Tod im Mumienschrein - Emma Goodwyn - E-Book

Tod im Mumienschrein E-Book

Emma Goodwyn

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Beschreibung

Sommer 2016: Nicht nur für Großbritannien eine aufreibende Zeit. Während der Großteil seiner Familie ausgeflogen ist, sitzt Beefeater John Mackenzie in London fest und hat zu kämpfen, seinen Alltag zwischen aufmüpfigen Raben, unzähligen Touristenführungen durch den Tower und seiner Fernbeziehung mit Pauline Murray zu bewältigen. Als in einem Sarkophag im Britischen Museum eine ganz und gar nicht antike Leiche entdeckt wird, sträubt er sich dagegen, in die Ermittlungen hineingezogen zu werden. Doch dann geschieht eine zweite Attacke. Unversehens entwickelt sich der Fall doch zu einem sehr persönlichen.

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Tod

im Mumienschrein

 

 

 

John Mackenzies

elfter Fall

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Emma Goodwyn

 

 

 

Im Gegensatz zu den Schauplätzen

sind alle Personen und Ereignisse der Handlung rein fiktiv, mögliche Ähnlichkeiten zu echten Personen und Geschehnissen keinesfalls beabsichtigt.

 

 

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Besuchen Sie die Autorin unter

www.emma-goodwyn.com!

 

Copyright Text und graphische Gestaltung

Emma Goodwyn

c/o Hartmut Albert Fahrner

Am Tannenburganger 36

84028 Landshut

 

Kontakt: [email protected]

 

Veröffentlichungsdatum: 1. Juni 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

(V1.0)

Prolog

 

Feierlich berührte der Hohepriester Mund und Nase, Augen und Ohren des mumifizierten Körpers. Durch diese Gesten sollte die Seele der Verstorbenen wieder in der Lage sein, zu sehen, zu hören, zu sprechen und Nahrung aufzunehmen. Für diese letzten Riten trug er die schakalköpfige Maske des Anubis, der die Toten in die Unterwelt geleitete. Bizarre Schatten tanzten über die Wände des Grabestempels, in dem die körperliche Hülle von Anchnesneferibre heute zur Ruhe gebettet werden würde.

Über ein halbes Jahrhundert lang hatte die Tochter des Pharaos Psammetich II über Theben geherrscht. Der Basaltsarkophag trug ihren Ehrentitel: Hemet-netjer-en-Amun, Gottesgemahlin des Amun.

Gesänge und Gebete erfüllten den Raum, während die Mumie mit duftenden Ölen gesalbt und dann in ihren steinernen Sarg platziert wurde. Auf ein Nicken des Hohepriesters traten mehrere kräftige Männer heran, die den Schrein in die reich verzierte Kammer trugen, die der Ka-Seele der Pharaonentochter ewige Heimstatt sein sollte. Der Eingang wurde sorgsam verschlossen und versiegelt. Mit dem guten Gefühl, ihrer Herrscherin einen würdigen Abschied von der irdischen Welt bereitet zu haben, nahm die Priesterschaft zu einem opulenten Festmahl Platz. Nichtsahnend, dass ihrem Land große Veränderungen bevorstanden.

Eroberer aus Persien kamen und übernahmen die Macht in Ägypten, um ihrerseits 200 Jahre später von Alexander dem Großen und seinen gewaltigen Heeren vertrieben zu werden. In jener Zeit, später die ‚ptolemäische‘ genannt, wurde Anchnesneferibres Totenruhe jäh gestört. Plünderer drangen in ihre Grabstätte ein. Einem der Eindringlinge gefiel der mächtige Basaltsarkophag und er beschloss kurzerhand, diesen für sein eigenes Begräbnis zu verwenden.

Was aus der Mumie der Gottesgemahlin des Amun wurde, bleibt im Dunkel der Geschichte verborgen. Dem dreisten Grabräuber war es jedoch ebenso wenig vergönnt, ewige Ruhe in dem schwarzen Schrein zu finden. Auch seine sterblichen Überreste wurden entfernt. Der leere Sarkophag ging auf die Reise nach London, wo er heute in einem der gigantischen Depots des Britischen Museums verwahrt wird.

Dort fand sich der Schrein, der ein halbes Jahrtausend vor Christus einer Pharaonentochter der 26. Dynastie gewidmet worden war, an einem Juniabend des Jahres 2016 ein weiteres Mal seines ursprünglichen Zwecks entfremdet.

Die tonnenschwere Deckplatte hob sich mithilfe einer ausgeklügelten Seilzugmaschinerie in die Höhe und ein Körper wurde gänzlich unzeremoniell hineinbugsiert. Sein letztes Röcheln verklang ungehört. Über die heiligen Hallen, die Kulturschätze aus aller Welt beherbergen, senkte sich wieder Stille.

 

Kapitel 1

 

„Pauline, c’était merveilleux“, seufzte Louise Mercier. „Dein Boeuf Bourguignon – ein Traum. Als hättest du das Kochen bei Auguste Escoffier persönlich gelernt.“

Während Pauline geschmeichelt lächelte, nahm John einen weiteren großen Schluck Mineralwasser. Er spürte angesichts der zweieinhalb Flaschen Burgunderweins, in denen das Rindfleisch geschmort hatte, einen dickwattigen Nebel durch seinen Kopf wabern. Auf Paulines hartnäckiges Drängen hatte er vor dem Eintreffen der Gäste ein ums andere Mal die Sauce verkosten und ihr versichern müssen, dass diese auch wirklich hervorragend gelungen war. Die Aussicht, ihrer französischen Freundin eines der berühmtesten Gerichte ihrer Heimat zu kredenzen, hatte Pauline in ungewohnte Nervosität versetzt.

„Echt große Klasse“, kommentierte Johns alter Freund Mike Nichols und rieb sich behaglich über seinen voluminösen Bauch, den er heute eigens für den französischen Abend in ein Hemd mit prächtig gefiederten Hähnen gehüllt hatte. Dann beugte er sich zu John und musterte ihn forschend. „Alles okay bei dir, Kumpel? Du wirkst irgendwie … geistesabwesend.“

Pauline entfuhr ein Kichern. „Oje! Ich glaube fast, mein armer Hase ist ein klein wenig beschwipst.“

„Hast ’n bisschen übertrieben beim Vorglühen, was?“, kam es etwas gönnerhaft von Nathan Bennett, Louises Ehemann. „Na, das kann schon mal passieren, dass man einen zu viel zwitschert.“

„Ich habe gar nichts gezwisch … getschitz …“ John biss sich ergrimmt auf die Lippen. Dann holte er tief Luft. „Getrunken.“

„Ja, klar.“ Bennett zwinkerte John mit einem Seitenblick auf Pauline übertrieben zu. Dass diese ihn wiederum mit einem zürnenden Blick fixierte, der für gewöhnlich selbst pubertären Mittelstufenschülerinnen deutlich machte, dass das Maß nun voll war, entging Louises Mann gänzlich.

„So ein reichhaltiges Sößchen kann einem schon zu Kopf steigen, wenn man nichts gewöhnt ist“, warf Mike ein. „Ich weiß noch, wie wir damals in einem Biochemie-Seminar im Studium eine Reihe legendärer Experimente gemacht haben.“ Er gluckste amüsiert in seinen Weihnachtsmann-Bart hinein. „Wir haben intensiv alle Variablen erforscht: Zubereitungsart, Erhitzungsgrad und –dauer, Art des eingesetzten Alkohols und so weiter. Das Ganze ging mit intensiver Selbsterfahrung einher, denn wir mussten die Resultate unserer Versuche natürlich testen.“

„Sensationell, wie du dich schon als Jungspund so uneigennützig in den Dienst der Wissenschaft gestellt hast“, spottete Sophie, Mikes Frau und von Beruf Lehrerin wie Pauline, mit einem Grinsen.

„In der Tat. Fazit war: Den Mythos, dass der Alkoholgehalt durch das Kochen von Speisen komplett verschwindet, haben wir eindeutig widerlegen können. Gerade bei Schmorgerichten, wo wenig Dampf entweichen kann, bleibt ein gar nicht mal so kleiner Teil des Alkohols im Essen.“

„Mhm“, murmelte John leidend und griff wieder nach dem Wasser.

„Ihr vier habt euch also in Ägypten kennengelernt? So eine Nil-Kreuzfahrt stelle ich mir herrlich vor“, wechselte Sophie das Thema.

„Das ist es wirklich“, sagte Pauline und hob postwendend an, im lebhaften Wechsel mit Louise ihre Urlaubserlebnisse im Land der Pharaonen in glühenden Farben zu schildern. Froh, dass kein Gesprächsbeitrag von ihm erwartet wurde, lehnte John sich auf seinem Stuhl zurück und ließ seinen Blick auf Pauline ruhen, die ihm gegenüber saß. Seit bald zwei Jahren waren sie nun zusammen und bis heute bezauberte ihn das Lächeln in ihren meergrünen Augen stets aufs Neue.

Er konnte sich eines Anflugs von Neid nicht erwehren, wenn er Mike und Sophie betrachtete, die seit einem guten Vierteljahrhundert miteinander verheiratet waren und einen schon erwachsenen Sohn hatten, der nach Abschluss seines Studiums gerade eine Stelle in Madrid angetreten hatte. Wenn Mike, Ornithologe am Naturhistorischen Museum in London, nicht auf einer seiner Regenwaldexkursionen unterwegs war, teilten er und seine Frau ihr Leben in ihrer gemütlichen Wohnung in Islington.

Jeden Tag gemeinsam mit Pauline aufzuwachen und abends nach Dienstschluss zu ihr heimzukehren, wäre Johns Traum gewesen. Ein auf unabsehbare Zeit nicht erfüllbarer Traum jedoch, denn Pauline lebte 200 Meilen nördlich in York, wo sie als stellvertretende Leiterin einer Mädchenschule arbeitete. Zudem verbrachte sie viel Zeit in ihrer ursprünglichen Heimat in der Nähe von Edinburgh, um sich um ihre Eltern zu kümmern. So konnten sie sich meist nur ein- bis zweimal im Monat ein Wochenende stehlen, wenn Johns Dienst als Yeoman Warder und Assistent des Ravenmasters im Tower von London dies erlaubte.

John seufzte innerlich, tröstete sich aber dann mit dem Gedanken an die in rund sechs Wochen bevorstehenden Sommerferien. Dann würde er mit Pauline zwei glorreiche Wochen in Südfrankreich verbringen.

In diesem Moment wurde ihm gewahr, dass der Gesichtsausdruck seiner Herzensdame sich verdüstert hatte und ein zorniger Funke in ihren Augen aufglomm.

„Du glaubst doch nicht wirklich diesen Unsinn? Dass sich dann mit einem Schlag eine goldene Zukunft für das Land auftut?“

Nathan Bennett nickte bekräftigend. „Genauso wird es sein, das werdet ihr sehen. Sobald unsere ganzen Steuergelder nicht mehr nach Brüssel gehen, wird es einen Riesenaufschwung geben. Und außerdem können wir endlich wieder selbst entscheiden und müssen uns nichts mehr von denen auf dem Kontinent diktieren lassen.“

Oh-oh. Dieselbe Diskussion, die auf der gesamten Insel wogte und nicht einmal zwei Wochen vor dem Referendum immer erbitterter geführt wurde, hatte nun auch ihren Abendbrottisch erreicht. Und Pauline gehörte wie viele Schotten zu den leidenschaftlichsten Kämpfern für den Verbleib in der EU. Auch Johns Großtante Isabel, die hochbetagte, aber immer noch bemerkenswert vitale Patriarchin des Mackenzie-Clans und Ikone der Scottish National Party, hatte in den letzten Wochen immer wieder ihre Schaffarm in den Highlands verlassen und auf etlichen Veranstaltungen die Trommel für die Remainers gerührt.

„Endlich werden auch die ganzen Ausländer, die sich bei uns breit machen und unseren Leuten die Arbeitsplätze wegnehmen, gehen müssen“, schwadronierte Bennett weiter.

„Ah, du meinst Leute wie deine Frau und mich“, warf Mike ein. Er hatte nach Ende seines Studiums seine kalifornische Heimat verlassen und war Sophie nach England gefolgt.

„Unsinn“, wehrte Bennett ab. „Ich rede doch nicht von hochqualifizierten Leuten wie euch – “

„Sondern von den Heerscharen von fleißigen Männern und Frauen, ohne die unsere Krankenhäuser zusperren könnten und keine Baustelle jemals fertig werden würde“, fiel Pauline ihm rüde ins Wort.

Bevor Nathan Bennett sich ein noch tieferes Grab schaufeln konnte und der lange geplante Paare-Abend komplett den Bach hinunterging, erhob John die Stimme. „Ich würde vorschlagen, ich kümmere mich jetzt um das Geschirr und ihr könnt euch ein paar Fotos von unserer Reise ansehen, wenn ihr mögt.“

„Super Idee. Ich bin dabei. Zum Kochen bin ich zwar nicht zu gebrauchen, aber ich bin ein unschlagbarer Abräumer.“ Schon hatte Mike ein paar Teller zusammengestellt.

John befürchtete schon, Nathan Bennett würde ebenfalls seine Hilfe anbieten, aber Louises Mann verzog sich zusammen mit den Frauen ins Wohnzimmer. Dort ließ er sich in einem Sessel nieder und zog sein Handy heraus, während die Frauen das Fotoalbum durchblätterten, das Pauline nach der Reise für John zusammengestellt hatte. Mike stapelte geschickt die Teller in den kleinen Geschirrspüler und John deponierte die Reste des Schmorgerichts im Kühlschrank.

„Louise scheint ja eine echt nette Person zu sein, aber was will sie mit diesem Holzkopf?“, raunte Mike, als er Messer und Gabeln laut klappernd im Besteckkorb versenkte.

John entfuhr ein Schnauben. „Dasselbe sagt Pauline seit dem ersten Tag, an dem wir die beiden kennengelernt haben“, gab er leise zurück. „Es tut mir leid, dass wir ihn jetzt alle ertragen müssen, aber wir mussten ihn aus Höflichkeit Louise gegenüber einladen.“

„Kein Stress, Kumpel.“ Mike klopfte John auf die Schulter. „Erzähl, ist Renie schon im Reisefieber?“

Johns älteste Nichte würde gleich nach Ende des Sommertrimesters ihren noch recht frisch angetrauten Ehemann Geoff, Dozent an der Universität Cambridge, zu einer Forschungsexpedition nach Costa Rica begleiten.

„Ich habe sie in letzter Zeit kaum gesehen, aber sie hat sich für morgen Abend zum Abschiedsessen bei mir angesagt, bevor es auf die Reise geht“, sagte John. „Soweit ich das mitbekommen habe, steckt sie gerade noch voll im Klausurenstress. Sie hat ein ziemlich großes Programm zu bewältigen, nachdem sie parallel zu den üblichen Kursen im ersten Studienjahr schon einen guten Teil der Ausbildung zur Parlamentsreporterin durchlaufen hat und jetzt überall Prüfungen anstehen.“

„Das Ganze, nachdem sie auch noch innerhalb weniger Monate zwei Mörder zur Strecke gebracht hat – natürlich wieder mit familiärer Mithilfe.“ Mike schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Ihr Mackenzies seid schon alle miteinander ein lustiger Haufen.“

„Ein Clan mit fast schon mafiöser Struktur, wie uns dieser neue Chief Inspector vom Yard bescheinigt hat“, gab John zurück und schnappte sich ein Tuch, um den Tisch abzuwischen. Als alles erledigt war, hatte sich der Nebel in seinem Kopf zu seiner Erleichterung verzogen. Er ging ins Wohnzimmer und sagte, „Wir sollten allmählich aufbrechen. Unser Zeitfenster startet um acht.“

Anfang des Jahres hatte die Königliche Schlösserverwaltung den Angehörigen der Wacheinheiten des Towers das Privileg erteilt, an einem Abend pro Monat Privatführungen im kleinen Kreis zu den Kronjuwelen anzubieten. Kaum hatte Commander Mullins dies bei einer Dienstbesprechung seiner 36-köpfigen Truppe angekündigt, waren die Wartelisten zum Bersten voll gewesen. Die Chance, Angehörigen und Freunden den wertvollsten Schatz des Towers ohne das übliche Gedränge und Geschiebe der täglich Tausenden von Besuchern zu zeigen, wollte sich niemand entgehen lassen. So hatte es bis Juni gedauert, bis John einen der begehrten Termine ergattern konnte.

„Wir wissen es wirklich sehr zu schätzen, dass wir heute Abend dabei sein dürfen“, sagte Louise, als sie über den Innenhof des Towers hinüber zum Waterloo Block gingen. „Merci beaucoup, John.“

„De rien“, antwortete John lächelnd. Pauline lernte seit einigen Monaten intensiv Französisch und einige einfachere Ausdrücke hatte er von ihr aufgeschnappt.

„Das ist ja wie Fort Knox hier“, entfuhr es Mike wenig später, als sie gemeinsam mit einer anderen Gruppe unter Führung von Johns Beefeaterkollegen Michael Conners in den Hochsicherheitstrakt eingelassen wurden und eine überdimensionale Tresortür passierten.

Einer der beiden schwerbewaffneten Nationalgardisten, die den Eingang bewachten, musste sich sichtlich das Lachen verbeißen, als Mike fortfuhr, „Schaut euch das an, die Tür ist so dick wie mein Bauch.“

„Wir hüten hier auch unbezahlbare Kostbarkeiten“, sagte John. „Genaue Schätzungen gibt es zwar nicht, aber ihr Wert soll wohl über drei Milliarden Pfund liegen.“

„Drei Milliarden! Heiliger Strohsack!“, kommentierte Mike staunend. „Und das gehört alles der Königin?“

„Nicht direkt“, ergriff Pauline das Wort. „Der Besitz geht nach einem Parlamentsbeschluss aus dem 17. Jahrhundert von einem Monarchen auf den nächsten über, gehört aber niemandem persönlich. Das Gesetz wurde erlassen, nachdem Charles I. sich im 17. Jahrhundert einen guten Teil des königlichen Gold- und Juwelenbesitzes schnappte, außer Landes schmuggeln und in Amsterdam verhökern ließ, um seine leeren Kassen aufzufüllen – “ Sie hielt inne und blickte zerknirscht drein. „Oh, entschuldige, John. Jetzt ist der Geschichtslehrer-Gaul wieder mit mir durchgegangen.“

Er lachte und gab ihr einen schnellen Kuss. „Ich höre dir immer gern zu, das weißt du. Außerdem werde ich ja erst seit ein paar Monaten hier im Waterloo Block eingesetzt und bin immer noch dabei, mich einzulesen, damit ich den Besuchern keinen Unsinn erzähle.“

Mit einem Blick in die Runde meinte er, „Wir haben eine knappe Dreiviertelstunde Zeit, bis die nächsten Gruppen kommen. Alle 142 Stücke aus dem Kronschatz, die wir hier haben, können wir uns also nicht ansehen. Womit möchtet ihr beginnen?“

„Mit den Kronen, bitte“, kam es wie aus der Pistole geschossen von Sophie. „Ich war zwar schon einige Male mit meinen Schulklassen hier, aber auf diesem Rollband hat man ja gar keine Chance, sich alles genau anzusehen.“

„In Ordnung.“ John ging voraus zu der langen Glasvitrine, welche die Hauptanziehungspunkte der Ausstellung beherbergte. Vor einigen Jahren war hier ein Transportband im Boden installiert worden, damit der Touristenstrom in halbwegs geordneten Bahnen vorbeizog. Da Michael Conners mit seinen Besuchern vor dem Schaukasten mit den goldgewirkten Krönungsgewändern stand, konnten Johns Gäste die schillernden Prunkstücke nun in Ruhe auf sich wirken lassen.

„Lasst uns mit der St. Edward’s Krone starten“, begann John. „Nachdem Cromwell im Bürgerkrieg alles Gold des Königshauses einschmelzen und zu Münzen verarbeiten ließ, musste 1661 nach der Rückkehr zur Monarchie eine neue Krone her. Seither wird sie dem jeweils neuen Monarchen vom Erzbischof von Canterbury bei der Krönungszeremonie aufs Haupt gesetzt. Zuletzt war sie also 1953 im Einsatz. Das gute Stück wiegt übrigens über zwei Kilogramm, daher dürfte die Königin froh sein, dass es für Anlässe wie die Parlamentseröffnung die Imperiale Staatskrone gibt, die zumindest ein bisschen leichter ist.“

Als John einen Schritt weiter ging, wurde er aus dem Augenwinkel gewahr, wie Nathan Bennett verstohlen sein Handy aus der Hosentasche zog.

„Verzeihung. Fotografieren und Filmen ist in diesen Räumen nicht gestattet.“ John wies auf die zahlreichen Verbotsschilder, die unübersehbar überall hingen.

„Mann, eine schnelle Aufnahme – das merkt doch keiner“, maulte Bennett.

John bemühte sich um einen höflichen Ton. „Jeder Quadratzentimeter wird videoüberwacht, auch in diesem Moment. Wir sind sehr stolz darauf, dass seit dem fast erfolgreichen Raubzug durch Colonel Thomas Blood 1671 niemand mehr unberechtigt mit einem dieser Schätze diese Mauern verlassen hat. Selbst wenn der Hofjuwelier einmal im Jahr kommt, um alles aufzupolieren, wird er in seiner Werkstatt im Untergeschoss stets von vier Kollegen der Nationalgarde bewacht.“

„Die Kronjuwelen haben den Tower nur ein einziges Mal außerplanmäßig verlassen, während des Zweiten Weltkriegs“, ergänzte Pauline. „Damals wurden sie aus Furcht vor einer Bombardierung an einen geheimen Ort unter Windsor Castle gebracht. Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme wurden die wichtigsten Edelsteine aus den Kronen und Zeptern herausgenommen und in einer Keksdose verborgen.“

„Très original, so ein Versteck“, bemerkte Louise. „Zumindest sind Juwelen klein und handlich und stellen keine großen Ansprüche an die Lagerung. Für die meisten von unseren Ausstellungsstücken war es sehr schwer, während des Krieges einen sicheren Ort zu finden.“

Louise arbeitete als Bioarchäologin am Britischen Museum.

„Ich dachte, es wurden damals aufgelassene U-Bahn-Tunnels als Lager genutzt?“, fragte Pauline.

„Ja, zum Teil“, bestätigte Louise. „Vor allem in der Station Aldwych. Aber dort gab es riesige Schwankungen in der Luftfeuchtigkeit. Jegliches organische Material wäre dort kaputtgegangen, wie zum Beispiel unsere Mumien. Die meisten empfindlichen Stücke wurden in einen unterirdischen Steinbruch bei Bath gebracht, der eigens klimatisiert wurde. Ein wahnsinniger Aufwand, aber er war es wert. Alles ist unversehrt geblieben.“

„Stellt euch vor, was ich erst vor kurzem erfahren habe“, hob Mike an. „Nachdem ein Teil von unseren Exponaten 1939 ebenfalls ausgelagert worden war, ist bei uns im Naturhistorischen Museum eine geheime Spionageabteilung eingezogen. Und zwar die, die in den James Bond-Filmen von ‚Q‘ geleitet wird. Die haben da zu der Zeit schon wirklich krasses Equipment hergestellt, mit dem Agenten hinter den feindlichen Linien abgesetzt wurden und dort für Sabotage sorgen sollten. Da wurden Sprengsätze mit Fernzündern in toten Ratten versteckt, in Kinderspielsachen, in vermeintlichen Brennholzscheiten und Kohlen …“ Er schüttelte versonnen den Kopf. „Wir dürfen echt froh sein, dass wir diese Zeiten nicht miterleben mussten.“

„Du sagst es, Mike“, stimmte John ihm zu und setzte sich nach einem verstohlenen Blick auf die Uhr wieder in Bewegung.

„Zu den legendärsten Steinen hier gehört der Große Stern von Afrika“, erklärte er. „Er und seine acht kleineren Geschwister wurden aus dem größten je gefundenen Diamanten, dem mehr als 600 Gramm schweren Cullinan, geschliffen.“

Seine kleine Truppe blickte bewundernd auf den hühnereigroßen funkelnden Stein, der in die Spitze des königlichen Zepters eingelassen war.

„Und dann haben wir natürlich noch den fabelhaften Koh-i-Noor, den ‚Berg des Lichts‘. Er sitzt hier vorn in der Krone der seligen Queen Mum.“

Andächtig besah Sophie sich den Diamanten, in dessen Facetten sich das Licht vor dem dunkelvioletten Samtbesatz der Krone brach.

„Herrlich“, seufzte sie. „Aber er soll verflucht sein, nicht?“

John nickte. „Nach einer Prophezeiung von 1306 heißt es: ‚Wer ihn besitzt, wird die Welt besitzen. Aber ihn wird auch alles Unglück der Welt treffen.‘ Und tatsächlich ziehen sich Mord und Totschlag wie ein roter Faden durch seine Geschichte. Der Mogul Schah Jahan, der für seine Gemahlin das Tadsch Mahal bauen ließ, ließ ihn in seinen Pfauenthron einsetzen – aber er konnte sich nicht sehr lange daran erfreuen, weil er von seinem Sohn umgebracht wurde. Auch alle weiteren Besitzer, egal ob in Persien, Afghanistan oder Pakistan hatten ein übles Schicksal. Geblendet, vergiftet, weggeputscht, von plötzlichen Krankheiten dahingerafft …“

„Aber die Queen Mum ist über 100 Jahre alt geworden“, wandte Sophie ein.

John grinste. „Genau, und das passt auch zu der Prophezeiung. Da heißt es nämlich weiter: ‚Nur Gott oder eine Frau können ihn tragen.‘ Und daran hat man sich bei uns bis heute gehalten, seit der Stein in der Regierungszeit von Queen Victoria nach England kam. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“

Louise lachte leise. „Vraiment. Euer Königshaus scheint wirklich an Flüche zu glauben. Im Museum ist mir erzählt worden, dass es große Aufregung gab, als wir 1972 als Erste in Europa die Tutenchamun-Funde zeigen durften. Damals hat sich der Palast vorab eigens erkundigt, ob Tutenchamuns Mumie auch kommt, denn in dem Fall hätten sie wegen des legendären Pharaonenfluchs Bedenken gehabt, die Königin zur Ausstellungseröffnung kommen zu lassen.“

Die Französin wurde ernst. „Tatsächlich hat die ganze Geschichte mit dem angeblichen Fluch aber dazu beigetragen, dass ich Bioarchäologin geworden bin.“

„Wirklich? Wie das?“, fragte Pauline interessiert.

„Als Jugendliche habe ich einfach alles zu dem Thema verschlungen, egal ob Filme oder Bücher. Ich war fasziniert! All diese Todesfälle, über die geschrieben wurde – Lord Carnarvon und mehrere seiner Familienmitglieder und sogar sein Vogel und sein Hund, Teilnehmer der Grabungsexpedition, Leute, die später die Mumie von Tutenchamun ausgewickelt und untersucht haben – très mystérieux! Und dann gab es ja noch diesen Fall in Polen, als die Grabkammer von König Kasimir IV. geöffnet wurde und in kürzester Zeit ein Dutzend der beteiligten Wissenschaftler starb. Oh, die Vorstellung, dass die Toten sich aus dem Jenseits rächen, weil ihre Ruhe gestört wird, hat mich als junges Mädchen sehr angesprochen! Ich war – wie sagt man, une oiselle?“

Paulines Stirn legte sich in Falten, dann hellte sich ihre Miene auf. „Ein dummes Gänschen?“

„Mais oui, das ist es. Dann bekamen wir in der elften Klasse einen Biologielehrer, der 1976 im Team der Forscher gewesen war, das die Mumie von Ramses II. bei uns in Paris untersuchen durfte. Und was hat Dr. Roubais uns erzählt? Dass auf der Mumie unzählige Schimmelpilzsporen gefunden wurden. Diese Schimmelpilze können extrem lange Zeiten überdauern, solange auch nur ein bisschen organisches Material zur Verfügung steht. Bei einem gesunden Menschen können Aspergillus flavus und seine Verwandten keinen großen Schaden anrichten, aber wenn jemand schon vorerkrankt ist – wie es bei Lord Carnarvon der Fall war – dann kann einem so ein Pilz den Todesstoß versetzen. Voilà – meine romantische Idee eines Fluchs war entzaubert, aber dafür habe ich meine Leidenschaft dafür entdeckt, aus naturwissenschaftlicher Sicht alles über die Spuren des Lebens aus früheren Zeiten zu lernen.“

„Das ist interessant, was du da sagst, Louise“, kam es nachdenklich von John. „Aus der Warte eines Psychologen ist es genauso faszinierend, wie die Leute damals quasi weltweit dieser Hysterie mit dem Fluch verfallen sind. Ich habe gelesen, dass unter diesen vielen Todesfällen, die angeblich im Zusammenhang mit Tutenchamuns Grab standen, zwei oder drei Männer waren, die sich selbst umgebracht haben. Nach den Abschiedsbriefen zu urteilen, waren sie fest davon überzeugt, verflucht zu sein.“

Louise nickte lebhaft. „Durch die vielen aufgebauschten Presseartikel – und die waren vor bald 100 Jahren ja fast die einzige Möglichkeit, sich mit Informationen zu versorgen – bekamen viele Menschen auch hier in England richtig Angst. Wer zuhause irgendetwas Ägyptisches hatte, wollte es so schnell wie möglich loswerden. Im Museum landeten Massen von Paketen mit echten oder auch gefälschten Kunstgegenständen und sogar Mumienteilen, die wir bis heute im Depot verwahren. Einer unserer Kuratoren, Dr. Coleridge, hat mir erst kürzlich in unserem Depot eine Vogelmumie gezeigt, die dem Museum damals zugeschickt wurde.“

„Ach, Dr. Coleridge“. Pauline verzog leicht das Gesicht. Sie hatten den Hüter des Rosetta-Steins vor einigen Wochen im Britischen Museum kennengelernt und Pauline hatte nicht allzu viel für den älteren Herrn übriggehabt.

Louise grinste. „Er kann wirklich anstrengend sein. Aber er ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet und er kennt sich im Museum und in unseren Depots aus wie kein Zweiter. Ihr müsst euch vorstellen, dass wir bei uns zu jedem Zeitpunkt ungefähr 80.000 Objekte in der Ausstellung haben, aber der Gesamtbestand sind acht Millionen – 99% lagern also hinter den Kulissen.“

„Donnerwetter“, kommentierte John beeindruckt, während Mike nickte und meinte, „Das ist bei uns ähnlich.“

„Für die neue Sonderausstellung ‚Versunkene Städte‘, die wir vorgestern eröffnet haben – ihr müsst sie euch alle ansehen, sie ist toll geworden – sind neben den neuen Funden aus dem Nildelta auch ein paar wundervolle Raritäten aus unseren Depots ausgegraben worden, die schon ewig nicht mehr zu sehen waren“, berichtete Louise enthusiastisch. „Und die meisten von diesen Stücken hat Austin Coleridge aufgetan. Weil er einen so großen Beitrag zum Gelingen der Ausstellung geleistet hat, hat unser Direktor ihn den Festvortrag bei der Eröffnung halten lassen.“ Sie grinste ein wenig. „Es war natürlich très sec, wie sagt man …“

„Staubtrocken“, half Pauline aus. „Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Und wahrscheinlich endlos.“

„Das kannst du laut sagen“, mischte sich Nathan Bennett ungefragt ein. „Was für’n langweiliger alter Knacker. Louise hat mich da hin geschleift und ich hab mir den Hintern plattgesessen. Und hinterher gab’s nicht mal ordentliches Bier bei dem Empfang. Da hab ich gesagt, wir gehen jetzt, das ist ja nicht zum Aushalten. Voll der verschwendete Abend.“

Er blickte mitleidheischend in die Runde.

John dagegen spürte Mitgefühl für Louise, die peinlich berührt zu Boden sah, bevor sie sich zu einem Lächeln zwang und sagte, „Nun ja. Wenn Austin zu sprechen beginnt, hört er so schnell nicht mehr auf. Manche von meinen Kollegen gehen ihm deswegen lieber aus dem Weg. Aber zumindest die nächsten beiden Wochen kann er uns nicht nerven. Er ist heute zu einer Mittelmeerkreuzfahrt aufgebrochen.“

Was niemand zu diesem Zeitpunkt ahnte: Dr. Austin Coleridge hatte London nicht verlassen. Tatsächlich hatte er nicht einmal die Mauern des Britischen Museums hinter sich gelassen.

 

Kapitel 2

 

Am nächsten Tag blieb John keine Zeit für die übliche Melancholie, die sich stets breitmachte, wenn die Great Northern Railway mit Pauline an Bord aus St. Pancras hinausgedampft war. Er musste sich beeilen, in den Tower zurückzukommen. Dort warteten neben einem Berg Bio-Hühnerfilets auch zwei Kilo Äpfel darauf, kleingeschnitten zu werden. Seine Nichte hatte sich ein Panang-Curry und als Nachspeise natürlich ihren heißgeliebten Apple Crumble gewünscht.

„Hallo, Lieblingsonkel“, begrüßte sie ihn um kurz nach sieben aufgekratzt und umarmte ihn. „Hmm, das riecht ja schon himmlisch. Schade, dass Geoff das leckere Essen verpasst, aber er musste heute Mittag nach Cambridge fahren, weil er noch wahnsinnig viel vorzubereiten hat.“ Schon hatte sie sich auf die Eckbank in der Küche gefläzt.

„Ich habe eine besonders große Portion gemacht, so dass du etwas mitnehmen und einfrieren kannst“, meinte John mit einem Lächeln.

„Ui, das ist super. Diese Woche habe ich sowieso keine Zeit für nichts und zum Kochen schon gar nicht. Ich weiß überhaupt nicht, wo mir der Kopf steht. Zwei Klausuren stehen noch an und dann die ganze Packerei … Sag mal, weißt du schon das Neueste?“, fragte sie übergangslos.

John stellte zwei randvolle Schalen auf den Tisch und blickte seine Nichte ratlos an. „Das Neueste?“

„Tante Isabel kommt her“, verkündete Renie, die Essstäbchen schon im Anschlag.

„Tante Isabel? Nein, davon habe ich noch nichts gehört“, erwiderte er verdutzt.

„Das hat sich ganz kurzfristig ergeben. Die Remainers haben sie bekniet, bei der großen Kundgebung nächsten Sonntag im Hyde Park zu sprechen. Mann, das ist voll der Mist, dass wir am Freitag losfliegen – genau an dem Tag, wo sie ankommt. Wir werden uns also gar nicht sehen. Dabei hätte ich Isabel so gern auf der Bühne erlebt, wie sie den Brexiteers so richtig die Hölle heiß macht. Die Frau hat mit bald 100 immer noch ordentlich Pfeffer im Arsch.“

Eine Eigenschaft, die bei den Frauen des Mackenzie-Clans allgegenwärtig war, dachte John bei sich. Und Renie war definitiv die pfeffrigste von allen.

„Den Auftritt werde ich mir nicht entgehen lassen“, meinte er. „Ich muss mir nachher gleich mal meinen Dienstplan ansehen, ob sich das einrichten lässt. Dann bekommt Isabel Flug und Hotel von den Kampagnenleuten spendiert?“

„Den Flug ja, aber in ein Hotel wollte sie nicht. Am liebsten wäre es ihr natürlich gewesen, ihre Zelte in Kew aufzuschlagen, aber da kriegt Grandma wieder die Krise.“

Die beiden grinsten sich einmütig an. Johns Mutter Emmeline und Tante Isabel waren sich seit einem halben Jahrhundert in herzlicher Abneigung verbunden und wenn die beiden im selben Raum waren, dauerte es nie lange, bis die Fetzen flogen.

„Isabel wird bei Mum und Dad bleiben“, berichtete Renie. „Oder eigentlich nur bei Mum, denn Dad fährt ja morgen zu diesem Segelkurs runter nach Dorset. Auf jeden Fall ist da mehr als genug Platz und Walter kann auch mal in den Garten raus.“

„Sie bringt den alten Kerl mit? Ich dachte, die Reisestrapazen sind ihm mittlerweile zu viel?“ Als Tante Isabel im April zu Renies und Geoffs Hochzeit gekommen war, hatte sie Sir Walter Scott, ihren in Ehren ergrauten Scotch Terrier, bei ihrem Verwalter auf der Farm gelassen.

„Sie will mit ihm zu einem Spezialtierarzt gehen, der sich seine Arthrose ansehen soll. Der Mann ist ihr vom Zuchtverband empfohlen worden und er hat seine Praxis hier in London“, erklärte Renie. Plötzlich kicherte sie. „Kann schon sein, dass Tante Isabel in Wirklichkeit deswegen eingewilligt hat, herzukommen. Klar ist ihr die Sache mit dem EU-Referendum wichtig, aber ich glaube, Walter liegt ihr noch mehr am Herzen.“

„Da kannst du recht haben“, stimmte John ihr zu und nahm einen Schluck von seiner Mangoschorle. Irgendwie war das Curry heute verflucht scharf geraten.

„Ich hätte das Referendum auch zu gern hier vor Ort erlebt“, fuhr Renie fort. „Nachdem ich in den letzten Monaten Dutzende von Debatten in Westminster protokolliert habe, hätte ich wahnsinnig gern den Ausgang der Sache hautnah miterlebt. Ich habe so viele Beiträge dazu für die Online-News des Uni-Magazins geschrieben und nun muss ich das Feld genau in der entscheidenden Phase anderen überlassen“, grummelte sie. Dann heiterte sich ihre Miene wieder auf. „Aber dafür werde ich auf der Exkursion eine Hintergrundreportage schreiben, die ich gleich als Projekt im nächsten Trimester verwenden kann. Und wenn sie gelungen ist, kann ich sie vielleicht sogar in einer Zeitung unterbringen.“

John sah interessiert auf. „Ah ja? Um welches Thema wird es gehen?“

„Das Spannungsfeld zwischen Klima- und Artenschutz, exemplarisch dargestellt an einem der Vorreiter-Länder des Naturschutzes, Costa Rica“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. „Nachdem das Pariser Klimaschutzabkommen jetzt dann im Herbst in Kraft tritt, kann ich das als aktuellen Aufhänger verwenden. Du kannst dich sicher an die große Konferenz der Zoologischen Gesellschaft letztes Jahr zu Ostern erinnern?“

„Wie könnte ich die vergessen?“, gab John trocken zurück. „Mum wäre da um ein Haar als Öko-Aktivistin verhaftet worden. Und als persönliches Highlight hat beim Showdown unserer Mörderjagd einer der Zoo-Affen Simon ins Ohr gebissen.“

„Das war göttlich“, prustete Renie heraus. „Oh, warte, das Video habe ich in meiner Favoriten-Playlist auf dem Handy. Das schauen wir uns schnell nochmal an.“

Gleich darauf schallte Gelächter durch die Küche. Renie hatte damals genau den richtigen Moment erwischt, als ein putziges Löwenkopfäffchen, erzürnt vom Radau im Tropenhaus, dem nächstbesten Zweibeiner auf die Schulter sprang und seine spitzen Zähne in dessen appetitliches Ohr vergrub. Einer glücklichen Fügung des Schicksals war es zu verdanken, dass es sich beim Träger des Ohrs um Scotland Yard Superintendent Whittington handelte, Johns Cousin. Dieser hatte sich seinen familiären Spitznamen ‚Pestbeule‘ seit seiner Kindheit redlich verdient.

Vergnügt verfolgten Renie und John, wie Simons feingeschnittene Züge in fassungslosem Entsetzen entgleisten und ihm ein so markerschütterndes Kreischen entfuhr, als hätte ihm King Kong höchstselbst ein Bein ausgerissen.

„Was für ein Moment“, seufzte Renie erinnerungsselig. „Da hat ihn endlich mal sein Karma eingeholt.“ Sie steckte ihr Handy weg.

„Okay, zurück zu meinem Projektthema. Die Konferenz drehte sich ja genau um die großen Felder Arten- und Klimaschutz und einer meiner Jobs war, die Abstracts der Vorträge in den Tagungsband aufzunehmen. Also kann ich jetzt schon auf einen Grundstock an fundierten Infos von Spitzenwissenschaftlern und Politikern aufbauen. Außerdem kann ich auch die Recherchen einbauen, die ich zu dem Palmölskandal in Kolumbien angestellt habe. Ergänzen muss ich das Ganze natürlich durch den Lokalbezug zu Costa Rica. Wir sind noch dabei, für mich ein paar Interviewtermine mit Fachleuten vor Ort auf die Beine zu stellen und ich werde mir dort exemplarisch ein Windkraftprojekt ansehen, das nicht unumstritten ist. Insgesamt kriege ich da eine ganz gute Reportage zusammen, denke ich.“ Sie schob ihre leer gegessene Schale von sich.

„Und daneben muss ich mich auf der Reise natürlich noch um viel Organisatorisches kümmern. Ich werde Geoff so gut es geht unterstützen. Es ist schließlich die erste Exkursion, die er für die Uni leitet und wir wollen, dass alles möglichst perfekt abläuft.“

„Natürlich“, grinste John. „Geoff soll sich ja für höhere Aufgaben an der Universität empfehlen.“

„Du sagst es. Mein Mann ist schließlich ein hochqualifizierter Wissenschaftler, der sich einen ordentlichen Lehrstuhl verdient hat“, sagte Renie in geziertem Ton. „Nicht so wie Simon, dieser unbezahlte Hobby-Dozent.“

Simon Whittington hatte im Sommertrimester einen ehrenamtlichen Lehrauftrag an der juristischen Fakultät in Cambridge ergattert, der ihn vor Stolz schier hatte platzen lassen.

„Aber mal ernsthaft“, fuhr Renie fort. „Ich würde alles dafür tun, dass Geoff nicht in so einer immer wieder jährlich befristeten Dozentenstelle versauert. Nicht, weil ich auf das Prestige scharf bin, irgendwann mal eine Professoren-Ehefrau zu sein, das kannst du mir glauben. Aber ich würde mir auf ewig Vorwürfe machen, wenn er aus dieser Schiene nicht mehr rauskäme, während er in San José jetzt schon seinen eigenen Lehrstuhl hätte.“

Während einer turbulenten Phase vor zwei Jahren hatte Renie sich von Geoff getrennt, woraufhin er einen Forschungsauftrag in Costa Rica angenommen hatte. Dort war ihm bereits nach kurzer Zeit eine Professur an der Universität der Hauptstadt angetragen worden.

„Das war schon der Wahnsinn damals.“ Renies Stimme wurde leiser. „Da wirft dieser Mann seine ganze Karriere dort weg und kommt wie der Blitz zurück nach England – nur um mich zu retten, weil ich mich wieder mal selber völlig hirnrissig in Gefahr gebracht hatte. Und das, nachdem ich dämliche Ziege ihn zuvor in die Wüste geschickt hatte.“ Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es immer noch nicht glauben.

Nach einem Moment des Schweigens sah sie auf. „Hallo? Denkst du nicht, jetzt wäre der Moment gekommen, wo du als liebender Onkel sagen solltest, ‚Aber Renie, liebes Kind, du bist doch keine dämliche Ziege, du warst nur etwas desorientiert damals. Und natürlich bist du das Beste, was Geoff hätte passieren können.‘“

John lachte auf. „Du nimmst mir die Worte aus dem Mund, kleines Schaf. Anders als du wussten deine Eltern und ich immer schon, dass ihr füreinander geschaffen seid. Mit dieser Lucía wäre Geoff sicher nicht glücklich geworden.“

Renies Augen verengten sich zu messerscharfen Schlitzen, als sie den Namen hörte und sie schnaubte wie ein gereizter Büffel.

„Dieses durchtriebene Miststück! Wie perfide die ihre Klauen in den armen Geoff geschlagen hat. Die kann nur hoffen, dass sie mir in Costa Rica nicht über den Weg läuft, sonst vergesse ich mich noch. Und das könnte hässlich enden.“

„Na, na, na“, meinte John mit mildem Tadel und stand auf, um die Schalen abzuräumen. „Regen Sie sich ab, Mrs. Tomlinson. Es muss eine immense Demütigung für Lucía gewesen sein. Da steht sie kurz vor der Hochzeit und ihr Verlobter lässt sie quasi über Nacht für seine alte Flamme sitzen. Eigentlich hat sie eher dein Mitleid verdient. Möchtest du noch was von dem Curry?“

„Nein, danke. Es war super, aber sonst habe ich keinen Platz mehr für den Apple Crumble“, gab sie zurück. „Vielleicht hast du recht. Die Tussi ist zwar kein netter Mensch, aber im Endeffekt habe ich den Traumtypen abgekriegt und das ist doch das Einzige, was zählt.“

 

Nachdem Renie mit zwei randvollen Boxen mit Essen von dannen gezogen war, telefonierte John noch kurz mit Pauline, die in der Zwischenzeit zu Hause angekommen war. Danach ging er zu Bett, da er morgen den Frühdienst übernehmen musste.

Die Raben waren es gewöhnt, mit Sonnenaufgang aus ihrer Voliere gelassen zu werden und das bedeutete für John um diese Jahreszeit – eine gute Woche vor der Sommersonnenwende – Aufstehen um 4.30 Uhr. Vormittags stand für ihn eine seiner Schulklassenführungen auf dem Plan, die sich seit ihrer Einführung im vorletzten Jahr zunehmender Beliebtheit erfreuten und mittlerweile zu Johns Routineprogramm gehörten. Heute jedoch blickte er der Führung mit leichter Nervosität entgegen, hatte sich doch eine sehr illustre Schule zu ihrem ersten Besuch angekündigt: Harrow schickte eine Klasse aus der Mittelstufe, begleitet von einem Geschichts- und einem Biologielehrer.

Der einzige Mensch aus Johns Umfeld, der eine der elitären Privatschulen des Landes besucht hatte, war sein Cousin. Der liebe Simon hatte als Sohn eines renommierten Arztes und Spross einer der bekanntesten Dynastien des Königreichs – sein legendärer Urahn war einst der erste Bürgermeister der Stadt London gewesen – das Internat in Eton besucht. Da besagter Arztvater zwar das Schulgeld bezahlte, ansonsten jedoch wenig für seinen Nachwuchs übrig hatte und Simons Mutter, Johns Tante Vivian, sich wegen ihrer angegriffenen Gesundheit nicht um ihren Sohn kümmern konnte, hatte Simon die Schulferien meist bei den Mackenzies verbracht. Nur ein- oder zweimal hatte er dabei einen Schulkameraden mitgebracht. Das Heim der Mackenzies hatte den herrschaftlichen Erwartungen der verwöhnten Eton-Zöglinge offensichtlich nicht standgehalten.

John hatte sich eigens auf der Webseite von Harrow noch ein wenig über die Schule informiert und wusste nun unter anderem, dass neben Winston Churchill und etlichen Nobelpreisträgern auch Popsänger James Blunt, den Pauline sehr mochte, dort seinen Abschluss gemacht hatte. Dennoch musste er ein Schmunzeln unterdrücken, als pünktlich um zehn Uhr die Schülertruppe in die Water Lane einmarschierte. Der Aufzug der Jungen erinnerte ihn an ein längst vergangenes England, wie es P.G. Wodehouse oder Jerome K. Jerome beschrieben hatten. Vor allem die flachen Strohhüte mit dem dunkelblauen Schmuckband, welche die Jugendlichen zu ihren blauen Blazern und der schwarzen Schulkrawatte trugen, kamen ihm mehr als nur ein wenig lächerlich vor.

An pubertärem Gehabe jedoch standen die Teenager ihren Altersgefährten aus irgendeiner Londoner Brennpunktschule wenig nach. Im ersten Teil der Führung ging es für einen historischen Überblick kreuz und quer durch das gut 1000-jährige Gemäuer. Wie jeder der Yeoman Warders hatte John sich im Lauf seiner Jahre hier seine Standardtour zusammengestellt, zu der er den Text im Schlaf herunterrattern konnte. Heute jedoch wurde er bei jeder Station durch den Geschichtslehrer, Dr. Jenkins-Greene, ausgebremst, den Johns Ausführungen offensichtlich wenig beeindruckten. Jedes Mal, wenn er die Truppe weiterführen wollte, blieb der Lehrer hartnäckig stehen und hob an, „Lassen Sie uns das in einen tieferen Kontext einbetten.“

Nicht nur, dass diese dauernden Verzögerungen allmählich dazu führten, dass John in zeitliche Bedrängnis kam – für die gesamte Tour waren zwei Stunden veranschlagt gewesen und er musste nach einer kurzen Mittagspause bereits die nächste Gruppe führen – er kam durch die Unterbrechungen seines Ablaufs auch ein wenig durcheinander und verwechselte ein, zwei Jahreszahlen, was von dem Lehrer prompt korrigiert wurde. Das Getuschel hinter ihm, als John die Truppe in die romanische St. John’s Kapelle im White Tower führte, klang in seinen Ohren zunehmend abfällig.

„Hier sind wir an einem meiner Lieblingsorte im Tower“, begann er. „Der Bau wurde noch unter William dem Eroberer 1078 begonnen. Bis heute ist dies eine königliche Kapelle, in der auch Gottesdienste abgehalten werden. Im Lauf der Geschichte wurde dieser herrliche Raum zeitweise aber auch als Staatsarchiv genutzt – “

„Jaja. Wir wollen aber nicht die tragischen Geschehnisse 1381 vergessen“, unterbrach Dr. Jenkins-Greene und sah John auffordernd an. Dessen Gehirn setzte prompt aus. 1381?? Was war da gewesen? Wäre nur Pauline mit ihrem enzyklopädischen Wissen über britische Geschichte in diesem Moment an seiner Seite!

Quälende Augenblicke verstrichen. Dann seufzte der Lehrer vernehmlich. „Simon Sudbury, Erzbischof von Canterbury und Lordkanzler unter Richard II. wurde im Zuge des Bauernaufstandes um Wat Tyler genau hier, wo er als Gottesmann Zuflucht gesucht hatte, vom Mob gefangen genommen, hinausgeschleppt und aufs Grausamste getötet.“

„Setzen, Sechs“, kam es feixend aus den Reihen der Schüler.

„Meine Herren, ich muss doch bitten“, griff nun der zweite Lehrer ein, der Mitleid mit John zu haben schien. „In Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit würde ich vorschlagen, dass wir uns allmählich dem zweiten Thema unseres Besuchs widmen, den Tower-Raben.“

John stimmte erleichtert zu. „Gut. Bitte folgen Sie mir in unseren Schulungsraum. Dort werde ich Ihnen von unserer neunköpfigen Truppe erzählen und Ihnen auch einige Videos vorführen. Danach werden Sie einigen von den Raben persönlich begegnen.“

Als sie über den Innenhof des Towers gingen, folgten ihnen zahlreiche Blicke. Die Jungen schienen es gewohnt zu sein, ein gewisses Aufsehen zu erregen. Während John begann, von seiner Arbeit als Assistent des Ravenmasters zu erzählen, entspannte er sich zusehends. Zumindest so lange, bis einer der Schüler sich zu Wort meldete und fragte, „Wieso macht Mr. Campbell die Führung nicht für uns?“ Sogleich stimmte ein anderer ein, „Ja, genau. Der ist cool. Den habe ich schon im Fernsehen gesehen.“ Und der nächste, „Wenn wir auf Exkursion gehen, kümmert sich vor Ort immer der Chef um uns und nicht irgendein … Gehilfe.“

John knirschte mit den Zähnen, bemühte sich aber um einen freundlichen Ton. „George Campbell ist in der Tat ein großartiger Fachmann und ich schätze mich glücklich, seit mehreren Jahren mit ihm arbeiten zu dürfen. Er hat natürlich eine Vielzahl von Pflichten und kann daher nicht für jede Klasse zur Verfügung stehen.“

Tatsächlich hatte George sich heute frei genommen, um seine Frau Marcia zu einem Termin bei ihrem Neurologen zu begleiten, aber das ging diese hochwohlgeborene Schar nichts an.

„Ich zeige Ihnen nun einige Videos, die Ihnen die bemerkenswerten kognitiven Fähigkeiten unserer Vögel zeigen.“ Die Filme, die Johns Neffe Tommy für ihn produziert hatte, fanden immerhin etwas Anklang. Da der Biologielehrer ihm signalisierte, dass nicht mehr viel Zeit zur Verfügung stand, verzichtete John auf das übliche Wissensquiz, das er mit Hilfe von Pauline ausgearbeitet hatte. Stattdessen kündigte er an, „Und nun wollen wir einmal sehen, ob wir ein paar unserer gefiederten Kameraden draußen finden können.“

Er war zuversichtlich, dass sein Lieblingsvogel Gworran, mittlerweile stolzer Vater des ersten Rabennachwuchses im Tower seit einem Vierteljahrhundert, am Tower Green herumstrolchte. Und der junge Rabe ließ ihn auch nicht im Stich.

Kaum näherte John sich, hopste Gworran erwartungsvoll heran. John gab ihm eine Erdnuss und hielt ihm den Arm hin. Gravitätisch schritt der Vogel den glücklicherweise robusten Stoff der Uniform hinauf und platzierte sich auf Johns Schulter. Sanft strich John ihm über das Gefieder und ermunterte ihn, einiges aus seinem großen Geräuscherepertoire zum Besten zu geben. Reihenweise Handys wurden gezückt. Als Gworran auf ein spezielles Zeichen ‚God save the Queen‘ erschallen ließ und die gesamte Schulklasse auf ein gebieterisches Winken des Geschichtslehrers einstimmte, sah John sich vor seinem geistigen Auge doch noch erfolgreich auf die Zielgerade dieser Veranstaltung einbiegen. Dann jedoch unterbrach ein jäher Schrei die Gesangesdarbietung.

„Aua! Das Vieh hat mich angegriffen!“

Johns Herz sank. Zwischen den graubehosten Beinen der Schüler konnte er einen weiteren Raben erkennen, der jetzt in Panik herumzuflattern begann, als jemand nach ihm trat.

„Stopp!“, rief John aus. „Geht ein bisschen auseinander, damit der Vogel einen Fluchtweg hat.“ Die Menge teilte sich und Gworrans Tochter Alice kam schutzsuchend auf John zu. Er sprach einen Moment beruhigend auf sie ein, dann wandte er sich wieder an die Schüler.

„Was ist passiert?“

Ein sommersprossiger Junge – natürlich war es einer von denen, die vorhin über die Abwesenheit des Ravenmasters lamentiert hatten – trat nach vorn, lupfte den Saum seiner Hose ein wenig an und deutete anklagend auf einen Tropfen Blut, der an seinem Knöchel zu sehen war.

„Da! Er hat mich attackiert!“

John atmete tief durch. „Das tut mir sehr leid. Alice ist erst ein paar Monate alt, sie gehört zu unserem Nachwuchs. Sie hat eine Vorliebe für Schnürsenkel und pickt gern danach. Dabei hat sie dich bestimmt versehentlich erwischt.“

Der Biologielehrer bückte sich und inspizierte die mikroskopisch kleine Wunde. „Giles, das ist nur ein Kratzer – “

„Von wegen Kratzer! Davon könnte ich eine Blutvergiftung kriegen!“, erregte sich der Junge.

John hob begütigend beide Arme. „Dürfte ich einen Vorschlag machen: Wir haben einen eigenen Arzt hier. Seine Praxisräume sind gleich da vorn. Er sieht sich das sicher sofort an.“

„Ich rufe lieber meine Mutter an. Unsere Familie geht nur zu Spezialisten aus der Harley Street. Bestimmt will sie nicht, dass irgendein Quacksalber an mir herumdoktert“, wehrte der Junge ab und zog sein Handy aus der Blazertasche.

John tat es ihm nach. So, wie die Sache sich entwickelte, hielt er es für besser, seinen Kommandanten zu informieren. Chief Mullins, als ehemaliger Royal Air Force Pilot geübt darin, in brenzligen Situationen die Führung zu übernehmen, äußerte nur knapp, „Behalten Sie die Leute vor Ort. Ich bin sofort da.“

Kurz darauf sah John seinen hochgewachsenen Vorgesetzten strammen Schritts über den Hof kommen. Mullins erfasste mit einem Blick die Lage. Nachdem er sich den beiden Lehrkräften vorgestellt hatte, fragte er nach dem Namen des betroffenen Schülers, der sich immer noch bitterlich am Telefon bei seiner Mutter beklagte.

„Das ist Giles Pickering III, Sir“, erklärte der Biologielehrer respektvoll.

„Pickering, was? Ein Verwandter des Flottenadmirals?“

Der Lehrer nickte. „Sein Enkel.“

„Junger Mann, dürfte ich einen Moment mit Ihrer Mutter sprechen? Besten Dank.“

Widerspruchslos überließ der junge Giles dem Kommandanten das Handy. Mullins trat einige Schritte zur Seite. Nach wenigen Minuten kam er zurück und gab dem Jungen das Telefon.

„Es ist alles geklärt. Doc Hunter wird sich dein Bein ansehen und die Sachlage dokumentieren. Das ist schon aus versicherungstechnischen Gründen notwendig. Dann wird er unverzüglich mit deiner Mutter ein Telefonat führen und gegebenenfalls mit eurem Hausarzt, der auch alle Befunde zur Verfügung gestellt bekommen wird.“ Er nickte John zu. „Mr. Mackenzie hier wird dich hinbringen und den Rest der Truppe darf ich in unsere Cafeteria einladen, um eine kleine Stärkung zu sich zu nehmen.“

„Wir können uns aber nicht lange aufhalten, weil wir noch eine weitere Führung vor uns haben. Wir werden auf der HMS Belfast erwartet“, wandte Dr. Jenkins-Greene ein.

„Das ist kein Problem. Meine Sekretärin wird dort Bescheid geben, dass Ihre Ankunft sich möglicherweise ein wenig verzögert“, beschied Mullins ihm und ging ohne viel Federlesen voraus Richtung Cafeteria. Die Schüler folgten ihm zügig, offensichtlich erfreut über die unverhoffte Pause. John dagegen sah seine Chancen auf eine Mittagspause stark schwinden. Knurrender Magen hin oder her, heute würde er wohl bis zum Ende der Besuchszeit um 17 Uhr durcharbeiten müssen.

Auf dem kurzen Weg zu den Räumlichkeiten des Arztes hinkte Giles Pickering theatralisch, fand jedoch trotz seines geschwächten Zustandes die Energie, John mit ominösen Worten horrende Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen in Aussicht zu stellen.

Glücklicherweise war Doc Hunter trotz seiner anstehenden Mittagspause bereit, sich den Jungen auf der Stelle anzusehen. John ließ sich auf einen Stuhl im Wartezimmer fallen und erging sich in düsteren Gedanken. Nach zehn Minuten ging die Tür auf und der Doc blinzelte John zu.

„Alles in Ordnung. Ein wenig Antiseptikum und ein Pflaster, mehr war nicht nötig. Da der junge Master Giles nach Auskunft seines Arztes über einen umfassenden Impfschutz verfügt, braucht er auch keine Tetanus-Spritze. Bleibende Schäden sind nicht zu erwarten. Ich wünsche noch einen schönen Tag, meine Herren.“

Während John ein Stein vom Herzen fiel, wirkte Giles eher unzufrieden, als sie über den Hof zur Cafeteria gingen. Der Junge wurde mit großem Hallo von seinen Kameraden begrüßt, die sich die leckeren Zimtrollen schmecken ließen, die es montags immer gab. Einige Zeit später winkten Chief Mullins und John der Gruppe nach, die auf die andere Themseseite strebte, wo das Museumsschiff HMS Belfast vor Anker lag.

Bänglich wartete John darauf, was sein Kommandant ihm zu sagen hatte. Mullins jedoch sah auf die Uhr und meinte lediglich, „Soweit ich weiß, geht es für Sie gleich mit der nächsten Führung weiter. Kommen Sie nach Dienstschluss in mein Büro. Ich werde auch George dazu bitten.“

Auf dem Weg zum Gruppentreffpunkt vor dem White Tower machte John noch einen blitzschnellen Abstecher in das Rabenhaus und stahl sich aus den Vorräten einige Erdnüsse. Eine kärgliche Mahlzeit, aber im Grunde war ihm der Appetit vorerst auch vergangen.

 

Kapitel 3

 

„Kommen Sie rein, kommen Sie rein“, tönte es John und dem Ravenmaster George Campbell entgegen, als sie kurz nach fünf das Vorzimmer betraten. Die Tür zum Büro des Kommandanten stand offen und er winkte sie etwas ungeduldig herein. Bonnie Sedgwick, Mullins’ rechte Hand, packte gerade ihre Sachen zusammen und warf den beiden einen mitleidigen Blick zu.

„Setzen Sie sich.“ Der Chief formte seine kräftigen Finger zu einer Art Zelt, über das hinweg er seine Untergebenen durchdringend anblickte.

„Alsdann. Sehen wir uns an, was heute passiert ist. Zum einen musste ich mir von einem der begleitenden Lehrer anhören, dass Ihr historisches Wissen defizitär wäre, Mackenzie.“

John zog den Kopf ein. „Ich bin mit den Jahreszahlen ein wenig durcheinandergeraten, da hat Dr.

---ENDE DER LESEPROBE---