Tod im House of Lords - Emma Goodwyn - E-Book

Tod im House of Lords E-Book

Emma Goodwyn

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Beschreibung

Ein Grabungsfund im Tower von London elektrisiert das ganze Land: Können diese Knochen Licht in einen 500 Jahre alten königlichen Kriminalfall bringen? Währenddessen stürzt Renie sich in die Aufklärung eines Todesfalls im Parlament. Beefeater John Mackenzies Warnungen verhallen ungehört und so merkt seine Nichte zu spät, mit wem sie sich angelegt hat. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, den John ohne Hilfe von unerwarteter Seite nicht gewinnen kann.

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Tod

im

House of Lords

 

 

 

John Mackenzies achter Fall

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Emma Goodwyn

 

Im Gegensatz zu den Schauplätzen

sind alle Personen und Ereignisse der Handlung rein fiktiv, mögliche Ähnlichkeiten zu echten Personen und Geschehnissen keinesfalls beabsichtigt.

 

 

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Besuchen Sie die Autorin unter

www.emma-goodwyn.com!

 

 

Copyright Text und graphische Gestaltung

Emma Goodwyn

c/o Hartmut Albert Fahrner

Am Tannenburganger 36

84028 Landshut

 

Kontakt: [email protected]

 

Veröffentlichungsdatum: 16. Februar 2020

 

Alle Rechte vorbehalten

(V2.1)

Prolog

 

Renie schlug die Augen auf. Einen Moment lang lag sie still auf dem Rücken und starrte in die undurchdringliche Schwärze, die sie umfing.

Merkwürdig. Selbst wenn die Jalousien komplett zugezogen waren, war es in ihrem Zimmer nie vollkommen dunkel. Sie fühlte sich, als hätte sie einen staubtrockenen Waschlappen im Mund. Dazu kam noch ein irgendwie nebliges Gefühl im Kopf. Ah, ging es ihr vage durch den Kopf, gestern war ich wohl am Feiern. Hab’s mal wieder übertrieben … Brauch noch ne Mütze voll Schlaf … Sie sank wieder in Morpheus’ Arme zurück.

Gleich darauf jedoch öffnete sie die Augen wieder. Irgendetwas stimmte hier nicht. Dieser Geruch … Sie zog die Nase kraus. Modrig. Gammlig. Als ob seit Urzeiten nicht gelüftet worden wäre.

Scheiße, wo bin ich? Ein Anflug von Panik stieg in ihr hoch. Habe ich mich am Ende von einem Typen abschleppen lassen, der jetzt hier neben mir liegt? Sie hielt den Atem an und lauschte in die Dunkelheit. Aber bis auf das Rauschen des Blutes in ihren Ohren war kein Laut zu hören.

Jetzt krieg dich wieder ein, befahl sie sich selbst. Du hast zwar schon viel Unsinn in deinem Leben gemacht, aber mit einem Fremden mitgehen, dazu würdest du dich nie hinreißen lassen. Es sei denn … es hätte dir jemand K.O.-Tropfen verpasst.

Mit zitternden Fingern spürte sie nach ihrer Kleidung. Erleichtert bemerkte sie, dass sie vollständig angezogen war. Zaghaft streckte sie eine Hand aus und tastete die Umgebung ab. Offenbar lag sie auf einer schmalen Pritsche, die an die Wand geschoben war. Als sie sich aufsetzen wollte, hörte sie ein metallisches Klackern. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihr linkes Handgelenk von etwas Scharfkantigem, Hartem umschlossen war. Reflexartig riss sie den Arm nach oben – und jaulte gleich darauf schmerzhaft auf, als ihre Bewegung jäh gestoppt wurde. Eine Handschelle hielt sie unbarmherzig fest.

Kapitel 1

 

„Bitte stellen Sie die Lehnen wieder senkrecht und klappen Sie die Tische vor sich nach oben. Wir befinden uns im Anflug auf London-Heathrow.“

Mit gemischten Gefühlen blickte John Mackenzie aus dem kleinen Fenster nach unten. Der Pilot der British Airways-Maschine aus Frankfurt war dem Verlauf der Themse von ihrer Mündung an nach Westen gefolgt und nun bewegten sie sich auf das Zentrum der Hauptstadt zu. In den Reihen vor und hinter ihm hatten Sommertouristen aus aller Herren Länder ihre Handys und Digitalkameras gezückt und knipsten aufgeregt.

„Schau mal, da vorn ist die City! Und das berühmte Gürkchen!“

„Wo wohnt denn die Königin?“

„Uii, die Tower Bridge!“

„Verdammt, jetzt spinnt die Kamera wieder …“

John lauschte dem Geschnatter halb belustigt, halb melancholisch. Während der Großteil der Passagiere offensichtlich begierig ein paar erlebnisreichen Tagen in der Hauptstadt entgegensah, war sein Urlaub zu Ende.

Als der Tower von London in Sicht kam, lichtete sich die düstere Wolke über seinem Haupt etwas. In den drei Jahren, seit er vom Auslandsdienst in der Truppenbetreuung der Britischen Armee zurückgekommen war, war ihm die altehrwürdige Festung zur Heimat geworden. Er liebte seinen neuen Beruf als Beefeater und Pfleger der königlichen Raben. Und er lebte gern im Herzen der Metropole. Er genoss es – meistens zumindest – seine Familie in der Nähe zu haben. Was er jedoch schmerzlich vermisste, war seine Freundin Pauline, die in York lebte. Erst vor ein paar Stunden hatte er sich von ihr am Frankfurter Flughafen verabschieden müssen. Und das im Laufen, weil die Zeit zu ihrem Anschlussflug nach Edinburgh verflucht knapp war. Nun würden sie sich wieder für mehrere Wochen nicht sehen, was John schwer im Magen lag.

Sein Blick streifte die weißen Masten der Yachten, die gleich hinter der Tower Bridge im kleinen Hafenbecken der St. Katherine’s Docks schaukelten. Die vergangene Woche hatte er mit Pauline auf eben so einem Segelschiff im Mittelmeer verbracht. Sogleich hatte er wieder den salzigen Geschmack der Seeluft in der Nase. Sehnsuchtsvoll schloss er die Augen und sah das Meer vor sich, dessen Farbe sich in Paulines Augen widerspiegelte … ihr kupferrotes Haar, das im Wind wehte –

„Verehrte Passagiere, eine Information für Ihre Weiterreise: Wie uns mitgeteilt wurde, wird die Londoner U-Bahn heute bestreikt. Am Terminal stehen Mitarbeiter des zentralen Informationsschalters bereit, die Sie gerne über alternative Transportmöglichkeiten informieren. Ich habe aber auch noch eine positive Nachricht für Sie: Für den Rest dieses Samstags erwarten Sie Sonnenschein pur und Temperaturen zwischen 26 und 29 Grad.“

John seufzte resigniert ob der Aussicht, sich in einem überfüllten und höllenheißen Bus die 20 Meilen nach Hause kämpfen zu müssen. Nach der Ankunft stapfte er zum Gepäckband, wo er feststellen musste, dass seine Reisetasche nicht angekommen war. Nachdem ihm am Lost and Found-Schalter lapidar mitgeteilt worden war, dass diese in Frankfurt aus unerfindlichen Gründen nicht ins Flugzeug eingeladen worden war, sank seine Laune auf den Nullpunkt. An dem Versprechen, sein Gepäck ‚als besonderen Service binnen 48 Stunden frei Haus geliefert‘ zu bekommen, hegte er erhebliche Zweifel. Verdrossen verließ er schließlich die Ankunftshalle.

„John! Da bist du ja endlich!“

„Maggie!“ Verdutzt umarmte er seine Schwester. „Was machst du denn hier?“

„Ich komme dich abholen, du Dussel. Die Odyssee, dich durch das Streik-Chaos bis zum Tower durchschlagen zu müssen, wollte ich dir ersparen. Außerdem bin ich gespannt auf deinen Urlaubsbericht.“

„Du bist ein Schatz, Maggie.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Das ist ja eine schöne Überraschung, dass du extra hier heraus gekommen bist.“

„Wenn du dein Handy mal angemacht hättest, wüsstest du schon seit einer Weile, dass ich hier auf dich warte.“ Sie knuffte ihn spielerisch. Betreten zog er sein betagtes Mobiltelefon aus dem Rucksack und schaltete es ein. Tatsächlich, vier unbeantwortete Anrufe wurden angezeigt, allesamt von Maggie.

Sie schüttelte den Kopf. „Du lernst es nicht mehr, Bruderherz. Herrje, selbst unsere Eltern sind technologisch weiter als du. Ich war schon kurz davor, wieder zurückzufahren, weil ich dachte, ich hätte dich irgendwie verpasst.“

„Ich hatte das Ding die ganze Woche aus“, gestand er. „Nach der Ankunft in Sizilien habe ich Mum noch das versprochene Lebenszeichen geschickt und dann war für die ganze Woche Schluss mit der Erreichbarkeit. Das war ein herrliches Gefühl.“

Sie lachte. „Das erzähl mal meinen Kindern. Ich glaube, es wäre leichter, einer Löwenmutter ihr Kind wegzunehmen als Tommy von seinem Handy zu trennen. Und jetzt komm, lass uns fahren.“ Sie stutzte. „Wo hast du dein Gepäck?“

„Das ist noch irgendwo unterwegs“, erwiderte er, nun wieder deutlich besser gelaunt. „Angeblich wird es mir direkt nach Hause geliefert.“ Er schulterte seinen Rucksack und sie gingen zur Parkgarage.

„Jetzt erzähl“, forderte Maggie, nachdem sie ihren geräumigen Volvo mit einem Geschick aus der Parklücke manövriert hatte, das John nur bewundern konnte. „Ich bin wahnsinnig gespannt darauf, wie dir das Segeln gefallen hat. Stell dir vor, Alan hat zu unserem 25. Hochzeitstag im September eine Segelyacht komplett mit Crew gechartert, nur für uns beide. Wir werden zwischen palmengesäumten karibischen Inseln herumschippern.“

„Donnerwetter!“ John pfiff durch die Zähne. Sein Schwager hatte sich aus kleinsten Anfängen ein florierendes Unternehmen aufgebaut, das die IT-Systeme von Firmen und Behörden gegen Angriffe von außen schützte. Alan war auch international ein gefragter Mann, wenn es um das Thema Datensicherheit ging, und viel unterwegs.

„Das wird sicher großartig, Maggie“, meinte er. „Wie lange wird euer Törn dauern?“

„Zwei Wochen. Es ist schon ein Wunder, dass sich Alan so lang von der Arbeit loseisen kann. Aber er hat es auch wirklich nötig. Die Firma ist in den letzten Jahren so explosionsartig gewachsen, dass sie ihn bald rund um die Uhr in Anspruch nimmt. Und das geht irgendwann dann doch zu sehr auf die Substanz. Wir sind schließlich nicht mehr die Jüngsten.“

John nickte mit leidender Miene. Auch er spürte den Zahn der Zeit an sich nagen.

„Alan hat gemerkt, dass er einen Teil der Verantwortung an seine Führungsmannschaft delegieren muss, damit er nicht mehr für jede Entscheidung zuständig ist“, fuhr Maggie fort. „Unser Urlaub soll ein Testlauf dafür werden, ob sein Team es schafft, den Betrieb vernünftig aufrechtzuerhalten, wenn der Chef sich einmal komplett heraushält und nicht rund um die Uhr erreichbar ist.“

„Das klingt nach einer guten Idee“, sagte John. „Und eure Kinder sind mittlerweile alt genug, dass ihr sie getrost eine Weile allein lassen könnt, denke ich.“

Maggie nickte. „Das meine ich auch. Mit Mum und Dad habe ich schon gesprochen, dass sie mal zwischendurch nach dem Rechten sehen werden.“ Ihr Blick wurde träumerisch. „Auf diese Zeit, nur für uns, freue ich mich wirklich. Ich sehe mich schon wie Grace Kelly mit einem Cocktail in der Hand an Deck wandeln, während die Sonne feuerrot am Horizont versinkt …“

„Und Alan dir à la Bing Crosby ‚True Love‘ ins Ohr schwurbelt“, spann John den Faden nahtlos weiter.

Maggie lachte lauthals los. „Bloß nicht! Wenn Alan singt – wenn man das Gejaule überhaupt so bezeichnen kann – wird selbst die Milch sauer. Aber vielleicht habe ich ja auch eine völlig falsche Vorstellung von so einer Reise im Kopf. War denn euer Segeltörn so romantisch, wie ich es mir ausmale?“

John wog den Kopf. „Also, erlebnisreich war er auf jeden Fall. Die Romantik ist aber für meinen Geschmack zu kurz gekommen, muss ich sagen.“

„Oh.“ Maggie warf ihm einen Seitenblick zu. „Erzähl von vorn.“

„Am Anfang lief noch alles glatt. Mein Flug nach Frankfurt war pünktlich und dort habe ich wie geplant Pauline und die vier anderen getroffen, die aus Edinburgh kamen. Zwei frühere Kolleginnen aus der Zeit, als Pauline noch in Edinburgh unterrichtet hat, von denen die eine ihren Mann dabei hatte und die andere eine alte Freundin.“

„Hattest du diese Leute vorher schon kennengelernt?“, fragte Maggie.

„Nur die beiden Lehrerinnen, Jean und Moira. Die hatte Pauline einmal zum Essen eingeladen, damit wir uns beschnuppern konnten. Die anderen zwei hatte ich noch nie gesehen. Grober Fehler“, meinte er bedeutungsschwanger.

„Oh-oh“, kam es von Maggie.

„Das kannst du laut sagen. Als wir in Catania angekommen sind, mussten wir eine ganze Weile auf unser Gepäck warten. Da ging es schon los mit dem Gemeckere von Alfred, Jeans Ehemann. Als dann unser Transferfahrer auch noch eine Stunde zu spät kam, durften wir uns beständig seine Tiraden anhören. ‚Diese Südländer, null Arbeitsmoral. Lassen ihr Land vor die Hunde gehen und wir sollen dann dafür zahlen. Aber klauen wie die Raben, das können sie‘ und ähnlichen Stuss. Ich musste mich schon sehr beherrschen, nicht gleich am ersten Tag einen Mordsstreit vom Zaun zu brechen.“ John schüttelte den Kopf.

„Klingt, als hätte der gute Alfred sein ignorantes Gewäsch direkt von Nigel Farage übernommen“, kommentierte Maggie.

„Oh ja“, nickte John. „Er hat sich auch in epischer Breite darüber beklagt, dass die UKIP nur einen einzigen Sitz im Parlament bekommen hat, obwohl sie doch im Mai über zehn Prozent der Stimmen errungen hat. Nachdem wir uns also auf diesem Parkplatz eine Stunde lang die Beine in den Bauch gestanden hatten – und es so heiß war, dass der Teer schon Blasen geworfen hat – kam endlich unser Fahrer. Wir waren alle erleichtert, dass es losging. Aber die Fahrt war dann eine ganz schöne Tortur: Die Klapperkiste hatte keine Stoßdämpfer mehr und die Klimaanlage ging auch nicht. Und der Chauffeur ist mit einem Tempo über die Insel geheizt, dass wir alle Blut und Wasser geschwitzt haben. Das einzig Gute war, dass es selbst Alfred vor lauter Furcht die Sprache verschlagen hat.“

Maggie warf ihrem Bruder einen mitfühlenden Blick zu. „Der Auftakt zu eurer Reise war wirklich holprig. Hattet ihr denn wenigstens ein schönes Schiff?“

John nickte.

„Eine recht geräumige Yacht. 16 Meter lang, mit vier Kabinen und sehr ansprechend eingerichtet. Da fand selbst Alfred nichts zu nörgeln. Als es dann aber daran ging, die Vorräte für die Woche einzukaufen, schoss er schon wieder quer. Eigentlich ist es üblich, dass alle Crewmitglieder etwas in die Bordkasse einzahlen, aus der dann alle Kosten beglichen werden. Hafengebühren, Lebensmittel, Eintritte und so weiter. Aber nein, so ein bequemes Arrangement war mit Alfred nicht zu machen. Er behauptete, auf diese Weise würde er sicher übervorteilt werden und bestand auf getrennter Kasse.“

„Also, dieser Alfred klingt nach einem von Grund auf unsympathischen Zeitgenossen. Wie hat sich seine Frau denn bei all dem verhalten? Konnte sie ihn nicht einbremsen?“

„Es war zu spüren, dass es ihr zuwider war, wie er sich aufgeführt hat. Aber gesagt hat sie kaum etwas. Von Anfang an war klar, wer in der Beziehung der beiden das Kommando führt.“

Maggie rollte mit den Augen. „Arrogant, kleinlich, misstrauisch: ein Traumtyp. Es mit so jemandem eine Woche lang auf engstem Raum auszuhalten, war sicher nicht leicht – ach je, das habe ich befürchtet“, unterbrach sie sich selbst. Alle Spuren der M4 Richtung London waren verstopft. Wenige Meter nach der Auffahrt kam die Blechlawine zum Stillstand.

„Greif doch mal auf die Rückbank, John, und hol die Kühlbox nach vorn.“

John tat, wie ihm geheißen. Als er den Deckel öffnete, erblickte er verschiedene Sandwiches, Bananen und Maggies legendäre Triple Chocolate Muffins. Er lachte erfreut auf. „Du bist einfach unvergleichlich, Maggie. Wie immer bestens vorbereitet.“

„In dem Flaschenträger hinten im Fußraum sind noch Wasserflaschen und eine Thermosflasche mit Tee“, erklärte sie und griff nach einer Banane. „So, nun sitzen wir hier wahrscheinlich die nächste Stunde fest. Aber immerhin haben wir eine Klimaanlage und genug zu essen und zu trinken. Also erzähl weiter. Mit den anderen an Bord war hoffentlich leichter auszukommen als mit Alfred?“

John wog den Kopf. „Der Skipper war, naja, gewöhnungsbedürftig. Ein ziemlich brummiger alter Seebär. Aber immerhin wusste er beim Segeln offensichtlich, was er tat.“ John verstummte kurz, dann setzte er hinzu, „Und dann war da noch die Sache mit Georgina.“

Maggie musterte ihn neugierig. „Georgina?“

John wand sich ein wenig. „Die Bekannte von Paulines Kollegin Moira. Ähm … Pauline … hatte den Eindruck, dass Georgina … ein Auge auf mich geworfen hatte. Und das hat ihr ganz und gar nicht gefallen.“

Maggie prustete los. „Du liebe Güte. Mein Bruder, der alte Schwerenöter.“

„So ein Unsinn“, wehrte John ab. „Es war ganz einfach so, dass Georgina und Moira sich am ersten Abend in ihrer Kabine unterhalten haben und noch nicht realisiert hatten, dass man durch die dünnen Zwischenwände so gut wie alles hören kann. Und da äußerte Georgina, sie fände mich, ahm, so sinngemäß … sagen wir, süß.“

Was Georgina tatsächlich gesagt hatte, wollte er nicht einmal seiner Schwester gegenüber wiederholen, trieb es ihm doch bis heute die flammende Röte ins Gesicht. Er fuhr fort, „Und ich hätte so eine Ähnlichkeit mit –“

„Lass mich raten: Colin Firth“, fiel Maggie ihm ins Wort und grinste erheitert angesichts seiner Verlegenheit. „Immer das Gleiche mit dir. Oh, das kann ich mir lebhaft vorstellen, wie das Pauline in Wallung versetzt hat. Wenn man bedenkt, wie sie die Krallen schon ausfährt, wenn Kyla Macpherson nur am Horizont auftaucht.“

Während John beim Namen der schottischen Sängerin wie gewohnt zusammenzuckte, lachte Maggie schallend los. „Da hätte es ja fast einen Mord an Bord gegeben“, gluckste sie. „Stell dir vor, Tod im Boot, was wäre das für ein schöner Buchtitel.“

„Witzig“, kommentierte John säuerlich und griff nach dem größten Muffin.

„Bis jetzt klingt dein Urlaub nicht gerade erholsam“, befand Maggie und steckte die Bananenschale säuberlich in eine kleine Mülltüte, die gemeinsam mit Servietten und Feuchttüchern im Handschuhfach bereitlag.

„Das Zusammenleben an Bord war oft wirklich anstrengend“, stimmte John ihr zu. „Aber trotzdem hatten wir wunderbare Erlebnisse. Nachts bei einer lauen Brise an Deck sitzen und die Vulkanausbrüche des Stromboli beobachten zu können, war etwas ganz Besonderes. Wir haben in idyllischen Buchten geankert und sind einfach ins Wasser gesprungen. Und nicht zuletzt das Segeln selbst: Es ist wirklich ein herrliches Gefühl, nur vom Wind getrieben übers Wasser zu gleiten. So nah an den Elementen ist man selten.“

Während sie im Schneckentempo auf Osterley Park zukrochen, schilderte er enthusiastisch die Begegnung mit einem Schwarm verspielter Delfine, die das Boot über mehrere Seemeilen hinweg begleitet hatten.

„Insgesamt hört es sich so an, als hätte dir euer Segeltörn trotz der Begleiterscheinungen doch ganz gut gefallen“, kommentierte Maggie schließlich.

„Du hast recht. Ich bin froh, dass Pauline mich dazu überredet hat, so eine Art des Urlaubs einmal auszuprobieren. Ich würde so etwas jederzeit wieder machen. Aber nur mit Leuten, die ich gut kenne und bei denen ich weiß, dass alles harmonisch abläuft“, schränkte er ein.

Maggie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

„Na, da wüsste ich doch etwas. Wenn Alan und ich Gefallen am Segeln finden, könnten wir doch nächstes Jahr alle gemeinsam eine Yacht chartern und irgendwo herumschippern. Die ganze Familie, meine ich, so wie bei unserem Urlaub in Cornwall. Was hältst du davon?“

John wurde schreckensbleich. Gegen eine Woche an Bord mit Dame Commander of the British Empire Isabel Mackenzie und seiner Mutter Emmeline käme selbst die ‚Meuterei auf der Bounty‘ als fröhlicher Kindergeburtstag daher. Auf so ein Abenteuer würde er sich nur über seine Leiche einlassen.

Kapitel 2

 

Als John gute zwei Stunden später den Tower betrat, wurden die letzten Besucher des Tages gerade durch die Water Lane hinausgeleitet und der weitläufige Innenhof lag still in der Nachmittagssonne. Aber nicht lange. Schon erscholl ein lautes Krächzen. Teils flatternd, teils hopsend näherte sich ein Kolkrabe.

„Gworran!“ John stellte seinen Rucksack ab und ging in die Hocke. Der Vogel ließ einen Fanfarenstoß ertönen und rieb den Schnabel an Johns Fuß. Sanft strich John ihm über das Gefieder.

„Hey, mein Alter. Gut siehst du aus.“ Fast, als hätte der Vogel ihn verstanden, wölbte er den Hals und stolzierte ein paar Schritte auf und ab.

„Hallo John! Willkommen zurück!“, rief George Campbell, der den Kopf aus dem Rabenhaus neben dem White Tower gesteckt hatte. Begleitet von Gworran ging John zu dem Ravenmaster des Towers hinüber und die beiden Männer begrüßten sich herzlich.

George ließ John kaum Zeit, von seiner Urlaubswoche zu erzählen. Zu begierig war er, seinem Assistenten die Fortschritte an der Baustelle hinter dem Rabenhaus zu zeigen. Dort entstand die neue, großzügige Voliere. Bis auf ein Schnurgerüst, das die Größe des Geheges anzeigte, war bis jetzt eigentlich kaum etwas zu sehen. Dennoch sprühte George vor Begeisterung für das Projekt.

Seit langem hatte er dafür gekämpft, dass die neun Tower-Raben eine größere und artgerechtere Unterkunft bekamen. Seine Hartnäckigkeit hatte sich ausgezahlt. Die königliche Schlösserverwaltung hatte beschlossen, eine ansehnliche Summe zur Verfügung zu stellen und ein renommiertes Architekturbüro mit der Planung beauftragt.

„Die archäologischen Untersuchungen des Untergrunds sollen am Montag beginnen“, berichtete er. „Wenn sie abgeschlossen sind, werden zügig die Arbeiten für das Fundament durchgeführt. Ich hoffe, das klappt bis Ende nächster Woche. Die Architektin will am Freitag um elf Uhr vorbeikommen und uns die neue Fassung der Baupläne zeigen. Mike wird auch dabei sein.“

Dr. Mike Nichols, Ornithologe am Naturhistorischen Museum und ein guter Freund von John, begleitete das Bauprojekt wissenschaftlich.

Sie plauderten noch eine Weile, dann verabschiedete sich John und strebte seiner Wohnung zu. Bonnie Sedgwick, die rechte Hand des Kommandanten der Tower-Einheit, hatte wie immer bestens seine Pflanzen versorgt. Mit Freude bemerkte er, dass sich die erste Blüte seiner Medinilla magnifica geöffnet hatte.

Im Kühlschrank fand er eine Kasserolle mit Hühnerpastete vor, die seine Mutter dort deponiert hatte, nebst einem Zettel: „Melde dich, sobald du zurück bist!“ Wie die verdächtig staubfreien Oberflächen überall in der Wohnung und die blank gewienerten Fenster verrieten, hatte Emmeline Mackenzie offensichtlich wieder einmal ihrem Putzdrang gefrönt.

John kämpfte kurz mit sich, ob er erst eine ausgiebige Dusche nehmen oder das Telefonat gleich hinter sich bringen sollte, dann griff er zum Hörer und wählte die Nummer seines Elternhauses in Kew.

Wie sich zeigte, hatte er Glück. Seine Mutter war in den Königlichen Botanischen Garten gegangen, wo sie als rührige Vorsitzende des Gartenbauvereins ehrenamtlich bei der Pflege der Gewächshauspflanzen half.

Johns Vater war gerade mit der Untersuchung eines Saurierknochens beschäftigt, der ihm von einem chinesischen Forscher zugeschickt worden war. Als ehemaliger Kurator der berühmten Dinosaurierabteilung des Naturhistorischen Museums war seine Expertise immer noch gefragt. Da James Mackenzie gerade vollauf mit der kniffligen Frage beschäftigt war, ob der Schwanzwirbel von einem Protognathosaurus oder einem Omeisaurus stammte, brauchte John nur zwei Fragen zu beantworten: „Seid ihr gekentert? Hattet ihr schönes Wetter?“ Nachdem seine Urlaubsschilderung mit einem „Nein“ und einem „Ja“ erledigt war, wünschte er seinem Vater viel Erfolg bei seinen Bestimmungsversuchen und legte mit einem Lächeln auf.

Nach seiner Dusche, die er ausnehmend genoss – hatte er sich doch eine Woche lang entweder nur unter akut bandscheibengefährdenden Verrenkungen in der mikroskopisch kleinen Nasszelle an Bord oder in hygienisch meist zweifelhaften Hafenduschen waschen können – schaltete er den Computer ein, um seine E-Mails durchzusehen. Der Großteil war wie üblich von der Art ‚Bitte melde dich‘, ‚Habe heute versucht, dich zu erreichen‘ oder ‚Todsichere Anlagestrategien warten auf dich‘. Müßig scrollte er die lange Auflistung nach unten. Sein Blick blieb am Namen ‚Georgina Radcliffe‘ hängen. Er stöhnte auf. Verflixt, er hatte wirklich gehofft, nie wieder etwas von dieser Frau zu hören. Allerdings hatte sie ihn heute früh noch um seine Mailadresse gebeten, da sie ihm angeblich Fotos der Reise schicken wollte. Ihm war auf die Schnelle nichts eingefallen, wie er ihren Wunsch hätte ablehnen sollen. Etwas bänglich öffnete er die Nachricht.

Lieber John! Ich hoffe, du bist gut zu Hause angekommen. Meine Fotos sind noch nicht ganz bereit zum Hochladen, aber ich wollte dir auf der Stelle schreiben. Ich werde im September zu einigen geschäftlichen Terminen nach London kommen und werde die Gelegenheit nutzen, meinen Aufenthalt um ein paar Tage zu verlängern. Oh, ich kann es schon kaum noch erwarten, mit dir zusammen all deine Lieblingsplätze in der Stadt zu erkunden -

Du grüne Neune! John schluckte. In diesem Moment klingelte sein Handy. Pauline. Er war schon im Begriff, ihr brühwarm von Georginas Nachricht zu erzählen, als er am Tonfall ihrer Begrüßung merkte, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist los?“, fragte er alarmiert.

„Donna hatte einen Herzinfarkt“, sprudelte sie heraus. „Es sieht Gott sei Dank so aus, dass sie sich wieder erholen wird, aber die nächsten Monate fällt sie aus. Damit hängt jetzt alles an mir.“

Donna Laughton leitete die Florence Nightingale-Mädchenschule in York, Pauline war ihre Stellvertreterin.

„Noch dazu braucht mein Vater eine neue Hüfte“, fuhr sie fort. „Das heißt, er wird eine Weile in der Klinik verbringen müssen und wir müssen sehen, was wir mit Mum machen.“

Paulines Mutter hatte im letzten Jahr einen Schlaganfall gehabt. Auch wenn sie einigermaßen wiederhergestellt war, war fraglich, ob sie ihren Alltag für eine Weile ohne die Hilfe ihres Ehemannes meistern konnte. Von Paulines drei Geschwistern lebte nur Alison nahe ihren Eltern, die aber mit ihren vier Kindern vollauf beschäftigt war.

„Kaum bin ich zuhause, ist schon wieder der Teufel los“, seufzte Pauline.

„Soll ich Chief Mullins um ein paar Freischichten bitten und zu dir hinauf kommen?“, fragte er, obwohl ihm bewusst war, dass dies schwierig werden würde. Seine Urlaubstage für dieses Jahr waren so gut wie aufgebraucht und so manches Mal waren bereits Kollegen für ihn eingesprungen, um ihm ein, zwei Tage in York zu ermöglichen. Im Gegenzug warteten in nächster Zeit mehrere Doppelschichten auf ihn.

„Das ist lieb von dir, John, aber ich weiß, dass Mullins dir in den letzten Monaten schon sehr entgegengekommen ist. Du kannst dich nicht gleich vom Acker machen, kaum, dass du wieder da bist.“ Sie atmete tief durch. „Es ist nur momentan ein bisschen viel, aber irgendwie werden wir das schon geregelt kriegen.“ Im Hintergrund hörte John die Stimme ihrer Mutter.

„Lass uns später nochmal telefonieren, John“, bat Pauline und sie verabschiedeten sich. Nachdem er aufgelegt hatte, merkte er, dass er ihr nun doch nichts von Georginas Nachricht erzählt hatte. Aber so war es sicher auch besser, würde sich sie doch nur unnötig darüber aufregen.

Kopfschüttelnd überflog er den Rest des E-Mails. Diese Frau – noch dazu eine Investmentbankerin und mithin einer Spezies zugehörig, der John ohnehin mit großem Misstrauen gegenüberstand – war wirklich dreist. Offenbar war sie es gewöhnt, zu kriegen, wonach ihr der Sinn stand. Er überlegte, ob er eine Antwort schreiben sollte, entschied sich dann jedoch dafür, die Nachricht vorerst einfach zu ignorieren und kehrte zu seinem Posteingang zurück. Just in diesem Moment trudelte eine Nachricht seines Bruders ein. Die Betreffzeile ‚Familienzuwachs‘ veranlasste John auf der Stelle, das E-Mail anzuklicken. Sollte sein jüngster Neffe Christopher, der die Vorschule nun hinter sich hatte und in wenigen Wochen in die Grundschule kommen würde, etwa ein Geschwisterchen bekommen?

Hallo an alle,

wir präsentieren stolz unser jüngstes Familienmitglied! Heute ist er bei uns eingezogen. Christopher durfte den Namen aussuchen und hat sich für Joey Junior entschieden. Ist er nicht ein Wonneproppen?, schrieb David.

Nanu? Beim gemeinsamen Familienurlaub vor gut zwei Monaten war bei Annie nicht einmal der Ansatz eines Babybauchs zu erkennen gewesen, wie sollte … John lachte auf, als er das angehängte Foto öffnete. Darauf war ein ungeheuer pelziges Etwas zu sehen, das treuherzig in die Kamera blickte. Also hatte Christopher es doch tatsächlich geschafft, seine Eltern zu überzeugen, einen Hund anzuschaffen.

Auf der Hundeschau, die sie mit Tante Isabel in Newquay besucht hatten, waren sie einem Züchter von Neufundländern begegnet. Ein Blick auf dessen mächtiges dunkelbraunes Tier und es war um Christopher geschehen. Nun erinnerte sich John, dass jener Hund auch Joey geheißen hatte. Sein Besitzer hatte damals angeboten, David ein paar renommierte Züchter zur empfehlen, sollte er je über einen Hund als Hausgenossen nachdenken. Damals hatte Johns Bruder noch entsetzt abgewunken – wenn John sich richtig erinnerte, waren seine Worte: „Der würde uns die Haare vom Kopf fressen“ gewesen. Annie hatte mit Schaudern auf die riesigen Haufen verwiesen, die so ein massiges Tier hinterließ. Dass nun doch ein Welpe im gepflegten Heim der beiden Steuerberater in Cambridge Einzug gehalten hatte, zeugte von der bemerkenswerten Durchsetzungskraft des jüngsten Mackenzie-Sprösslings.

John grinste, schrieb eine kurze Antwort und durchforstete seine Nachrichten weiter. Ah, da war eine von Renie.

 

Johns älteste Nichte hatte in diesem Sommer eine Krise erlebt, die sie noch schwerer getroffen hatte als alles zuvor Dagewesene. Und das hieß bei Renie schon einiges, dachte John bei sich. Er konnte nicht mehr zählen, wie oft er von seiner Schwester in den letzten Jahren den zunehmend entnervten Satz „Das Kind macht mich noch wahnsinnig“ gehört hatte.

Vor einem Jahr hatte Renie verkündet, sie habe nun endgültig ihren Berufswunsch gefunden und wolle Journalistik studieren. Alle Vorzeichen dafür ließen sich glänzend an. Ein Redakteur des Guardian hatte sie unter seine Fittiche genommen und ihr einen Trainee-Job bei der berühmten Zeitung beschafft, damit sie die Zeit bis zum Studienbeginn im nun bevorstehenden Herbsttrimester überbrücken konnte. Sie schaffte es, einen Studienplatz an der City University in London zu ergattern, die einen hervorragenden Ruf genoss.

Im Juni jedoch hatte der Guardian eine neue Chefredakteurin bekommen, der Renies – gelinde ausgedrückt – unkonventionelle Arbeitsweise ein Dorn im Auge war. Als die neue Leiterin erfahren hatte, wie Renie es angestellt hatte, Exklusivinformationen der Polizei von Cornwall zu einem Mordfall in der Höhle von Tintagel zu bekommen, war es mit Renies Karriere beim Guardian jäh zu Ende gewesen. Was Johns Nichte als kreative Recherchemethode angesehen hatte, war in der Führungsetage der Zeitung als unethisches Verhalten und eines Guardian-Mitarbeiters nicht würdig eingeschätzt worden.

Kaum war die ganze Familie von der Reise nach Cornwall zurückgekommen, fand Renie sich mit ihren Siebensachen aus der Redaktion geworfen und auf der Straße stehen. Natürlich war sie stante pede zu ihrer Mutter gelaufen und hatte nach einem Anwalt verlangt. Maggie hatte ihr jedoch kurz und bündig mitgeteilt, dass die vorzeitige Auflösung ihres Traineevertrags bei der Zeitung rechtlich vollkommen in Ordnung war. Damit war für Renie eine Welt zusammengebrochen.

John war gerade dabei gewesen, seinen Koffer auszupacken, als ein kaum noch zu erkennendes Häuflein Elend vor seiner Tür gestanden hatte. Er hatte seine liebe Not damit gehabt, seine Nichte in ihrem Tal der Tränen auch nur ein klein wenig zu trösten.

„Ich hab’s verkackt! … Da hatte ich meinen Traumjob und dann mache ich alles kaputt … Mum und Dad hassen mich jetzt bestimmt … Ich stürze mich vom White Tower runter“, hatte sie geschluchzt. John war sich ziemlich sicher, dass seine Nichte nicht so weit gehen würde, sperrte aber dennoch vorsichtshalber die Haustür ab. Dann ging er in die Küche und holte eine Jumbo-Portion Apple Crumble aus dem Gefrierfach, Renies ultimatives Trost-Futter. John zog alle Register der Kriseninterventionsstrategien, die er viel zu oft in seinen Jahren als Psychologe bei der Armee hatte anwenden müssen, dennoch blieb seine Nichte davon überzeugt, dass für sie das Ende der Welt gekommen war.

„Jetzt ist beruflich alles im Arsch“, klagte sie. „Und noch dazu habe ich den einzigen Mann, der es je auf Dauer mit mir ausgehalten hat, in die Wüste geschickt. Und jetzt hat ihn sich eine andere unter den Nagel gerissen.“ Sie zog ihr Handy heraus, tippte in für John atemberaubender Geschwindigkeit darauf herum und hielt es ihm entgegen.

„Da, das ist sein letztes Mail. Erst hat er überhaupt nicht auf die Nachricht reagiert, die ich ihm aus Newquay geschrieben hatte und als ich es dann nochmal probiert habe, kam das.“

Hallo Renie,

es gibt kein Zurück mehr. Lucía und ich werden heiraten. Ich möchte dich bitten, keinen Kontakt mehr zu suchen.

Leb wohl,

Geoff

„Und das hat er auch noch als Anhang geschickt. Um es mir so richtig aufs Butterbrot zu schmieren.“ Renie zeigte John ein Foto, das offenbar aus der Gesellschaftsseite einer Zeitung namens Tico Times stammte.

„Dr. Geoffrey Tomlinson und Lucía Hidalgo-Ferrer von der Universität von San José eröffnen gemeinsam mit dem Bürgermeister das neue Schmetterlingshaus im Zoo“, übersetzte sie die spanische Bildunterschrift für John.

Der trotz seiner Jugend schon recht renommierte Biologe, den Maggie und Alan liebend gern als ihren Schwiegersohn gesehen hätten und die attraktive Südamerikanerin lächelten um die Wette in die Kamera. Wenig erinnerte an den linkischen und schüchternen Schlacks, dem John vor zwei Jahren in seinem winzigen Büro im Keller des Naturhistorischen Museums zum ersten Mal begegnet war.

„Er sieht fantastisch aus“, schniefte Renie. „Und er war immer für mich da. Gottverdammt, der Mann hat einen Falter nach mir benannt – und ich dämliche Ziege hab’s einfach nicht kapiert, dass er der Richtige war. Wie kann man bloß so verblendet sein!“ Wieder wurde sie von einem Heulkrampf geschüttelt.

John legte den Arm um sie und murmelte Mitfühlendes. Ihm blutete das Herz, seine Nichte so niedergeschmettert zu sehen. Er hatte Geoff sehr gern gehabt und vergönnte ihm von Herzen, dass er sein Glück in Costa Rica gefunden hatte. Aber auch er hatte sich gewünscht, dass es noch eine Chance gab, die Beziehung zwischen Renie und Geoff wieder aufleben zu lassen. Die beiden hatten sich wunderbar ergänzt.

Der Rausschmiss beim Guardian dagegen hatte seiner Meinung nach durchaus etwas Gutes. In ihrem blinden Übereifer hatte Renie sich in den letzten Monaten so verändert, dass es zu größeren Reibereien innerhalb der Familie gekommen war. ‚Pressegeier‘ war noch eines der schmeichelhafteren Worte gewesen, die selbst ihre eigene Mutter für Renie gefunden hatte.

Nach Stunden schier dammbruchartiger Tränenströme und verzweifelten Wehklagens geriet John ernsthaft in Versuchung, seiner Nichte eine große Portion Valium, in den Rest seines Apple Crumble-Vorrats gemixt, unterzujubeln. Doc Hunter, der hauseigene Arzt der Tower-Einheit, hatte sicher welches vorrätig.

Kurz vor dem Morgengrauen schlief Renie dann doch völlig ausgelaugt ein. John hatte gerade noch Zeit für eine Dusche, bevor er zum Frühdienst ins Rabenhaus wankte. Für den Rest des Tages musste er Kommentare über sein zombiehaftes Aussehen ertragen.

Als er sich am Nachmittag zurück in seine Wohnung schleppte, fand er seine Nichte immer noch auf seiner Couch eingemummelt. Sie schien sie als ihre persönliche Bärenhöhle zu betrachten, in der sie sich vor der Welt verstecken konnte. Da er nichts anderes wollte als endlich schlafen, ließ er sie dort liegen. Als sie jedoch am darauffolgenden Morgen immer noch da war, regte er höflich an, sie möge ihr Quartier doch woanders aufschlagen.

„Bitte schmeiß mich nicht raus“, flehte Renie. „Mum beißt mir den Kopf ab, sobald ich zuhause bin. Vor allem, wenn ich ihr sage, dass ich jetzt keine Journalistin mehr werden will –“

John war wie vom Donner gerührt. „Wie bitte?! Und was willst du dann?“

Weinerliches Schulterzucken. „Keine Ahnung. Ich bin doch offensichtlich für gar nichts richtig geeignet.“

„Wenn du dich weiter wie ein Ferkel im Selbstmitleid wälzen willst, dann bitte. Aber tu das bei dir zu Hause“, entgegnete John. Nachdem Renie keine Anstalten machte, das besetzte Sofa zu räumen, wurde es ihm zu bunt. Er griff zum Telefon und rief seine Schwester an.

Nach dem zu erwartenden Seufzer, „Das Kind macht mich noch wahnsinnig“ fuhr Maggie fort, „Alan ist heute Vormittag zu Hause. Ich schicke ihn gleich vorbei, um Renie abzuholen. Wenn ich selber komme, erwürge ich sie vielleicht.“

 

John hatte seiner Nichte durch das Küchenfenster nachgesehen, wie sie im Schlepptau ihres Vaters das Tower Green entlang schlurfte. Verglichen mit diesem Abbild abgrundtiefen Jammers hatte wahrscheinlich selbst Anne Boleyn auf dem Weg zum Schafott in eben dieser Ecke des Towers fröhlich gewirkt.

Danach hatte John eine ganze Weile nichts von ihr gehört. Eine Woche später hatte seine Schwester ihn angerufen.

„Argh! Stell dir vor, was sie jetzt wieder gemacht hat“, hatte sie ohne ein Wort der Begrüßung in den Hörer gebellt. Angesichts ihres Tonfalls bereitete es John keine Mühe, zu identifizieren, von wem sie sprach.

„In den Buckingham Palace eingebrochen? Bei der Sun angeheuert? Fürs Astronautentraining bei der NASA beworben?“, riet er munter drauflos.

„Du hast leicht scherzen“, zürnte Maggie. „Sie ist ja nicht deine Erstgeborene. Abgesehen davon wäre das mit der NASA eine gute Idee. Ich könnte sie sowieso auf den Mond schießen. Oder gleich auf den Mars.“

Im Hintergrund hörte John seinen Schwager etwas sagen, was durch das Zuschlagen einer Tür rüde abgeschnitten wurde.

„Alan mit seiner gottverdammten liberalen Attitüde macht mich auch noch mal wahnsinnig“, knurrte Maggie. „Lass doch das Kind, sie wird ihren Weg schon finden“, äffte sie ihren Mann erbost nach. „Das ‚Kind‘ ist mittlerweile 23 Jahre alt, Himmel Herrgott! Und sie hat schon unzählige Wege ‚gefunden‘ und wieder verlassen –“

Wenn seine ansonsten so besonnene Schwester einmal derart in Fahrt geraten war, versuchte man am besten nicht, sie zu stoppen. John ließ sie fauchen, wettern und schelten und beschränkte seine Gesprächsbeiträge auf teilnahmsvolles Brummen. Nach einigen Minuten hatte Maggie soweit Dampf abgelassen, dass sie zum Punkt kommen konnte.

„Sie hat einfach, ohne auch nur einen Ton zu sagen, ihr Auto verkauft – den goldigen roten Flitzer, den Alan und ich ihr geschenkt hatten!“

„Was? Warum das denn?“, fragte John verdattert. Er wusste, dass Renie ihren Mini Cooper heiß und innig geliebt hatte.

„Das kann ich dir sagen, oder vielmehr kann ich es dir vorlesen, aus dem Brief, den ich heute vorgefunden habe, als ich aus dem Gericht zurückkam:

Liebe Mum, lieber Dad, ich will euch nicht länger zur Last fallen. Ich muss es endlich schaffen, selbst mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Ich habe mir ein Zimmer genommen, wo ich für mich sein und überlegen kann, wie es weitergehen soll. Macht euch keine Sorgen, ich habe erstmal genug Geld, um über die Runden zu kommen. Ich habe mein Auto verkauft. Ich hoffe, ihr seid nicht sauer deswegen – argh!“, stieß Maggie aus. „Sauer! Das umschreibt es nicht mal ansatzweise! Wahrscheinlich hat sie sich den Wagen auch noch weit unter Wert abluchsen lassen. Madame Neunmalklug versteht ja NULL von solchen Dingen –“

Bevor Maggie zu einer erneuten Schimpftirade ansetzen konnte, erhob John die Stimme, „Moment mal – verstehe ich das richtig, dass Renie Knall auf Fall von zuhause ausgezogen ist, ohne vorher mit jemandem darüber zu reden?“

„So ist es. Sie hat die ganze Woche überhaupt kaum mit uns gesprochen. Wir dachten, sie braucht erstmal etwas Ruhe, um alles zu verdauen. Stattdessen hat sie offenbar diesen törichten Plan ausgebrütet –“

„Vielleicht ist Renies Idee ja gar nicht soo verkehrt, Maggie“, warf John nachdenklich ein. „Ich weiß, dass sie ein schlechtes Gewissen euch gegenüber hat, weil sie das Gefühl hat, eure Erwartungen ein ums andere Mal nicht erfüllt zu haben. Deswegen verstehe ich, dass sie das Bedürfnis hat, jetzt aus eigener Kraft etwas auf die Beine zu stellen.“

„Aber das ist doch nichts als falscher Stolz“, schmollte Maggie. „Wir hätten sie unterstützt, wie wir es immer getan haben. Wenn sie etwas gesagt hätte, hätten wir ihr doch eine Wohnung mieten können. Aber nein, wie immer muss sie mit dem Kopf durch die Wand.“ Sie seufzte. „Und dann schreibt sie hier auch noch, sie würde sich bei uns melden, sobald sie dazu bereit wäre. Wir sollen nicht versuchen, Kontakt aufzunehmen. Aber ich mache mir doch Sorgen, John! Wir wissen nicht mal, wo sie jetzt wohnt.“

John ahnte, was gleich kommen würde.

„Könntest du nicht versuchen, mit ihr zu reden?“, bat Maggie.

Bingo, dachte John mit einem Anflug von Resignation.

Er unterdrückte einen Seufzer und versprach seiner Schwester, Renie anzurufen.

„Und du gibst uns sofort Bescheid, sobald du etwas weißt, hörst du?“, drängte Maggie. „Ich möchte nur wissen, ob es ihr gut geht und ob sie etwas braucht und –“

„Ist gut, Maggie“, unterbrach er. „Ich melde mich.“ Als er auflegte, musste er sich eingestehen, dass er Renies Fluchtinstinkte nachvollziehen konnte. Seine Schwester war ein wunderbarer Mensch, aber den Spitznamen ‚Major Maggie‘ trug sie nicht zu Unrecht.

Kapitel 3

 

„Mir geht’s gut, John, wirklich“, hatte Renie ihrem Onkel einige Tage später am Telefon versichert, als sie endlich auf einen seiner hartnäckigen Anrufversuche reagierte. „Das kannst du Mum sagen. Sie hat dich doch darauf angesetzt, mich mit Anrufen zu bombardieren, oder?“

John musste bejahen. Renie seufzte.

„War mir klar. Sie meint’s ja auch gut, das weiß ich. Aber ich musste einfach raus aus dem Laden, sonst wäre ich erstickt.“

„Wo bist du untergekommen?“

„Da hatte ich totales Glück. Zufällig habe ich erfahren, dass in einem Studentenwohnheim der City University ein Zimmer frei wurde. Da musste ich einfach zugreifen. Offiziell bin ich ja erst ab Herbst hier eingeschrieben, aber das ließ sich schon deichseln. Die kleine Wohngruppe, in der ich gelandet bin, ist auch supernett. Allerdings sind die 800 Pfund, die der Spaß hier jeden Monat kostet, schon heftig.“

John verbiss sich den Kommentar, dass Renies Eltern die Miete genauso wie die Studiengebühren – immerhin an die 10.000 Pfund im Jahr – mit Freuden übernehmen würden, wenn Renie sie in ihre Pläne eingeweiht hätte.

Renie erriet seinen Gedankengang. „Jaja, ich weiß schon, dass ich mich selber in diese Situation gebracht habe. Aber auch wenn ich wie ein Schlosshund geheult habe, als mein Autchen, mein geliebtes Töff-Töff, abgeholt worden ist –“, ihre Stimme geriet für einen Moment ins Schwanken, „ – ist es mir das trotzdem wert. Jetzt kann ich ganz ohne Druck überlegen, wie mein Leben weitergehen soll. Die Einführungswoche für die Studienanfänger beginnt am 15. September, also habe ich noch fast drei Monate Zeit, mich zu entscheiden, was ich will. Momentan habe ich überhaupt keinen Plan.“ Sie verstummte.

„Können deine Eltern oder ich irgendwas für dich tun?“, fragte John sanft.

„Wenn ich ehrlich sein soll: Ihr tut mir momentan den größten Gefallen, wenn ihr mich in Ruhe lasst. Ich muss da jetzt erstmal allein durch. Aber du kannst Mum und Dad immerhin ausrichten, dass ich schon zwölf Bewerbungen für Aushilfsjobs geschrieben habe, ich liege also nicht auf der faulen Haut.“

Und damit hatte John sich zufriedengeben müssen. Nachdem er Maggie pflichtschuldig über das Gespräch berichtet hatte, kostete es ihn einige Mühe, seine Schwester davon abzuhalten, sofort alle vier Studentenwohnheime der City University auf der Suche nach ihrer Tochter abzuklappern.

„Ich glaube, das wäre jetzt absolut kontraproduktiv, Maggie“, beschwor er sie. „Verlass dich drauf, Renie wird sich melden, sobald sie bereit dazu ist.“

Zähneknirschend hatte Maggie sich bereiterklärt, Renies Wunsch zu respektieren. Und diese Strategie hatte sich ausgezahlt: Im Juli hatte Renie ihre Eltern und Geschwister mitsamt ihrem Onkel in ihre Studentenwohnung eingeladen.

 

John spürte die Anspannung bei Maggie und Alan, als sie durch die lichte Eingangshalle der Garden Halls gingen. Auch er selbst blickte dem Wiedersehen etwas unruhig entgegen. Renies quecksilbriges Temperament konnte in Verbindung mit Maggies kürzer werdendem Geduldsfaden eine durchaus explosive Mischung ergeben. John, der schon einige Mutter-Tochter-Scharmützel miterleben hatte müssen, hatte absolut keinen Bedarf, diese Erfahrung heute noch einmal zu wiederholen.

Nur Tommy und Bella, ihr Leben lang an die Kapriolen ihrer ältesten Schwester gewöhnt, sahen sich unbeschwert um.

„Coole Bude“, bemerkte Tommy. „Kinosaal, Fitnesscenter, Spieleraum – nicht schlecht.“

„Viel schöner als das Studentenheim, in dem Renie früher mal gewohnt hat“, urteilte auch Bella. „Da war es duster und eng. Hier ist alles so bunt.“

Im zentralen Treppenhaus stiegen sie in den zweiten Stock hinauf. Adrett in eine Bluse und einen knielangen Rock gewandet winkte Renie ihnen vom Ende des Flurs zu – etwas zaghaft, wie John fand. Offenbar war auch sie unsicher, wie ihre Familie ihr entgegentreten würde.

Bella war es, die das Eis brach. Sie lief los und sprang ihrer Schwester übermütig in die Arme. Als Maggie lächelte und die Arme öffnete, um ihre Älteste an sich zu drücken, wich die Nervosität endgültig aus Renies Gesicht.

„Kommt rein, kommt rein“, sagte sie, nachdem sie alle begrüßt hatte. „Meine beiden Mitbewohner sind beim Arbeiten, also können wir uns ganz ungestört unterhalten. Ich zeige euch erstmal mein Zimmer.“

„Donnerwetter“, entfuhr es Maggie gleich darauf. „Wie ordentlich! In deinem Zimmer zuhause sah es immer aus wie Kraut und Rüben.“

Renie grinste. „Ja, nicht schlecht, oder? Meinen Hang zum Chaos habe ich ganz gut im Griff jetzt.“

Das Bett war akkurat gemacht, der Schreibtisch makellos aufgeräumt, kein Stäubchen verunzierte das kleine Bücherregal. Auch der Rest der Wohnung wirkte wie aus dem Ei gepellt.

„Ich muss zugeben, daran haben Fabrizio und Matt einen großen Anteil“, gestand Renie ein. „Die Jungs legen großen Wert auf Sauberkeit. Matt studiert Pflegewissenschaften und Fabrizio Internationales Finanzwesen. Die beiden sind total knuffig.“

„Knuffig?“ Maggie hob eine Augenbraue.

„Ja, sie sind unheimlich nett und vor allem Fabrizio – er kommt aus Brasilien – sieht auch so richtig zum Anbeißen aus. Aber nachdem die zwei ein Paar sind, haben sie leider kein Interesse an einem armen, einsamen Mädchen wie mir.“ Sie stieß einen nur halb gespielten Seufzer aus und ging dann voraus in die Gemeinschaftsküche.

Maggie zwinkerte John zu und murmelte, „Das ist ja fein. Zumindest besteht hier keine Gefahr, dass die unendliche Geschichte mit Renies schiefgelaufenen Beziehungen wieder um ein Kapitel reicher wird.“

Der Küchentisch war hübsch gedeckt und mit frischen Blumen dekoriert.

„Setzt euch.“ Renie trug ein Tablett mit Scones und Muffins heran und verkündete, „Die habe ich selbst gebacken. Und die Erdbeermarmelade habe ich auch persönlich eingekocht.“

„Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, kommentierte Alan verblüfft. Auch der Rest der Familie machte große Augen.

„Sag mal, auf was für einem Trip bist du eigentlich, Sis?“, platzte Tommy heraus. „Du läufst rum wie unsere Schulbibliothekarin und dann kochst du auch noch Marmelade. Machst du jetzt einen auf Stepford Wives?“

Bella sah alarmiert auf. „Sag mal, du fängst jetzt aber nicht auch das Spinnen an, so wie Simon?“

John musste sich das Lachen verbeißen. Sein Cousin, Superintendent Simon Whittington, hatte in diesem Sommer die ganze Familie in Verwirrung gestürzt. Urplötzlich hatte er – der sich den Ehrentitel ‚Pestbeule‘ schon in der Kinderzeit redlich verdient hatte – sich als zugänglichen, hilfsbereiten und außerordentlich um seine Familie bemühten Zeitgenossen präsentiert. Die Theorien zu diesem unerklärlichen Sinneswandel waren geradezu ins Kraut geschossen; nur John wusste, was hinter Simons verdächtig menschenfreundlichem Verhalten steckte. Zu seinem Leidwesen hatte er seinem Cousin versprechen müssen, Stillschweigen zu bewahren.

„Kinder“, mahnte Maggie. „Etwas mehr Respekt bitte für eure Schwester. Mir gefällt die Veränderung, Renie. Und jetzt hätte ich gern so einen Muffin, bitte.“

„Gerne, Mum.“ Renie blickte ihre Mutter dankbar an. Nachdem sie für alle Tee eingegossen und Gebäck verteilt hatte, setzte sie sich auf den letzten noch freien Stuhl und holte tief Luft.

„Ich habe viel nachgedacht in den letzten Wochen. Erst einmal finde ich, ist es angebracht, dass ich mich bei euch allen entschuldige. Ich weiß, dass ich mich oft wirklich unmöglich benommen habe, besonders in unserem Urlaub und auch hinterher, als ich bei der Zeitung rausgeflogen bin. Ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen.“

„Oh Schätzchen“ Maggie griff gerührt nach der Hand ihrer Tochter. „Natürlich tun wir das. Wir wünschen uns einfach, dass du nach all den … ähm … Ansätzen der letzten Jahre etwas findest, was dich auf Dauer glücklich macht.“

„Also, von wegen Dauer … da bin ich mir immer noch nicht im Klaren. Eine Idee habe ich, aber da muss ich noch ein paar Sachen klären. Ich verstehe ja, dass ihr meine Zukunftspläne wissen wollt. Aber ihr müsst mir noch ein bisschen Zeit geben. Ist das in Ordnung?“

Maggie und Alan warfen sich einen Blick zu und nickten dann einmütig.

Renie blickte erleichtert drein und erklärte eifrig „Immerhin habe ich einen richtig guten Aushilfsjob gefunden.“ Sie lächelte schelmisch. „Was Tommy da vorhin gesagt hat, geht genau in die richtige Richtung. Tatsächlich arbeite ich jetzt in einer Bibliothek. Aber nicht in irgendeiner, sondern – tadah“, sie zog etwas aus ihrer Rocktasche und legte es auf den Tisch.

„Houses of Parliament – Maureen Hughes, wissenschaftliche Mitarbeiterin“, las John staunend.

„Ich arbeite im Parlament. Ist das nicht toll?“ Renie klatschte begeistert in die Hände.

Tommy war wenig beeindruckt. „Pff, Parlament. Lauter Politiker auf einem Haufen, ist ja ätzend.“

„Mann, was bist du für ein Ignorant.“ Renie schlug sich an die Stirn.

„Wo das Herz unserer Nation schlägt und sich das Schicksal des Landes entscheidet“, deklamierte sie mit einer ordentlichen Portion Pathos – ihr alter Schauspiellehrer wäre stolz auf sie gewesen – und knuffte dann ihren Bruder in den Oberarm. „Das ist unser Parlament, du Vollhorst. Einer der spannendsten Orte überhaupt. Und ich mitten im Geschehen.“ Sie seufzte glücklich. „Ein Traum.“

„Ich kann mir vorstellen, dass Westminster ein sehr anregender Arbeitsplatz ist“, stimmte Alan ihr zu. „Ich war ja im letzten Jahr zweimal dort, um in einem Expertenpanel vor dem gemeinsamen Ausschuss von Ober- und Unterhaus zur Datensicherheit zu sprechen. Es ist schon sehr beeindruckend, wenn einem da auf dem Flur mal eben der Schatzkanzler oder der Sprecher der Lords begegnet.“

„Hast du David Cameron schon gesehen?“, fragte Bella.

„Nein, Spätzchen, als ich angefangen habe, hatten die Parlamentsferien schon begonnen. Da sind fast alle Politiker ausgeflogen, bis es Anfang September mit der neuen Sitzungsperiode losgeht. Vereinzelt lassen sich aber auch jetzt welche sehen, meistens Ausschussvorsitzende, die neue Gesetzesvorhaben vorbereiten.“

„Patricias Onkel ist dir aber noch nicht über den Weg gelaufen?“, erkundigte sich Maggie. „Er leitet den Wirtschaftsausschuss im Oberhaus, soweit ich weiß.“

„Lord Carrington?“, fragte Renie überrascht. „Der ist mit Patricia verwandt? Das wusste ich gar nicht.“

„Das könnte daran liegen, dass du auf jeder Familienfeier einen großen Bogen um Simon und Patricia machst“, gab Maggie zurück. „Während es meistens an mir hängen bleibt, mir endlos Geschichten über ihre royale Verwandtschaft anzuhören und mich dann auch noch für irgendeine Wohltätigkeitsaktion einspannen zu lassen.“

Die Ehrenwerte Patricia Whittington-Armsworth war als Vorsitzende des Krankenhausfördervereins von St. Bartholomew’s mindestens so umtriebig wie Emmeline Mackenzie in ihrem Gartenclub.

„Die Familie hat eine lange Tradition in der Politik“, fuhr Maggie fort. „Über die Jahrhunderte saß offenbar immer irgendein Mitglied im Oberhaus –“

„Na, Kunststück, wenn man den Parlamentssitz als Duke oder Earl oder was auch immer einfach vererbt kriegt“, warf Renie ein. „Egal, wie degeneriert, Hauptsache alter Adel, dann durfte man schon mitreden.“

„Das ist natürlich richtig“, räumte Maggie ein. „Aber damit war ja 1999 Schluss. Als der Großteil der Erbadligen aus dem Parlament flog, ging auch der Sitz von Patricias Familie flöten. Man befürchtete schon, dass man auf ewig vom Ruhm des Großvaters zehren müsste, der sich immerhin unter Winston Churchill im Kriegsministerium seine Lorbeeren erworben hatte. Aber dann wurde glücklicherweise der Ehrenwerte Mr. Carrington zum Life Peer ernannt, so dass man sich weiterhin mit einem Parlamentsmitglied schmücken kann.“

„Na, Gott sei Dank“, kommentierte Renie bissig. „Gott bewahre, dass Patricias nobler Clan in der Bedeutungslosigkeit versinkt.“ Sie schnaubte. „Allerdings muss ich zugeben, dass Lord Carrington wirklich ein Aktivposten in Westminster ist. Er ist auch Mitglied im Renovierungsausschuss und hängt sich da voll rein. Selbst jetzt in den Ferien sehe ich ihn fast täglich, wie er mit einem Tross Handwerker alle Winkel des Hauses durchkämmt.“

„Ah ja, vom schlechten Zustand des Palastes habe ich in letzter Zeit öfter in der Zeitung gelesen“, meldete sich John zu Wort. „Es scheint an allen Ecken und Enden Probleme zu geben, nicht wahr?“

Renie nickte emphatisch. „In den öffentlichen Bereichen geht es gerade noch, wenn man nicht genauer hinschaut. Aber hinter den Kulissen ist es wirklich übel. Da gehört der Putz, der von der Decke fällt, noch zu den kleineren Übeln. Letzte Woche ist in einem Büro Wasser aus der Wand gelaufen, weil dahinter ein Rohr geborsten war. Kollegen haben mir erzählt, dass im Schnitt alle sechs Wochen ein Brand ausbricht und rund um die Uhr fünf Feuerwehrleute im Haus in Bereitschaft sind –“ Plötzlich kicherte sie los.

„Stellt euch vor, letzten Montag gehe ich gerade den Flur entlang, mit einem Packen Kopien – es ist wirklich unglaublich, wieviel Papier da drin täglich produziert wird, als wenn der Computer noch nicht mal erfunden worden wäre – also, auf jeden Fall ertönt plötzlich markerschütterndes Gekreisch aus einem Büro. Ich natürlich sofort rein und da saß eine putzige Maus in der Ecke und nagte ganz friedlich an einem Kabel. Die Frau da drin fand das Tierchen offenbar nicht so niedlich und hat sich echt die Seele aus dem Hals geschrien.“

„Was hast du dann gemacht?“, fragte Bella interessiert. „Ihr habt der Maus hoffentlich nichts getan?“

„Natürlich nicht, Spätzchen. Ich wollte sie mit einem Papierkorb fangen, aber sie ist einfach in einem Loch in der Wand verschwunden, wo wahrscheinlich ihre ganze Familie haust. So oft, wie ich jetzt schon Mäuseköttel auf dem Boden gesehen habe, glaube ich ja, dass in dem Gemäuer mehr Nager leben als wir Parlamentarier haben.“

Alan zog eine Augenbraue nach oben. „Das wäre bei 650 Abgeordneten im Unterhaus und an die 800 bei den Lords ja eine ganz schöne Mäusepopulation. Vielleicht sollte die Verwaltung mal eine Katze anschaffen.“

„Oh ja, wie Larry in Downing Street“, rief Bella.

Renie lachte. „Ich werde den Vorschlag mal anbringen. Am besten sollte es gleich zwei Dienstkatzen geben. Die fürs Oberhaus kriegt dann ein rotes Halsband in der Farbe der Lords und die fürs Unterhaus ein grünes.“ Sie griff nach einem Scone. „Ein Tier haben wir übrigens schon, das auf der Gehaltsliste steht: Einen Raubvogel, der regelmäßig mit seinem Herrchen kommt, um die Tauben von der Fassade zu vertreiben. Scheint ganz gut zu funktionieren, hat mir Philippa erzählt. Sie sitzt im Büro der Zentralen Verwaltung und weiß eigentlich immer, was im Haus los ist.“

Das erinnerte John an Bonnie Sedgwick, die über das Vorzimmer von Chief Mullins und damit das Epizentrum des Towers regierte. Es kam selten vor, dass in der Festung etwas geschah, von dem Bonnie nicht in kürzester Zeit Wind bekam.

„Sie hat mir in den ersten Wochen supernett geholfen, mich zurecht zu finden“, erzählte Renie weiter. „Und auch sonst habe ich schon viele coole Leute kennengelernt. Steve, zum Beispiel, einer der Elektriker, ist richtig schnuckelig –“

John registrierte amüsiert, dass Maggie sogleich anhob, um ob dieser interessanten Aussage nachzubohren, aber Renie sprach hastig weiter. „Der Einzige, der ein ziemlicher Stinkstiefel ist, ist der Typ aus der Personalabteilung, der mich eingestellt hat. Mr. Ramsbottom. Offenbar durchleuchtet er selbst für so eine Aushilfsstelle, wie ich sie momentan habe, genauestens das Vorleben von jedem Bewerber. Da sind ihm natürlich sofort meine Beiträge im Guardian ins Auge gesprungen und er hatte den unverschämten Verdacht, dass ich den Job nur will, um undercover irgendwelche Skandale aufzudecken.“

„So abwegig ist die Idee ja nicht“, bemerkte Maggie mit einem milden Lächeln.

Sofort blitzte es in Renies Augen auf.

„Oh, Mum, bitte. Ich schwöre, meine Tage als Investigativreporterin sind vorbei. Endgültig. Von jetzt an bin ich hochseriös.“

„Mhm.“

Maggies Unterton gefiel ihrer Tochter sichtlich nicht.

John, der Unheil dräuen sah, fragte schnell, „Wie hast du es dann geschafft, den Mann doch davon zu überzeugen, dass er dich einstellt?“

„Laut Stellenausschreibung brauchten sie jemanden, der Erfahrung mit Recherchen aller Art hat, selbstständig und zügig arbeitet und halbwegs vernünftig schreiben kann“, erwiderte Renie. „Und zumindest das habe ich in meinem Praktikumszeugnis vom Guardian bestätigt bekommen –“

„Sieh mal einer an“, kommentierte Maggie. „Deine ‚kreativen‘ Nachforschungsmethoden wurden da gar nicht erwähnt?“

„Oh Mum“, jaulte Renie. „Deinen Staatsanwältinnen-Ton kannst du dir echt sparen. Mann, so schlimm war es nun auch wieder nicht, was ich gemacht habe.“

Nun ja. Nötigung, Erpressung und unerlaubtes Betreten … so einige Straftatbestände wären da durchaus zusammengekommen, dachte John bei sich.

---ENDE DER LESEPROBE---