Tod in Westminster - Emma Goodwyn - E-Book

Tod in Westminster E-Book

Emma Goodwyn

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Beschreibung

Der Herbstwind fegt durch die Straßen Londons und auch das Leben von Beefeater John Mackenzie wird kräftig durcheinandergewirbelt. Die bevorstehende Junggesellenversteigerung hängt wie ein Damoklesschwert über ihm. Tante Isabel reist aus den schottischen Highlands an, um in den Adelsstand erhoben zu werden. Dann jedoch stirbt ein Mitglied ihrer Delegation unter mysteriösen Umständen. Während die Polizei im Dunklen tappt und die unbezähmbare Renie wie immer für Überraschungen sorgt, ist es an John, das Geheimnis hinter diesem Mord zu lüften

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Tod

in Westminster

 

 

 

John Mackenzies fünfter Fall

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Emma Goodwyn

 

 

Im Gegensatz zu den Schauplätzen

sind alle Personen und Ereignisse der Handlung rein fiktiv, mögliche Ähnlichkeiten zu echten Personen und Geschehnissen keinesfalls beabsichtigt.

 

 

Mehr von Emma Goodwyn:

 

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Besuchen Sie die Autorin unter

www.emma-goodwyn.com!

 

 

Copyright Text und graphische Gestaltung

Emma Goodwyn

c/o Hartmut Albert Fahrner

Am Tannenburganger 36

84028 Landshut

 

Kontakt: [email protected]

 

Veröffentlichungsdatum: 1. Juli 2015

 

Alle Rechte vorbehalten

(V4.1)

 

 

Prolog

 

Westminster Palace, im Sommer des Jahres 1239: Ein Knabe wird geboren, der den Lauf nicht nur der englischen Geschichte maßgeblich beeinflussen wird.

Sein Vater: König Henry III Plantagenet, ein großer Verehrer von Edward dem Bekenner, dem für seine Mildtätigkeit und Frömmigkeit berühmten und nach seinem Tod heiliggesprochenen König. Ihm zu Ehren lässt Henry Westminster Abbey im gotischen Stil neu erbauen und gibt einen prächtigen neuen Schrein in Auftrag, in den die Gebeine des Heiligen umgebettet werden sollen.

Und er benennt seinen Erstgeborenen nach ihm.

Der Sprössling, ausgestattet mit ungestümer Energie und brillanten Geistesgaben, wächst zu einem vielversprechenden jungen Mann heran, der sich mit seiner stattlichen Körpergröße von mehr als sechs Fuß bald den Beinamen „Edward Langbein“ verdient. Als er mit fünfunddreißig Jahren zum König gekrönt wird, eilt ihm ein Ruf als furchtloser Krieger und geschickter Heeresführer voraus, den er sich bei den Kreuzzügen im Heiligen Land erworben hat.

Er schafft, was seinem Vater nicht gelungen ist: Den englischen Adel hinter sich zu vereinen und dem Land damit Stabilität zu geben. Gleichzeitig räumt er dem Parlament vorher nicht dagewesene Rechte ein. Er reformiert erfolgreich das Rechtswesen und die Verwaltung und baut die Armee zu einer schlagkräftigen Truppe auf. Als seine Frau Eleanor nach sechsunddreißig Jahren Ehe stirbt, wird das ganze Volk Zeuge, wie sehr der König um die geliebte Gefährtin trauert. An jedem der zwölf Orte, wo die Prozession mit ihrem Sarg zwischen Lincoln und ihrer letzten Ruhestätte in Westminster Abbey Halt macht, lässt er ein Kreuz zum Gedenken an Eleanor errichten, eines davon im Dörfchen Charing unweit von Whitehall – unwissend, dass Charing Crosssich im Lauf der Jahrhunderte zum Mittelpunkt der Metropole London entwickeln würde.

 

Jedoch trägt der König auch ein anderes Gesicht: rachsüchtig, grausam, erbarmungslos. Die gesamte jüdische Bevölkerung wird auf seinen Befehl hin exekutiert oder vertrieben. Mit dem konfiszierten Vermögen finanziert Edward seine Kriegszüge auf der britischen Insel. Als er es geschafft hat, Wales nach blutigen Kämpfen der englischen Krone einzuverleiben, richtet er sein Augenmerk auf Schottland.

Nachdem er König John Balliol gefangen, gedemütigt und ins Exil gezwungen hat, sieht er sich bereits als Sieger. Doch er hat den Freiheitsdrang des Volkes aus dem Norden unterschätzt. Immer wieder kommt es zu Aufständen gegen das englische Joch, die von Edwards Truppen aufs Blutigste niedergeschlagen werden. Die Leichen fallen wie Herbstlaub, schreibt ein Chronist, der Zeuge wird, wie die Grenzstadt Berwick-on-Tweed förmlich ausradiert wird.

Als Edward den charismatischen Anführer der Schotten, William Wallace, in die Finger bekommt, ist dessen Schicksal besiegelt. Nach einer grausamen Tortur wird er getötet, sein Kopf auf einem Spieß an der London Bridge zur Schau gestellt. Doch schon erhebt sich der nächste Rebell: Robert the Bruce.

Trotz seines hohen Alters macht Edward sich auf, seine Mannen nach Norden in die Schlacht gegen die Aufständischen zu führen. Auf dem Weg dorthin stirbt er achtundsechzigjährig.

Sein Verlangen, Schottland endgültig unterworfen zu sehen, reicht über den Tod hinaus: Noch zu Lebzeiten hat Edward verfügt, seine königlichen Gebeine mögen bei zukünftigen Feldzügen stets mitgeführt und erst dann zur Ruhe gebettet werden, wenn die Schotten endgültig besiegt seien. Doch dieser Wunsch sollte ihm nicht erfüllt werden. Nach seinem Tod wird der König in einem schlichten Steinsarkophag – für ein aufwändigeres Grabmal ist kein Geld mehr da – in Westminster Abbey beigesetzt.

 

Dass gut siebenhundert Jahre später just an diesem Ort ein weiterer aufrührerischer Highlander den Tod findet, hätte Edward I, dem „Hammer der Schotten“, sicher grimmiges Vergnügen bereitet.

Kapitel 1

 

„Hör dir das an, John.“ Renie schlug ein sichtbar abgegriffenes Taschenbuch auf, ‚Wie ich Livingstone fand‘ von Henry Morton Stanley.

„Am 16. Oktober im Jahr unseres Herrn 1869 befand ich mich in Madrid, frisch vom Blutbad von Valencia. Um zehn Uhr vormittags übergab Jacopo mir ein Telegramm. Darin stand, ‚Kommen Sie nach Paris, dringliche Angelegenheit.‘ Das Telegramm kam von Mr. James Gordon Bennett jun., dem jungen Verleger des New York Herald. Dann ein bisschen blablabla und hier wird’s interessant.

Mr. Bennett fragte mich, ‚Wo, denken Sie, ist Livingstone?‘

‚Das weiß ich wirklich nicht, Sir.‘

‚Denken Sie, er ist am Leben?‘

‚Das könnte sein, es könnte auch nicht sein‘, antwortete ich.

‚Nun, ich denke, dass er lebt und dass er gefunden werden kann – und ich werde Sie ausschicken, ihn zu finden.‘“

Mit leuchtenden Augen ließ Renie das Buch sinken und sah ihren Onkel an.

„Das wäre mein Traum. Was für eine Aufgabe! Allein in ein kaum erforschtes Gebiet zu ziehen und einem seit Jahren verschollenen Missionar nachzuspüren – das waren noch echte Abenteuer.“

„Naja, allein dürfte Stanley in Afrika wohl kaum gewesen sein. Wahrscheinlich hatte er eine Heerschar einheimischer Helfer. Und ein romantisches Abenteuer war die Expedition inmitten von Raubtieren, feindseligen Stämmen und allen möglichen tropischen Krankheiten sicher auch nicht“, erwiderte John trocken.

Seine Nichte ignorierte ihn. „Und tatsächlich hat Stanley ihn im November 1871 am Tanganjika-See gefunden, ist das nicht der Hammer?“

„Mit den legendären Begrüßungsworten, ‚Dr. Livingstone, nehme ich an‘, ich weiß. Stanley ist also zwei Jahre lang kreuz und quer durch Afrika gereist, bis er Livingstone entdeckt hat?“

„Nein, die eigentliche Expedition dauerte nur gut ein halbes Jahr. Morton schreibt hier in seinem Buch, dass sein Verleger ihn zuerst noch zur Einweihung des Suez-Kanals schickte, danach sollte er Ägypten durchqueren und einen Reiseführer für amerikanische Touristen schreiben. Anschließend sollte er von Ausgrabungen in Jerusalem berichten und von irgendwelchen politischen Auseinandersetzungen in Konstantinopel, bevor er weiter auf die Krim reiste …“

Während Renie munter weiterschwatzte, kippte John einen Berg kleingeschnittener Apfelstücke von seinem Schneidbrett in eine Schale und griff nach einem weiteren Apfel. Seine Nichte war an diesem verregneten Septembernachmittag in den Tower gekommen, um John über die Schulter zu sehen, wie er ihr Lieblingsgericht Apple Crumble zubereitete.

„Der schmeckt nirgends so gut wie bei dir. Ich möchte endlich mal hinter dein Geheimnis kommen“, hatte sie erklärt und extra einen Block mitgebracht, um jeden Schritt minutiös zu notieren. Bisher hatte sie jedoch kein Wort aufgeschrieben. Sie war viel zu sehr gefangen in ihren neuesten Karriereplänen.

 

„Jetzt weiß ich endlich, was ich will“, hatte sie vor einiger Zeit bei einem Familienabendessen, zu dem auch John eingeladen war, verkündet. Woraufhin ihr Vater Alan amüsiert eine Augenbraue hob, während ihre Mutter, Johns Schwester Maggie, sich fast an einem Blumenkohlröschen verschluckt hätte.

„Was ist es diesmal, Liebes?“, fragte sie ihre Tochter in einem bemüht neutralen Ton, nachdem sie wieder Luft bekam. Dann zählte sie an den Fingern auf, „Was hatten wir schon alles? Anthropologie, zwei Semester – abgebrochen. Dann Bandmanagerin der, wie hießen sie doch noch? Rude Pipers? Imbecile Pipers? Ear-Piercing Pipers? –“

„Atomic Pipers“, grollte Renie.

„Ach ja, wie konnte ich das nur vergessen“, fuhr Maggie süffisant fort. „Diese großartige Band mit ihrem charismatischen Drummer Andy, diesem Ausbund an rustikalem Charme, der uns wochenlang den Kühlschrank leergefuttert hat, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, Tiraden gegen uns alte Spießer loszulassen.“

Renies jüngste Schwester Bella kicherte los. Renie dagegen fand die spitzen Bemerkungen ihrer Mutter sichtlich wenig erheiternd. Ihre Miene verfinsterte sich zunehmend, als Maggie weitersprach.

„Lass mich überlegen, was kam dann? Ah, genau, dann hast du dir eine Auszeit genommen, um dich zu orientieren –“

„Damals habe ich schon angefangen, im Naturhistorischen Museum zu arbeiten und außerdem habe ich dort ganz nebenbei geholfen, einen Mord aufzuklären!“, begehrte Renie auf.

„Einspruch stattgegeben“, gestand Maggie ihr, ganz die Staatsanwältin, zu. „Dann hattest du eine Phase, wo dein größter Traum war, die Bühne zu erobern. Monatelang hast du uns mit Shakespeare bombardiert, bis wir alle eine Überdosis davon hatten.“ Sie griff nach einer Pampelmuse, die in einer Obstschale auf dem Tisch lag, stierte sie an und deklamierte pathetisch, „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.“

Renie lachte auf. „Mum, es ist gut, dass sich deine Auftritte auf den Gerichtssaal beschränken. Du gibst einen grauenhaften Hamlet ab. Selbst die Pampelmuse in der Rolle als Yoricks Schädel ist glaubwürdiger.“

„Das mit der Schauspielerei war cool, fand ich“, meldete sich der fünfzehnjährige Tommy zu Wort. „Wieso wolltest du das eigentlich plötzlich nicht mehr? Es lief doch super, du warst kurz vor der Aufnahmeprüfung an der Uni, hattest schon alle möglichen Connections aufgebaut –“

Renie funkelte ihren Bruder an. „Ja, klar, Connections, die du zu gern als Türöffner in die Medienwelt nutzen wolltest. Na, immerhin hab ich ein Praktikum bei Star Radio One für dich klargemacht. Also lass mich zufrieden, Kleiner.“

Sie sah sich in der Runde um und fuhr dann ungewohnt nachdenklich fort.

„Ihr müsst verstehen, für mich war diese Welt auf Dauer einfach nichts. Da geht es immer irgendwie mehr um Schein als ums Sein. Es … hat in meinen Augen keine wirkliche Bedeutung, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Nach einer Weile habe ich gemerkt, dass ich die Leidenschaft, die man für diesen Beruf, für das Spielen braucht, nicht in mir habe. Ich … möchte irgendetwas Substanzielleres, … Nachhaltigeres schaffen, als Leute nur für einen Abend mit einer tollen Vorstellung von ihrem Alltag abzulenken …“

Während sie weitersprach, bemerkte John, dass Maggies sarkastisches Lächeln schwand und ihre Gesichtszüge weich wurden.

„Trotzdem“, schloss Renie. „Es war keine vertane Zeit auf der Schauspielschule. Ich habe da unheimlich viel Spannendes gelernt, ich konnte mich ausprobieren und dazu habe ich noch einige interessante und nette Leute kennengelernt – und ein paar Freaks –“

Sie sah zu ihrem Onkel hinüber, der zustimmend nickte. Da Renie ihn als eine Art Coach und Mentaltrainer für die Schauspielschüler in ihrem Kurs engagiert hatte, hatte er ebenfalls einen Einblick in die Welt des Theaters erhalten.

Rückblickend mochte er jene, wenn auch anstrengenden und dramatischen Wochen nicht missen. Die Arbeit mit den jungen Leuten hatte ihm klargemacht, dass ihm seine frühere Tätigkeit als Psychologe doch ein wenig fehlte. Gut zwanzig Jahre lang hatte er Truppenangehörige der Britischen Armee bei Auslandseinsätzen betreut, bevor er sich entschieden hatte, einen klaren Schnitt zu machen. Er mochte seinen neuen Beruf als Mitglied der Königlichen Wachtruppe der Yeoman Warders, gemeinhin Beefeater genannt, sehr, und auch das Leben direkt in den Mauern des Tower of London gefiel ihm. Das Tüpfelchen auf dem i war es gewesen, als er zum Assistenten des Ravenmasters ernannt worden war und nun einen großen Teil seiner Zeit der Pflege der neun Raben des Towers widmen konnte. Die Tiere, besonders das Nesthäkchen der Gruppe, Gworran, waren ihm sehr ans Herz gewachsen. Dennoch … Im Nachhinein war er Renie geradezu dankbar, dass sie ihn dazu gebracht hatte, seine alten Kenntnisse wieder auszugraben. Als sein Einsatz an der Schauspielschule zu Ende gewesen war, hatte er sich auf die Suche nach einer Stelle gemacht, wo er ehrenamtlich mitarbeiten konnte. Vor kurzem war er fündig geworden: Ein Nachbarschaftszentrum in Shoreditch mit einem engagierten Team Freiwilliger hatte ihn mit offenen Armen aufgenommen und nun verbrachte er zweimal im Monat ein paar Stunden dort. Kaum war bekannt geworden, dass ein gut ausgebildeter Psychologe nun regelmäßig zur Verfügung stand, war die Warteliste zum Bersten voll. Und so kümmerte sich John um verzweifelte Teenager, die über einen Schwangerschaftsabbruch nachdachten, Mütter, die Angst hatten, ihr Sohn würde zum islamistischen Terroristen mutieren, Lehrer, die keine Ahnung hatten, wie sie den Drogenproblemen ihrer Schüler begegnen sollten, Frauen, die ihr blaues Auge schamhaft verdeckten und einen Rat wollten, wie sie ihren Ehemann vom Trinken abhalten konnten. Wenn er mit der U-Bahn quer durch London zurückfuhr, war er jedesmal bis in die Knochen erschöpft. Er wusste, dass es nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein war, was er für diese Leute leisten konnte, aber dennoch machte es ihn zufrieden, wenigstens das tun zu können.

 

„Ich denke, wir haben verstanden, warum du die Schauspielkarriere nicht weiterverfolgen wolltest. Also, was hast du jetzt vor?“ Alan lehnte sich zurück und sah seine Tochter erwartungsvoll an.

„Lass mich raten“, platzte Bella heraus. „Du machst irgendwas mit Tieren, so wie Geoff.“

Dr. Geoffrey Tomlinson war Insektenkundler am Natural History Museum, wo Renie ebenfalls seit knapp einem Jahr arbeitete. Aus einem Aushilfsjob war eine feste Teilzeitstelle in der Pressestelle des Museums geworden, seit sie vor etlichen Monaten die Schauspielschule an den Nagel gehängt hatte. Darüber freute sich besonders Renies Großvater James Mackenzie, der jahrzehntelang als Kurator in der Saurierabteilung des Naturhistorischen Museums tätig gewesen war und auch jetzt nach seiner Pensionierung noch häufig dort zu finden war.

„Hui, das wäre doch toll – dann könntet du und Geoff zusammen arbeiten und euch immer sehen“, plapperte Bella begeistert weiter.

Renie grinste. „Ach Spätzchen, du hast ja noch romantische Vorstellungen. Nee, ich weiß nicht, ob das für eine Beziehung auf Dauer so gut ist, wenn man Tag und Nacht beieinander hängt. Das merke ich selbst jetzt schon, wo ich meistens bei Geoff übernachte und wir morgens gemeinsam ins Museum fahren. Abgesehen davon finde ich Biologie faszinierend, aber studieren möchte ich es nicht. Hat sonst noch jemand eine Idee?“

„Vielleicht Psychologie, wie John?“, riet Tommy.

Renie schüttelte den Kopf. „Auch ein toller Beruf, aber nichts für mich.“

„Jura?“, ließ Maggie sich hoffnungsvoll vernehmen. „Du würdest eine hervorragende Anwältin abgeben –“

„Oh, Mum, bitte, nicht die alte Leier.“ Renie rollte mit den Augen. „Nein, ich möchte in keinerlei familiäre Fußstapfen treten, das ist mal glasklar. Ich merke schon, ihr kommt nicht drauf. Also gut, ich sage es euch jetzt.“

Sie machte eine Kunstpause. Fünf Augenpaare waren gespannt auf sie gerichtet.

„Ich werde Journalistin.“

Nach dieser feierlichen Ankündigung sah sie ein wenig unsicher ihre Eltern an. „Wie findet ihr das?“

Maggie und Alan wechselten einen Blick.

„Hm. Grundsätzlich keine schlechte Idee, finde ich“, meinte Alan.

„Dieser Beruf könnte zu dir passen“, pflichtete Maggie ihm bei. „Wie bist du darauf gekommen?“

„Ihr wisst doch, dass ich zusammen mit ein paar Kollegen ein Erinnerungsbuch für unseren Museumsdirektor gestaltet habe, das wir ihm bei der großen Verabschiedungsfeier überreicht haben? Ich habe Weggefährten von Sir Edward interviewt, seine wichtigsten Forschungsergebnisse zusammengefasst und die Entwicklung des Museums unter seiner Führung beschrieben.“

John nickte. „Ich habe von mehreren Seiten gehört, dass du dabei einen exzellenten Job gemacht hast.“

Renie lächelte geschmeichelt. „Also, auf jeden Fall war Sir Edward hellauf davon begeistert. Er hat das Buch einem Bekannten gezeigt – und dieser Bekannte war Mark Taylor.“

Mark Taylor? Mark Taylor? Bei John fiel der Groschen als erstes. „Vom Guardian? Ich habe heute Morgen erst einen Artikel von ihm gelesen –“

„Natürlich! Über die möglichen Auswirkungen genmanipulierten Getreides! Den habe ich auch gelesen“, fiel Maggie ein und sprang auf. In Windeseile war sie zurück und breitete die Zeitung auf dem Tisch aus.

„Das ist er!“ Sie deutete auf ein kleines Foto neben dem Artikel. „Sieht ein bisschen wie Richard Gere in jüngeren Jahren aus, nicht wahr? Ziemlich lecker, finde ich.“

„Uäh, Mum, wie kannst du sowas sagen“, meinte Bella angewidert, während Alan erheitert die Augenbrauen hochzog. Sie musterte das Bild. „Außerdem ist der voll alt. Seine Haare sind ja schon grau.“

„Ähem, mein Kind, dieser Mann ist genauso alt wie dein Onkel John und damit sogar etwas jünger als ich. Und graue Schläfen geben einem Mann etwas sehr Distinguiertes“, entgegnete Maggie in spitzem Ton.

„Was ist distinguiert?“

„Mann, ist doch egal. Müssen wir jetzt über das Aussehen von diesem Typen da diskutieren?“, mischte Tommy sich ungeduldig ein. „Was hat er jetzt mit dir zu tun, Renie?“

„Er ist Ressortleiter für Wissenschaft und Technologie beim Guardian, also ein ziemlich einflussreicher Mann dort. Und nachdem er das Buch gesehen hat und der liebe Sir Edward ihm erzählt hat, dass das meiste darin von einer jungen, aber hochengagierten Mitarbeiterin in der Presseabteilung des Museums stammt, die sich über ihren zukünftigen beruflichen Weg noch nicht recht klar ist, hat er mich tatsächlich angerufen.“ Sie atmete tief durch.

„Ich wäre fast in Ohnmacht gefallen, sage ich euch. Mark Taylor! Erst habe ich gedacht, da nimmt mich jemand auf den Arm und als ich gecheckt habe, dass er es wirklich ist, war ich so perplex, dass ich kaum ein Wort rausgebracht habe.“

„Donnerwetter. Dass es dir einmal die Sprache verschlägt, habe ich ja in zweiundzwanzig Jahren nicht erlebt“, warf Maggie ein.

Renie fuhr ungerührt fort. „Er hat mich gelobt, dass ihm mein Stil gefällt und meine Recherchen sehr gründlich wären. Und er hat mich gefragt, ob ich abgesehen von dem Buch noch mehr geschrieben habe, was er sich ansehen könnte.“

„Deswegen hast du kürzlich im Speicher nach den alten Ausgaben eurer Schülerzeitung gekramt!“, fiel es Maggie ein.

„Genau. Da waren ein paar Artikel von mir drin, die ich heute eher peinlich finde. Aber da ich ansonsten nur noch ein, zwei Fachaufsätze aus meiner Zeit an der Uni und ein paar Pressemitteilungen fürs Museum hatte, habe ich ihm einfach alles geschickt. Und schon zwei Tage später hat er sich wieder gemeldet und mich in sein Büro eingeladen.“

„Und?“, fragte Bella gespannt.

„Er hat mich gefragt, ob ich Interesse hätte, in den Print- und Online-Journalismus hinein zu schnuppern. Ich hätte Talent fürs Schreiben. Er bot mir an, den Mitarbeitern in seinem Ressort für ein paar Tage über die Schulter zu schauen. Das habe ich letzte Woche gemacht. Und jetzt ist mir klar: Das ist genau mein Ding.“

Einen Moment herrschte Schweigen am Tisch.

„Offensichtlich beschäftigst du dich also schon seit einiger Zeit mit diesem Gedanken. Du hast bis jetzt gar nichts darüber erzählt. Das kenne ich gar nicht von dir“, äußerte Maggie verwundert.

„Ich weiß, Mum. Ich wollte nicht wieder mit irgendeiner halbgaren Idee herausplatzen, sondern erst dann etwas sagen, wenn ich mir hundertprozentig sicher bin. Auch wenn ich mir dafür einige Male ganz schön auf die Zunge beißen musste.“

John räusperte sich.

„Auch ich kann mir vorstellen, dass der Beruf etwas für dich ist. Dennoch: Dir ist klar, dass es in dieser Branche oft genug sehr schmutzig zugeht? Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie nach dem Mordfall im Tower die Reporter wie ein Heuschreckenschwarm über uns hergefallen sind. Die hatten überhaupt keine Skrupel, wenn es darum ging, irgendeine Information zu erhaschen, aus der sie sich eine Schlagzeile zusammenschustern konnten.“

„Natürlich, du hast recht, John“, stimmte Alan ihm zu. „Es gibt genügend schwarze Schafe, die vor nichts zurückschrecken, um mit irgendwelchen Sensationsmeldungen ihre Auflage zu erhöhen. Da muss man nur an den Abhör-Skandal bei News of the World denken. Diese Leute sind wirklich über Leichen gegangen.“

Maggie schüttelte sich. „Meine Kollegen, die in dem Verfahren ermitteln mussten, können ein Lied davon singen, mit welchen Bandagen da gekämpft wird. Was im Murdoch-Imperium abgelaufen ist, ist wirklich unterste Schublade.“

„Und wer hat die ganze Sache aufgedeckt?“, fragte Renie mit einem überlegenen Lächeln. „Natürlich Nick Davies vom Guardian. Und wer hat Edward Snowden geholfen, seine NSA-Enthüllungen an die Öffentlichkeit zu bringen – Glenn Greenwald, damals Redakteur beim Guardian. Dort arbeiten einfach die besten Investigativjournalisten im ganzen Land.“ Sie lehnte sich im Stuhl zurück.

„Das ist es, was ich langfristig will. Seriöse, tiefgründige Recherchen zu wichtigen Themen. Die Leute dazu bewegen, über ihren Tellerrand zu schauen. Aufrütteln. Definitiv will ich keine Klatschgeschichten schreiben, von wegen wie das nächste royale Baby wohl heißen wird oder wer der heißeste Spieler von Chelsea ist.“

Maggie lächelte. „Nichts anderes hätte ich von dir erwartet, Schatz. Wie soll es nun also weitergehen? Soweit ich weiß, gibt es ganz verschiedene Wege, in den Journalismus einzusteigen.“

Renie nickte.

„Mark Taylor zum Beispiel hat Biologie und Chemie studiert und dann einen Master in Journalismus draufgesattelt. Ähnlich haben es auch andere Redakteure gemacht, mit denen ich schon sprechen konnte. Erst ein Fach- und dann ein Aufbaustudium. Ein anderer Weg ist, direkt einen Bachelor-Studiengang in Journalistik zu belegen. Das ist das, was ich gern tun würde. Die City University hat einen sehr guten Ruf, dort möchte ich mich bewerben.“

Alan runzelte die Stirn. „Bist du damit nicht zu spät dran? Das Herbsttrimester steht vor der Tür.“

„Für dieses Jahr wäre es ohnehin zu spät gewesen. Man muss die Bewerbung schon im Januar abgeben, um im darauf folgenden September starten zu können.“

Maggie seufzte. „Was hast du dann für die nächsten zwölf Monate vor?“

„Keine Sorge, ich werde nicht auf der faulen Haut rumliegen. Geht ja auch gar nicht, wenn Geoff und ich irgendwann zusammen in eine Wohnung ziehen wollen, die größer als sein jetziges Kämmerchen ist. Schließlich will ich nicht einen auf „Tochter aus besserem Hause“ machen und euch auf der Tasche liegen.“

„Gute Einstellung, mein Fräulein“, kommentierte Alan trocken.

„Aber die Studiengebühren übernehmt ihr doch, oder?“ Renie sah ihren Vater bittend an.

„Natürlich – wenn du dir diesmal wirklich sicher bist, dass es das ist, was du willst.“

„Das sagte ich doch schon. Ich bin mir sicher. Hundertprozentig. Tausendprozentig.“

„In Ordnung. Nun hast du uns aber immer noch nicht gesagt, was du in nächster Zeit tun willst.“

Renie kicherte. „Genau, weil ich mir das Beste für den Schluss aufheben wollte.“ Sie zog schwungvoll ein Papier aus ihrer Tasche, die neben ihrem Stuhl stand.

„Also, liebes Volk, höret und staunet: Mark Taylor hat sich für mich eingesetzt und nun habe ich einen Vertrag als Trainee für ein Jahr beim Guardian. Zwanzig Stunden die Woche. Zwar mit einem Mini-Gehalt – das reicht gerade mal fürs Kantinenessen und deswegen werde ich auch weiter Teilzeit im Museum arbeiten müssen, was einigermaßen stressig werden dürfte – aber das ist völlig egal, denn dies hier bedeutet eine Wahnsinnschance. Und die ist mir einfach so in den Schoß gefallen, das ist das Schärfste. Dafür –“ Sie wedelte mit dem Dokument herum – „würden Hunderte, wahrscheinlich Tausende junger Leute, auch solche, die ihren Bachelor bereits in der Tasche haben, Gott weiß was tun.“

Während Tommy und Bella ihre Schwester beeindruckt ansahen, zogen im Gesicht ihrer Mutter Gewitterwolken auf.

„Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Was denkst du, warum sich dieser Mark Taylor so sehr für dich ins Zeug legt?“, fragte Maggie skeptisch.

Renie stöhnte auf. „Oh, Mum, du witterst schon wieder hinter jeder Ecke einen neuen Jimmy Savile. Glaub mir, Mark ist definitiv kein Mann, der irgendwelche finsteren Absichten hegt, er ist ein ganz integrer Typ. Mir sagte er, ich würde einfach alle Voraussetzungen erfüllen, die man für den Journalistenberuf braucht: Wissbegierde in möglichst allen Bereichen, ein lebhaftes Interesse an Menschen, Kontaktfreudigkeit, eine gute Allgemeinbildung, einen ansprechenden Schreibstil, natürlich eine wasserdichte Rechtschreibung, die Bereitschaft, zu ungewöhnlichen Zeiten und unter dem Druck einer Deadline zu arbeiten und zuletzt noch eine gute Portion Hartnäckigkeit.“ Sie sah strahlend in die Runde. „Das habe ich doch echt alles, oder?“

Dem ließ sich wirklich nicht widersprechen.

 

 

„Und das Beste: Geld spielte bei diesem Unternehmen überhaupt keine Rolle. Bennett sagt weiter zu Henry Morton Stanley: ‚Nun, ich will Ihnen sagen, was Sie tun werden. Holen Sie sich tausend Pfund; und wenn diese verbraucht sind, holen Sie sich wieder tausend Pfund, und wenn diese ausgegeben sind, holen Sie sich wieder tausend, und wenn diese fort sind, holen Sie sich abermals tausend – und so weiter. Aber: FINDEN SIE LIVINGSTONE!‘ Ha, von so etwas kann ein Journalist heute nur träumen – ein unbegrenztes Spesenkonto!“, schnaubte Renie.

In der Zwischenzeit hatte John die Äpfel fertig geschnitten und mischte sie nun mit Rohrzucker und etwas Zimt. Er sah auf.

„Wie wäre es, wenn du die Streusel gleich selbst machst? So lernst du es am besten.“ Während sie nach seiner Anleitung zimmerwarme Butter und Zucker vermischte und danach mit den Fingern Mehl hineinknetete – nicht, ohne ein paar der entstehenden Bröckchen gleich zu probieren – erzählte sie John von dem Projekt, an dem sie derzeit arbeitete.

„Mark will nächstes Jahr, wenn sich David Livingstones Aufbruch zu seiner letzten Afrikareise zum hundertfünfzigsten Mal jährt, ein paar Sonderseiten über Livingstone herausbringen. Er hat mich und noch zwei andere Praktikanten darangesetzt, Material zusammenzutragen.“ Sie grinste. „Was für ein Glück, dass ich im Museum sozusagen an der Quelle sitze. Kannst du dich erinnern, dass Mike letztes Jahr eine Sonderausstellung ‚Expeditionen einst und jetzt‘ konzipiert hat?“

John nickte. Dr. Mike Nichols, Ornithologe am Natural History Museum, war ein guter Freund.

„Naja, außer den Forschungsreisen von Darwin und Wallace war da auch Livingstones besessene Suche nach den Nilquellen ein Thema. Also kann ich aus einem reichen Fundus schöpfen.“ Renie seufzte glücklich. „Connections muss man einfach haben. Wenn ich Glück habe, darf ich sogar ein paar Absätze für die Beilage selbst schreiben. Ach, und noch was Witziges: Als Gary Flanders, einer der Politikredakteure, mitbekommen hat, dass ich mit Isabel Mackenzie verwandt bin, hat er mir aufgetragen, Tante Isabel bei ihrem Besuch nächste Woche um ein Interview zu bitten.“

Die hochbetagte, aber immer noch sehr vitale Patriarchin des Mackenzie-Clans kam zusammen mit einer schottischen Delegation nach London. Höhepunkt des Aufenthaltes würde die feierliche Investitur im Buckingham Palace sein, bei dem Isabel in den Rang einer Dame Commander of the British Empire erhoben werden sollte.

„Gary sagt, dass ein Gespräch mit ihr und wenn möglich auch mit anderen Mitgliedern ihrer Abordnung gerade jetzt, so kurz nach dem Schottland-Referendum, interessant sein könnte.“

John lachte. „Wenn Isabel immer noch so fit und kämpferisch ist wie letztes Jahr, kann sich der Redakteur auf ein spannendes Interview einstellen.“

Renie kippte die Streusel auf die Apfelmischung und schob die Auflaufform in den Ofen. „Ich freue mich so auf die Tage mit Tante Isabel. Ich hatte eine tolle Zeit, als ich ihr in Edinburgh geholfen habe, das große Clantreffen zu organisieren. Unglaublich, dass das schon wieder über ein Jahr her ist. Seither haben wir uns nicht gesehen.“

John nickte.

„Sie ist schon eine einzigartige Frau. Ich hoffe wirklich, dass sie noch ganz die Alte ist.“

Kapitel 2

 

Davon konnte John sich wenige Tage später aus erster Hand überzeugen.

„Du Hasenfuß, nun stell dich nicht so an“, ermahnte Isabel ihn, nachdem sie sich ein paar Lachtränen aus dem Gesicht gewischt hatte. „Du tust ja gerade so, als müsstest du allein einem hungrigen Löwenrudel entgegentreten.“

John überlegte im Stillen, ob ihm diese Alternative nicht wesentlich lieber gewesen wäre im Vergleich zu dem, was ihm am nächsten Samstag bevorstand. Selbst der vorzügliche Lachs, den sie soeben als Vorspeise serviert bekommen hatten, wollte ihm beim Gedanken daran nicht mehr recht schmecken.

Im Bankettsaal des altehrwürdigen Royal Victoria Hotels wurde an diesem Abend ein großes Galadinner veranstaltet, zu dem auch die Mackenzies eingeladen waren. An der Stirnseite des Raums prangte ein Banner: Die Whisky Association Scotland heißt euch in London willkommen: Isabel Mackenzie und Angus Macgregor! Wir sind stolz auf euch!

Nachdem Downing Street vor Monaten als Zeichen guten Willens gegenüber den Schotten das Regionalparlament in Edinburgh ersucht hatte, zwei Kandidaten für den Ritterstand vorzuschlagen, war die Wahl auf die beiden streitbaren Veteranen gefallen.

Die Aussicht, einen der höchsten Orden des Landes aus der Hand der Königin höchstselbst verliehen zu bekommen, hatte Isabel keineswegs vor Freude in Ohnmacht fallen lassen. Erst nach langem Zögern hatte sie sich bereiterklärt, die Ehrung anzunehmen. Heute Nachmittag war sie nun gemeinsam mit der dreißigköpfigen schottischen Abordnung in London eingetroffen. Das Willkommensdinner des Whiskyherstellerverbands stellte den Auftakt zu einem dichtgedrängten gut einwöchigen Programm dar.

Zu Johns Leidwesen drehte sich das Tischgespräch jedoch nicht um Isabels bevorstehende Ehrung, sondern um einen Auftritt, zu dem er sich in einem Anflug von geistiger Umnachtung von seiner Mutter hatte breitschlagen lassen.

Bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten der Königlichen Gärten in Kew sollte eine Junggesellenauktion stattfinden und Emmeline Mackenzie hatte alle Register gezogen, um ihren Sohn dazu zu bewegen, sich dafür zur Verfügung zu stellen. Seither plagten John nächtliche Schweißausbrüche und Albträume, in denen wechselweise Meuten von Frauen „Ausziehen, ausziehen“ kreischten oder ihn mit mitleidigen Blicken maßen, um dann 50 Pence zu bieten.

„Ansehnlicher Mittvierziger – ein Mann mit einem großen Herzen, der großartig zuhören kann und an dessen Schulter man sich gerne anlehnt; in jeder Lebenssituation ein echter Fels in der Brandung“, hatte Renie vollmundig in das Programmheft geschrieben, das sie in Emmelines Auftrag verfasst hatte und nun herumzeigte.

Simon verdrehte die Augen und murmelte, „Das klingt wie eine ausnehmend verzweifelte Annonce in einer drittklassigen Partnerschaftsbörse.“ Er grinste John boshaft an. „Aber wer weiß, wenn du dich auf der Bühne gut darstellst – vielleicht findet sich da ja endlich eine Frau, die mit unserem alten Junggesellen nicht nur einen Abend verbringen möchte. Wäre das nicht erfreulich?“

Während Renie und Maggie, die diese gehässige Bemerkung gehört hatten, empört dreinsahen und selbst Simons Ehefrau, die Ehrenwerte Patricia Whittington-Armsworth, indigniert eine Augenbraue hob, blieb John gelassen.

„Nun, ich habe nicht vor, mich als etwas darzustellen, was ich nicht bin. So etwas rächt sich auf lange Sicht doch immer, nicht wahr, … Superintendent?“

Der Schuss hatte gesessen. Sein Cousin zuckte zusammen. Patricia, die mit Ausnahme von John als einzige wusste, warum Simon vor einiger Zeit die erwartete Beförderung zum Chief Superintendent bei der Metropolitan Police verwehrt blieb, tupfte sich geziert den Mund ab und wechselte das Thema.

„Emmeline, ich bin sehr gespannt auf eure Erfahrungen mit einer solchen Art von Veranstaltung. Wir vom Förderverein des St. Bartholomew Krankenhauses denken auch beständig über neue Wege nach, wie wir Gelder generieren könnten …“

Während sie weitersprach, raunte Renie ihrer Mutter zu, „Simon, dieses Rabenaas. Wieso sind die beiden überhaupt zu diesem Essen eingeladen?“

Maggie seufzte leise. „Naja, Simon ist nun mal unser Cousin. Und natürlich lässt er sich die Gelegenheit, sich mit einer künftigen Dame Commander of the British Empire sehen zu lassen, nicht entgehen.“

„Klar, er ist publicitygeil wie eh und je. Dabei war seine Visage sowieso in den letzten Wochen ständig in allen Zeitungen zu sehen, nachdem er dieses entführte Ministerskind retten konnte. Er platzt ja vor Stolz gleich aus seinem feinen Zwirn heraus. Widerlich“, knurrte Renie.

„Patricia, Liebling, ich habe eine Idee für euren Verein“, hob der Superintendent wieder an. „Ihr könntet auch eine Auktion auf die Beine stellen – allerdings mit attraktiveren Objekten als … nun ja“, er warf einen Blick zu John hinüber.

Patricia sah ihn stirnrunzelnd an. „Was meinst du?“

„Nun ja, ihr könntet eine Celebrity-Auktion daraus machen. Du hast ja schließlich hervorragende Kontakte, da könntest du doch sicher einige Hochkaräter für ein Meet-and-Greet, eine Partie Golf, ein Essen oder was auch immer gewinnen.“ Er strich über seine Hundertfünfzig-Pfund-Krawatte. „Und den ersten Kandidaten hättest du auch schon, für den sich gewiss ein hübsches Sümmchen erlösen ließe. Ich selbst würde mich zur Verfügung stellen.“

Simon sah Beifall heischend in die Runde. Als die Reaktionen lediglich von bemühtem Lächeln bis zu einem gemurmelten „Ich glaube, mir wird schlecht“ von Renie reichten, widmete er sich beleidigt wieder seinem Lachs.

Isabel lächelte amüsiert.

„Soweit ich weiß, verspricht unser Programm für den Samstag nichts besonders Spannendes. Ich denke, ich werde mich für einige Stunden ausklinken und sehen, wie mein Großneffe sich bei dieser Auktion schlägt.“

„Oh ja, Tante Isabel“, freute sich Renie. „Das wird ein Kracher. Mum kommt auch. Und ich werde sowieso da sein, weil Grandma mich zwangsverpflichtet hat, die Auktion zu moderieren.“

„Ich werde mir das auch nicht entgehen lassen“, kündigte Johns Schwägerin Annie an. „David, du kannst dich doch am Samstag um Christopher kümmern?“

Ihr Mann nickte und warf einen mitfühlenden Blick zu seinem älteren Bruder hinüber. John schloss gequält die Augen. Nun würde auch noch ein Auflauf seiner weiblichen Verwandten Zeuge werden, wie er sich zum Affen machte. Wie peinlich würde diese Geschichte wohl noch werden?

 

Während der Hauptgang aufgetragen wurde – ausgerechnet das schottische Nationalgericht Haggis, das außer bei James Mackenzie bei niemandem für Begeisterung sorgte – erkundigte David sich, „Bist du hier im Hotel gut untergebracht, Tante Isabel?“

Isabel verzog das Gesicht. „Nun ja. Mein Zimmer ist sehr komfortabel und hübsch eingerichtet, das muss ich zugeben. Aber der dauernde Lärm von der Straße ist selbst im fünften Stock sehr unangenehm. Bei einigen meiner Mitreisenden ist es noch schlimmer – ihre Fenster gehen zur Victoria Station hinaus. Lautsprecherdurchsagen von den Bahnsteigen, kreischende Zugbremsen, ein Höllenlärm, einfach grässlich.“

Sie warf einen unfreundlichen Blick zu Emmeline hinüber, die am entgegengesetzten Ende des Tisches saß.

„Bei euch in Kew wäre es wesentlich ruhiger gewesen. Aber dort wurde mir ja keine Herberge angeboten.“

„Hättest du nicht darauf bestanden, Walter mitzubringen, hättest du gerne die Tage bei uns verbringen können“, entgegnete Emmeline steif.

Isabel sah sie entsetzt an. „Wie stellst du dir das vor? Hätte er ohne mich für so lange Zeit auf meinem Hof bleiben sollen? Unmöglich! Mein Verwalter hätte sich zwar um ihn gekümmert – aber so eine lange Trennung würde ich Walter nie zumuten.“

„Der alte Kläffer wäre bestimmt nicht an gebrochenem Herzen gestorben.“

Alter Kläffer! Alle am Tisch hielten den Atem an. Geoff, der den ganzen Abend recht still neben Renie gesessen hatte, sah geradezu verschreckt drein.

Isabel richtete sich voller Entrüstung auf.

„Sir Walter Scott ist eine Zierde der Scotch-Terrier-Rasse. Nicht umsonst hat er vor einigen Monaten noch den Superveteranenpokal bei der nationalen Hundeausstellung geholt –“

„Jetzt fängt sie wieder damit an“, murmelte Emmeline und verdrehte die Augen.

„ – und darüber hinaus ist er ein äußerst wohlerzogenes Tier, das sich überall zu benehmen weiß. Was man von eurem Katzenbiest nicht behaupten kann.“

Nun war es an Johns Mutter, sich empört aufzuplustern.

„Katzenbiest? King Edward ist –“

„Hah! King Edward!“, fuhr Isabel auf. „Wahrscheinlich hast du ihn nach eurem Edward I, diesem Berserker, benannt. Kein Wunder, dass das Vieh so ein Haustyrann ist.“

James Mackenzie, der erkannte, dass seine Frau ein Brötchen beäugte und offensichtlich überlegte, ob dieses sich als Wurfgeschoss eignete, sah sich bemüßigt einzugreifen.

„Meine Lieben, meine Lieben. Nun lasst uns doch diesen schönen Abend nicht durch so einen sinnlosen Streit trüben. Einerseits wäre es natürlich schön gewesen, dich bei uns zu haben, Isabel. Aber du weißt ja, dass es immer Hickhack zwischen unseren jeweiligen Haustieren gibt.“

Sehr diplomatisch, Dad, dachte John. Tatsächlich waren die Plänkeleien zwischen Hund und Katze nichts im Vergleich zu den Gefechten, die regelmäßig nach kürzester Zeit zwischen den beiden Frauen ausbrachen.

„Außerdem ist es ganz gut, dass du hier direkt bei deiner Delegation untergebracht bist, denke ich. Wir werden uns in den nächsten Tagen sicher dennoch viel sehen.“ James Mackenzie spähte auf Johns Teller. „Isst du das nicht mehr?“

„Nein, Dad, ich … bin voll. Das kannst du gerne haben.“

„Wie sieht euer Programm für die nächsten Tage aus, Tante Isabel? Soweit ich es verstanden habe, werdet ihr eine Menge Besichtigungen machen?“, erkundigte sich Alan.

Isabel warf einen letzten bösen Blick ans andere Tischende, atmete tief durch und nickte.

„Unsere Tage hier sind vollgepackt bis zum Letzten. Fiona Macintyre, unsere Parteisekretärin“, sie nickte zu einer energisch wirkenden rotblonden Frau am Nachbartisch hinüber, „hat alles im Voraus geplant. Morgen Nachmittag um fünf werden wir zum Beispiel eine Führung durch Westminster Abbey haben – ganz exklusiv für uns, wenn das Gotteshaus für normale Besucher schon geschlossen sein wird. Das wird sicher sehr interessant. Möchte vielleicht von euch jemand mitkommen? Fiona sagte mir, dass wir noch zwei, drei Leute mehr unterbringen können.“

Renie beugte sich begierig nach vorn. „Oh, das wäre perfekt für mich – da könnte ich mir das Grab von David Livingstone ansehen und mich für meinen Artikel inspirieren lassen.“

Auch John und sein Vater wollten sich gerne anschließen.

„Sehr schön. Wir sprechen nachher noch mit Fiona darüber.“ Isabel, die ihren Teller ratzeputz leergegessen hatte, legte ihr Besteck weg. „John, ich danke dir nochmals, dass du dich bereiterklärt hast, übermorgen eine Spezialführung durch den Tower für unsere Gruppe anzubieten.“

„Das ist doch Ehrensache, Tante Isabel.“

„Einige der anderen Programmpunkte werde ich mir wohl sparen und es etwas ruhiger angehen lassen. Es gibt Theaterbesuche, verschiedene Museen, Stadtführungen und dazu natürlich Treffen mit mehreren Unterhausabgeordneten.“

„Was sind das für Leute in deiner Gruppe, Isabel? Alles Vertreter der Scottish National Party?“, fragte Annie.

„Nicht nur. Wir haben zwar einige hochrangige Funktionäre dabei, aber fast die Hälfte der Truppe besteht aus Verwandten, Geschäftspartnern und Mitarbeitern von Angus Macgregor. Seine Familie besitzt eine der letzten unabhängigen Whiskydestillerien des Landes, er selbst ist seit Jahrzehnten sehr aktiv im Verband der Produzenten. Daher auch dieses gesponserte Essen heute Abend. Die Whisky Association Scotland veranstaltet gerade ihr jährliches Treffen hier im Hotel und lädt uns nachher noch zu einem Whisky-Tasting ein. Dann werde ich euch mit einigen meiner Mitreisenden bekanntmachen.“

Whisky-Tasting? Tommy hob interessiert den Kopf.

„Vergiss es“, beschied Maggie ihrem Sohn.

„Oh, Mum, in ein paar Wochen werde ich sechzehn, da werde ich doch wohl –“

„Diskussion beendet, junger Mann.“ Maggies Ton war freundlich, aber eisern.

„Ach, ein Tröpfchen schadet dem Jungen sicher nicht. Whisky ist für einen Schotten ebenso harmlos wie Milch für den Rest der Menschheit, wie es bei uns heißt“, merkte Isabel an.

„Mein Enkel ist kein Schotte, sondern Engländer, nimm das doch endlich zur Kenntnis, Isabel“, knurrte Emmeline.

Isabel verdrehte die Augen. „Was für eine traurige Tatsache.“ Sie zwinkerte Tommy zu. „Keine Sorge, mein armer Junge. Nachdem ich ja weiß, dass John ein Verächter unserer edlen Tropfen ist, habe ich dafür gesorgt, dass es neben all den herrlichen Single Malts auch eine schöne Auswahl anderer Getränke gibt. Der Barmann hat mir versichert, dass er einen Caipirinha ganz ohne Schnaps im Repertoire hat, der sich gewaschen hat.“

John klopfte seinem Neffen auf die Schulter. „Wir beide werden uns durch sämtliche alkoholfreien Varianten probieren, nicht wahr?“

David grinste. „Wir drei! Seit dem großen Clan-Treffen in Edinburgh halte ich Abstand vom Whisky. Damals wollte ich mich am liebsten hinlegen und sterben.“

Alan lachte. „Es war aber wirklich lustig, wie du vorher noch umringt von einer Horde eingefleischter Kiltträger ein total schräges God save the Queen geschmettert hast.“

„Erinnere mich nicht daran.“ David zog verlegen den Kopf ein.

„Oh, Isabel, du Ärmste“, kam es da in zuckersüßem Ton vom Ende des Tischs. „Du musst ja am Boden zerschmettert sein, dass deine Landsleute euren patriotischen Parolen nicht aufgesessen sind und sich bei der Abstimmung klugerweise für einen Verbleib im Vereinten Königreich entschieden haben.“ Emmeline summte mit heiterem Gesichtsausdruck ein paar Takte von Rule, Britannia, bis ihr Mann sie mit einem halblauten, „Em, bitte. Du musst nicht noch zusätzlich Salz in die Wunde reiben“ zum Schweigen brachte.

Isabel machte ein Gesicht, als hätte sie in eine ausnehmend saure Zitrone gebissen, erwiderte aber in beherrschtem Ton, „Ob diese Entscheidung klug war, wird sich herausstellen.“ Sie hielt einen Augenblick inne.

„Ja, es ist wahr, dass ich enttäuscht war. Dass so viele von uns nicht mutig genug waren, diese einmalige Chance am Schopf zu ergreifen … Aber mittlerweile habe ich den Ausgang der Abstimmung verdaut, denke ich. So ist es nun einmal in einer Demokratie: Die Meinung der Mehrheit ist zu akzeptieren.“

John warf seiner Schwester einen Blick zu und spürte, dass beide in diesem Moment das Gleiche dachten: Tante Isabel wurde erstaunlich altersmilde!

„In diesem Jahr ist in unserem Land vieles in Gang gekommen“, sprach sie nachdenklich weiter. „Viele junge Leute interessieren sich plötzlich für Politik und werden aktiv. Das gefällt mir. Und ich meine auch, dass Westminster nicht darum herumkommen wird, uns nun mehr Autonomie zuzugestehen –“

„Hah! Autonomie! Ich verwette meinen Arsch darauf, dass das alles nur hohle Versprechungen waren.“

Neben Tante Isabel war ein beleibter älterer Mann aufgetaucht, aus dessen zerfurchtem Gesicht eine rotgeäderte Nase leuchtete.

„Diese Imperialisten aus dem Süden meinen vielleicht, sie hätten uns erfolgreich eingewickelt und die Sache mit der Unabhängigkeit wäre vom Tisch – aber nein, nein, nein, wir werden nicht aufgeben.“ Er schwankte leicht und hielt sich an Isabels Stuhllehne fest. Dann warf er sich in Positur und deklamierte:

„So lange auch nur einhundert von uns am Leben sind, wird man uns niemals – unter welchen Bedingungen auch immer – unter englische Herrschaft zwingen. Denn wir kämpfen wahrhaft nicht für Ruhm, Reichtümer oder Ehre, sondern einzig und allein für die Freiheit, die kein ehrenhafter Mann aufgibt, wenn nicht zugleich mit dem Leben.“

Er unterdrückte dezent einen Rülpser.

Isabels Lippen umspielte ein halb amüsiertes, halb resigniertes Lächeln. „Meine Lieben, darf ich vorstellen: Angus Macgregor, künftiger Commander of the British Empire.“

Kapitel 3

 

„Der alte Angus ist schon … ein Original“, bemerkte eine halbe Stunde später Dr. Michael Arbroath, der sich im Kaminzimmer des Hotels zu John gesellt hatte. Die beiden Männer waren sich vor einigen Monaten erstmals begegnet, als der schottische Historiker wegen Recherchen zu seinem neuen Buch den Tower besuchte.

John lächelte. „Ein kämpferischer Mann, ohne Zweifel. Ich kann mich an den Spruch erinnern, den er vorhin zitiert hat. Der hing in gestickter Form bei meiner Tante Isabel im Esszimmer, soweit ich es noch weiß. Stammt er nicht aus der schottischen Unabhängigkeitserklärung?“

„Sie haben recht. Es war der bekannteste Teil der Deklaration von Arbroath aus dem Jahr 1320, der ältesten heute bekannten Unabhängigkeitserklärung einer Nation – auch wenn es mit der Unabhängigkeit letztlich bis zum heutigen Tag nichts geworden ist.“

John hob eine Augenbraue. „Arbroath?“

Der Schotte lachte und nickte. „Mit einem Namen wie diesem konnte ich es wohl gar nicht vermeiden, Geschichtswissenschaftler zu werden, nicht wahr? Meine Vorfahren stammen tatsächlich aus der Nähe der Abtei, in der die Deklaration verfasst wurde. Ein wahrhaft historischer Ort. Wussten Sie, dass sich dort auch zeitweise unser Schicksalsstein befand?“

John schüttelte den Kopf. „Ich dachte, er hätte seit Ewigkeiten seinen Platz in Westminster Abbey gehabt, bevor er vor einigen Jahren zurück nach Edinburgh gegeben wurde.“

Arbroath beugte sich nach vorn. „Das stimmt auch. Seit Edward I ihn aus der Abtei von Scone geraubt und als Kriegsbeute nach London gebracht hatte, lagerte er unter dem Sitz des Krönungsstuhls. Aber an Weihnachten 1950 gelang es einigen Studenten, ihn von dort zu entführen. Sie können sich vorstellen, dass es einen riesigen öffentlichen Aufschrei im ganzen Land gab. Obwohl die Polizei sofort eine aufwändige Suchaktion startete, schafften die jungen Leute es, den Stein nach Schottland zu bringen. Unglücklicherweise zerbrach er auf der Flucht jedoch in zwei Teile und musste von einem Steinmetz repariert werden. Zur Aufbewahrung wurde er dann unter dem Hochaltar in der Abtei von Arbroath deponiert. Als die englische Polizei davon Wind bekam, wurde er flugs nach London zurücktransportiert, bis John Major ihn 1996 schließlich zurückgab. Er hatte sich davon wohl ein paar Tory-Stimmen aus Schottland erhofft. Dieser Plan ist nicht aufgegangen. Bei den Wahlen im darauffolgenden Jahr konnte sich in keinem einzigen Wahlbezirk der konservative Kandidat durchsetzen.“

Arbroath grinste, dann wanderte sein Blick in die Ferne.

„Ich kann mich noch sehr gut an den 30. November 1996 erinnern, als der Stein zu uns zurückkam. Es gab eine riesige Parade in Edinburgh. Hunderte von Soldaten geleiteten den Stein die Royal Mile hinauf zu unserer Burg, viele tausende Menschen standen am Straßenrand, um zu sehen, wie ein Stück Geschichte an ihnen vorbeizog.“ Er blickte durch die weit offenen Flügeltüren in den angrenzenden Raum, wo der Großteil der Delegation sich, um kleine Stehtische herum gruppiert, am Whisky gütlich tat.

„Viele von denen, die heute hier sind, waren auch an jenem Tag dabei. Es war die heiße Phase, in der wir für unser eigenes Parlament kämpften. Isabel war in all den Jahren eine unserer Mitstreiterinnen, immer in vorderster Reihe dabei. Schon lange, bevor Downing Street sie für würdig befand, zur Dame Commander ernannt zu werden, war sie unsere Grande Dame.“ Er lächelte versonnen.

„Und natürlich Angus Macgregor. Jahrzehntelang eines unserer Zugpferde, scharfsinnig, einer unserer klügsten Köpfe. Ein Mann mit Energie und Durchsetzungsvermögen. Wenn er damals nicht ein klein wenig zu jung für solche Eskapaden gewesen wäre, wäre er bei dem Husarenstück der Studenten 1950 mit Sicherheit dabei gewesen. Nun, in den letzten Monaten allerdings …“ Arbroath schüttelte leicht den Kopf und ließ den Satz in der Luft hängen.

In diesem Moment trat Geoff Tomlinson zu ihnen und ließ sich in einen der mächtigen Ledersessel fallen. Dr. Arbroath entschuldigte sich mit einem gemurmelten „Der Barmann schenkt einen fünfundzwanzigjährigen Bowmore in Fassstärke aus, da muss ich mir unbedingt ein Tröpfchen sichern“ und strebte zum Ausschank.

Geoff streckte die Beine von sich. „Isabel hat Renie gebeten, eine Runde mit Sir Walter um den Block zu gehen. Ich … hatte keine Lust, mitzukommen.“

John sah ihn prüfend an. Er hatte schon den ganzen Abend das unbestimmte Gefühl gehabt, dass zwischen Renie und ihrem Freund irgendetwas nicht stimmte. Aber nun war wohl kaum der geeignete Moment, den Status von Geoffs Beziehung zu Johns Nichte zu erörtern. So fragte er lediglich mit einem Blick auf Geoffs Glas, das augenscheinlich Cola enthielt, „Du verschmähst auch die schottischen Genüsse?“

Der junge Biologe nickte etwas verdrießlich. „Ich muss morgen ganz früh raus, um auf einer Konferenz in Exeter einen Vortrag zu halten. Außerdem mache ich mir nicht viel aus Whisky. Wobei ich zugeben muss, dass ich außer mal einem Johnnie Walker oder einem Famous Grouse noch nie einen getrunken habe.“

„Guter Gott, Junge, das meinst du doch nicht ernst! Wo soll diese Welt noch hinkommen?“ Angus Macgregor starrte, einen halbvollen Whiskytumbler in der Hand, mit offensichtlicher Abscheu auf den Tisch, wo Geoffs Colaglas in trauter Eintracht neben Johns Wasserglas – der angepriesene alkoholfreie Caipirinha hatte ihm nicht zugesagt – stand.

---ENDE DER LESEPROBE---