsuhr hinauf. Der Zeiger schien sich nicht vorwärtsbewegen zu wollen. Noch fünf Minuten. Am liebsten wäre er dem Zug entgegengerannt. Stattdessen lehnte er sich an eine Säule und dachte wie schon unzählige Male in den letzten Monaten an jenen Sonntagmorgen zurück, der auf die Junggesellenversteigerung gefolgt war. Wieder überflutete ihn ein wohliges Glücksgefühl. Beim Erwachen war sein Blick geradewegs in Paulines meergrüne Augen gefallen, die ihn durch eine Strähne ihres glänzend kupferroten Haars hindurch verschlafen anblinzelten. Aus seinem Radiowecker drang Bryan Adams’ „Heaven“. John konnte sich keinen Song vorstellen, der seine Gefühle in diesem Moment besser hätte beschreiben können. Erst viel später hatte er erfahren, dass sein romantisches Idyll um ein Haar jäh gestört worden wäre.

„Ohne mein energisches Eingreifen wäre Renie an dem Morgen bei dir aufgetaucht“, hatte seine Schwester Maggie ihm kichernd geschildert. „Ich habe sie gerade noch abgefangen, als sie zur Tür hinaus wollte. Sie wollte dich mit frischen Croissants überraschen und dich dann nach allen Regeln der Kunst ausquetschen. Das Kind kennt wirklich keine Grenzen.“

John, der die unstillbare Neugier und den enormen Tatendrang seiner ältesten Nichte nur zu gut kannte, erschauerte noch im Nachhinein und war seiner Schwester zutiefst dankbar, dass sie ihm Renie vom Hals gehalten hatte. Pauline hatte am Abend desselben Tages schon wieder zurück nach York fahren müssen. Die knappen Stunden, die ihnen blieben, sollten ausschließlich ihnen beiden gehören. Was war das für ein wundervoller, großartiger, geradezu legendärer Tag gewesen … John war so versunken in seinen Tagtraum, dass er heftig zusammenfuhr, als der Zug der Central Rail mit kreischenden Bremsen vor ihm zum Stehen kam.

„John! John! Hier sind wir!“ In der Tür des zweiten Waggons stand Pauline und winkte ihm zu. Als er auf sie zueilte, bemerkte er, dass sie müde aussah. Dennoch leuchteten ihre Augen, als sie aus dem Zug kletterte und in seine Arme fiel.

John hätte gut und gerne noch ein paar Stunden so zubringen können, aber irgendwann drang ein drängendes Wispern an sein Ohr.

„Justin! Lass das.“

„Ich will aber zu Gleis 9 ¾! Jetzt sofort!“

„Genau. Die knutschen ja ewig. Wisst ihr was? Wir gehen einfach allein los.“

„Spinnst du, Neil? Mum hat gesagt, wir müssen uns benehmen –“

Nun hatte auch Pauline den Wortwechsel mitbekommen. Mit einem bedauernden Lächeln löste sie sich aus der Umarmung und wandte sich zu ihren Neffen um.

„Lasst uns schnell das Gepäck ausladen“, sie stutzte, „Oh, ihr habt das ja schon erledigt. Äh, gut. Dann begrüßt unseren Gastgeber. Ihr habt ihn ja schon beim Clanfestival kennengelernt.“

Der älteste der Jungen – Barry, wie John sich erinnern konnte – hochaufgeschossen und mit ernstem Blick, trat nach vorn und streckte John die Hand entgegen.

„Mr. Mackenzie, wir bedanken uns vielmals, dass Sie uns eingeladen haben. Unsere Mutter hat uns etwas für Sie mitgegeben.“

Neben einer großen Schachtel Godiva-Pralinen zog er ein Paar flauschiger Wollsocken aus seinem Rucksack, in die etwas eingestickt war. John erkannte den Wahlspruch des Mackenzie-Clans, Luceo, non uro – Ich brenne nicht, ich leuchte.

„Die hat Mummy selbst gestrickt. Aus unserer schottischen Schafwolle“, berichtete Neil, der mittlere der Jungen stolz.

John bedankte sich feierlich und schüttelte Paulines Neffen nacheinander die Hand. „Bitte nennt mich einfach John. Ich freue mich, euch hierzuhaben. Und jetzt lasst uns zu Gleis 9 ¾ gehen.“

Neil und der kleine Justin brachen in Freudengeheul aus, während Barry sich bemühte, sich nicht zu so kindlichem Überschwang hinreißen zu lassen.

„Vergesst nicht eure Rucksäcke“, mahnte er seine Brüder. „Neil, deinen Rollkoffer kannst du selbst ziehen, den von Justin nehme ich.“ Die beiden verdrehten die Augen, taten aber, wie ihnen geheißen. Während sie den Bahnsteig entlanggingen, fragte Neil eifrig, „John, wusstest du, dass JK ihre ersten Ideen für Harry Potter in einem Zug schrieb, der genau hier in King’s Cross endete?“

John verneinte. Barry setzte gewichtig hinzu, „Sie kam gerade aus Manchester, wo sie damals lebte. Der Zug hatte Verspätung und so hatte sie Muße, etwas aufs Papier zu bringen.“

Neil stieß John mit dem Ellbogen in die Seite. „Er ist so ein Klugscheißer, echt. Immer meint er, er weiß alles am besten.“

„So ist es auch, du Wicht“, konterte Barry. Neil plusterte sich erbost auf. In diesem Augenblick erspähte Justin das Schild, das den Bahnsteig des Hogwarts Express-Zugs kennzeichnete, mit dem davor montierten halben Gepäckwagen, der quasi in der Wand verschwand.

„Wow! Cool! Schaut mal!“

„Boah, da kann man Fotos machen, voll in Verkleidung! Los, hin!“, rief Neil entzückt. Pauline aber runzelte die Stirn.

„Seht ihr diese Warteschlange? Da stehen wir ja ewig. Ich würde vorschlagen, wir fahren jetzt zum Tower und dann können wir ja in den nächsten Tagen schauen, ob wir nochmal hierherkommen –“ Dreistimmiges Protestgejaule erklang. John hob lachend die Hände.

„Wisst ihr was, Jungs? Pauline und ich stellen uns an und ihr könnt einstweilen in den Shop gehen. Das Gepäck könnt ihr bei uns lassen. Wir geben euch Bescheid, sobald ihr dran seid.“

Die Jungen verschwanden so schnell, als wären sie disappariert. Pauline lächelte breit. „Sie lieben dich jetzt schon.“

John grinste zurück. „Die drei sind ja leicht glücklich zu machen. Ich hätte eigentlich gar nicht gedacht, dass Harry Potter bei Kindern heute noch so hoch im Kurs steht. Als der letzte Roman erschien, war Justin noch gar nicht geboren.“

„Das stimmt, aber da JK Rowling in Edinburgh lebt, wird sie dort oben bis heute besonders verehrt. Du weißt ja, dass meine Familie in North Berwick zuhause ist. Von dort sind es nur gute zwanzig Meilen nach Edinburgh, so dass es bei uns in der Gegend eine eingeschworene Potter-Fangemeinde gibt – und zu der gehören beileibe nicht nur Kinder. Ich selbst habe die Bücher auch verschlungen“, gestand sie.

„An mir ist der Hype damals ziemlich vorbeigegangen. Es waren die Jahre, als ich im Auslandseinsatz war. Allerdings habe ich da durchaus junge Soldaten kennengelernt, die sich in einer ruhigen Minute gern mit dem jeweils neuesten Band in die Welt von Hogwarts zurückgezogen haben.“ Die Warteschlange bewegte sich einen halben Schritt vorwärts.

„Der größte Fan der Serie, den ich bisher kannte, ist allerdings Renie. Ich kann mich an einen Brief von ihr erinnern, in dem sie mir seitenlang beschrieb, wie sie am Leicester Square kampierte, um bei der Weltpremiere eines der Filme dabei zu sein. Sie muss damals etwa sechzehn oder siebzehn gewesen sein. Ich weiß noch, dass es an dem Abend wie aus Kübeln gegossen haben muss, aber sie harrte unverdrossen aus und schaffte es dann sogar, etliche Autogramme von den Schauspielern zu ergattern.“

„Autogramme? Hat sie am Ende sogar eins von … Emma Watson?“ Barrys Stimme kiekste um eine Oktave nach oben, als er den Namen der Schauspielerin aussprach. Mit seinen offensichtlich widerstrebenden Brüdern im Schlepptau war er wieder aus dem Laden aufgetaucht.

John zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht. Aber du kannst Renie selbst fragen. Ihr werdet sie in den nächsten Tagen sicher einmal treffen.“

„Barry ist total verknallt in Emma Watson. Dabei ist sie viel zu alt für ihn – aua!“, jaulte Neil auf, als sein großer Bruder ihn in den Oberarm knuffte.

„Quatsch nicht so blöd rum“, knurrte Barry, der rot angelaufen war.

„Tante Pauline! Barry hat mir wehgetan.“ Unter theatralischem Wehklagen rieb Neil sich den Arm. „Außerdem will er mir nichts von seinem Geld leihen, damit ich mir Voldemorts Zauberstab kaufen kann. Und einen Slytherin-Schal.“

„Slytherin! Du bist eine Schande für diese Familie“, erregte Barry sich.

„Ich will die Schokoladenfrösche. Und Bertie Botts Bohnen!“, krähte Justin. „Tante Pauline, kann ich was von meinem Geld haben?“

Barry schlug sich an die Stirn. „Du willst doch nicht ein Heidengeld für ein paar Süßigkeiten ausgeben, die du in kürzester Zeit aufgefuttert hast, Justin! Das ist doch … totaler Mumpitz, wie Grandpa jetzt sagen würde.“

Neil krakeelte, „Mumpitz!“ und wollte sich vor Lachen ausschütten.

Justin stemmte die Hände in die Hüften und funkelte die beiden Größeren an. „Pff, Mumpitz. Mummy hat gesagt, ich darf dreißig Pfund ausgeben und ich darf ganz allein entscheiden, was ich mir dafür kaufen will. Das hat sie gesagt, oder nicht, Tante Pauline?“

„Wir sind gleich dran“, ergriff John eilig das Wort. „Wie wäre es, wenn wir jetzt die Fotos machen und ihr euch hinterher überlegt, ob ihr wirklich gleich hier etwas kaufen wollt. Vielleicht solltet ihr euch bis übermorgen gedulden. Ich habe mir sagen lassen, dass es in den Leavesden-Studios einen noch viel größeren Harry Potter-Laden geben soll.“

„Echt?“ Neil riss die Augen auf. „Hmm … dann warte ich lieber noch.“

„Ich will aber jetzt was Süßes. Wenigstens eine Tüte bunte Nacktschnecken“, schmollte Justin.

„Ich bin sicher, diese Nacktschnecken schmecken ganz köstlich“, meinte John ernsthaft zu dem Kleinen. „Es wäre allerdings schade, wenn du dir den Appetit verderben würdest. Zum Abendessen gibt es Pizza und als Nachspeise Muffins.“

Justins Blick hellte sich auf, dennoch fragte er kritisch nach, „Mit Schoko?“

John nickte, froh, dass er sich von Maggie das Rezept ihrer legendären Triple Chocolate Muffins hatte geben lassen. Justin strahlte und wandte sich endgültig von der verlockenden Schaufensterauslage des Shops ab.

„Mein Held“, raunte Pauline John ins Ohr und schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln. Die lärmige Bahnhofshalle, der Geruch nach Fast Food, die drängelnden Touristen in der Warteschlange – mit einem Mal schwand alles aus Johns Bewusstsein. Er legte die Arme um sie und zog sie an sich. Der glückselige Augenblick war jedoch nur von kurzer Dauer.

„Tante Pauline? Machst du Bilder von uns? Die haben hier auch einen eigenen Fotografen, falls du zu beschäftigt bist …“

Barry stand vor ihnen, angetan mit einem langen rot-goldenen Schal und einem schwarzen Umhang. Er musterte die beiden Erwachsenen mit einem leichten Stirnrunzeln. Neil, in einem grün-silbern gemusterten Schal, setzte hinzu, „Ein Foto kostet nur zehn Pfund.“

„Zehn Pfund? In dem Fall bin ich nicht zu beschäftigt.“ Pauline zog eilig eine kleine Kamera aus der Manteltasche und machte sich daran, die Jungen zu knipsen.

 

Als John ein paar Dutzend Aufnahmen später – auch er hatte sich zur Freude der Jungen breitschlagen lassen, gemeinsam mit Pauline im Zauberer-Outfit zu posieren – das Gepäck seiner Besucher in den Kofferraum wuchtete, hörte er, wie Barry beim Einsteigen seinem jüngeren Bruder zuzischte, „Mann, die beiden sind ja ganz schön peinlich.“

Neil kicherte und ahmte einen schmatzenden Kuss nach. „Echt krass, wenn alte Leute sich so aufführen.“

John verbiss sich mit Mühe ein Lachen und öffnete Pauline galant die Autotür. Er hatte sich extra den Wagen des Ravenmasters George Campbell ausgeliehen, um seine Besucher bequem zum Tower zu chauffieren. Kaum hatten sie die Parkbucht verlassen, ließ Justin sich vernehmen, „Ich muss aufs Klo.“

„Wir müssten in gut zwanzig Minuten da sein. Hältst du es solange aus?“, fragte John mit einem besorgten Blick zur Rückbank.

„Weiß nicht“, kam es zurück. In diesem Moment meldete der Verkehrsfunk, „Unfall auf der A501, Staulänge zwei Meilen.“ Damit war die schnellste Verbindung in Richtung Tower dicht. Seufzend bog John nach Süden ab. Sie passierten das Universitätsgelände der London School of Economics und John ordnete sich links ein, als Barry auf das Australia House deutete und ausrief, „Gringotts! Da vorn!“

„Halt an, John! Das müssen wir uns ansehen!“ Neil drückte sich förmlich die Nase an der Seitenscheibe platt.

„Das geht hier nicht, Jungs, tut mir leid. Wir sind auf einer Hauptverkehrsstraße unterwegs“, beschied ihm John und murmelte zu Pauline auf dem Beifahrersitz hinüber, „Was ist überhaupt dieses Gringotts?“

Bevor sie antworten konnte, kam prompt vom Rücksitz, „Oh Mann, das weiß doch jeder Id-“, dann war ein Aufjaulen zu hören und Neil verstummte. Während sie sich in der abendlichen Rush Hour langsam die Fleet Street entlangbewegten, belehrte Barry John in epischer Breite über die Zaubererbank, bis diesem der Kopf vor Galleonen, Verliesen und Kobolden schwirrte.

Schließlich erreichten sie die Straßenschluchten der City mit ihren hochaufragenden Bürotürmen und er musste sich konzentrieren, um angesichts der vielen Einbahnregelungen nicht den Überblick zu verlieren. Seit er nach England zurückgekehrt war, hatte er sich beharrlich geweigert ein Auto zu kaufen. In einer Metropole wie London erschien ihm ein eigenes Fahrzeug sinnlos. Viel lieber ging er zu Fuß oder nahm die U-Bahn. An dieser Einstellung würde sich nach dem heutigen Abend mit Sicherheit nichts ändern.

„Sind wir endlich da?“, quengelte Justin. „Ich muss jetzt echt mal.“

„Nur noch ein paar Minuten“, versprach John und bog in die Leadenhall Street ein.

Da quiekte Neil begeistert auf. „Oh, schaut mal! Ist da Leadenhall Market?“, fragte er aufgeregt.

„Ja, das ist ein Stück rechts die Straße runter.“

„Das ist im Film die Winkelgasse, wo Harry seine Zauberutensilien kauft“, erklärte Barry. „Können wir dahin? Bitte?“

„Jetzt nicht, Jungs. Ich gehe mit euch in den nächsten Tagen überall hin, wo ihr hinwollt, aber jetzt fahren wir in den Tower“, sprach Pauline zu Johns Erleichterung ein Machtwort.

„Aber dann gleich morgen, ja?“, bettelte Neil.

„Das wird nicht gehen, Jungs. Für morgen steht ein Besuch im Zoo auf dem Programm. Ich habe mit meiner Schwester vereinbart, dass wir zusammen mit ihr und meiner Nichte Bella hingehen“, sagte John. Im Rückspiegel konnte er sehen, dass die Begeisterung der Jungen sich in Grenzen hielt.

„Über einen Bekannten, der im Tropenhaus arbeitet, konnte ich ein „Meet and Greet“ mit den Regenwaldtieren arrangieren. Wir dürfen hinter die Kulissen und die Tiere ganz aus der Nähe kennenlernen“, verkündete er stolz.

Bella, zu deren absoluten Lieblingstieren seit jeher Faultiere gehörten, hatte mit einem Luftsprung und einem markerschütternden Jubelschrei reagiert, als er ihr davon erzählt hatte. Von den drei Jungen zeigte allenfalls Justin mehr als mildes Interesse – bis Barry plötzlich einfiel, „Warte mal – der Londoner Zoo? Mensch, im Reptilienhaus dort wurde Harrys Begegnung mit der Python gedreht. Cool! Da müssen wir hin!“

John beschlich das Gefühl, dass dieser Harry Potter sich in den nächsten Tagen noch als ausgeprägte Nervensäge erweisen würde.

 

Wenig später erreichten sie die Tiefgarage, welche die Beefeater und ihre Familien für ihre Autos nutzten. Auf kürzestem Weg geleitete John seine Gäste zu seiner Wohnung am Tower Green.

Nachdem Justin mit einem Ausdruck grenzenloser Erleichterung wieder aus der Toilette aufgetaucht war – nur, um von Pauline postwendend wieder zum Händewaschen zurückgeschickt zu werden – gesellte er sich zu seinen Brüdern, die den Ausblick aus dem Küchenfenster bewunderten. In der Dämmerung strahlte der mächtige beleuchtete White Tower vor den umgebenden Festungswällen. Zwei von Johns Kollegen, in voller Montur, traten soeben aus dem Wachhäuschen und marschierten über den Innenhof. Barry hob seinen kleinen Bruder, der nicht über die Pflanzen auf dem Fensterbrett hinübersehen konnte, hoch.

„Ist das cool!“, kommentierte Justin ergriffen. „Eine richtige Burg. Gibt’s hier Ritter?“ Er blickte enttäuscht drein, als John verneinte.

„Geister?“

„Ich habe noch keinen getroffen“, meinte John bedauernd.

„Wenigstens eine Folterkammer?“, kam es hoffnungsvoll von Neil.

John nickte. „Im Wakefield Tower haben wir eine Ausstellung darüber, wie die Gefangenschaft hier in unseren Mauern aussehen konnte. Da gibt es auch Nachbildungen von einigen Folterinstrumenten.“

In diesem Augenblick schwirrte etwas vor dem Fenster und gleich darauf klopfte es an die Scheibe. Die Jungen fuhren zurück. John lächelte und bedeutete ihnen, zur Seite zu gehen. Dann nahm er einen der Blumentöpfe vom Fensterbrett, stellte ihn auf den Küchentisch und öffnete einen Fensterflügel. Draußen hockte ein Rabe. Mit schräg gelegtem Kopf lugte er in die Küche.

„Hallo, Gworran“, begrüßte John ihn und strich sanft über das glänzend schwarze Gefieder. Die Jungen drängten heran.

„Das ist also einer der berühmten Tower-Raben.“ Barry musterte den Vogel fachmännisch. „Er gehört zur Art Corvus Corax, nicht wahr? Nicht mein Spezialgebiet, aber ich habe einiges über sie gelesen. Wenn ich mir die verlängerten Kehlfedern und die Farbe des Auges betrachte, würde ich sagen, es ist ein adultes Tier, mindestens drei Jahre alt.“

„Bravo“, meinte John anerkennend, „Gworran ist tatsächlich ein Kolkrabe, dreieinhalb Jahre alt und er hat sein Erwachsenenfederkleid seit letztem Herbst. Du kennst dich gut aus, Barry.“

Barry lächelte geschmeichelt, während Neil theatralisch die Augen verdrehte und seinen Bruder nachäffte, „Ich würde sagen, es ist ein adultes Tier – blablabla. Pass bloß auf, John, sonst textet unser Professor Oberschlau dich total zu.“

John konnte sich lebhaft an den Ausflug erinnern, den sie vor bald zwei Jahren gemeinsam zu einem Vogelschutzzentrum an der schottischen Küste gemacht hatten, in dem Barry im Juniorteam der Ehrenamtlichen engagiert war. Der Junge hatte ihn damals in erschöpfender Breite über jedes Detail im Leben des Basstölpels aufgeklärt.

„Barry hat dieses Jahr einen Nachwuchsforscherpreis des Nationalen Vogelschutzbundes gewonnen“, berichtete Pauline stolz.

„Donnerwetter. Gratulation. Wenn du möchtest, könnten wir sicher arrangieren, dass du in den nächsten Tagen Mike Nichols treffen kannst. Er ist Vogelforscher am Naturhistorischen Museum und ein guter Freund von mir“, schlug John vor.

„Oh, das wäre sicher interessant, danke, John“, erwiderte Barry überrascht.

„Darf ich den Vogel auch mal streicheln?“, fragte Justin.

John schüttelte den Kopf. „Von Fremden lässt er sich nicht anfassen. Er könnte nach dir hacken und so ein Rabenschnabel kann tiefe Wunden schlagen. Sieh her.“ Er wies auf die zwei mittlerweile verblassten Narben auf seinem linken Handrücken. „Aber wir können ihm eine Weintraube geben. Die mag er gerne und damit bringen wir auch seinen Menüplan nicht durcheinander.“

„Menüplan? Wozu braucht ein Rabe einen Menüplan?“, fragte Neil belustigt.

„Jedes unserer neun Tiere wird nach genauen Vorgaben gefüttert, die unser Ravenmaster George Campbell aufstellt. So bleiben sie fit und gesund. Das kann man schon daran sehen, dass unsere Raben oft ein sehr hohes Alter erreichen. Unser ältestes Tier wurde immerhin vierundvierzig Jahre alt.“

„Vierundvierzig! So alt ist ja nicht mal Mummy.“ Neil war beeindruckt.

John grinste und fuhr fort, „Unser Gworran hier bekommt täglich 170 Gramm rohes Fleisch, dazu einmal pro Woche ein gekochtes Ei und zudem noch ein spezielles Trockenfutter, das wir in Tierblut einweichen. Und gelegentlich kann er auch mal einen zusätzlichen Leckerbissen haben.“ Er reichte Gworran eine grüne Traube. Zum Dank ließ der Vogel eine Trompetenfanfare hören, hopste dann vom Fensterbrett und schritt majestätisch über das Tower Green davon. Fasziniert starrten die Jungen ihm nach.

„Ich habe schon gewusst, dass Raben Geräusche nachahmen können, aber dass das so echt klingt, hätte ich nicht gedacht“, meinte Barry.

„Gworran hat ein besonderes Talent dafür. Bisher habe ich wohl über fünfzig verschiedene Laute von ihm gehört. Er kann bellen, pfeifen, rülpsen …“ Die Jungen kicherten.

John kam eine Idee. „Sagt mal, wollt ihr vielleicht dem Rabenhaus einen Besuch abstatten, während eure Tante und ich die Pizza vorbereiten? Es ist allmählich Zeit für die Abendfütterung der Vögel. Unser Ravenmaster zeigt euch gerne alles –“ Weiter kam John nicht, da Barry, Neil und Justin schon zur Wohnungstür gestürmt waren. Er zwinkerte Pauline zu. „Ich bin gleich wieder da.“

Wenige Minuten später zog er aufatmend die Tür des Rabenhauses hinter sich zu. George Campbell war sichtlich von den drei vogelbegeisterten Besuchern aus seiner schottischen Heimat angetan und hatte sich mit Freuden bereit erklärt, sie für eine Weile unter seine Fittiche zu nehmen. Im erleuchteten Küchenfenster konnte John Paulines Silhouette erkennen. Mit einer für einen Königlichen Beefeater ganz unziemlichen Hast begab er sich zurück in seine Wohnung.

Kapitel 2

 

Als John am nächsten Morgen erwachte, durchzog ein verführerischer Duft nach frischen Pancakes seine Wohnung. Hmm. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Paulines Pancakes waren unvergleichlich, luftig, locker und nicht zu süß. Dazu noch einen Schuss Ahornsirup … Er sprang aus dem Bett, warf sich einen Morgenrock über und eilte beschwingt ins Bad.

„Guten Morgen, John“, tönte es ihm entgegen, als er die Küche betrat. Pauline und ihre Neffen saßen am Tisch und waren gerade dabei, sich über einen stattlichen Stapel der dicken Pfannkuchen herzumachen.

„Guten Morgen allerseits“, erwiderte er gutgelaunt und gab Pauline einen Kuss. Sie schenkte ihm aus der bereitstehenden Kanne frisch gebrühten Tee ein und gab ein Stück braunen Zucker hinein. John nahm einen Schluck, zog die Augenbrauen überrascht nach oben und trank noch einmal.

„Der hat ein wunderbares Aroma. Aber …“ Sein Blick schweifte zum Küchenschrank, wo er seine Vorratsdosen mit Tee aufbewahrte, darunter wohl mehr als ein halbes Dutzend Darjeelings.

Pauline beobachtete ihn amüsiert. „Du überlegst wohl, welche deiner Sorten das sein könnte? Gar keine, mein Schatz. Die habe ich dir mitgebracht. In dem Bioladen in York, wo ich oft einkaufe, gibt es neuerdings ein Sortiment an organischen Tees. Dies ist ein Darjeeling Avongrove Second Flush. Freut mich, dass er dir schmeckt.“

„Das ist etwas ganz Besonderes, wirklich. Genau wie du.“ Er sah ihr über den Rand der Teetasse tief in die Augen.

„Jetzt geht das schon wieder los“, murmelte Barry seinen Brüdern zu. Laut sagte er gleich darauf, „Die Pancakes werden kalt. Probier mal einen, John.“

„Natürlich, sehr gern. Eure Tante macht die besten Pancakes überhaupt.“ John schob sich einen Bissen in den Mund und meinte dann mit einem zufriedenen Seufzer. „Hmm, perfekt. Ich fühle mich wie Gott in Frankreich, wenn du mich so verwöhnst, Pauline.“

Die drei Jungen kicherten und auch Pauline grinste. „Zu deiner Information: Die Pancakes hat Barry gemacht.“

Erstaunt riss er die Augen auf. „Ehrlich? Sie schmecken genauso wie die, die du in York für mich gemacht hast.“

„Das liegt daran, dass das unser Familienrezept ist.“ Sie beugte sich zu Barry hinüber und zauste ihm liebevoll das Haar. „Wie man sieht, beherrscht die nächste Generation es ebenfalls schon.“

Der Junge lächelte geschmeichelt.

„Ich schaffe es bis heute nicht, die Dinger so luftig und locker hinzubekommen“, bekannte John. „Da bist du mir um Längen voraus, Barry – und das in deinem Alter, wirklich bemerkenswert.“

„Mummy hat uns schon viele Sachen beigebracht. Ich kann Spiegeleier mit Speck“, brüstete sich Neil.

„Und ich kann mir schon ganz allein mein Brot schmieren“, verkündete Justin.

Pauline lächelte. „Ihr drei seid eurer Mutter wirklich eine riesige Hilfe. In den letzten Monaten seid ihr richtig selbstständig geworden. Das ist großartig.“

„Grandma ist nicht mehr selbstständig“, stellte Neil sachlich fest. „Kürzlich hat sie sogar die Haftcreme von Grandpas Gebiss mit ihrer Augensalbe verwechselt. Wenn Grandpa es nicht rechtzeitig gemerkt hätte, wären ihr voll die Augenlider zugepappt.“

„Zugepappt!“, krähte Justin fröhlich. „Ich hab mir beim Basteln auch mal die Finger zusammengeklebt. Das war lustig.“

Pauline seufzte leise. „Ich weiß bei Mum ehrlich manchmal nicht mehr, ob ich weinen oder lachen soll …“ Es klingelte an der Haustür.

John drückte wortlos ihre Hand und ging hinaus. Draußen stand Michael Conners, einer seiner Beefeaterkollegen. Dieser zog schwungvoll seinen hohen Hut und verneigte sich.

„Werter John, zwei holde Maiden möchten Euch ihre Aufwartung machen. Ich darf Euch ankündigen: Die hochwohlgeborene Lady Margaret aus dem Geschlecht der Hughes und ihre überaus liebreizende Tochter Bella.“

Johns Nichte kicherte los, während ihre Mutter ein huldvolles Lächeln aufsetzte und meinte, „Ritter Michael, unser höchster Dank für Euer Geleit ist Euch gewiss. Ihr dürft Euch entfernen.“

„Sehr wohl, Mylady. Solltet Ihr je einen tapferen Recken benötigen, der für Euch einen Drachen erlegt – Ihr wisst, wo Ihr mich findet.“ Mit großer Geste zog Conners seinen Hut vor Maggie, blinzelte ihr vielsagend zu und schritt davon.

Maggie schüttelte lachend den Kopf. „Ein verrückter Kerl, dieser Michael.“

„Seit er sich der Truppe angeschlossen hat, die drüben im Lanthorn Tower historische Szenen aufführt, kommt er aus dem Mittelalterjargon gar nicht mehr heraus“, erwiderte John und umarmte seine Schwester. Bella, die ihm noch vor einem halben Jahr ungestüm in die Arme gesprungen war, aber nun das reife Alter von elfeinhalb erreicht hatte, gab ihm geziert einen Kuss auf die Wange.

Maggie warf einen betonten Blick auf ihre Uhr und dann auf Johns Morgenmantel. „Wollten wir nicht um neun hier losziehen?“

„Uh, Major Maggie bläst zum Appell“, neckte John seine Schwester mit ihrem verhassten Spitznamen und schob sie in die Küche. „Nun begrüßt erstmal Pauline und die Jungs und setzt euch. Ein zweiter Pancake wird mir wohl noch vergönnt sein, bevor wir gehen –“ In diesem Moment klingelte das Telefon im Flur und John ging grummelnd hinaus, während die Frauen einander herzlich begrüßten.

 

„John, mein Junge“, begrüßte seine Mutter ihn in leidendem Ton. John atmete tief durch und setzte sich auf den kleinen Hocker neben der Garderobe.

„Guten Morgen, Mum. Was gibts, ist alles in Ordnung?“

„In Ordnung? In Ordnung, fragst du mich? Was soll in Ordnung sein, wenn –“

John ahnte die nächsten Worte seiner Mutter mit derselben tödlichen Sicherheit voraus wie Bill Murray alias Phil Connors stets im Voraus wusste, dass Murmeltier Punxsutawney Phil seinen Schatten sehen, ein Restaurantbesucher sich verschlucken und ein Schneesturm heraufziehen würde.

„Wenn mich mein Ehemann nach bald fünfzig Jahren Ehe schmählich im Stich lässt“, murmelte er unhörbar.

„Wenn mich mein Ehemann nach bald fünfzig Jahren Ehe schmählich im Stich lässt!“, tönte es aus dem Hörer, so wie bei jedem Anruf von Emmeline Mackenzie in den letzten Wochen. Für gewöhnlich hörte er ihr geduldig zu, aber heute wollte er nichts anderes, als in seine gemütliche Küche zurückzukehren, aus der Gelächter und Geschirrklappern drang und sich einen zweiten Pfannkuchen einzuverleiben.

„Mum, bitte“, unterbrach er ihre Tiraden. „Dad ist schließlich nicht zum Spaß in Schottland. Er ist hingefahren, um Tante Isabel nach ihrem Sturz auf der Farm zu unterstützen, das weißt du genau.“

Die greise, aber immer noch äußerst rührige Patriarchin des Mackenzie-Clans, die in den Highlands eine große Schaffarm führte, hatte sich im März ein Bein gebrochen. Die Ärzte ergingen sich daraufhin in düsteren Prophezeiungen, dass eine Frau, welche die Neunzig längst hinter sich gelassen hatte, sich davon nie wieder erholen und als Pflegefall enden würde. Isabel jedoch, erst wenige Monate zuvor von der Queen höchstpersönlich zur Dame Commander des Britischen Königreichs geschlagen, strafte alle Fachleute Lügen. Mit unbändigem Willen stürzte sie sich in ein Trainingsprogramm, um möglichst schnell wieder auf die Beine zu kommen. James Mackenzie, der sich zu Recht sorgte, seine Tante würde sich zu viel zumuten, war eilends nach Schottland gereist.

„Man würde doch meinen, die gnädige Dame Isabel hätte genügend Lakaien, die ihr mit ihren blöden Viechern zur Hand gehen könnten. Aber geizig, wie die Schotten nun mal sind, spart Isabel sich bezahlte Arbeitskräfte und beutet stattdessen lieber meinen James aus“, wetterte Emmeline weiter.

„Aber, Mum –“, wandte er ein, doch seine Mutter ließ sich nicht unterbrechen.

„Dabei ist es ihr völlig egal, dass ich hier mutterseelenallein sitze und halb Kew schon denkt, ich wäre eine verlassene Ehefrau. Sie werfen mir schon mitleidige Blicke hinterher, das spüre ich genau –“

„Du hättest ja mitfahren können. Dad hätte sich gefreut, wenn du ihn begleitet hättest“, warf John ein.

„Hah! Da hinauf! Zu diesen … Hinterwäldlern! Da bringen mich keine zehn Pferde hinauf. Und dann noch unter einem Dach mit dieser …“

Während sie noch nach einem Kraftausdruck suchte, räusperte John sich vernehmlich und meinte energisch, „Mum, ich möchte jetzt mit meinem Besuch frühstücken. Du weißt ja, dass Pauline und ihre Neffen hier sind.“

„Ja, natürlich. Deswegen rufe ich ja an. Ich dachte, ihr könntet einen schönen Ausflug heraus nach Kew machen. Die Jungen würden sicher gern die Königlichen Gärten sehen und du könntest mir dabei helfen, den Kompost umzusetzen. Ich möchte möglichst bald Kürbis darauf pflanzen. Wenn ich das nicht in den nächsten Tagen mache, wird die Wachstumsperiode zu kurz und Jane Argyll gewinnt dieses Jahr wieder die blaue Schärpe für den größten Kürbis. Das wäre unerträglich, eine Schmach!“

Aargh. Nun hatte John endgültig genug.

„Ich denke, in eurem Gartenbauverein gibt es bestimmt jemanden, der dir dabei zur Hand geht. Du bist doch eine Meisterin im Organisieren, Mum. Es dürfte dir ein Leichtes sein, einen Arbeitstrupp auf die Beine zu stellen. Und jetzt entschuldige mich. Maggie und Bella sind schon hier. Wir gehen alle zusammen in den Zoo. Ich wünsche dir einen schönen Tag.“

Damit legte er entschlossen auf – nur um gleich darauf von einem Anflug schlechten Gewissens geplagt zu werden. Dieser verschwand postwendend, als er bei seiner Rückkehr in die Küche mit ansehen musste, wie der letzte Bissen Pancake soeben in Maggies Mund verschwand.

 

Eine Stunde später entstiegen John, Pauline, Maggie und die vier Kinder aufatmend der Northern Line. Die U-Bahn nach Camden Town war zum Bersten voll gewesen und so hatten sie während der ganzen Fahrt stehen müssen. Auf Johns Frage, „Laufen wir das Stück zum Zoo oder nehmen wir den Bus?“, votierten Bella und die drei Jungen einmütig für letzteres und ließen sich erleichtert in die Sitze plumpsen. John stellte den Rucksack ab, den er zum Bersten mit Getränken, Sandwiches und den restlichen Schokoladenmuffins vollgepackt hatte. Während sie zum nördlichen Ende des Regent’s Parks fuhren, wo der Zooeingang lag, deutete Maggie aus dem Fenster.

„Da vorn ist das Gebäude der Zoologischen Gesellschaft von London. Renie ist heute Vormittag dort. Wenn sie es einrichten kann, trifft sie uns später im Zoo.“

Pauline blickte auf den wenig einladend wirkenden Betonbau, an dem einige Leute gerade ein großes Banner mit der Aufschrift Internationale Artenschutzkonferenz: Perspektiven im Spannungsfeld zwischen Natur- und Klimaschutz befestigten und erkundigte sich, „Was macht Renie dort? Schreibt sie einen Artikel über diese Tagung?“

Maggie schüttelte den Kopf. „Sie arbeitet im Organisationskomitee mit. Der Guardian zählt zu den Sponsoren der Veranstaltung und hat sie extra abgestellt, weil sie für das Wissenschaftsressort arbeitet und dazu Erfahrung im Eventmanagement hat.“

„Ich kann mir vorstellen, dass so etwas genau die richtige Aufgabe für Renie ist“, meinte Pauline lächelnd.

Maggie wog unentschlossen den Kopf. „Im Grunde ja. Natürlich ist sie in ihrem Element, wenn sie etwas organisieren soll. Die Thematik der Konferenz ist hochaktuell, sogar politisch brisant, also wird es viel mediale Aufmerksamkeit geben. Es werden hochkarätige Fachleute und Politiker kommen und sogar unser Thronfolger, der sich ja schon immer für den Naturschutz engagiert hat. Alles in allem also ein wirklich bedeutendes Event, bei dem sie hautnah mit dabei sein kann, aber … ich mache mir ehrlichgesagt Sorgen um sie. Ich habe das Gefühl, sie lässt sich von ihren Vorgesetzten gnadenlos verheizen. Ihr Vertrag beim Guardian sieht eine Wochenarbeitszeit von zwanzig Stunden vor, tatsächlich ist sie aber fast nonstop im Einsatz. Renie hat zwar wahnsinnig viel Energie, aber irgendwann muss es auch ihr zu viel werden.“

Pauline runzelte die Stirn. „Warum lässt sie sich das gefallen?“

„Nun ja, natürlich ist es eine großartige Chance für sie, bei einer so renommierten Zeitung arbeiten zu können. Noch dazu als Quereinsteigerin“, meinte Maggie.

Renie hatte sich nach ihrem Schulabschluss jahrelang nicht auf einen Beruf festlegen können und eine Menge ausprobiert. Im vergangenen Herbst hatte sie ihrer Familie verkündet, sie hätte nun ihren Traumberuf gefunden: Journalistin. Während sie an ihrer Bewerbung für einen der begehrten Studienplätze an der City University feilte, wollte sie vorerst bei ihrem Job in der Presseabteilung des Naturhistorischen Museums bleiben. Dann jedoch hatte sie ganz unvermutet die Gelegenheit bekommen, beim Guardian als Trainee einzusteigen. Dafür verantwortlich gewesen war der damalige Ressortleiter, der Renie mit viel Herzblut gefördert hatte.

„Mark Taylor …“, murmelte Maggie. „Ich weiß immer noch nicht, ob ich ihm dankbar sein soll, dass er Renie so viele Türen geöffnet hat oder ihn verfluchen soll, weil er sie in das größte Gefühlschaos ihres Lebens gestürzt hat.“

Renie hatte sich letztes Jahr innerhalb kürzester Zeit Hals über Kopf in den weltgewandten und attraktiven Mittvierziger verliebt und sich von ihrem damaligen Freund Geoff Tomlinson getrennt – zum großen Leidwesen ihrer Eltern, die in dem jungen Wissenschaftler den idealen Schwiegersohn-Kandidaten gesehen hatten. Auch John hatte den Biologen, der am Naturhistorischen Museum arbeitete, ins Herz geschlossen. Mit seiner ruhigen und überlegten Art hatte er einen guten Gegenpart zu Renies impulsiver Natur gebildet.

Ebenso wie der Rest der Familie war John nur zu bereit gewesen, Mark Taylor in der Rolle des gewissenlosen Schufts zu sehen, der sich nach dem bekannten Muster „Erfolgreicher Mann mittleren Alters auf der Jagd nach neuen Eroberungen nutzt naive Praktikantin aus“ an Renie herangemacht hatte. Nachdem er den Journalisten ein wenig kennengelernt hatte, kam er jedoch zu dem Schluss, dass diese Rolle zu Taylor nicht passte.

 

„Sieh her!“ Triumphierend hatte Renie ihm nach jener denkwürdigen Junggesellenversteigerung in Kew eines der Londoner Klatschblätter unter die Nase gehalten. Unter der Überschrift Top-Journalist als Objekt der Begierde – Folk-Star Kyla Macphersonzahlt 3000 Pfund! Doch der Funke springt nicht über … prangten mehrere Fotos. Eines zeigte die kapriziöse schottische Sängerin auf der Bühne der O2-Arena, ein weiteres Kyla und Mark Taylor in einem angesagten Club, das letzte schließlich Mark allein beim Verlassen eines Londoner Luxushotels.

„Wie unserem Lokalreporter zugetragen wurde, tauchte Musikstar Kyla Macpherson undercover auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Kew auf“, las Renie vor. „Die Sängerin, die derzeit zu Konzerten in London weilt, war offenbar auf der Suche nach einer Begleitung für eine heiße Partynacht. Es gelang ihr, einen der bekanntesten Journalisten des Landes zu ersteigern: Mark Taylor vom Guardian. Die beiden wurden in der Nacht an verschiedenen Locations gesichtet und kehrten schließlich zu später Stunde in Kyla Macphersons Fünf-Sterne-Domizil zurück. Jedoch verließ Mr. Taylor wenige Minuten, nachdem beide das Hotel betreten hatten, das Gebäude wieder. Unbestätigten Augenzeugenberichten zufolge begab Ms. Macpherson sich danach in die Bar des Hotels, wo sie dem Vernehmen nach für erhebliche Umsätze sorgte.“ Sie ließ die Zeitung sinken.

„Mark hat es geschafft, Kylas Avancen zu widerstehen. Reife Leistung, was? Schließlich sind schon ganz andere Leute den Reizen dieser schottischen Sirene erlegen.“ Sie warf ihrem Onkel einen betonten Blick zu.

John hüstelte. An jene Episode ließ er sich nur höchst ungern erinnern.

„Wenn Tante Isabel an dem Abend damals nicht ins Krankenhaus eingeliefert worden wäre – wer weiß, wie weit das mit euch gegangen wäre“, fuhr Renie unbarmherzig fort.

„Ja, ja, ist ja gut“, brummte John. „Ich gebe es zu: Mark Taylor scheint ein ganz anständiger Kerl zu sein.“

 

Bei dieser Meinung war er auch geblieben, selbst nachdem Taylor sich einige Monate später von Renie getrennt und Johns Nichte damit in ein Tal der Tränen gestürzt hatte.

Es war spät an einem Samstagabend im Februar gewesen, als Renie auf einmal vor Johns Tür gestanden hatte. Leichenblass, so dass ihre Sommersprossen sich scharf in ihrem Gesicht abzeichneten.

„Es ist vorbei, John. Oh Gott, es ist vorbei …“ Haltlos schluchzend war sie in Johns Arme gefallen. Es hatte lange gedauert, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie erzählen konnte, was passiert war.

„Mark … er sagte mir, unsere Beziehung könnte keine Zukunft haben. Nicht, dass er mich nicht lieben würde, nein, er sagt, er fühlt sich stark zu mir hingezogen, aber … auf Dauer kann er sich nicht vorstellen, eine Partnerschaft mit jemandem zu haben, der halb so alt ist wie er selbst. Außerdem würde ich ihn auf ein Podest stellen und ihn verehren wie eine Art Held. Das wäre zwar sehr schmeichelhaft, aber keine Beziehung auf Augenhöhe. Er macht sich selbst Vorwürfe, dass er das nicht von Anfang an erkannt hat. Weil er mir nicht zumuten möchte, dass wir weiterhin beim Guardian Seite an Seite arbeiten, hat er das Angebot für einen Lehrauftrag an der Columbia University angenommen. Unser Herausgeber hat ihm ein Sabbatical gewährt, damit er für ein Jahr in den USA unterrichten kann, solange Mark weiterhin in Abständen von dort Beiträge liefert. Gott, wie findest du das, John? Mark geht extra weg, damit ich, die kleine Praktikantin, bei der Zeitung bleiben kann. Das ist doch der Wahnsinn. Der Mann verlässt mich und ich kann ihn nicht mal hassen dafür, weil er so verdammt anständig ist. Oh Gott, ich glaube, mein Herz ist zerbrochen. In tausend Stücke. Ganz kleine Brösel sind bloß noch übrig. Alles … kaputt.“

Untröstlich ließ sie sich in die Kissen auf Johns Sofa zurückfallen und rollte sich unter einer Decke zusammen wie ein Kätzchen. „Ich glaube, ich gehe ins Kloster“, drang es nur noch dumpf hervor, bevor sie erschöpft in Schlaf fiel.

„Dazu müsstest du katholisch sein, Schäfchen“, raunte John und strich ihr sanft übers Haar. Dann ging er in die Küche, um eine große Portion Apple Crumble fürs Frühstück aufzutauen. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Renies bevorzugtes Trost-Futter immer vorrätig zu haben und morgen früh würde sie es sicher bitter nötig haben.

Es folgten zwei Wochen, in denen seine Nichte sich nach der Arbeit in ihr Zimmer verkroch, wo sie sich unzählige Herz-Schmerz-Schnulzen ansah und pfundweise Eiscreme in sich hineinschaufelte. Nachdem zum wohl hundertsten Mal Whitney Houstons Schmachtfetzen „I will always love you“ durch das Haus der Hughes scholl, tauchte Renie zur grenzenlosen Erleichterung ihrer gesamten Familie wieder aus ihrer Höhle auf und verkündete schaudernd, „Ich esse nie wieder Ben & Jerry’s.“ Seither schien sie fast wieder die Alte zu sein, tatkräftig und energiegeladen, aber auch ernster als zuvor.

 

„Sie versucht mit aller Macht, diesem neuen Ressortleiter Floyd Mathers zu beweisen, dass sie nicht nur das gehätschelte Püppchen von Mark Taylor war, sondern sich ihren Platz in der Redaktion wirklich verdient“, erklärte Maggie. „Deshalb lässt sie sich immer neue Aufgaben übertragen und hat den Anspruch an sich, alles hundertprozentig perfekt hinzubekommen.“

Pauline nickte nachdenklich. „Ah, ich verstehe. So ähnlich habe ich das auch schon bei manchen Kollegen im Schuldienst erlebt, die sich selbst so viel Druck gemacht haben, dass sie irgendwann ausgebrannt waren.“

„Ein Problem, das immer mehr um sich greift“, bestätigte John. „Im Nachbarschaftszentrum in Shoreditch biete ich seit einiger Zeit eine Gruppe zum Thema Stressbewältigung an, die randvoll ist.“

„Deine ehrenamtliche Arbeit dort macht dir Spaß, nicht?“, erkundigte Maggie sich, nachdem sie an der Haltestelle ausgestiegen waren.

„Sehr sogar.“ John lächelte. „Ich finde es immer spannend, die unterschiedlichsten Menschen mit ihrer unendlichen Vielfalt an Problemen kennenzulernen und zu schauen, wie ich ihnen weiterhelfen kann. Ich habe das Gefühl, dass ich selbst davon genauso viel profitiere wie die Ratsuchenden, die zu mir kommen.“

Sie überquerten eine Brücke über den Regent’s Canal, wo etliche schmale Hausboote ankerten. Das Eingangstor zum Zoo tauchte vor ihnen auf.

„Unser heutiger Ausflug hinter die Kulissen des Tropenhauses kam übrigens durch Freddie Matthews, einen jungen Mann zustande, den ich im Nachbarschaftszentrum kennengelernt habe. Er macht hier im Zoo gerade ein Praktikum und hat das Ganze für uns arrangiert.“ John zog die Eintrittskarten heraus, die er vorab für sie alle besorgt hatte.

Bella schnappte sich eine und lief unternehmungslustig voraus. „Ich will gleich zu den Faultieren.“

„Gehen wir erst dahin, wo sie die Szene aus Harry Potter gedreht haben?“, bat Barry.

„Ich will Löwen sehen. Und Tiger“, krähte Justin.

„Wow, schaut mal, da ist ein riesiger Shop!“, rief Neil. „Da will ich rein. Außerdem hab ich Durst.“

Die drei Erwachsenen warfen sich einen kurzen Blick zu.

„Ich bändige jeden Tag fünfundzwanzig halbwüchsige Mädels. Da werden wir diese kleine Rasselbande wohl in Schach halten können“, murmelte Pauline.

„Dein Wort in Gottes Ohr“, raunte John etwas zweifelnd und folgte ihr durch die Schranke.

Kapitel 3

 

Nach einer kurzen, aber lautstarken Diskussion einigten sie sich darauf, als erstes zum Reptilienhaus zu gehen.

---ENDE DER LESEPROBE---