Tod in Tintagel - Emma Goodwyn - E-Book

Tod in Tintagel E-Book

Emma Goodwyn

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Beschreibung

Sommerferien an der Küste Cornwalls – Beefeater John Mackenzie kann es kaum erwarten, seine geliebte Pauline endlich wieder in die Arme zu schließen. Doch viel Zeit für Zweisamkeit bleibt nicht. Ein ehrgeiziger Hundezüchter und selbsternannter Gralsritter kommt unter mysteriösen Umständen zu Tode. Da hilft kein Widerstreben: Schon sieht John sich gemeinsam mit dem gesamten Mackenzie-Clan in die Nachforschungen unter schrulligen Vier- und Zweibeinern hineingezogen.

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Tod

in Tintagel

 

 

 

John Mackenzies siebter Fall

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Emma Goodwyn

 

Im Gegensatz zu den Schauplätzen

sind alle Personen und Ereignisse der Handlung rein fiktiv, mögliche Ähnlichkeiten zu echten Personen und Geschehnissen keinesfalls beabsichtigt.

 

 

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Besuchen Sie die Autorin unter

www.emma-goodwyn.com!

 

 

Copyright Text und graphische Gestaltung

Emma Goodwyn

c/o Hartmut Albert Fahrner

Am Tannenburganger 36

84028 Landshut

 

Kontakt: [email protected]

 

Veröffentlichungsdatum: 1. Februar 2018

 

Alle Rechte vorbehalten

(V2.1)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für diejenigen unter meinen Leserinnen und Lesern, denen der keltische Name Tintagel (gesprochen: Tintädschl, mit Betonung auf dem ä) noch nichts sagt: Es gibt kaum einen Ort, der enger mit dem Mythos von König Artus in Verbindung steht als das Dörfchen an der englischen Küste.

Und nun auf nach Cornwall!

Prolog

 

„Bibe et vives!“

Die Schrift auf dem durchweichten Pergament war zerlaufen, doch die Botschaft war unmissverständlich. Wie hypnotisiert starrte er auf den schwarzen Schriftzug. Dann hob er den Blick hinauf auf den gezackten Felsen. Im Licht seiner Taschenlampe erglomm mattes Gold. Ein Kelch.

Eine erste kleine Welle schwappte ihm von hinten über die Füße, durchnässte seine Schuhe und den Saum seiner Hose. Er spürte es nicht.

All die Jahre, die Jahrzehnte seiner Suche. All die Hunderte und Aberhunderte von Männern, die seit Anbeginn der Zeit ausgezogen waren, um dies in Händen zu halten. Nicht wenige hatten ihr Leben dabei verloren. Hier und heute, in Merlins Höhle – sollte er wahrhaftig das Ende seines langen Weges erreicht haben?

Das Stück Papier fiel aus seinen klammen Fingern. Er legte die Taschenlampe auf einen Felsvorsprung und hob beide Arme. Ehrfürchtig, beinahe scheu umfingen seine Hände das Gefäß. Vorsichtig hob er es von dem Felsen herunter. In seinem Inneren schwappte eine dunkle Flüssigkeit umher. Er dachte an seine geliebte Guinevere.

„Bibe et vives. Bibe et vives. Trink und du wirst leben.“ Wie von Sinnen murmelte er die Worte immer wieder vor sich hin. Er hob den Kelch an die Lippen.

Kapitel 1

 

„Die Koffer können wir auch nachher noch ausladen“, drängte Maggie. „Die Kathedrale hat nur bis fünf geöffnet. Also kommt in die Gänge, alle miteinander.“

„Major Maggie bläst zum Appell“, brummelte David und gähnte herzhaft. John schälte sich aus seinem Sitz und kletterte hinter seinem Bruder aus dem Kleinbus, den die Mackenzies für den Familienurlaub in Cornwall gemietet hatten.

Es war erst wenige Wochen her, dass sein Vater den Einfall für diese Ferienwoche mit Kind und Kegel geäußert hatte. Die greise, aber immer noch quicklebendige Patriarchin des Clans, Isabel Mackenzie sollte in Newquay eine besondere Würdigung erhalten. Noch im letzten Jahr hatte es einiger Überzeugungsarbeit bedurft, die Ikone der schottischen Separatisten dazu zu bewegen, aus der Hand der Queen den Ehrentitel als ‚Dame Commander of the British Empire‘ anzunehmen. Im Gegensatz dazu war sie auf der Stelle bereit gewesen, einen Flug aus ihren geliebten Highlands in den Süden zu unternehmen, um bei einer großen Hundeausstellung die Verdienstmedaille des Nationalen Hundezuchtverbandes verliehen zu bekommen.

Es traf sich gut, dass der Termin in den Schulferien lag und so hatte Isabel gemeinsam mit Johns Vater die Idee ausgeheckt, dass die ganze Familie sich in Cornwall treffen sollte, um dort einige gemeinsame Tage zu verbringen. Ein Vorschlag der – fast – auf einhellige Begeisterung gestoßen war. Johns Mutter Emmeline, die mit Isabel Mackenzie seit bald einem halben Jahrhundert in einer Dauerfehde lag, war wenig angetan.

„Du willst mich nach Cornwall schleppen, nur damit ich zusehe, wie diesem alten Drachen noch ein Orden angeheftet wird?“, war ihre erste Reaktion gewesen.

Ihre leidende Miene hätte einem von Pfeilen durchbohrten und auf dem glühenden Eisenrost gefolterten Heiligen gut zu Gesicht gestanden. „Bitte, dann fahrt, wenn ihr unbedingt meint. Aber ohne mich. Ich bleibe dann allein hier zurück. Macht euch keine Gedanken um mich, ich komme schon zurecht.“ Sie feuerte noch eine Breitseite gegen ihren altgedienten Ehemann, „Das bin ich ja ohnehin schon gewöhnt.“

James Mackenzie war erst kurz zuvor aus Schottland zurückgekommen, wo er seiner Tante für mehrere Wochen nach einem Oberschenkelbruch beigestanden hatte – ein schmählicher Verrat an seiner armen Ehefrau, wie Emmeline das sah.

Erst nachdem der Haussegen für einige Tage schief gehangen und die gesamte Familie sie bestürmt hatte, mitzukommen, hatte sie schließlich nachgegeben. Letzten Endes wollte sie sich eine Woche mit ihren Kindern und deren Familien keinesfalls entgehen lassen – Tante Isabel hin oder her.

Maggie hatte die Organisation der Reise übernommen – und das mit derselben Akribie, mit der sie sich ansonsten als Staatsanwältin durch die Akten von Wirtschaftskriminellen arbeitete. Herausgekommen war eine generalstabsmäßige Planung mit Pack- und Erledigungslisten, Besichtigungsprogramm und Kisten über Kisten säuberlich beschrifteter Kartons, von „Küchenutensilien“ und „Bettwäsche“ über „Brettspiele“ bis „Sportausrüstung“. Allein letztere umfasste nicht nur etliche Bälle und verschiedenste Schläger, sondern auch noch Reitsachen, Neoprenanzüge und Surfbretter, die auf dem Dach des Busses mitreisten.

John war heilfroh, dass er sich um nichts hatte kümmern müssen. Sein Job in der Einheit der Yeoman Warders im Tower von London, gemeinhin Beefeater genannt, hatte ihn in den letzten Wochen voll in Anspruch genommen. Er hatte endlose Zusatzschichten im Wach- und Besucherdienst geschoben, um nun eine Woche freinehmen zu können. Seine Hauptaufgabe als Assistent des Ravenmasters hatte dabei natürlich nicht zu kurz kommen dürfen. Zusammen mit George Campbell war er für die Pflege der neun königlichen Raben des Towers zuständig und diese muntere Truppe hielt ihn immer ordentlich auf Trab.

So war es ihm seit Ostern nur ein einziges Mal gelungen, zumindest für einen Tag zu Pauline hinauf nach York zu fahren. Seine Freundin unterrichtete dort an einer renommierten Mädchenschule. Da sie an den Wochenenden meist in ihre schottische Heimat fuhr, um ihre Familie zu unterstützen – ihre Mutter hatte vor einigen Monaten einen Schlaganfall erlitten – blieb ihnen seit Monaten kaum Zeit füreinander. Kein Wunder, dass John diesen Tagen in Cornwall besonders entgegenfieberte: Pauline würde morgen gemeinsam mit Tante Isabel aus Edinburgh einfliegen und die ganze Woche mit ihnen verbringen. Er konnte es kaum erwarten, sie wieder in seine Arme zu schließen.

 

Heute Vormittag war nun endlich der Startschuss für die Reise gefallen: Alle hatten sich in Belgravia getroffen, wo Maggie und Alan mit ihren Kindern Renie, Tommy und Bella wohnten. Johns Bruder David und seine Frau Annie waren mit dem kleinen Christopher aus Cambridge gekommen. James und Emmeline hatten auf dem Weg aus Kew beim Tower gehalten und John mitgenommen. Mit perfektem Timing hatte der vollgepackte Bus genau zum Schlussgong an der Schule gehalten und Bella und Tommy aufgelesen. Johns älteste Nichte Renie wollte später zu ihnen stoßen, da ihr Ressortleiter beim Guardian sich nicht hatte breitschlagen lassen, ihr eine ganze Woche freizugeben.

Mit Alan am Steuer waren sie flott vorangekommen, bis sich auf der Höhe von Middle Wallop ein LKW nach einem Reifenplatzer quergestellt und damit die M3 blockiert hatte. So hatten sie für die neunzig Meilen nach Salisbury letztlich drei Stunden gebraucht, was bei Johns Schwester zu erheblichem Unmut führte. Sie war nicht gewillt, sich ihr minutiös ausgearbeitetes Sightseeingprogramm von einem schnöden Stau auf den Kopf stellen zu lassen.

„… sieben, acht, neun, zehn“, zählte sie draußen ungeduldig die Häupter der kleinen Schar. „Okay, dann kanns losgehen. Wir müssen die Straße hier lang, dann links und –“

„Wir sollten vielleicht einen Schirm mitnehmen“, fiel es Emmeline ein und sie betrachtete kritisch den Himmel.

„Ich glaube nicht, dass das nötig ist, Liebes, aber ich hole ihn. Alan, kannst du den Bus bitte noch einmal aufsperren?“ Johns Vater verschwand wieder in dem Fahrzeug.

„Mummy, ich hab Durst“, quengelte der kleine Christopher.

„David, kannst du bitte die Trinkflasche holen? Sie ist in dem blauen Rucksack“, bat Annie. Auch David kehrte wieder in den Bus zurück.

Maggie warf einen betonten Blick auf die Uhr und eine kleine Zornesfalte erschien auf ihrer Stirn. Sie knurrte Tommy an, der mit seiner Kamera im Anschlag näherkam. „Wehe dir, Sohn. Mach jetzt bloß kein Foto von mir –“ Ungerührt drückte Tommy ab.

„Ach, Mum, jetzt komm doch runter“, meinte er lässig. „Chill mal. Wir sind im Urlaub.“

„Genau, entspann dich, Mum“, fiel ihre jüngste Tochter Bella grinsend ein.

Maggie holte tief Luft. John erwartete schon eine Explosion, aber seine Schwester meinte in zuckersüßem Ton, „Na schön, dann lasst uns doch einfach noch gemütlich hier ein bisschen herumstehen. Ich bin ja nicht diejenige, die nach den Ferien ein Referat über die Magna Carta halten muss und damit punkten will, dass ich mir die große Jubiläumsausstellung in der Kathedrale persönlich angesehen habe. Nicht wahr, Bella?“

Nun hatte es Bella plötzlich eilig. „Okay, Mum, du hast ja recht. Lass uns gehen.“

So setzte sich die Karawane schließlich in Bewegung. Kaum hatten sie den Hotelparkplatz verlassen und bogen in eine mit schönen Fachwerkhäusern gesäumte Straße ein, da schlug Maggie schon den Reiseführer auf, den sie mit sich trug und begann laut vorzulesen. „Die Gegend um Salisbury wurde bereits im vierten Jahrhundert vor Christus besiedelt. Römer, Angelsachsen und Normannen ließen sich in der Burganlage Old Sarum nieder, zwei Meilen vom heutigen Stadtzentrum entfernt.“

Während Maggie weitersprach, raunte David John zu, „Pass auf, wir besorgen ihr noch so ein langes Stöckchen mit einem Wimpel dran, dann geht sie endgültig als Reiseleiterin durch. Ich fürchte nur, sie will uns eine Bildungsreise angedeihen lassen. Hilfe!“

John musste über den Ausdruck komischen Entsetzens im Gesicht seines Bruders lachen. Annie knuffte David in die Seite. „Gut, dass unser Sohnemann wissbegieriger ist als sein Vater. Christopher kann es kaum noch erwarten, dass er im Herbst endlich in die Schule kommt und viele neue Dinge lernen kann.“ Sie warf einen liebevollen Blick zu ihrem Sohn, der an der Hand seiner Großmutter vergnügt die Straße entlanghopste.

„Der arme Wurm“, kommentierte Tommy. „Der weiß noch gar nicht, was ihm da blüht. Mann, werd ich froh sein, wenn ich den Mist hinter mir hab.“

Maggie, an der Spitze des Zuges, räusperte sich vernehmlich. „Ruhe auf den billigen Plätzen. Weiter im Text. Salisbury oder New Sarum, wie es damals genannt wurde, erhielt 1227 von König Henry III. die Stadtrechte –“

„Ach, seht doch mal! Das ist ja entzückend. Stonehenge, ganz und gar aus Fudge gemacht“, rief Emmeline Mackenzie aus. Sie war vor der Auslage eines Süßwarenladens stehen geblieben.

„Ohhhh!“ Der kleine Christopher klatschte in die Hände und drückte sich dann förmlich die Nase an dem Schaufenster platt.

„Stonehenge sehen wir doch morgen in echt. Da müssen wir uns doch jetzt nicht diese Weichkaramell-Nachbildung ansehen!“ Maggies Protest verhallte ungehört.

„Schaut mal, was die für abgefahrene Sorten haben! Schoko-Banane, Kaffee-Walnuss, Erdbeer-Vanille, Schoko-Minz...“ Auch Bella warf begehrliche Blicke auf die verlockend aussehenden Fudgewürfel.

„Jack Daniels Trüffel-Fudge! Das ist was für mich“, kam es von David.

„Puh! Mit so einem amerikanischen Gesöff, das sich Whiskey schimpft!“ James Mackenzie schüttelte sich. „Lass das bloß nicht Tante Isabel hören.“

David grinste. „Erstens treffen wir die Gute erst morgen und bis dahin habe ich das Zeug längst aufgegessen. Und zweitens gibt es auch Fudge mit Single Malt Whisky, sieh mal. Das wäre doch gleich ein nettes Willkommensgeschenk für Isabel. Passt auf, ich gehe jetzt da rein und kaufe ein bisschen was ein. Geht ihr ruhig voraus. Ich hole euch schon ein. Und wenn nicht, treffen wir uns später im Hotel“, setzte er mit einem schelmischen Lächeln dazu.

„David, du brauchst sicher Hilfe beim Tragen. Wenn wir eine schöne Auswahl für alle mitnehmen, könnten da schnell ein paar Pfund zusammenkommen …“ Alan zwinkerte seinem Schwager zu. Gleich darauf zog er den Kopf ein, als Maggie sich vor ihm aufbaute und ihn anklagend anfunkelte. „Auch du, Brutus?“

John lachte auf. „Lass die Kulturbanausen doch, Schwesterherz.“ Er hakte sich bei ihr unter. „Komm, wir gehen jetzt. Ach, und David – pass auf, dass du das Fudge nicht zu schnell aufisst. Du weißt ja, dass Whisky eine ziemlich … umwerfende Wirkung bei dir hat.“

Alle konnten sich noch bestens an die Episode beim großen Clantreffen in Edinburgh vor bald zwei Jahren erinnern. Nach einigen Schlucken Single Malt war David schlagartig in tiefen Schlummer gesunken. Allerdings nicht, bevor er noch lautstark und wenig melodiös – und umgeben von einer Abordnung wenig royalitätsbegeisterter Schotten – ‚God save the Queen‘ zu Gehör gebracht hatte.

„Das kann ich mir wohl die nächsten fünfzig Jahre noch anhören“, murmelte David und verdrückte sich unter dem Gelächter seiner Verwandten schnell in den Laden.

Wenige Schritte weiter begann, von der ‚weltlichen‘ Stadt durch ein mittelalterliches Tor getrennt, der Kathedralenbezirk. Inmitten einer weitläufigen Grünfläche thronte das mächtige Bauwerk.

Maggie zückte wieder den Reiseführer und trug mit der präzisen Diktion der Staatsanwältin vor, „Die Kathedrale verfügt über den höchsten Kirchturm – 123 Meter – und die älteste noch funktionierende Kirchturmuhr des gesamten Landes. Im Kapitelhaus ist eines der vier noch erhaltenen Exemplare der Magna Carta ausgestellt. Die Kathedrale wurde innerhalb von nur 38 Jahren erbaut und gilt als herausragendes Beispiel gotischer Bauweise …“

Johns Gedanken wanderten zu Pauline und er wünschte wieder einmal, sie wäre hier. Geschichte zu vermitteln war nicht nur ihr Beruf, sondern auch ihre Leidenschaft und sie vermochte es stets, ihn mit ihren lebendigen Schilderungen der Vergangenheit zu fesseln. Er hoffte, dass Maggie ihr für die kommenden Tage den Reiseleiterposten überlassen würde. Er begann zu überlegen, wie viele Stunden es noch dauern würde, bis er Pauline morgen endlich wiedersehen würde. Erst als Annie das Wort ergriff, erwachte er wieder aus seinen Tagträumen.

„Sie ist wirklich wunderschön“, sagte sie. „Ich wollte mir dies alles hier schon seit Jahren ansehen, seit ich gelesen habe, dass Ken Follett sich den Bau dieser Kirche als Vorbild für die ‚Säulen der Erde‘ genommen hat. Ich liebe dieses Buch. Und die Serie, die sie daraus gemacht haben, war auch toll.“

„Ah, ich weiß nicht.“ Emmeline sah skeptisch drein. „Ich habe noch nie eine Verfilmung gesehen, die mir so gut gefallen hat wie das zugehörige Buch.“

„Die Harry Potter-Filme sind echt super“, ließ Bella sich vernehmen. „Oder, John?“

Nachdem seine Nichte vor kurzem zu ihrem grenzenlosen Erstaunen bemerkt hatte, dass John überhaupt keine Ahnung vom Universum der Zauberer und Muggel hatte, hatte sie ihn vor einigen Wochen zu einem Heimkino-Marathon mit den ersten beiden Filmen genötigt. John hatte diese – nun wiederum zu seinem Erstaunen – durchaus unterhaltsam gefunden und sich dazu animieren lassen, die ganze Buchreihe von Bella auszuleihen. Seitdem hatten JK Rowling’s Bücher ihm eine ganze Reihe von öden Nachtdiensten im Byward Tower versüßt und er hatte mit zunehmender Begeisterung ein Abenteuer nach dem anderen verschlungen. Peinlicherweise hatte er sich letzte Woche so in die finale Schlacht um Hogwarts hineinziehen lassen, dass er seinen obligatorischen Kontrollgang in der Water Lane vergessen hatte. Prompt war Philip Dunders, kommandierender Offizier der Nachtschicht, persönlich anmarschiert gekommen. John war fast aus der Haut gefahren, als die Tür zur Wachstube auf einmal aufgerissen wurde. Anstatt eines Todessers des Dunklen Lords kam glücklicherweise nur sein Vorgesetzter hereingepoltert. Der jedoch war alles andere als amüsiert. Er brüllte, „Was ist hier los, Mackenzie? Sie sind seit zehn Minuten überfällig!“

Noch bevor John sich aufrappeln und sich den hohen Hut der Beefeater ordnungsgemäß auf den Kopf stülpen konnte, hatte Dunders sich schon schnaubend vor ihm aufgebaut.

„Wie lümmeln Sie hier überhaupt herum! Das ist ja schändlich! Und jetzt erklären Sie sich gefälligst. Ich hoffe, Sie haben einen triftigen Grund für Ihre Pflichtvergessenheit! Gerade in diesen Zeiten, wo der Terrorismus in jedem Winkel lauert, ist es unsere oberste Pflicht, in jedem Moment wachsam zu sein. Stellen Sie sich nur einmal vor, es gelänge einem dieser Wahnsinnigen, hier in unsere Mauern einzudringen und einen Anschlag zu verüben. Hier, wo das Herz unserer Nation schlägt –“ Beschämt nestelte John an seiner Uniformjacke und ließ Dunders’ Strafpredigt über sich ergehen.

Da fiel der Blick des Offiziers auf den dicken Wälzer, den John aufgeschlagen vor sich liegen hatte. „Aha! Was haben wir denn da? Ha, ich wette, ‚Fifty shades of Grey‘ oder so ein Machwerk. Sie schauen ja immer, als ob Sie kein Wässerchen trüben könnten, Mackenzie, aber das kennt man ja, von wegen stille Wasser und so.“ Er riss das Buch hoch und klappte es zu. Seine Augen weiteten sich ungläubig.

„Das … das gibts ja nicht. Sagen Sie mal, wie alt sind Sie, Mann? Elf? Zwölf? Oder doch schon dreizehn?“, höhnte er. „Hat Ihnen Ihre Mummy auch ein Kuscheltier mitgegeben, falls Sie sich in der Nacht fürchten?“ Unvermittelt brüllte er, „Nun schwingen Sie schon Ihren plattgesessenen Hintern hier raus und erfüllen verdammt noch mal Ihre Pflichten!“

In seiner Hast, aus der Wachstube und dem Blick seines Vorgesetzten zu entkommen, fiel John über seine eigenen Füße und der Hut plumpste auf den Boden. Dunders maß ihn mit einem angewiderten Blick.

„Mann, ich habe es Mullins damals schon gesagt, als er Sie in die Einheit geholt hat: Diese Psychofuzzis, die haben doch alle einen Sprung in der Schüssel.“

Dunders hatte ihm nicht nur eine schwere Rüge in seine Personalakte eingetragen, sondern die Geschichte auch noch bei nächster Gelegenheit in der hauseigenen Bar der Beefeater zum Besten gegeben. Glücklicherweise verfügte der Kommandeur der Yeoman Warders, Chief Mullins, über mehr Humor als der bärbeißige Philip Dunders. Bei der monatlichen großen Lagebesprechung mit allen Mitgliedern der drei Dutzend Mann starken Truppe hatte er am Ende einige strenge Worte zum Thema Disziplin verloren und John dann nach vorn gewunken.

„Mackenzie, da Sie in der Vergangenheit nun schon mehrfach Probleme mit dem Thema Pünktlichkeit hatten und zudem neuen Technologien, die bei der Strukturierung des Alltags hilfreich sein können, bedauerlich ablehnend gegenüberstehen, werden Sie fortan bei Wachdiensten folgendes Utensil mit sich tragen und selbstverständlich auch einsetzen.“ Unter lautem Gejohl der Mannschaft hatte er sodann einen Mickymaus-Wecker hervorgezogen, den John mit einem schiefen Grinsen entgegennahm.

Für die Witzbolde in der Truppe war dies natürlich ein gefundenes Fressen. So fand John tags darauf in der Sandwichtüte, die er sich in einer kurzen Mittagspause in der Kantine geholt hatte, eine kleine Plastikfigur mit Umhang und Zauberstab. Die Papiertüte war mit ‚Happy Meal‘ beschriftet.

Den Vogel – buchstäblich – schoss jedoch der Ravenmaster ab. Er brachte Gworran, dem gelehrigsten der Raben und Johns besonderem Liebling, bei, mit einem Stöckchen im Schnabel wie mit einem Zauberstab herumzufuchteln und dann zu krächzen, „Expecto Patronum“. Dies erheiterte nicht nur John, sondern auch zahlreiche Touristen, die sich an dem Schauspiel ergötzten. Kaum ein Kind verließ den Tower ohne ein Selfie mit dem Magier-Raben.

 

„Die Diskussion über den Wert von Romanverfilmungen wird auf später verschoben“, entschied Maggie resolut. „Wir gehen jetzt in die Kathedrale. Folgt mir.“

„15. Juni 1215“, las Bella wenig später ehrfürchtig. „Wow, dann werde ich mein Referat wirklich auf den Tag genau 800 Jahre, nachdem die Magna Carta geschrieben worden ist halten.“ Alle scharten sich um den Glaskasten, der das ehrwürdige Pergament schützte.

„Mach erstmal ein Foto von mir mit dem Ding“, forderte Bella ihren Bruder auf. „Das klebe ich dann auf mein Plakat für den Vortrag. Dafür krieg ich von Mrs. Green bestimmt einen Sonderpunkt.“

Ein älterer Museumswärter, der neben dem Glaskasten postiert war, hob warnend den Zeigefinger. „Aber nur ohne Blitz.“

„Kein Problem“, gab Tommy zurück und schoss ein paar Aufnahmen von seiner Schwester. Dann musterte er das Pergament kritisch. „Ist ja komisch. Das sieht aus wie neu. Ist das wirklich echt?“

Der Aufseher plusterte sich empört auf. „Natürlich ist das echt. Wir stellen doch hier keine Reproduktion zur Schau! Unsere Magna Carta ist das besterhaltene der vier noch existierenden Exemplare.“ Er beruhigte sich ein wenig und fuhr in freundlicherem Ton fort, „Wir sind sehr stolz darauf, dass wir es über die Jahrhunderte unbeschadet bewahren konnten. Unsere Kathedrale hatte zuletzt im zweiten Weltkrieg Glück, dass sie dem Baedeker Blitz nicht zum Opfer gefallen ist.“

„Baedeker Blitz? Was war das?“, fragte Bella.

„Die deutsche Luftwaffe bombardierte 1942 gezielt Orte, die der populäre Reiseführer Baedeker mit drei Sternen ausgezeichnet hatte. Bath, York, Canterbury … Da ging es nicht um militärische Ziele, sondern um das kulturelle Erbe unseres Landes. Salisbury war damals nicht für bedeutend genug erachtet worden und entkam den Bomben. Und so können wir bis heute dieses wichtige Zeugnis unserer Geschichte sehen.“ Er zog einen weichen Lappen aus der Jackentasche und wischte liebevoll ein Staubkörnchen von dem Glaskasten, bevor er zu einem Besucher eilte, der es gewagt hatte, die Ausstellung mit einer Coladose in der Hand zu betreten.

„Johannes Dei gracia rex Anglie“, entzifferte James Mackenzie den Beginn des Dokuments, „John, von Gottes Gnaden König von England –“

„John? Ist das der kleine Bruder von Richard Löwenherz?“, krähte Christopher dazwischen.

Erstaunt musterte James seinen jüngsten Enkel. „Hervorragend, Christopher. Du hast recht, John war der jüngere Bruder von Richard Plantagenet, den wir Löwenherz nennen. Du bist ja schon ein richtiger Historiker, mein Junge.“

Christopher plusterte sich stolz auf. „Weißt du, Grandpa, John war voll der Idiot. Er hat immer am Daumen genuckelt. Und er hat in seinem Schlafzimmer die ganzen Säcke mit dem Geld aufgehoben. Und er hatte einen fiesen Berater, das war Sir Hiss. Der war eine Schlange.“

„Hiss? Von dem habe ich noch gar nichts gehört –“ James blickte verwirrt auf, als Annie, Maggie und John losprusteten. Für diesen unziemlichen Heiterkeitsausbruch ernteten sie einen strafenden Blick des Museumsaufsehers.

„Wir haben uns letzte Woche den Walt Disney-Streifen ‚Robin Hood‘ angesehen“, erklärte Annie. „Daher hat Christopher seine … historischen Kenntnisse.“

„Ahso. Na, wie dem auch sei.“ James beugte sich zu dem Jungen hinunter. „Es war auf jeden Fall genau dieser König John, der sich mit den Abgesandten der Adligen in Runnymede getroffen und diese monumentale Erklärung unterzeichnet hat. Die Magna Carta ist immerhin die Grundlage für unser ganzes Rechtssystem. Man kann sogar sagen, für die moderne Demokratie auf der ganzen Welt.“

Die historische Bedeutung König Johns beeindruckte Christopher wenig. „Ich finde, er war trotzdem ein Knallkopf und ich bin froh, dass er Maid Marian nicht gekriegt hat.“

 

Kapitel 2

 

Am nächsten Morgen fiel ein feiner Nieselregen. Die liebliche Landschaft von Wiltshire lag unter einem Grauschleier, als sie die wenigen Meilen von Salisbury nach Stonehenge fuhren. Missmutig blickte David durch die Scheiben des Busses hinaus, an denen die Tropfen hinabrannen.

„Meinen ersten Urlaubstag hatte ich mir anders vorgestellt. Erst werde ich im Morgengrauen aus den Federn geholt und kann nur husch, husch einen Toast hinunterwürgen, bevor mir der Koffer vor die Tür gestellt wird. Und dann soll ich mir stundenlang alte Steine anschauen und das bei einem Wetter, bei dem man nicht mal einen Hund vor die Tür jagen würde.“

Alan lachte seinen Schwager herzhaft aus. „Von wegen Morgengrauen! Maggie, John und ich waren heute schon um halb sechs auf, um vor dem Frühstück eine Runde zu laufen.“

Maggie stimmte ein, „Wenn du Faulpelz erst um halb acht aus dem Bett kriechst, brauchst du dich nicht zu wundern, wenn die Zeit nur noch für eine Scheibe Toast reicht. Außerdem hast du gestern ungefähr ein Pfund Fudge verschlungen, also fällst du so schnell nicht vom Fleisch.“

David schloss gequält die Augen. „Was für ein Grauen. Ich bin von hyperaktiven Asketen umgeben.“

Als sie um zehn vor neun am Parkplatz von Stonehenge anlangten, war dieser schon gut gefüllt und sie konnten erkennen, dass am Ticketschalter eine lange Reihe Menschen anstand.

„Was für ein Trubel“, kommentierte James Mackenzie. „Da werden wir wohl eine Weile warten müssen, bis wir überhaupt hineinkönnen.“

Maggie lächelte siegesgewiss. „Keine Sorge, Dad. Der erste Shuttlebus zum Steinkreis fährt um neun und ich garantiere dir, dass wir an Bord sein werden.“

Kaum hatte Alan den Bus in eine Parklücke manövriert, sprang sie schon hinaus und eilte zu einem Schalter, an dem ein Schild mit der Aufschrift „Abholung vorbestellter Gruppentickets“ prangte. Eine Minute später war sie wieder da und trieb die Familie wie eine Schafherde an der langen Warteschlange von Touristen vorbei in das Besucherzentrum hinein und auf der anderen Seite wieder hinaus und in einen bereits wartenden Elektrobus. Während sie Übersichtspläne des Geländes verteilte, stiegen noch einige weitere Ausflügler zu. Gleich darauf schloss der Fahrer die Türen und der Bus setzte sich in Bewegung. Maggie ließ sich unter dem Applaus der gesamten Familie auf den letzten Sitz fallen.

„Was ist denn das für ein Typ?“, raunte Bella John verstohlen zu.

Er folgte ihrem Blick. Ganz vorn, gleich hinter dem Fahrer, hatte ein Mann Platz genommen, der haargenau aussah wie –

„Miraculix! Schau mal, Mummy, da vorn ist Miraculix“, krähte Christopher da schon begeistert. Mit seinen schlohweißen Haaren und dem langen Bart, dem Gewand aus rauem, nicht mehr ganz weißem Stoff und dem mannshohen Stock wirkte die Gestalt tatsächlich wie der gallische Druide.

„Vielleicht drehen die hier einen neuen Asterix-Film?“, mutmaßte Tommy. Da hörte John jemanden hinter sich leise lachen. Er drehte sich um. Ein jüngerer Mann mit einer National Heritage-Regenjacke und einem Namensschild, das ihn als ‚Lance Wilson, Aufseher‘ auswies, saß in der letzten Reihe. Als er merkte, wie sich die Aufmerksamkeit ihm zuwandte, errötete er leicht.

„Oh, äh, es tut mir leid, ich wollte mich nicht in Ihr Gespräch einmischen“, stotterte er. Dann beugte er sich vor und senkte die Stimme. „Aber lassen Sie diesen Herrn nicht hören, dass er aussieht wie eine Comicfigur. Er hält sich nämlich für Merlin persönlich.“

Bella riss die Augen auf. „Merlin?“, hauchte sie. „Der Zauberer?“

Der junge Mann nickte. „Er kommt oft hierher. Denn der Legende nach war er es, also Merlin, der Stonehenge erschaffen hat. Man sagt, der Steinkreis hätte ursprünglich in Irland gestanden, aufgeschichtet aus Felsbrocken, die ein Volk von Riesen aus Afrika herangetragen hätte. Als Uther Pendragon, der Vater von König Artus, hier in der Ebene von Salisbury ein würdiges Denkmal für seinen Bruder, König Ambrosius errichten wollte, hat Merlin –“

„Wir sind da. Alles aussteigen“, rief der Busfahrer. „Wenn Sie zurückmöchten, warten Sie bitte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Shuttles verkehren laufend. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag hier im Weltkulturerbe Stonehenge.“

Alle kletterten aus dem Bus. Es hatte aufgehört zu regnen. Erste Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg durch die Wolkenfetzen und ließen das Grün der weiten Hügellandschaft vor ihnen in verschiedensten Tönen aufleuchten. Und inmitten des Grüns lag der mythische Steinkreis, noch einige hundert Schritte entfernt.

Emmeline blieb stehen. „Seht euch das an, Kinder! Großartig, nicht wahr? Herrje, ist das schon eine Ewigkeit her, dass wir zuletzt hier waren.“

James legte den Arm um ihre Schultern. „Ja, ich glaube auch, dass es an die vierzig Jahre sind. Ein halbes Leben für uns, aber nur ein Moment für dieses Bauwerk.“ Eine Weile verharrten alle schweigend.

„Es hat sich gelohnt, dass die Straße und das Besucherzentrum wegverlegt wurden. Ich kann mich noch erinnern, wie laut es hier damals war. So, wie die Anlage jetzt ist, gewinnt man einen ganz anderen Eindruck, auch wenn man jetzt nicht mehr so nah an die Steine herandarf“, sprach James dann weiter.

Emmeline pflichtete ihm bei. „Ich bin glücklich, dass ich das alles nach so langer Zeit noch einmal sehen darf“, seufzte sie. „Und es ist wunderbar, dass wir so früh hier sind und das Ganze ohne Menschenmassen genießen können. Gut gemacht, Maggie.“

Maggie lächelte geschmeichelt. „Danke, Mum. Kommt, lasst uns ein Familienfoto machen.“

„Eine gute Idee“, befand John und schaute sich nach dem jungen Aufseher um, der sich ein paar Meter weiter postiert hatte. „Mr. Wilson, würden Sie vielleicht …?“

Der junge Mann nickte eifrig und ließ sich von Tommy die Handhabung seiner Profikamera erklären.

„Okay. Dann sagen Sie mal alle schön ‚Cheese‘“, forderte er sie auf und schoss in schneller Folge eine Reihe von Bildern. Tommy prüfte die Aufnahmen mit kritischem Blick und gab dann das Daumen-hoch Signal.

„Also gut, dann lasst uns losziehen und den Rundweg machen“, sagte Maggie. Schon hatte sie den Reiseführer wieder gezückt.

Bella schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. „Wie ging die Geschichte mit Merlin weiter, Mr. Wilson?“, fragte sie erwartungsvoll.

„Äh, das würde ich dir gern erzählen, aber ich fürchte, eure Reiseleiterin –“

Bella kicherte. „Das ist doch bloß meine Mum. Und sie liest nur total langweiliges Zeug aus ihrem Buch vor, das ist voll zum Einschlafen. Ich will lieber die Geschichte von Merlin hören.“

Maggie hatte sich schon ein ganzes Stück entfernt und einen halben Absatz vorgelesen, bis sie merkte, dass niemand ihr folgte. Resigniert kehrte sie um und gesellte sich zu den anderen. Alle lauschten, wie der junge Mann von der aufregenden Reise der ‚Steine der Riesen‘ von der Nachbarinsel hierher erzählte.

„Die Menschen in der Jungsteinzeit hätten sich mit Sicherheit ein wenig Magie – oder einen Obelix – zur Unterstützung bei der Errichtung des Steinkreises herbeigesehnt“, schloss er. „In Wirklichkeit waren es unvorstellbare Mühen, das Material überhaupt herzuschaffen geschweige denn so ausgeklügelt aufzurichten.“

„Wie lange hat es gedauert, den Kreis fertigzustellen? Weiß man das?“, erkundigte sich Annie.

Mr. Wilson nickte. „Wir haben zumindest grobe Anhaltspunkte. Begonnen hat alles ungefähr in der Zeit, als die Pyramiden in Ägypten erbaut wurden, im dritten Jahrtausend vor Christus. Damals war das hier die größte Baustelle auf dem ganzen Kontinent. Gebaut wurde in drei Phasen, über mehrere Jahrhunderte hinweg. Eine der letzten Ausgrabungen hier im Gelände hat ein paar Getreidekörner zutage gefördert, die unmittelbar unter einem Blaustein lagen. Im Labor sind sie auf 2300 vor Christus datiert worden, also gehen wir heute davon aus, dass der innere Ring aus den halbhohen Steinen, die Sie hinter dem äußeren Wall aus Sarsensteinen erkennen können, um diese Zeit gesetzt worden ist.“

„Wo kommen die Steine überhaupt her?“, fragte Alan.

„Die riesigen Sarsenblöcke, das sind besonders harte Sandsteine, kommen aus den Marlborough Downs. Das heißt, die Menschen mussten jeden einzelnen von diesen gewaltigen Steinen – und die Dinger wiegen bis zu fünfzig Tonnen – über zwanzig Meilen hierher transportieren. Die Blausteine hatten einen noch viel weiteren Weg, sie kommen aus Wales.“

„Fünfzig Tonnen!“, rief Annie aus. „Wie haben die Menschen das gemacht?“

„Bis heute wissen wir nicht genau, wie der Transport damals bewerkstelligt worden ist. Feststeht, dass in der Jungsteinzeit noch keine Tragtiere, also Pferde oder Rinder eingesetzt wurden. Es müssen ganze Volksstämme ausgezogen sein, mit hunderten von Menschen, die wahrscheinlich mit Hilfe von untergelegten Rollen aus Baumstämmen und primitiven Seilen diese Blöcke über Berg und Tal bis hierher schleppten. Und damit war es ja noch gar nicht getan. Die unförmigen Felsen mussten ja auch behauen werden, damit sie diese rechteckige Form bekamen und auch gleich groß waren. Nur so konnten sie den Ring aus Decksteinen tragen. Für all das gab es nur die allereinfachsten Werkzeuge. Wo wir heute zum Beispiel einen Bagger verwenden würden, mussten damals die Gruben, in denen die Steine stehen, mit bloßen Händen und mit zurechtgeschlagenen Stücken von Hirschgeweih gegraben werden. Alles ein Wahnsinnsaufwand. Wir schätzen heute, dass insgesamt um die dreißig Millionen Arbeitsstunden in der ganzen Anlage stecken.“

„Dreißig Millionen!“ David horchte auf. „Das sind ja, warten Sie mal … bei sagen wir tausend Arbeitern und zehn Stunden Schuften pro Tag und ohne einen einzigen Ruhetag … über acht Jahre! Oder unter unseren heutigen Arbeitsbedingungen über fünfzehn Jahre.“

Annie grinste. „Rechnen kann er, mein Mann.“

David besah sich den Steinkreis mit neuer Achtung. „Wenn man die durchschnittlichen aktuellen Löhne für Baufachleute wie Steinmetze und Zimmerer zu Grunde legt, die in den vergangenen Jahren bei rund 24500 Pfund per anno lagen und dazu die Kosten für die Konstrukteure nimmt, die noch deutlich darüber liegen, dann lägen heute allein die direkten Lohnkosten für so ein Projekt bei gut dreißig Millionen Pfund jährlich. Dazu wären noch die fälligen Steuern und Sozialabgaben zu addieren sowie natürlich nicht unerhebliche Materialkosten –“

„Und vergiss nicht die zu erwartenden Krankheitskosten. Bei einem Projekt wie diesem ist mit einer nicht geringen Anzahl von Arbeitsunfällen zu rechnen“, unterbrach Maggie.

David überhörte ihren sarkastischen Tonfall und nickte ernst. „Du hast vollkommen recht. Die Belastung des Gesundheitssystems dürfte nicht zu vernachlässigen sein. Zu beachten wären auch noch die Landbesitzverhältnisse, es könnten auch noch Grunderwerbskosten hinzukommen. Es wäre interessant, hier einmal eine Gesamtkalkulation anzustellen …“

„Mein Bruder ist Steuerberater“, erklärte John dem etwas verwirrt dreinblickenden Aufseher. „Mit Leib und Seele“, setzte er überflüssigerweise hinzu.

„Auf jeden Fall sind die Mühen und der Aufwand, die hinter diesem Werk stecken, unglaublich“, stellte Alan fest. „Für mich ist die spannende Frage – wozu eigentlich? Warum war es Generationen unserer Vorfahren wert, ihr Leben dem Erbauen dieses Steinkreises zu widmen?“

Wilson lachte leise. „Da haben Sie die Gretchenfrage gestellt. Ich würde Ihnen gern eine fundierte Antwort geben, aber ich muss ehrlich sagen, dass wir es bis heute nicht wirklich wissen. Es vergeht kaum ein Jahr, wo nicht irgendein Professor einen Artikel veröffentlicht, nach dem Motto ‚Rätsel um Stonehenge endgültig gelöst‘.“

„Ich habe kürzlich gelesen, dass es eine Art Heilzentrum gewesen wäre, wo Leute sogar vom Kontinent hergereist sind, um sich behandeln zu lassen“, bemerkte Maggie.

Wilson nickte. „Dafür gibt es Hinweise. Den Blausteinen wird schon seit Urzeiten eine heilende Wirkung zugeschrieben. Und man hat in einer Grabstätte ein paar Meilen von hier die Leiche eines Mannes gefunden, der als Bogenschütze von Amesbury bekannt geworden ist. Er hat in der Zeit gelebt, als Stonehenge seine Hochphase hatte. Bemerkenswert ist, dass er von sehr weit her kam, aus dem Alpenraum. Noch dazu hatte er eine alte Knieverletzung, die ihn stark eingeschränkt haben muss. Es ist ein Wunder, dass er trotzdem die lange Reise bis hierher angetreten hat. Eine Vermutung ist deswegen, dass er sich hier Heilung erhofft hat.“

Er hob die Hände. „Aber die These mit dem Heilzentrum ist nur eine von vielen. Der eine Gelehrte vertritt die Meinung, das hier wäre eine Krönungsstätte, der nächste ist sich sicher, dass hier hochrangige Mitglieder der Gesellschaft beerdigt wurden. Wieder andere verfechten die Idee, es wäre eine Kultstätte zur Verehrung der Ahnen. Auch von einem Druidentempel ist immer wieder die Rede. Und dann gibt es noch die, die in dem Steinkreis einen astronomischen Kalender zur Vorherberechnung der Jahreszeiten sehen –“

„So wurde es uns damals dargestellt, als wir hier waren“, warf Emmeline ein.

„Einen Bezug zum Sternenhimmel gibt es auf jeden Fall. Die Achse der Anlage ist exakt nach dem Lauf der Sonne ausgerichtet“, bestätigte der Aufseher. „Zur Sommersonnenwende fällt der erste Strahl der aufgehenden Sonne direkt durch den Eingang, während zur Wintersonnenwende das Licht der untergehenden Sonne genau durch den mittleren der Trilithen scheint.“

„Trilith? Was ist das?“, fragte Tommy.

Wilson deutete auf die Mitte des Steinkreises. „Das sind diese torartigen Gebilde aus zwei Pfeilern und einem querliegenden Deckstein darüber. ‚Tri‘ kommt aus dem Griechischen und bedeutet drei und ‚lith‘ ist ein Stein.“

„Klar, wie bei Triceratops. Der heißt so, weil er drei Hörner im Gesicht hat“, fiel Bella ihm eifrig ins Wort. „Hab ich von Grandpa gelernt.“ Sie deutete auf James. „Der ist nämlich Dinosaurierspezialist, Mr. Wilson.“

„Das ist ja interessant“, gab Wilson freundlich zurück. „Bei uns an der Universität in Southampton – ich schreibe da gerade an meiner Doktorarbeit in Geowissenschaften – gibt es einen ziemlich witzigen Paläontologen, Professor Montgomery Fielding. Vielleicht kennen Sie ihn ja?“

„Der gute Monty!“, rief James erfreut aus. „Natürlich kenne ich ihn. Wir haben uns auf etlichen Tagungen getroffen. Wie geht es dem alten Haudegen?“

Während Wilson und Johns Vater angeregt plauderten, warf John einen Blick auf die Uhr. Pauline und Tante Isabel mussten jetzt am Flughafen in Edinburgh sein, von wo aus in den Sommermonaten eine Maschine nach Newquay startete. Die beiden sollten um 11.30 Uhr landen und es war vereinbart, dass jemand vom Hundezuchtverband, der ohnehin ein Begrüßungskomitee für Isabel an dem kleinen Regionalflughafen auf die Beine stellen wollte, sie zu dem Ferienhaus brachte, das ihre Unterkunft für diese Woche sein würde. John stellte sich voller Vorfreude vor, wie nachher der Kleinbus der Mackenzies vor dem Haus vorfahren würde, Pauline aus der Tür kam und ihm entgegenlaufen würde, die Sonne leuchtend auf ihrem kupferroten Haar –

Er wurde aus seinem Tagtraum gerissen, als jemand ihn an der Jacke zupfte. „Schau mal, John, da ist ein Verwandter von Gworran. Das ist doch ein Kolkrabe, oder?“

Bella hatte ein ungewöhnliches Interesse an Vögeln entwickelt, seit sie in den Osterferien Paulines Neffen Barry kennengelernt hatte, einen ehrgeizigen – und äußerst naseweisen, wie John fand – Nachwuchsornithologen.

Tatsächlich saß ein Stück weiter vorn am Wegesrand einer der großen Vögel, nur ein, zwei Schritte von dem Mann entfernt, der sich für Merlin den Zauberer hielt. Der Rabe hatte einen winzigen weißen Fleck an der Brust. Den Kopf schief gelegt, sah er aus, als hielte er stumme Zwiesprache mit dem Weißbärtigen.

Unvermittelt fiel John etwas ein, das er in einem von George Campbells Büchern über Rabenvögel gelesen hatte: Einer Sage nach hatte sich die Seele von König Artus nach seinem Tod auf dem Schlachtfeld in einen Raben verwandelt. Unwillkürlich überlief ihn ein Schauer. Die Vorstellung, dass sich vor seiner Nase der legendäre König in Vogelgestalt gerade mit seinem weisen Ratgeber, dem mächtigen Zauberer, unterhielt, wirkte auf einmal gar nicht mehr lächerlich. Gleich darauf musste er über sich selbst lachen. Er schrieb seinen abstrusen Gedankengang der Ausstrahlung des mythischen Steinkreises zu.

„Sagen Sie, Mr. Wilson, dieser Mann da – er sieht sich wirklich als Merlin?“, sprach er den Aufseher an.

„Absolut. Manchmal brabbelt er irgendwelches Zeug in einer Sprache, die sich vage keltisch anhört oder er singt auch mal.“ Er lächelte ein wenig verschämt. „Ich muss zugeben, ich hätte gern mehr über ihn herausgefunden – wer er ist und was er macht, wenn er nicht hier herumsteht. Ich bin ihm sogar einmal gefolgt, als er abends das Gelände verlassen hat. Irgendwie hätte ich es lustig gefunden, wenn er draußen einen Autoschlüssel aus seiner Kutte gezogen hätte und dann ganz prosaisch mit einem alten Vauxhall oder was auch immer davongefahren wäre. Aber er ist einfach über die Felder davongegangen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Er ist irgendwie … ein wenig unheimlich, aber ich glaube, er ist ein harmloser Spinner. Zumindest belästigt er keinen. Ein ganz anderes Kaliber als dieser Verrückte, der sich für die Reinkarnation von König Artus hält. Von dem haben Sie bestimmt schon gehört?“

John nickte. „Ich habe schon einige Male über ihn gelesen. Ex-Soldat, Ex-Anführer einer Motorradgang und jetzt selbsternannter Vorkämpfer der Druiden. Eine ziemlich schillernde Gestalt.“

„Sicherlich. Aber juristisch gesehen durchaus interessant“, warf Maggie ein. „Man sollte ihn nicht unterschätzen. Er hat zum Beispiel solange Klage um Klage eingereicht, bis er erreicht hatte, dass heutzutage jeder Inhaftierte, der sich den Druiden zugehörig fühlt, das Recht hat, statt der üblichen Anstaltskleidung seine eigene Robe zu tragen.“

„Und welche Sträuße er erst mit unserer Kulturbehörde ausgefochten hat! Bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ging das.“ Wilson schüttelte den Kopf. „Er wollte partout durchsetzen, dass die Druiden wieder das Recht bekommen, an Mittsommer Zugang zum Steinkreis zu erhalten, um ihre Zeremonien zu feiern. Von wegen Recht auf freie Religionsausübung. Naja, vor fünf Jahren hat er es ja dann geschafft, dass National Heritage klein beigegeben hat. Mittlerweile darf jedermann die kürzeste Nacht des Jahres hier verbringen. Das ist jedes Mal ein Spektakel, sage ich Ihnen.“ Er machte eine weit ausholende Armbewegung.

„Zehntausende von Menschen hier auf unserem Gelände. Das sind gewaltige Massen. Ein einziges Mal im Jahr haben sie die Chance, sich mitten zwischen den Steinen bewegen zu können, wo sonst niemand hindarf. Dass das für die Besucher eine großartige Sache ist, sehe ich ein, aber manche schrecken wirklich vor nichts zurück. Ich habe schon ein-, zweimal Leute erwischt, die einen Hammer hereingeschmuggelt hatten und sich ein Stück Blaustein herausschlagen wollten als Souvenir.“ Er schnaubte. „In der Nacht ist wirklich jeder Einzelne vom Personal gefordert, sogar Teilzeitkräfte wie ich, und dazu holen wir uns noch einen Sicherheitsdienst, um einigermaßen alles in geregelten Bahnen zu halten. Klar kommen da auch Touristen her, die einfach die einmalige Atmosphäre aufsaugen wollen, aber es sind auch massenweise richtig abgedrehte Typen dabei, das können Sie mir glauben. Gerade bei diesen neuzeitlichen Druiden, da sind schon merkwürdige Vögel dabei.“

„Immerhin ist die Glaubensgemeinschaft der Druiden steuerlich seit einigen Jahren den anderen Kirchen gleichgestellt. Es können also nicht alles nur Spinner sein“, gab David zu bedenken.

„In meinem Gartenbauverein gibt es eine Frau, die sich auch als Druidin sieht“, mischte Emmeline sich ein. „Ich finde sie eigentlich ganz vernünftig. Sie beteiligt sich viel an Naturschutzaktionen, pflanzt Bäume und kennt sich hervorragend mit natürlichen Heilmitteln aus. Und sie läuft auch nicht in so einem Gewand da herum, sondern ist ganz normal angezogen. Eine wirklich angenehme Person. Ganz anders als so manch andere bei uns –“

Bevor seine Mutter eine ihrer bekannten Tiraden gegen ihre Lieblingsfeindin Jane Argyll (die Emmeline in mehr als einem Wettbewerb um den größten Kürbis geschlagen hatte) vom Stapel lassen konnte, ließ sich Christopher klagend vernehmen, „Mummy, mir tun die Füße weh. Sind wir bald fertig?“

Annie beugte sich zu ihm hinunter. „Eine Weile dauert es noch, Spatz. Aber vielleicht kann Daddy dich ja ein bisschen tragen?“

Entsetzt sah David sie an. „Du liebe Güte! Du weißt doch, dass mein Rücken sofort Probleme macht, sobald ich etwas Schwereres als einen Kugelschreiber hebe.“

Christopher zog ein langes Gesicht. Großmütig erbot John sich, seinen Neffen auf den Schultern zu tragen.

Sie verabschiedeten sich bei Mr. Wilson, nicht ohne sich für seine interessanten Erzählungen zu bedanken und gingen weiter. John musste schon wenig später feststellen, dass ein gut im Saft stehender Fünfjähriger doch mehr Gewicht auf die Waage brachte als die großen Säcke mit Trockenfutter für die Raben, die er sonst herumwuchtete. Ächzend setzte er Christopher wieder ab und rieb sich die schmerzenden Schultern.

„Was ist das da vorn für ein Stein? Sieht aus, als hätte er ein Gesicht.“ Tommy deutete nach links.

Maggie studierte den Übersichtsplan, den sie griffbereit bei sich trug. „Warte mal … Nummer zwölf, das muss der sogenannte Fersenstein sein.“

„Hihi, der schaut aus wie eine ganz grummelige Schildkröte.“ Christopher tappte begeistert voran und zog Annie hinter sich her.

Maggie hob die Hand. „Mal langsam. Vorher kommt noch Nummer elf, der Opferstein, der müsste gleich rechts direkt am Weg sein.“

„Das wird er sein.“ James hatte eine flache Felsplatte erspäht, ein paar Schritte nach der Stelle, wo der vermeintliche Zauberer immer noch reglos stand. In einer Vertiefung des verwitterten Steins stand eine rostrote Pfütze.

„Iih, das schaut aus wie Blut.“ Bella schlug sich die Hand vor den Mund. „Uäh, bestimmt sind da drauf irgendwelche armen Tiere geopfert worden und der ganze Stein ist mit Blut getränkt –“

„Unsinn, Kind“, meinte James energisch. „Sieh genau hin. An der Oberfläche der Platte verlaufen überall ganz feine Linien, das ist bestimmt eisenhaltiges Gestein. Durch den Regen ist etwas davon herausgewaschen worden und das verfärbte Wasser sammelt sich jetzt in der Mulde.“

Alan legte den Arm um die Schultern seiner Tochter.

„Ganz sicher sind hier keine Tiere geopfert worden, Kleines. Mach dir keine Gedanken. Komm, gehen wir zu diesem Fersenstein. Er hat wirklich Ähnlichkeit mit einem miesepetrigen Reptil.“ Sanft schob er Bella voran und die anderen folgten ihm. Nur John blieb noch einen Moment stehen, um sich den Raben anzusehen, der auf den selbsternannten Merlin fixiert zu sein schien. Er fuhr zusammen, als plötzlich eine dunkle, etwas kratzige Stimme erklang.

„Das Mädchen hat die Wahrheit gespürt. Auf diesem Stein haben wir den Göttern frisch geschlachtetes Fleisch zum Opfer dargebracht. Von edlen Tieren. Und auch Menschen. Tomnu, Andrasta, Camulos – sie alle fordern ihren Tribut.“

Mit offenem Mund starrte John den Weißbärtigen an. In dem tief zerfurchten Gesicht glühten eingesunkene, aber quicklebendige Augen. Dann wandte der Alte sich jäh ab und ging ohne ein weiteres Wort davon. Der Rabe stieß ein lautes Krächzen aus, breitete seine Schwingen aus und erhob sich in die Luft.

 

Kapitel 3

 

So sehr er sich selber dafür schalt, hatte die merkwürdige Begegnung dennoch einen Schatten über den Ausflug nach Stonehenge geworfen. Mit einem Mal strahlte der Steinkreis für John etwas Düsteres, Unheilvolles aus. Das mochte vielleicht auch daran liegen, dass der Himmel sich wieder eingetrübt hatte und dunkle Wolkenberge heranstürmten. Auf jeden Fall war er heilfroh, dass niemand von den anderen etwas von der kurzen Szene mit dem mysteriösen Merlin mitbekommen hatte.

Nach einem ‚Ver- und Entsorgungsstopp‘, wie Maggie es nannte, in der Cafeteria des Besucherzentrums, bewegte sich der Tross wieder zum Parkplatz.

„Alles anschnallen! Drei Stunden und siebzehn Minuten bis Newquay“, verkündete Alan frohgemut, nachdem er das Navigationssystem aktiviert hatte.

Auf dem Weg nach Westen prasselte ein Schauer nach dem anderen gegen die Windschutzscheibe. Nach kurzer Zeit war zweistimmiges Schnarchen von David und Johns Vater zu hören. Auch Emmeline und Annie waren eingenickt, offenbar durch jahrelange Übung taub für das Gesäge ihrer Ehemänner. Bella und Tommy hatten sich unförmige Kopfhörer aufgesetzt. Aus dem Fenster war außer der Leitplanke im nassen Grau kaum etwas zu erkennen. John faltete seine langen Beine unter den Vordersitz und beschloss, dass dies in der Tat die richtige Zeit für einen Mittagsschlaf war.

„Mir ist langweilig!“ Christopher begann mit seinen Beinen gegen den Sitz zu trommeln. Leise grummelnd öffnete John die Augen wieder. Er drehte sich zu seinem Neffen um und legte den Finger an die Lippen. „Scht. Wir machen jetzt alle eine Pause und ruhen uns ein bisschen aus.“

„Wieso?“

„Dann sind wir wieder fit, wenn wir in unserem Ferienhaus ankommen und können gleich alles erforschen.“

Sehr zufrieden mit seiner schlüssigen Erklärung und in der Erwartung, seinem Neffen würde die Sinnhaftigkeit einer Regenerationsphase nun unmittelbar einleuchten, machte John es sich wieder bequem und ließ den Kopf in seinem zum Kissen geknautschten Pullover sinken.

„Weißt du ’n Witz, John?“, kam es von hinten.

„Nein, tut mir leid.“

„Soll ich dir ’n Witz erzählen?“

„Nein, danke.“

„Dann ein Rätsel. Was ist grün und macht Miau?“

John hielt die Augen resolut geschlossen, als könnte er das kindliche Geplapper damit ausschließen. Es klappte nicht.

„Was ist grün und macht Miau, John? Sag doch was!“

„Keine Ahnung, wirklich.“

„Eine Katze, die in den Farbeimer gefallen ist.“ Christopher kicherte vergnügt. „Was ist grün und macht Miau?“

„Du sagtest es gerade. Eine Katze, die in den Farbeimer gefallen ist“, knirschte John zwischen zusammengebissenen Zähnen.

„Neee. Ein Frosch, der eine Katze gefressen hat.“ Der Junge kringelte sich schier vor Lachen. John dagegen erschloss sich die Pointe beim besten Willen nicht. Während Christopher unbarmherzig weiter fragte, „Was ist viereckig und macht Muh?“, kämpfte John gegen den Impuls, Bella die Kopfhörer herunterzureißen und sich selbst überzustülpen. In diesem Moment hätte er selbst eine Berieselung mit einer der unsäglichen Boybands, auf die seine Nichte so stand, als Wohltat empfunden.

„Jo-hon!“ Christopher verlangte zunehmend lautstark nach einer Antwort. David erwachte mit einem Grunzen und schaute sich einen Moment desorientiert um. Christopher wiederholte zum vierten Mal seine Frage. Davids Augen leuchteten auf.

„Ah, ihr erzählt euch gerade Witze. Passt auf, ich habe einen auf Lager, da werdet ihr euch wegschmeißen. Treffen sich der Schatzkanzler, ein Banker und ein Priester …“

Der Humor in der Geschichte war wohl nur für Steuerfachleute zu erkennen, aber zumindest versetzte Davids langatmiger Vortrag seinen Sprössling augenblicklich in Tiefschlaf. Zutiefst dankbar lächelte John seinen Bruder an.

„Eine großartige Anekdote, David, wirklich.“ Dann nutzte er die Gunst der Stunde und nickte ebenfalls ein.

Er erwachte erst, als das Auto zum Stehen kam. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es kurz vor drei Uhr nachmittags war. Wenn Alans Kalkulation stimmte, mussten sie da sein. Er rappelte sich hoch und sah hoffnungsvoll aus dem Fenster. Zu seiner Enttäuschung sah er nur weite Landschaft, auf die immer noch Regen herniederging.

„Wo sind wir?“, fragte er.

„Am Rand des Dartmoors. Seit Taunton sind wir nur noch im Kriechtempo vorwärtsgekommen, weil überall lauter Sonntagsfahrer unterwegs sind. Und jetzt geht gar nichts mehr“, schimpfte Maggie.

„Ich muss aufs Klo“, kam es von Christopher.

„Ich auch“, stimmte Bella ein.

„Haltet durch, Kinder, in sechs Meilen kommt eine Raststätte.“

Was folgte, waren die wohl längsten sechs Meilen in der Geschichte Britanniens. Als sie endlich auf den Parkplatz einfuhren, wo das ersehnte WC-Zeichen stand, wusste John nicht mehr, wie viele Runden Autofarben-Bingo, ‚Ich packe meinen Koffer‘ und ‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘ sie gespielt hatten. Er nutzte die Gelegenheit und rief Pauline an, die bereits angefangen hatte, sich Sorgen zu machen.

„Ich fürchte, es dauert noch eine Stunde, bis wir endlich da sind“, seufzte er. „Der Urlaubsverkehr ist einfach unglaublich.“

„Wir haben schon gemerkt, dass hier im Ort auch wahnsinnig viel los ist“, berichtete Pauline. „Der Mini-Flughafen hier quillt geradezu über. Aber es hat alles wunderbar geklappt. Ein sehr netter Herr hat uns abgeholt, mit einem riesigen Strauß Rosen für Isabel. Und das Haus ist wunderschön, wirklich.“ Sie kicherte leise. „Ich hoffe, du bist mit dem Zimmer einverstanden, das ich schon für uns ausgesucht habe. Es hat zwar keinen Meerblick, sondern geht hinten hinaus und es ist auch nicht gerade groß. Aber …“

John spitzte die Ohren. „Aber?“

„Aber dafür ist es das einzige Schlafzimmer im früheren Dienstbotentrakt im Dachgeschoss, so dass wir ein bisschen Abstand von der Familie haben.

---ENDE DER LESEPROBE---