Tod in Bletchley Park - Emma Goodwyn - E-Book

Tod in Bletchley Park E-Book

Emma Goodwyn

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Beschreibung

Der sehnlich erwartete Rabennachwuchs ist im Tower eingetroffen und die ungestüme Renie endlich unter der Haube. Beefeater John Mackenzie freut sich auf einen entspannten Frühling. Doch daraus wird nichts: Am geschichtsträchtigen Ort Bletchley Park, wo geniale Kryptoanalytiker während des Zweiten Weltkriegs die Geheimnisse der Enigma lüfteten, kommt ein Collegedozent zu Tode. Hineingezogen in einen verhängnisvollen Strudel, muss der Mackenzie-Clan sich seiner bisher größten Herausforderung stellen.

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Tod

in

Bletchley Park

 

 

 

John Mackenzies zehnter Fall

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Emma Goodwyn

 

 

 

Im Gegensatz zu den Schauplätzen

sind alle Personen und Ereignisse der Handlung rein fiktiv, mögliche Ähnlichkeiten zu echten Personen und Geschehnissen keinesfalls beabsichtigt.

 

 

Mehr von Emma Goodwyn:

 

Tod im Tower

Tod im Kilt

Tod im Museum

Tod im Schatten der Tower Bridge

Tod in Westminster

Tod im Tropenhaus

Tod in Tintagel

Tod im House of Lords

Tod auf dem Campus

 

Besuchen Sie die Autorin unter

www.emma-goodwyn.com!

 

Copyright Text und graphische Gestaltung

Emma Goodwyn

c/o Hartmut Albert Fahrner

Am Tannenburganger 36

84028 Landshut

 

Kontakt: [email protected]

 

Veröffentlichungsdatum: 24. April 2022

 

Alle Rechte vorbehalten

(V1.0)

 

 

 

Prolog

 

Fünf nach halb zehn – verdammt! Den Zug um 21.40 Uhr würde er nicht mehr erreichen. Alan stöhnte nach dem Blick auf die Uhr unwillig auf. Es war schon das zweite Mal diese Woche, dass er über der Gestaltung des Stundenplans völlig die Zeit vergessen hatte. Die nächste Verbindung zurück nach London gab es erst um 22.20 Uhr. Unschlüssig starrte er für eine Minute auf den Computerbildschirm. Sollte er noch eine halbe Stunde weiter am Entwurf für die Unterrichtseinheiten zum ‚Programmieren in C++‘ arbeiten? Nein, entschied er. Es reichte für heute. Lieber wollte er einen kleinen Spaziergang machen und sich die Baustelle ansehen, von der den ganzen Tag Abrisslärm in sein Büro in Block H gedrungen war.

Er stand vom Schreibtisch auf und dehnte die Arme hinter dem Nacken. Nachdem er seine Sachen zusammengekramt hatte, löschte er das Licht im Büro und schloss hinter sich ab. Der gesamte Trakt lag verlassen da. Wieder einmal war er der letzte, der das Gebäude verließ.

Ein fast voller Mond stand über Bletchley Park, als Alan durch den rückwärtigen Ausgang des Gebäudes hinaustrat. Er atmete tief ein. Der Duft von Lindenblüten hing in der Luft. Die Mainacht war erstaunlich mild. Im Gehen zog er sein Handy heraus und schrieb eine kurze Nachricht an Maggie, die sicherlich nicht begeistert sein würde, dass er zum wiederholten Male zu nachtschlafender Zeit nach Hause kommen würde.

‚Sorry Darling, schon wieder den Zug verpasst. Müsste gegen halb zwölf da sein.‘ Er schickte noch ein Herz hinterher.

Nur Sekunden später kam eine Reihe von Symbolen zurück. Anfangs ein Löwe, den Rachen grimmig aufgerissen. Dann eine Flasche Wein und zwei Gläser. Ein prasselndes Feuer. Und schließlich ein Kussmund.

Mit einem Lächeln steckte Alan das Telefon weg und wandte sich in Richtung des ehemaligen Barackenblocks G am äußersten Rand des Parkgeländes. Er ignorierte das Hinweisschild an dem Behelfszaun, der die Baustelle umgab, ‚Betreten strengstens verboten! Gefährliche Baumaschinen am Werk!‘ und drückte probeweise die wacklige Klinke des kleinen Durchgangstors. Es war verschlossen. Er hatte gehofft, dass der Bauleiter, der heute sicher ein Dutzend Mal ins Verwaltungsgebäude hinübergekommen war, versäumt hatte, abzuschließen. Andererseits war es ein Kinderspiel, über das halbhohe Gittertor hinüber zu klettern. Da hatte er in seiner entdeckerfreudigen Jugend ganz andere Hürden überwunden, dachte Alan mit einem Grinsen. Gleich darauf stand auf der anderen Seite.

Der erste der drei Längsbauten sollte heute komplett dem Erdboden gleichgemacht werden. Die Silhouetten zweier riesiger Abrissmaschinen zeichneten sich gegen das Mondlicht ab. Links von ihm ragte ein ansehnlicher Hügel auf der angrenzenden Wiese auf, die zur Abraumhalde umfunktioniert worden war.

Wo heute Morgen noch der 50 Meter lange düstere Flachbau gestanden hatte, klaffte nun ein Loch. Vorsichtig ging Alan näher, bemüht, nicht auf eines der herumliegenden Eisen- oder Betonteile zu treten. Als er auf einige Meter herangekommen war, flammte ein Licht auf. An dem Bürocontainer, in dem die Bauleitung residierte, war ein Strahler mit Bewegungsmelder angebracht.

Alan fischte sein Handy abermals aus der Tasche und schoss eine Reihe von Fotos, während er langsam den gut ausgetretenen Trampelpfad am Rand der Grube weiterging. Je weiter er nach hinten gelangte, desto weniger konnte er erkennen. Der einzelne Scheinwerfer an der Stirnseite konnte den gewaltigen Umfang des entstandenen Loches nicht ausleuchten. Er war gerade im Begriff, umzudrehen, als ihm im Halbdunkel etwas aus dem Chaos aus verschiedenen Bauteilen, Steinen und Erde ins Auge sprang. Länglich, geisterhaft hell, mit einer Verdickung am Ende. Alan überlief unwillkürlich ein Schauer. Das merkwürdige Ding erinnerte an einen Knochen.

„So ein Quatsch“, schalt er sich selbst. Wahrscheinlich war seine Phantasie durch die von ihm heißgeliebte Indiana Jones-Reihe beflügelt, die er sich erst kürzlich zum wiederholten Male zu Gemüte geführt hatte. Dennoch trat er einen Schritt näher – und geriet prompt ins Rutschen. Der steil abfallende Rand der Baugrube gab unter ihm nach und Alan fand sich gleich darauf an die zwei Meter tiefer wieder – mit einigen Abschürfungen und einem Riss in der Hose, aber ansonsten unversehrt.

„Heilige Scheiße!“, stieß er aus. Dann klopfte er sich den Staub ab und sah sich nach dem seltsamen Gegenstand um, der ihn zu seiner waghalsigen Aktion (und er wusste, dass Maggie noch ganz andere Worte dafür finden würde) verleitet hatte. Da, keinen Meter entfernt, entdeckte er das bleiche Etwas inmitten des Bauschutts. Alan bückte sich und schaltete die Leuchtfunktion seines Handys ein. Gleich darauf glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Aus einem zerborstenen Teil des Fundaments ragte tatsächlich ein Knochen – und daneben lugte ein unverkennbar menschlicher Schädel hervor.

„Jetzt schlägt’s 13“, murmelte Alan. Dann wählte er die Nummer der Polizei.

„Den Notarzt brauchen Sie nicht mitzubringen“, setzte er hinzu, nachdem er die Sachlage geschildert hatte. „Wer auch immer hier liegt, ist wohl schon sehr lange tot.“

„Bleiben Sie, wo Sie sind, Sir. Ein Officer müsste in zehn Minuten bei Ihnen sein“, beschied ihm die Wachhabende.

Alan legte auf und schoss einige Fotos, während er wartete. Dann beäugte er forschend den vor ihm aufragenden mannshohen Abbruch und überlegte, wo die Polizisten am besten in die Grube absteigen konnten. Im hinteren Bereich erschien ihm der Geländeabsatz flacher. Er richtete den Strahl der Lampe dorthin – und zuckte heftig zusammen, als das Licht etwas Unerwartetes erfasste. Am Fuß der Geröllmauer lag noch ein menschlicher Körper, dieser allerdings um einige Generationen jünger als die soeben aufgefundenen Gebeine.

„Walsh! Um Himmels Willen!“ Er stürzte zu seinem Kollegen. Aber dessen stumpfe, weitaufgerissene Augen zeigten, dass es auch für ihn keine Hilfe mehr geben würde.

 

Kapitel 1

 

„Je voudrais acheter cette concombre– “

„Très bien, Pauline, aber es müsste heißen ce concombre. Die Gurke ist im Französischen maskulin, chérie.“

„Oh ja, natürlich. Also nochmal: Je voudrais acheter ce concombre et un kilo des tomates.“

Louise Mercier klatschte in die Hände. „Parfait. Du lernst sehr schnell, Pauline. Und jetzt tun wir so, als ob wir einen Marktstand weiter gehen und du bestellst beim Fischhändler ein Pfund Krabben und ein halbes Dutzend Austern.“

John lauschte mit einem halben Ohr dem Gespräch der beiden Frauen, während er sich behaglich auf seiner Liege ausstreckte und träge in die tiefstehende Sonne blinzelte. Wie herrlich, wundervoll, schlicht und einfach grandios war es, sich nach den aufreibenden letzten Wochen hier an Deck zu aalen und die gemächlich vorbeitreibende Szenerie auf sich wirken zu lassen. An den Ufern des Nils wechselten sich Palmenhaine, Zuckerrohrfelder und sattgrüne Bananenplantagen ab. Kinder führten den wahrscheinlich wertvollsten Besitz ihrer Familien, Esel und Ochsen, ans Wasser und schrubbten sie liebevoll ab. Eine Kamelkarawane zog bedächtigen Schritts vorbei.

John nippte genüsslich an dem aromatischen Schwarztee, den einer der aufmerksamen Kellner auf das Rattan-Tischchen neben seiner Liege gestellt hatte. Er fühlte sich Lichtjahre vom heimatlichen England entfernt. Kaum zu glauben, dass die Hochzeit seiner Nichte Renie erst vor wenigen Tagen gewesen war. Er liebte seine Familie von Herzen, aber nun war er sehr glücklich, dass ein paar tausend Meilen zwischen ihnen lagen und Pauline und er eine Woche für sich hatten.

Für kurze Zeit riss er seinen Blick von der in ein warmes oranges Licht getauchten Landschaft los und sah zu seiner Herzensdame hinüber. Paulines schulterlanges Haar leuchtete kupferrot unter ihrem breitrandigen Strohhut heraus. In ihrem dunkelgrünen, ärmellosen Leinenkleid sah sie hinreißend aus und war nach Johns gänzlich unvoreingenommener Meinung die mit Abstand schönste Frau an Bord der ‚Nile Empress‘.

Allerdings musste er zugeben, dass auch Louise Mercier, mit der sich Pauline schon gestern während des Bustransfers vom Flughafen Luxor zur Schiffsanlegestelle vor dem legendären ‚Old Winter Palace‘-Hotel angefreundet hatte, eine durchaus aparte Erscheinung war. Sie erinnerte ihn an eine französische Schauspielerin, deren Name ihm gerade nicht einfiel. Hatte sie nicht in irgendeinem James Bond-Film mitgespielt? Während John in seinem Gedächtnis kramte, fing er einen Blick von Pauline auf.

„Merci beaucoup für die Unterrichtsstunde, Louise“, sagte sie. „Ich bringe meine Sachen nach unten und dann treffen wir uns nachher zum Sundowner wieder.“

„Bien sûr. Amusez-vous bien“, gab Louise mit einem Augenzwinkern zurück.

Pauline errötete leicht und griff nach ihrem Schreibblock. John sprang hurtig auf und folgte ihr die Treppe zum Kabinendeck hinab.

„Die Franzosen sind wirklich weniger verklemmt als wir Briten“, raunte sie ihm zu.

„Wen nennen Sie hier verklemmt, Ms. Murray?“, gab er mit gespielter Empörung zurück. Er fasste nach ihrer Hand und sie liefen übermütig wie zwei Teenager den engen Flur entlang, bis sie bei ihrer Kabine ankamen.

 

Als sie eine Stunde später wieder an Deck kamen, stand die Sonne bereits tief über dem Gebirgszug, der an der grünen Oase des Niltals entlanglief.

„Pauline! John! Hier sind wir.“ Louise Mercier winkte ihnen bereits von einer der gemütlichen kleinen Sitzgruppen zu, die auf dem Sonnendeck verteilt waren. Ihr englischer Ehemann Nathan Bennett zeichnete gerade bei einem der Kellner die Getränke ab.

„Möchten die Herrschaften auch etwas bestellen?“, erkundigte sich der livrierte junge Mann höflich.

„Ich nehme einen Gin Tonic. Shoukran, Aziz“, sagte Pauline mit einem Blick auf sein Namensschild.

„Für mich einen Malventee, bitte“, setzte John hinzu.

„Du bist ja mehrsprachig, Pauline, très bien“, meinte Louise mit einem Lächeln.

Pauline schüttelte den Kopf. „‚Danke‘ ist das einzige Wort, das ich auf Ägyptisch sagen kann. Ich würde gern noch mehr lernen, zumindest ein paar Grundbegriffe. Einige Basics der heimischen Sprache sollte man können, wenn man in einem Land zu Gast ist. Finde ich zumindest.“

„Das ist eine sehr gute Einstellung“, stellte Louise fest. „Nichts gegen euch Briten, aber ich beobachte oft, dass ihr einfach davon ausgeht, dass jeder Mensch, egal wo auf der Welt, eure Sprache beherrscht. Das kommt gerade in meinem Heimatland nicht gut an. Dein Französisch ist auf jeden Fall schon um Dimensionen besser als das der meisten Urlauber bei uns, Pauline.“

„Es ist ja nur Touristenfranzösisch“, wehrte Pauline bescheiden ab. „Du dagegen sprichst Englisch wie eine Einheimische.“

„Zum Glück“, gab Louise grinsend zurück. „Mein Brummbär hier spricht nämlich bis heute kaum ein Wort Französisch. N’est-ce pas, Nate?“ Sie wuschelte ihrem Gatten spielerisch durchs Haar.

Tatsächlich hatte John von Nathan Bennett in den vergangenen zwei Tagen überhaupt so gut wie kein Wort gehört, weder auf Französisch noch in sonst einer Sprache. Meistens schien er damit beschäftigt, Unmengen von Fotos zu schießen. Nachdem sich der Gesprächsbeitrag ihres Mannes auch jetzt auf ein zustimmendes „Mhm“ beschränkte, fuhr Louise fort.

„Er muss bei der Arbeit immer so viel reden, das arme Schäfchen. Sein Reservoir an Wörtern ist erschöpft.“

„Das verstehe ich sehr gut“, versicherte John ihr. „Wenn ich einen Tag lang pausenlos Touristenführungen durch den Tower gemacht habe, bin ich auch froh, wenn ich abends einfach mal schweigen kann.“ Er wandte sich Nate zu.

„Du arbeitest in der Telekommunikationsbranche, wenn ich das richtig verstanden habe?“

„British Telecom“, bequemte Nate sich zu einer Antwort. „Internet- und Telekommunikationsdienstleistungen für den Endnutzer.“

Er sprach das Wort ‚Endnutzer‘ in einem Ton aus, der John an Orks, Dementoren oder andere unerfreuliche Gesellen denken ließ.

„Oh, da hast du wahrscheinlich häufiger mit Beschwerden zu tun“, bemerkte Pauline, die selbst mit BT einige Sträuße ausgefochten hatte, wie John sich lebhaft erinnern konnte. Nachdem sie nach York gezogen war, hatte sie wochenlang keinen funktionierenden Internetanschluss gehabt. Taktvollerweise erwähnte sie dies nicht.

Nate Bennett nickte nachdrücklich. „Locker 80 Prozent meiner Arbeitszeit verbringe ich mit ‚Reklamationsmanagement‘, wie unsere Oberen das nennen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für Leute man da den ganzen Tag am Rohr hat.“ Er beugte sich nach vorn und senkte ein wenig die Stimme. „Jede Woche wählen wir in der Abteilung den Super-DAU.“

Pauline blickte ihn fragend an. „Was ist das?“

„Der DAU ist der ‚Dümmste anzunehmende User‘“, erklärte Bennett. „Und der Super-DAU ist der allergrößte von allen Schwachköpfen, die uns in der Support-Abteilung in der Woche untergekommen sind.“

„Ah … okay“, kam es von Pauline. An der Art, wie ihre Nasenflügel bebten, konnte John unfehlbar erkennen, dass ihr Bemühen um diplomatische Zurückhaltung bald ein Ende haben würde.

„Louise, deine Kundschaft, wenn man so sagen kann, schwatzt dir zumindest kein Ohr ab“, sagte er und gratulierte sich im Stillen zu dieser seines Erachtens überaus gelungenen Überleitung.

Die Französin lachte glockenhell auf. „Vraiement. Mir würde das Herz stehen bleiben, wenn einer von ihnen plötzlich etwas sagen würde.“ Sie wurde ernst. „Aber eigentlich sprechen sie doch zu mir. Wenn auch ohne Worte.“

Louise Mercier hatte am Vorabend erwähnt, dass sie im Britischen Museum arbeitete und sich unter anderem mit der Erforschung von Mumien beschäftigte.

„Erzähl uns ein bisschen mehr über deine Arbeit“, bat Pauline nun. „Ich finde es wahnsinnig spannend, was du machst.“

„Oh, ich auch, glaub mir. In meinen elf Jahren im Museum gab es nicht einen langweiligen Tag“, schwärmte Louise. „Das Spektrum eines Bioarchäologen ist so unglaublich breitgefächert, dass ich mich immer wieder in etwas Neues einarbeiten darf. C’est merveilleux.“

„Ich muss gestehen, dass ich bisher noch nie vom Forschungszweig der Bioarchäologie gehört hatte“, warf John ein.

„Das geht vielen so. Die meisten Menschen verbinden mit der Archäologie die Ausgrabungen von Tempeln oder Grabmälern oder ganzen Städten. Pompeji, Troja, Tikal … Wir Bioarchäologen kümmern uns dagegen nicht um die baulichen Relikte, sondern um die Überreste von jeglichem organischen Material. Die Anthropologen konzentrieren sich auf menschliche Überreste, die Archäobotaniker auf alles Pflanzliche – Samen, Körner, Pollen, Holz und so weiter. Und ich selbst bin spezialisiert auf die Archäozoologie, also das, was von den tierischen Bewohnern der jeweiligen Epoche übriggeblieben ist.“

„Das erinnert mich an den Beruf – und die Berufung – meines Vaters“, sagte John. „Er war Kurator in der Saurierabteilung des Naturhistorischen Museums.“

„Wie interessant! Ich liebe dieses Museum. Wir haben immer wieder gemeinsame Projekte mit verschiedenen Fachabteilungen und wir waren auch privat schon sehr oft dort, nicht wahr, Nate?“

„Mhm.“ Nate hatte nach seiner Kamera gegriffen und schoss im Sekundentakt Bilder der soeben mit einem furiosen Farbenspektakel hinter dem Bergkamm verschwindenden Sonne. Auch die anderen drei am Tisch hielten inne und genossen das Naturschauspiel.

„Fantastique“, seufzte Louise schließlich und griff den Gesprächsfaden wieder auf. „Die Relikte, die ich erforsche, sind zwar nach unserem Ermessen alt, aber doch etliche Erdzeitalter jünger als die deines Vaters, John. Habt ihr vielleicht unsere letzte Sonderausstellung gesehen? Wo die größte Mumie unseres Museums, das Krokodil, im Mittelpunkt stand?“

John schüttelte bedauernd den Kopf. „Die lief Anfang des Jahres, nicht wahr? Das war eine sehr hektische Zeit für uns.“

„Das war eines der spannendsten Projekte, an denen ich beteiligt war. Und tatsächlich sogar der Grund für diese Reise. Morgen kommen wir ja nach Kom Ombo. Auch wenn ich keine Ägyptologin bin, wollte ich dort unbedingt einmal hin, weil unser Krokodil von dort stammt.“

„Oh ja, der Doppeltempel für Horus und Sobek, den Krokodilgott. Ich habe schon darüber gelesen“, ließ Pauline sich vernehmen.

„Genau. Kom Ombo war einer der Orte, wo das Krokodil besonders verehrt wurde. Es galt den alten Ägyptern als Fruchtbarkeitssymbol, wahrscheinlich in Verbindung mit seinem Lebensraum, dem Nil“, erklärte Louise. „Wenn die Krokodile ihre Eier legten, taten sie dies immer genau oberhalb der Überschwemmungslinie. Sie schienen also vorhersagen zu können, wie weit der Fluss in dem jeweiligen Jahr ansteigen würde. Das war für die Menschen hier und die Landwirtschaft, die der Grundstein der Zivilisationsentwicklung war, natürlich eminent wichtig. Außerdem war es naturellement ein sehr gefährliches Tier, mit dem man sich vorsichtshalber gutstellen wollte. Und weil die Krokodile für die Menschen so einen hohen Stellenwert hatten, wurden sie nach ihrem Tod mumifiziert. In den meisten Fällen waren sie als rituelle Gabe an den Gott gedacht, den sie personifizierten, in diesem Fall also Sobek. Tausende von diesen einbalsamierten Tieren hat man hier in der Gegend gefunden – und eben auch unseres.“

„Wie alt ist die Mumie?“, erkundigte sich Pauline.

„Wir konnten sie auf ungefähr 2600 Jahre datieren. Die letzten 75 Jahre davon war dieses großartige Tier in unserem Depot verstaut. Und jetzt hatten wir die einmalige Chance, es uns einmal ganz genau anzuschauen. Wartet, ich zeige es euch.“

Sie fischte ihr Handy heraus und tippte darauf herum.

„Voilà – da ist es.“

Auf den ersten Blick dachte John, er hätte ein pechschwarzes, arg verwittertes Stück Holz vor sich. Erst, als Louise an das Objekt heranzoomte, konnte er die beachtlichen Zähne erkennen, die aus dem gewaltigen Maul herausblitzten. Dann konnte er die Augenhöhlen ausmachen und einige Knochen, die wohl zur Wirbelsäule des Tiers gehörten.

„Es sieht aus, als wäre es in heißen Teer getaucht worden“, bemerkte Pauline.

„Richtig. Tatsächlich sind etliche Mumien mit einer Schicht aus Bitumen bedeckt worden, also natürlichem Asphalt, wie man ihn im Jordangraben findet. Aber das schwarze Zeug hier ist eine Mischung aus Koniferenharz und Bienenwachs. Damit wurden die Leinenbinden durchtränkt, mit denen man das Krokodil umwickelt hat, nachdem man es vorher zur Austrocknung in Natron eingelegt hatte. Die inneren Organe sind zum Großteil entnommen worden, aber der Magen ist noch drin. Wir konnten sogar die Reste seiner letzten Mahlzeit finden, stellt euch das vor. Es hatte eine Rinderschulter verzehrt. Auch die Steine, die Krokodile zur Unterstützung der Verdauung und als Ballast schlucken, sind noch enthalten.“

„Habt ihr das im Röntgen gesehen? Oder habt ihr das Krokodil ausgewickelt?“, wollte Pauline wissen.

„Mon Dieu! So etwas Barbarisches würde man heute keinesfalls machen“, rief Louise aus. „Gott sei Dank können wir mit bildgebenden Verfahren alles über eine Mumie erfahren, ohne dass ihr Zustand verändert wird. Allerdings haben wir kein geeignetes CT-Gerät im Haus, wo man ein Viermeter-Reptil platzieren könnte. Aber das Royal Veterinary College hat uns ausgeholfen und wir durften deren CT benutzen. Und dabei haben wir noch etwas Großartiges herausgefunden: Auf seinem Rücken trägt es unter der Harzschicht über 20 bébés – Babykrokodile!“

Louise steckte ihr Telefon wieder weg und gab einen glücklichen Seufzer von sich. „Bei solchen Entdeckungen dabei sein zu dürfen, ist ein großes Privileg. Und die Arbeit im Museum gibt mir die Chance dazu. Oh, ich liebe meinen Job.“

„Schön für dich, Schatz. Damit gehörst du zu einer verschwindend geringen Minderheit“, kommentierte Nate, während er kritisch auf das Display seiner Kamera starrte.

„Das sehe ich anders“, sagten John und Pauline wie aus einem Mund.

Louise lachte entzückt auf. „Ihr seid ein süßes Paar. Ganz auf einer Wellenlänge.“

Ihr Gatte schien ihre Ansicht nicht ganz zu teilen. Stirnrunzelnd sah er auf.

„Gefällt euch das, womit ihr euer Geld verdient? Sagtest du nicht, du bist Lehrerin, Pauline?“ Nate wirkte ehrlich verblüfft. „Macht es Spaß, sich den ganzen Tag mit den kleinen Kröten abzuplagen?“

„Weder sehe ich meine Schülerinnen als Kröten noch ist es für mich eine Plage, mich mit ihnen gemeinsam mit dem Unterrichtsstoff auseinanderzusetzen“, antwortete Pauline, sichtlich um einen neutralen Ton ringend. „Ich empfinde es als große Freude, einen jungen Geist dazu anregen zu können, sich Wissen anzueignen. Außerdem bin ich in der glücklichen Lage, Geschichte unterrichten zu dürfen, und damit etwas, was ohnehin zu meinen Leidenschaften gehört.“

„Aha. Und du, John? Dich nervt es nicht, tagein, tagaus Touristenhorden rumzuführen und tausende von Malen dasselbe zu erzählen?“

„Wenn ich ausschließlich im Besucherdienst arbeiten würde, würde es mich wahrscheinlich irgendwann langweilen“, gestand John ihm zu. „Aber ich habe als Assistent des Ravenmasters ein sehr vielfältiges Aufgabengebiet und ich mag es, mich um die Raben zu kümmern. Gerade haben wir unseren ersten Nachwuchs bekommen – “

„Mais oui, darüber habe ich in der Zeitung gelesen“, rief Louise aus. „Zum ersten Mal seit über einem Vierteljahrhundert gibt es eine eigene Nachzucht der königlichen Raben. Das zeigt, dass ihr es geschafft habt, den Vögeln ein wirklich artgerechtes Habitat zu schaffen. Eine große Leistung, John.“

„Unser Ravenmaster George Campbell hat einen riesigen Erfahrungsschatz mit den Tieren“, meinte John. „Und wir hatten fachliche Unterstützung von einem Ornithologen des Naturhistorischen Museums, der ein guter Freund von mir ist.“

Nun war es an Pauline, ihr Mobiltelefon herauszuziehen. „Ich muss euch unbedingt Paulie zeigen. Das ist mein Liebling aus der Rasselbande.“

Sie zeigte ihnen ein kurzes Video, wo der Jungvogel versuchte, sich mit einem Bein am Kopf zu kratzen und dabei prompt umkippte.

„Ist das nicht drollig? Das war vor drei Tagen. Heute hat mir George dieses Foto geschickt.“

Zu sehen waren drei der Vogelgeschwister, die auf dem Nestrand hockten.

„Das da in der Mitte ist er, mit der blauen Markierung am Schnabel“, erklärte Pauline mit nachgerade mütterlichem Stolz in der Stimme. „Daneben sind Edward und Richard. Sie haben ihre Namen im Andenken an die Prinzen im Tower bekommen“, setzte sie hinzu.

„Lass mich raten: Paulie wurde nach dir benannt, nicht wahr?“, sagte Louise mit einem listigen Lächeln.

„Exactement“, gab Pauline zurück und schenkte John einen tiefen Blick.

„Oh, c’est romantique! Eine wundervolle Geste“, begeisterte sich Louise.

John grinste verlegen und erzählte, „Der frischgebackene Ehemann meiner Nichte Renie ist Schmetterlingsforscher. Als er eine neue Falterart entdeckt hat, hat er sie nach ihr benannt. Argynnis renie.“

„Die beiden hatten eine traumhafte Hochzeit, gerade erst am letzten Wochenende“, stimmte Pauline ein. „Ich muss euch ein Bild zeigen.“ Gleich darauf hielt sie Louise eine Aufnahme der Hochzeitsgesellschaft entgegen, die auf dem heiligen Rasen des St. Patrick’s College in Cambridge aufgenommen worden war.

„Was für ein schönes Paar“, bemerkte die Französin. „Kennen die beiden sich schon lange?“

„Sie haben sich vor zweieinhalb Jahren kennengelernt. Es gab auf dem Weg einige Irrungen und Wirrungen, aber jetzt sind sie sehr glücklich miteinander. Die beiden ergänzen sich wirklich hervorragend“, sagte John.

„Und ihr? Wie seid ihr zusammengekommen?“, fragte Louise neugierig.

„Zum ersten Mal sind wir uns an einem kalten Wintertag 2012 begegnet, als Pauline ihre Klasse zu einer Führung in den Tower begleitet hat – “, begann John.

„Ein Hoch auf meine damalige Rektorin Ms. Grover, den alten Drachen. Sie hätte den Ausflug eigentlich geleitet, war dann aber unpässlich. Das war eine schicksalshafte Fügung“, warf Pauline ein. „Im Sommer darauf sind wir uns in Edinburgh wieder über den Weg gelaufen, als wir beide mit unseren Familien beim großen Treffen der Clans waren. Es hat dann noch eine Weile gedauert, aber schließlich habe ich John kurzerhand auf einer Junggesellenversteigerung ersteigert und endlich den Deckel drauf gemacht“, berichtete sie weiter.

„Eine Junggesellenversteigerung! Das klingt spannend.“ Louise lauschte angeregt, als Pauline vergnügt von jenem Abend erzählte, der John an den Rand einer Herzattacke gebracht hatte.

„Oh, das ist eine wundervolle Geschichte“, stellte Louise schließlich fest. „Nicht wahr, Nate?“

„Mhm.“

Louise schien ihm seine desinteressierte Reaktion nicht krummzunehmen. Sie beäugte wieder das Foto. „Ihr beide seht très chic aus. Und wer ist dieser attraktive Mann da? Mir ist, als hätte ich ihn schon einmal irgendwo gesehen.“

„Das ist gut möglich. Sein Bild ist oft in den Zeitungen“, sagte John. „Das ist mein Cousin, Superintendent Simon Whittington von der Metropolitan Police.“ Die Pestbeule, setzte er in Gedanken hinzu.

„Oh ja, natürlich. Jetzt erinnere ich mich. Er hat schon viele spektakuläre Fälle aufgeklärt, n’est-ce pas? Ah, und jetzt erkenne ich auch die Frau an seiner Seite wieder. Gehört sie nicht zur royalen Familie?“

„Patricia ist weitläufig mit dem Königshaus verwandt“, bestätigte John.

„Du hast ja eine interessante Verwandtschaft. Und wer ist die grande dame in der ersten Reihe?“

„Du hast recht, Louise, sie ist eine veritable grande dame. Das ist Dame Commander of the British Empire Isabel Mackenzie“, sagte Pauline. „Johns Großtante und in meiner schottischen Heimat als Vorkämpferin der Unabhängigkeit eine absolute Ikone. Sie geht auf die Hundert zu, aber hat immer noch so viel Energie, dass ich jedes Mal neidisch werde.“

„Eine echte Powerfrau. Das finde ich toll“, kommentierte Louise. Dann kniff sie die Augen zusammen. „Was ist das da im Gras? Sitzt da ein Tier?“

Pauline lachte und vergrößerte den Bildausschnitt. „Das ist Leo, der Campuskater.“

„Ein sehr menschenbezogenes, freundliches Tier“, setzte John hinzu. „Aber auch einer, der sein Revier nachdrücklich verteidigt. Ein Glück, dass Tante Isabel ihren Hund Walter bei der Hochzeit nicht dabeihatte. Ansonsten wären wahrscheinlich die Fetzen geflogen.“

„Sieh dir diesen knuffigen Kater an, Nate“, forderte Louise ihren Mann auf und hielt ihm das Handy vor die Nase.

Nate riss seinen Blick für einen Moment von der Kamera los und brummte sein übliches „Mhm“. Dann jedoch weiteten sich seine Augen. „Da neben der Braut – das ist doch Alan Hughes, oder nicht?“

John nickte. „Der Mann meiner Schwester Maggie.“

„Wow. Hughes ist eine Legende bei uns IT-lern. Aber heute früh habe ich erst eine Push-Nachricht von unserem Branchendienst gelesen – Hughes will sich aus seiner Firma zurückziehen? Ist das wahr?“

Alan hatte seine Entscheidung, die Führung seines Unternehmens abzugeben, von langer Hand vorbereitet. Allerdings war nur Maggie eingeweiht gewesen. Dem Familienkreis hatte er seine Pläne gerade eben erst auf Renies und Geoffs Hochzeit unter großem Hallo bekanntgegeben und sie am nächsten Tag bereits öffentlich gemacht. Dabei hatte er auch erklärt, wo er in Zukunft seinen beruflichen Fokus setzen wollte.

„Er wird als Dozent im neuen National Cyber Security College arbeiten, in Bletchley Park“, sagte John.

„Bletchley! Da draußen hatte ich Ende der Achtziger während meiner Ausbildung ein paar Lehrgänge. Der ehemalige Block G gehörte ja British Telecom, bis sie ihn 1990 abgestoßen haben. Mann, war das eine marode Baracke.“ Bennett verzog abschätzig das Gesicht. „Für den Schuldienst will Hughes also sein Unternehmen aufgeben? Das hätte ich an seiner Stelle nie und nimmer getan.“

„Jeder muss selbst seine Prioritäten im Leben setzen“, kam es spitz von Pauline. „Ich finde es sehr anerkennenswert, dass Alan sich dafür engagiert, sein Wissen der nächsten Generation zur Verfügung zu stellen. Es ist bitter nötig, die jungen Leute bestmöglich auszubilden, damit diese gewappnet sind, sich den Herausforderungen des Internet-Zeitalters zu stellen. Außerdem macht Alan seine Familie sehr glücklich. Maggie und die Kinder freuen sich sehr, dass er nun mehr Zeit für sie hat. Und das ist doch eine großartige Sache.“

 

Kapitel 2

 

„Ich sehe Alan noch weniger als vorher“, klagte Maggie, als sie John einige Tage darauf im strömenden Regen vom Flughafen Stansted abholte.

Erstaunt ließ John das Sandwich sinken, in das er gerade eben beißen hatte wollen. Maggie musste geahnt haben, dass die Verpflegung in der Chartermaschine aus Luxor unterirdisch war und hatte vorausschauend wie immer ein paar nahrhafte Kleinigkeiten mitgebracht.

„Ich dachte, Alan wollte sich erstmal eine kleine Auszeit vergönnen, bevor er in Bletchley einsteigt?“

„Hah“, stieß Maggie aus. „Er war genau drei Tage daheim, dann ist ihm schon langweilig geworden. Gut, ich verstehe es auch bis zu einem gewissen Grad. Kaum war die Hochzeit vorbei, ist Bella in die Reiterferien gefahren und Tommy ist zu einem Basketball-Trainingslager. Renie ist sowieso in den Flitterwochen – es gefällt ihnen übrigens wahnsinnig gut in ihrer Finca. Sie schickt täglich ein Foto und die beiden schauen so glücklich aus, dass es mir immer ganz warm wird ums Herz.“

Sie setzte den Blinker und bog auf den Zubringer zur M 11 ein.

„Ich habe nach zwei Tagen Durchschnaufen, die ich nach dem Hochzeitstrubel bitter nötig hatte, wieder angefangen, zu arbeiten“, sprach sie weiter. „Und schon saß mein armer, rastloser Alan allein zuhause. Dann kam der Anruf von Frank Abernathy, dem designierten Collegeleiter. Offenbar braucht er dringend Unterstützung, um die Strukturen der Schule aufzubauen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das alles innerhalb eines halben Jahres aus dem Boden gestampft werden soll. Es stehen noch nicht mal alle Gebäude, die gebraucht werden.“ Sie schüttelte den Kopf. „Natürlich laufen die Vorbereitungen bereits seit Längerem – schon eine ganze Weile, bevor Alan beschlossen hat, sich dort zu engagieren. Aber trotzdem scheint es noch an allen Ecken und Enden zu fehlen.“

Wenn John an den unglaublichen Aufwand zurückdachte, den allein so ein bescheidenes Projekt wie der Neubau des Rabenhauses im Tower verschlungen hatte, mochte er sich gar nicht ausmalen, was alles zum Neuaufbau einer Schule notwendig sein mochte.

„Wenn erst einmal alles läuft, will Alan aber nur zwei- bis dreimal die Woche zum Unterrichten hinfahren, oder?“ John hatte das Sandwich verputzt und machte sich über einen Apfel her.

„So sieht zumindest der Plan aus. Im Herbst soll meine neue Kollegin soweit eingearbeitet sein, dass sie mir ein paar Fälle abnehmen kann. Dann werde ich auch nur noch jeweils von Montag bis Donnerstag arbeiten.“

Maggie war als Staatsanwältin in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität tätig.

„Das sind vielversprechende Aussichten“, stellte John fest. „Habt ihr schon Ideen, was ihr mit der gewonnenen Zeit anfangen wollt?“

„Fürs erste möchten wir unseren Garten ein wenig umgestalten. Außerdem werden wir sicher ab und zu übers Wochenende einen Kurztrip machen. Und dann träumt Alan ja davon, den Segelschein zu machen. Nach unserem Törn letztes Jahr bin ich von der Idee auch durchaus angetan. Aber apropos Boot: Nun erzähl von eurer Nilkreuzfahrt.“

„Es war herrlich“, sagte John. „Die Tempel, das Tal der Könige, diese einzigartige Wüstenlandschaft … dazu strahlend blauer Himmel und eine sehr angenehme trockene Hitze, bei der man auch noch spät wunderbar draußen an Deck sitzen konnte.“

„Hmm, das klingt verlockend … allein schon wegen des Wetters. Bei uns hat es die ganze Woche geregnet“, berichtete Maggie. „Und wie war das Kreuzfahrtschiff?“

John überlegte ein wenig. „Ich muss sagen, dass mir diese Art, auf dem Wasser zu reisen, besser gefallen hat als unsere Tour auf der Segelyacht.“

„Tatsächlich?“ Maggie sah erstaunt drein. „Wieso?“

„Es war alles sehr entspannt, wir brauchten uns um nichts zu kümmern. Das Essen war hervorragend – ganz anders als das, was wir damals beim Segeln selbst in der kleinen Kombüse fabrizieren konnten. Und es war natürlich alles viel komfortabler. Im Vergleich zu unserer Koje im letzten Jahr war die jetzige Kabine quasi ein Palast. Und anders als auf dem Segelboot mit seinen papierdünnen Wänden hatte man dort wirklich Privatsphäre.“

„Soso.“ Maggie schielte zu ihrem Bruder hinüber und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Als dieser ihren Blick mit einem undurchdringlichen Gesichtsausdruck erwiderte, lachte sie auf.

„Ein Gentleman genießt und schweigt, was? Okay, vergessen wir die Vorzüge eurer Kabine – ist es nicht nervig, ständig mit Horden anderer Passagiere auf einem Schiff eingezwängt zu sein?“

„Unsere ‚Nile Empress‘ hatte nur 28 Gästekabinen. Sie ist eines der kleineren Schiffe, die auf dem Nil unterwegs sind, aber für die geringe Gästezahl sehr großzügig. An Deck war immer ein schönes Plätzchen zu finden und auch sonst ist man sich nicht auf die Füße getreten. Ich finde, du hast mit 50, 60 Leuten auf einem Schiff viel mehr Gelegenheit, für dich sein, als wenn du zu sechst auf einem Segelboot bist.“

„Vor allem, wenn in so einer Truppe jemand besonders Anhängliches dabei ist“, bemerkte Maggie mit einem süffisanten Grinsen.

John erschauerte. „Erinnere mich nicht daran.“ Die unselige Episode mit der damaligen Mitseglerin Georgina Radcliffe hatte seine – und Paulines – Nerven über Gebühr strapaziert.

„Diesmal haben wir ein nettes Paar kennengelernt. Oder vielmehr eine nette Frau“, korrigierte er sich. „Ihr Mann ist … gewöhnungsbedürftig.“

Um genau zu sein, hatte ihn Pauline wechselweise als Klotz, Stoffel oder Sauertopf bezeichnet, wenn sie unter sich waren und mehr als einmal konsterniert die Frage gestellt, „Wie hält eine Frau wie Louise es mit diesem Kerl aus?“

„Die beiden leben auch in London“, fuhr er fort. „Aber Louise stammt aus Frankreich. So hat Pauline gleich die Chance genutzt, Konversation mit ihr zu üben, damit sie für unseren Sommerurlaub top vorbereitet ist.“

„Ah, das ist eine gute Sache“, nickte Maggie. „Renie hat uns auch schon geschrieben, dass sie einige sehr interessante Begegnungen hatten, die ohne Geoffs hervorragende Spanischkenntnisse sicher nicht möglich gewesen wären. Ein Ziegenhirte hat sie zum Beispiel eingeladen, als sie ihm auf einer Wanderung begegnet sind und sie durften selbstgemachten Ziegenkäse verkosten.“

„Ich finde es auch toll, dass Pauline da einen solchen Ehrgeiz entwickelt. Und Louise hat sich gern als Konversationspartnerin zur Verfügung gestellt, denke ich. Die beiden haben sich schnell angefreundet.“ John steckte den Apfelbutzen in ein bereitliegendes Tütchen und griff nach einem Ingwerkeks.

„Louise hat übrigens einen sehr interessanten Job“, meinte er kauend. „Sie arbeitet im Britischen Museum und forscht vor allem an tierischen Überresten aus früheren Epochen. Sie war auch an der Sonderausstellung beteiligt, die im Winter lief, mit der Krokodilmumie.“

„Dort war ich mit Bella“, erwiderte Maggie überrascht. „Eine sehr gut gemachte Schau. Es war faszinierend zu sehen, wie gut das Tier nach über zwei Jahrtausenden noch erhalten ist. Bella hat mich auch zu allen anderen Mumien geschleift, selbst wenn wir in der Abteilung sicher schon ein Dutzend Mal waren. Ihr haben es natürlich vor allem die Katzenmumien angetan. Sie hat mich schon gefragt, ob wir unseren King Olaf auch einbalsamieren lassen können, wenn er irgendwann das Zeitliche segnet.“ Sie schüttelte sich theatralisch.

„Louise hat uns angeboten, bei Gelegenheit eine kleine Führung hinter die Kulissen zu machen. Vielleicht möchte Bella mitkommen“, schlug John vor. „Wenn sie hört, welche Prozeduren Olaf da posthum über sich ergehen lassen müsste, vergisst sie die Idee bestimmt schnell.“

„Das ist ein super Gedanke, John. Ich glaube, Bella wäre Feuer und Flamme für so einen Ausflug in die Mumienwelt. Oh, da fällt mir ein – von wegen einer Spezialführung. Alan möchte für uns so etwas in Bletchley Park arrangieren, damit wir uns seinen neuen Wirkungsbereich ansehen können. Hast du Lust, mitzukommen?“

„Sehr gern. Ich war noch nie dort. Und ich bin sicher, Pauline wäre auch gern dabei.“ Er überlegte kurz. „Sie kommt übernächstes Wochenende her. Wenn sich die Besichtigungstour am Samstag einrichten ließe, wäre das perfekt.“

„Das lässt sich sicher machen. Ich werde das gleich mit Alan besprechen, wenn ich nach Hause komme“, erwiderte Maggie. „Mum und Dad haben schon signalisiert, dass sie es sich ansehen möchten und ich werde auch noch David und Annie fragen. Mal sehen, ob Renie und Geoff auch kommen möchten. Das wird ein richtiger Familienausflug.“ Maggie freute sich sichtlich.

„Wir haben übrigens eine Dropbox installiert, wo jedes Familienmitglied – und auch jeder andere Gast – Fotos und Videos von der Hochzeit hochladen kann. Mittlerweile haben sich fast 1000 Bilder und ein Haufen Filme angesammelt. Ich sehe sie mir immer wieder gern an. Es war schon ein phänomenaler Tag, nicht wahr?“

„Absolut. Deine Organisation war wieder einmal perfekt. Alles hat gepasst bis aufs i-Tüpfelchen“, lobte John.

„Danke, Bruderherz. Aber glaub mir: Ich habe es sehr genossen, die Hochzeitsplanungszentrale wieder in mein Arbeitszimmer zurück zu verwandeln. Gut, dass noch viele Jahre ins Land gehen werden, bis Tommy oder Bella mal vor dem Traualtar stehen.“

 

Als sie eine Stunde später am Tower anlangten, hatte der Regen nachgelassen. So deponierte John nur schnell sein Gepäck in seiner kleinen Wohnung am Tower Green, schnappte sich ein paar Erdnüsse und strebte gleich darauf quer über den Innenhof und durch einen Mauerdurchlass auf der anderen Seite. Dort, am Fuß des Festungswalls, stand die Brutvoliere, wo Gworran und Victoria, genannt Vicky, ihren Nachwuchs großzogen.

Zu seiner Freude schallte John ein triumphierendes Trompetensignal entgegen. Gworran hatte seinen Lieblingsmenschen auf der Stelle entdeckt und begrüßte ihn auf seine Weise. John öffnete die Tür des geräumigen Geheges und hockte sich drinnen auf einen abgeschnittenen Baumstamm. Sofort hüpfte der junge Rabe, nunmehr stolzer Vater einer prächtigen Kinderschar, heran und rieb seinen Schnabel an Johns Schuh. John streichelte ihm das glänzende Gefieder

„Ich freue mich auch, dich zu sehen“, sagte er. „Was machen die Jungs und Mädels? Halten sie dich ordentlich auf Trab?“

Gworran gab eine Reihe von Lauten von sich, die John als Zustimmung wertete und legte dann den Kopf schief.

John reichte ihm eine Erdnuss, die der Vogel geschickt von der Schale befreite. Einen der beiden Kerne verleibte er sich sogleich ein. Dann stieß er ein Krächzen aus, das seine Gefährtin Vicky in Windeseile aus der Holzbox hervorlockte, in der das Nest sich befand.

Sie näherte sich John etwas vorsichtiger, hatte aber bereits soweit Vertrauen zu ihm gefasst, dass sie nicht versuchte, ihn aus der Nähe ihrer wertvollen Brut zu vertreiben.

John beobachtete lächelnd, wie Gworran ihr die Erdnuss zuschob, die sie genauso gern mochte wie er. Dann sahen beide Raben John erwartungsvoll an, als wüssten sie, dass er noch einen der begehrten Leckerbissen in der Tasche hatte. Schmunzelnd übergab John auch die zweite Nuss.

„Na, wen haben wir denn da!“

Der Ravenmaster kam heran, sichtlich erfreut, seinen Assistenten wiederzusehen. „Schön, dass du gesund und munter wieder zurück bist. Du musst uns abends im Club von deinen Abenteuern erzählen. Aber jetzt lass dich erstmal auf den aktuellen Stand bringen. Du hast eine spannende Woche unserer Nestlinge verpasst.“

Die beiden Männer zogen sich in den neuen Arbeits- und Lagerraum in der Water Lane zurück und George zog ein Tablet hervor.

Die Kamera mit Bewegungsmelder, die Johns Neffe Tommy an der Decke der geräumigen Nestbox installiert hatte, dokumentierte das Geschehen seit der Ablage des ersten Eies vor rund vier Wochen genauestens. Außer einer gigantischen Menge an Videomaterial gab es noch eine große Anzahl Fotos, die George als Standbilder extrahiert hatte. Behände tippte er auf dem Bildschirm herum.

„Sieh mal hier, wie rasant die Schwungfedern gewachsen sind! Bei Beatrice siehst du den Unterschied besonders gut. Das da war letzte Woche und dieses Foto hier ist von heute früh.“

Die drei weiblichen Tiere waren nach Töchtern von Queen Victoria benannt worden: Außer Beatrice gab es noch Helena und Alice.

„Ist es nicht erstaunlich? Ein Wachstum von bis zu einem Zentimeter pro Tag. Damit erreichen die Kleinen jetzt schon annähernd die 80 cm Flügelspannweite ihrer Eltern.“ Schon wischte George wieder über den Bildschirm.

„Und hier, schau dir das an: Unsere ersten Speiballen.“

Der Enthusiasmus, mit dem George das Foto einiger recht unansehnlicher Brocken präsentierte, erinnerte John an seinen Bruder David, der die ganze Familie seit dem Schuleintritt von Söhnchen Christopher laufend über die schier ungeheuren Fortschritte seines Sprösslings auf dem Laufenden hielt.

„Ich hatte den Eindruck, dass der Anteil an Knochen im Gewölle ein wenig hoch war“, fuhr George fort. „Deswegen füttern wir jetzt Fellstücke zu, damit es beim Auswürgen der unverdaulichen Anteile nicht zu Verletzungen kommt.“

Der Ravenmaster wies auf den aktuellen Fütterungsplan, der an der Pinnwand befestigt war. Vicky und Gworran bekamen außer ihrem üblichen Futter – Rindfleisch, gekochte Eier und Trockenfutter, ab und zu ein Kaninchen – zur Aufzucht der hungrigen Schar zusätzlich tote Mäuse und Ratten ins Gehege.

„Gut, dass wir jetzt die zweite Gefriertruhe haben“, stellte der Ravenmaster fest. „Unsere Vorräte gehen immer schneller zur Neige. Die Racker haben einen gesegneten Appetit.“

„Es ist wirklich bemerkenswert, wie schnell sie sich entwickeln.“ John schüttelte staunend den Kopf. „Wie diese nackten, keksgroßen Häufchen innerhalb weniger Wochen zu richtigen Raben heranwachsen konnten, ist unglaublich.“

George nickte. „Ihr Gewicht hat seit ihrer Geburt ungefähr um das 40-fache zugelegt, das ist wirklich enorm. In den letzten Tagen hat sich vor allem die Koordination verbessert. Sieh mal.“ Er tippte flugs auf dem Tablet herum und startete eine der unzähligen Videosequenzen.

„Hier: Noch vor ein paar Tagen ist Paulie umgekippt, als er sich am Kopf kratzen wollte – die Aufnahme hatte ich Pauline ja geschickt. Wie man hier sieht, schafft er es jetzt im Stehen. Er klappt einen Flügel auf und stützt sich darauf ab. Er ist der erste aus unserem Nachwuchs, der das hinkriegt.“

„Ein schlaues Kerlchen“, grinste John. „Kein Wunder, mit einer Lehrerin als Taufpatin.“

George lachte breit. Er mochte Pauline sehr und genoss es, bei ihren Besuchen im Tower stets ein Schwätzchen mit ihr zu halten.

„In den nächsten Tagen erwarte ich, dass die Racker sich mehr und mehr in die Voliere hinauswagen“, fuhr er fort. „Und dann dürften wir auch bald ihren Jugendgesang zu hören kriegen. Ja, sie werden wirklich mit Riesenschritten groß.“ Mit einem Mal wurde sein Blick wehmütig.

„Die Kerlchen sind mir alle so ans Herz gewachsen, dass es schwer wird, vier von ihnen herzugeben. Noch zwei Wochen, dann ist die Nestlingsphase vorbei und es heißt Abschied nehmen.“

John klopfte dem Ravenmaster auf die Schulter. „Du weißt ja, dass sie bei Kelly Fielder in besten Händen sein werden. Und wir werden rauffahren nach Capel Garmon und sie besuchen.“

Die Ornithologin unterhielt im Snowdonia National Park in Wales eine Auffangstation und kümmerte sich um die Nachzucht gefährdeter Vogelarten. Sie war eine Spezialistin für Rabenvögel, die Dr. Mike Nichols, Papageienforscher am Naturhistorischen Museum und ein alter Freund von John, ihnen empfohlen hatte.

„Natürlich, du hast recht“, räumte George ein. „Sie werden es dort sehr gut haben. Und es können nun mal nicht alle in den königlichen Dienst eintreten. Selbst unser neues Rabenhaus wäre dann zu klein. Immerhin werden Paulie und Alice ja unsere Truppe verstärken.“

Nachdem die ‚Rasselbande‘, wie George sie liebevoll nannte, im letzten Jahr zwei Mitglieder verloren hatte und damit auf sieben Vögel zusammengeschrumpft war, hatte dringender Handlungsbedarf bestanden.

Der Legende nach war es unabdingbar, dass Kolkraben den Tower bevölkerten, ansonsten würde das Königreich fallen. König Charles II hatte nach dieser Prophezeiung eilends verfügt, dass stets mindestens ein halbes Dutzend der Vögel hier leben solle. Selbst, als das im 17. Jahrhundert im White Tower untergebrachte Observatorium von den Ausscheidungen der Raben in Mitleidenschaft gezogen wurde, konnten die Vögel auf ihr verbrieftes Recht pochen, hier zu leben. Der König ließ für seinen Hof-Astronomen Nicolas Flamsteed eigens in Greenwich eine neue Sternwarte bauen und die kleine Kolonie der Tower-Raben blieb bis zum heutigen Tag in Lohn und Brot der Krone.

Mit dem Versprechen, dem privaten Club der Beefeater im Cradle Tower am Abend einen seiner seltenen Besuche abzustatten, verabschiedete sich John eine halbe Stunde später und ging durch den anhaltenden Nieselregen in seine Wohnung zurück. Fröstelnd drehte er die Heizung höher und dachte sehnsuchtsvoll an den gestrigen Abend zurück.

Nach der nächtlichen ‚Light and Sound‘-Show in der Tempelanlage von Karnak hatten er und Pauline noch lange draußen gesessen. Sie hatten das Oberdeck ganz für sich, der Rest der Passagiere hatte sich bereits in die Kabinen zurückgezogen. Während das Mondlicht sich in den Wassern des Nils spiegelte, glitt das Schiff gemächlich das kurze Stück zum Ausgangshafen nach Luxor zurück. Ein lauer Wind strich durch Paulines seidiges Haar …

Das Klingeln des Telefons riss John aus seinen angenehmen Erinnerungen. Seufzend ging er in den Flur hinaus und hob ab.

„John, mein Junge. Da bist du ja. Wolltest du nicht anrufen, sobald du angekommen bist?“

John lächelte in sich hinein und ging ins Wohnzimmer, wo er es sich auf der Couch gemütlich machte. Dieses Telefonat würde dauern.

„Sorry, Mum“, sagte er. „Ich wollte gleich nach unserer Rabenbande schauen und darüber habe ich die Zeit ganz vergessen.“

„Das hast du von deinem Vater geerbt“, gab sie zurück. „Gestern ist er morgens ins Museum gefahren, wollte aber mittags wieder da sein. Und wann kam er dann schlussendlich? Zum Abendessen.“

James Mackenzie ließ es sich nicht nehmen, auch im Ruhestand noch ehrenamtlich im Naturhistorischen Museum mitzuarbeiten. Vor allem, wenn es um die Untersuchung neuer Dinosaurierfunde ging, war er nicht zu halten.

„Aber das hätte ich auch nicht anders erwartet. Ich kenne ihn ja, meinen James“, meinte Emmeline ungewohnt nachsichtig. „Jetzt erzähl aber, John: Wie hat euch Ägypten gefallen? Ist bei der Reise alles gutgegangen?“

Während John seiner Mutter pflichtschuldig einen umfassenden Reisebericht gab, räumte er nebenher seinen Rucksack aus. Der war randvoll mit Mitbringseln, sorgsam eingewickelt, damit auch nichts zu Bruch ging.

Für Emmeline, die eine genauso passionierte Teetrinkerin war wie er selbst, hatte er auf dem Markt in Assuan hübsche, fein ziselierte Teegläser erstanden. Dazu hatte er eine ganze Armada an Skarabäus-Käfern gekauft, einige Obelisken und Pyramiden aus Onyx und eine Statuette der Katzengöttin Bastet, die seiner Nichte Bella sicher gefallen würde. Bonnie Sedgwick, die in seiner Abwesenheit wie immer zuverlässig seine Pflanzen versorgt hatte, würde eine Auswahl von Gewürzen und Malventee bekommen.

Schließlich entrollte er vorsichtig den in einer Papprolle verpackten Papyrus, den er beim Ausflug ins Tal der Könige entdeckt hatte. Auf ihm waren einige kunstvoll gezeichnete Szenen aus den herrlichen Wandreliefs im Tempel der Pharaonin Hatschepsut dargestellt. John gedachte, sich das gute Stück gerahmt im Wohnzimmer aufzuhängen.

Nachdem er alles ausgepackt hatte, ähnelte sein Wohnzimmertisch der Warenauslage eines Basarstandes. Er musste grinsen, als er an den ersten Marktbesuch in Edfu zurückdachte. John hatte umgehend eingewilligt, den vom Verkäufer geforderten Preis für eine Figur des Falkengottes Horus zu bezahlen, die er Mike Nichols mitbringen wollte. Mit einem fassungslosen Kopfschütteln hatte Pauline darauf bestanden, fortan sämtliche Verhandlungen zu übernehmen, was sich als nachhaltig geldbeutelschonende Maßnahme erwiesen hatte.

„Schön, mein Junge. Es freut mich, dass ihr eine schöne Zeit hattet und vor allem, dass ihr gesund wieder zurück seid“, meinte Emmeline schließlich. „Dann sehen wir dich nächsten Sonntag zum Essen, nicht wahr? Und übernächsten Samstag haben wir ja unsere Besichtigungstour in Bletchley Park. Ich freue mich schon, dass wir wieder alle beieinander sein werden.“

John zog verdutzt die Augenbrauen nach oben. „Maggie und ich haben gerade erst vorhin darüber gesprochen. Und nun ist schon alles arrangiert?“

Seine Mutter lachte auf. „John, wenn du dir nur endlich einmal ein vernünftiges Handy zulegen und unserer Familien-Chatgruppe beitreten würdest! Dann wärst du auch auf dem Laufenden. Maggie hat auf der Stelle alles organisiert und die Einzelheiten gleich gepostet. Pauline und du, ihr werdet um acht Uhr am Tower abgeholt und wir werden alle zusammen einen wunderbaren Tag haben.“

 

Kapitel 3

 

„Buenos días, meine Lieben!“ Übermütig sprang Renie aus Geoffs Mazda und fiel John um den Hals.

„Guten Morgen, Mrs. Tomlinson“, erwiderte John grinsend.

Renie lachte vergnügt auf. „Mann, da muss ich mich erst noch dran gewöhnen, dass ich damit gemeint bin. Aber es fühlt sich fantástico an!“

Während sie gleich darauf Pauline umarmte, stieg auch ihr frischgebackener Ehemann aus.

„Und hier kommt mi marído – lässt er nicht selbst Antonio Banderas alt aussehen?“ Strahlend griff Renie nach seiner Hand.

„Loca niña“, gab Geoff zurück und strich ihr liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht.

„Ist es nicht gemein? Zwei Wochen andalusische Sonne haben ihm diesen leckeren dunklen Teint eingebracht und mir den fettesten Sonnenbrand aller Zeiten. Ihr hättet meinen Rücken sehen sollen – “ Renie sprudelte ohne Punkt und Komma weiter, während Geoff John und Pauline begrüßte und sie ihre Sachen im Kofferraum verstauten.

---ENDE DER LESEPROBE---