Tod im Tower - Emma Goodwyn - E-Book
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Emma Goodwyn

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Beschreibung

Ein Mord während der Schlüsselzeremonie erschüttert den Tower of London. John Mackenzie, früherer Armeepsychologe und neues Mitglied der königlichen Wachtruppe, findet sich unversehens in der Rolle des Undercover-Ermittlers. Superintendent Simon Whittington - skrupellos, machthungrig, unwiderstehlich und Johns Nemesis aus Kindertagen - scheint den Fall schnell gelöst zu haben. Doch hat er wirklich den Richtigen verhaftet? John stürzt sich in eine riskante Suche nach der Wahrheit. Gut, dass er dabei auf die Hilfe des unnachahmlichen Mackenzie-Clans bauen kann!

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Tod im Tower

 

 

 

 

John Mackenzies erster Fall

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Emma Goodwyn

Im Gegensatz zu den Schauplätzen

sind alle Personen und Ereignisse der Handlung rein fiktiv, mögliche Ähnlichkeiten zu echten Personen und Geschehnissen keinesfalls beabsichtigt.

 

 

 

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Besuchen Sie die Autorin unter

www.emma-goodwyn.com!

 

Copyright Text und graphische Gestaltung

Emma Goodwyn

c/o Hartmut Albert Fahrner

Am Tannenburganger 36

84028 Landshut

 

Kontakt: [email protected]

 

Titelbildgestaltung: Maria Riesenhuber

Kontakt: [email protected]

 

Veröffentlichungsdatum: 1. Juli 2012

 

Alle Rechte vorbehalten

(V5.1)

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Fröstelnd schlug John Mackenzie seinen Mantelkragen hoch. Die Wollmütze zog er tiefer ins Gesicht. Auf der Millennium Bridge pfiff der nächtliche Wind eisig. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er losmusste. Dennoch konnte er sich noch nicht von dem Panorama lösen, das sich vor ihm ausbreitete.

Den massigen Fabrikbau der Tate Gallery für moderne Kunst hatte er soeben verlassen. Direkt gegenüber grüßte Christopher Wrens gewaltige Kuppel der St. Paul’s Cathedral herüber. Flussaufwärts schließlich war die erleuchtete Silhouette der Tower Bridge zu erkennen.

Nach fast zwanzig Jahren im Ausland war John seit einigen Monaten dabei, seine Heimatstadt wieder neu zu entdecken und er genoss es in vollen Zügen. Schließlich wandte er sich bedauernd ab und trottete in Richtung U-Bahn. Kurz vor der Haltestelle Blackfriars näherten sich von hinten eilige Schritte.

„So einen Scheißabend hatte ich schon lange nicht mehr! Wahnsinn, stundenlang nur krankes Zeug anglotzen. Stattdessen hätte ich mir mit meinen Kumpels das Spiel ansehen und so richtig einen draufmachen können“, warf ein junger Mann seiner Begleiterin ins Gesicht, während er an John vorbeistampfte. Im Gehen versuchte er vergeblich, sich eine Zigarette anzuzünden. Er fluchte ungehalten, als der Wind das Feuerzeug immer wieder ausblies. Die junge Frau tippelte hinterher. John konnte sich erinnern, das Paar flüchtig im Museum gesehen zu haben.

„Aber Billy, du hattest versprochen, meinen Geburtstag mit mir zu verbringen …“, brachte das Mädchen hervor. Ihr Freund hatte es schließlich aufgegeben, die Zigarette zum Brennen zu bringen und stopfte die Schachtel in seine Jacke.

„Na, das hab ich doch auch, oder? Du wolltest dir unbedingt diesen Kram anschauen und das haben wir gemacht. Jetzt brauch ich ein Bier mit den Jungs. Also komm mit oder lass es.“ Er zog das Handy aus der Hosentasche. Das Mädchen blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihm nach. John ging langsam an ihr vorüber. Widerstreitende Gefühle spiegelten sich in ihrem jungen Gesicht wider.

John ging die Treppen hinunter zum Bahnsteig der District Line. Verstohlen sah er ein, zwei Mal zurück, um zu sehen, was sie nun tun würde. Als er sich dabei ertappte, musste er über sich selbst lachen. Auch wenn er seinen früheren Beruf hinter sich gelassen hatte, als er sich für den Dienst in der königlichen Wachtruppe entschieden hatte – einmal Psychologe, immer Psychologe.

 

Als in der U-Bahn die Haltestelle Aldgate East angekündigt wurde, schreckte er hoch. Jetzt war er zu weit gefahren. Er war wieder einmal in Gedanken versunken gewesen, so dass er es versäumt hatte, am Tower Hill auszusteigen. Nun musste er sich beeilen, um rechtzeitig zum Dienstbeginn um 22.00 Uhr auf seinem Posten zu sein. Beim Gedanken, zu spät zu kommen, begann er ein wenig zu schwitzen. Was würde das für einen Eindruck machen, wenn er nach wenigen Monaten bei der Truppe schon seinen Dienstbeginn versäumen würde! Für ein Mitglied der königlichen Yeoman Warders im Tower of London, allgemein Beefeater genannt, völlig undenkbar.

Ohnehin hatte er in dieser ersten Zeit gespürt, dass es in der 36-köpfigen Einheit einige gab, die ihm mit Zurückhaltung begegneten, andere mit einer gewissen Herablassung. Die meisten waren über zwanzig Jahre lang Mitglieder kämpfender Einheiten beim Heer oder der Luftwaffe gewesen und hatten an oft lebensgefährlichen Einsätzen teilgenommen. John hatte ebenfalls einen großen Teil seiner Dienstzeit an den Krisenherden der Welt verbracht. Die Armeehauptquartiere, in denen die Truppenbetreuung untergebracht war, waren jedoch streng abgeschirmt gewesen. So hatte er die Risiken des Soldatenlebens längst nicht so unmittelbar erleben müssen wie seine Kameraden im Einsatz.

 

Mit dem Gedanken an das amüsierte Gesicht der Torwache, sollte er wirklich nicht rechtzeitig kommen, sprang er aus der District Line und sprintete zum anderen Gleis hinüber. Dort war die Bahn in die Gegenrichtung gerade dabei, ihre Türen zu schließen. Gerade noch quetschte er sich hinein. Am Tower Hill angekommen legte er noch einmal einen Spurt zum Tor ein. Als er wenige Minuten vor Dienstbeginn schnaufend dort anlangte, grinste ihn der Wachhabende an.

„Mackenzie, du siehst ja ganz erhitzt aus. Du hast noch genau vier Minuten, um deine Uniform anzuziehen …“ John trabte zu seiner kleinen Wohnung am Tower Green. In Rekordzeit warf er sich die blau-rote Robe über, stülpte sich den hohen Hut auf den Kopf und eilte zum Wachhäuschen am White Tower im Zentrum der Festungsanlage. Zwei seiner Kollegen, die ebenfalls für die Nachtwache eingeteilt waren, kamen ihm entgegen und feixten. Er riss die Tür genau in dem Moment auf, als der Zapfenstreich des Trompeters wie jeden Tag um 22.00 Uhr erschallte.

„Das war aber knapp, Mackenzie. Nächstes Mal kommen Sie zeitiger. Und setzen Sie Ihre Kopfbedeckung ordentlich auf, die ist ja ganz schief“, schnarrte der diensthabende Offizier der Nachtwache Philipp Dunders. „Und dann lösen Sie Adams am Byward Tower ab.“ „Selbstverständlich, Sir.“ Verlegen rückte John die Mütze zurecht und begab sich nach draußen.

Sein Weg führte ihn an der Voliere der neun Raben des Towers vorbei. Obwohl er es eilig hatte, verhielt er doch kurz den Schritt und spähte hinein.

Die intelligenten Tiere hatten ihn von Beginn an fasziniert. Der Legende nach würde das Königreich verfallen, sollten keine Raben mehr den Tower bevölkern. So hatte Charles II verfügt, dass immer mindestens sechs Raben im Tower leben sollten. Sie waren seit Hunderten von Jahren wichtige Bewohner der Festung und genossen viel Aufmerksamkeit. Ihr Chefpfleger trug den ehrenvollen Titel des Ravenmasters.

George Campbell, dessen Familie wie Mackenzies Vater aus Schottland stammte, hatte diesen Posten seit bald zwanzig Jahren inne und füllte ihn mit Leib und Seele aus. John hatte in seinen ersten Monaten hier oft Zeit mit ihm verbracht und Campbell sehr zu schätzen gelernt. Üblicherweise hatte der Ravenmaster einen Assistenten, der ihm bei seinen Aufgaben zur Hand ging und ihn bei Bedarf auch vertreten konnte. Allerdings war dieser vor kurzem in Ruhestand gegangen und bisher war kein Nachfolger in Sicht. Daher genoss Campbell es, mit einem aufmerksamen Zuhörer seinen reichen Wissensschatz über die Tiere zu teilen.

Mittlerweile konnte John die Vögel recht gut voneinander unterscheiden. Ein junger Rabe namens Gworran hatte es ihm besonders angetan. Der Vogel hatte ein großes Talent, Geräusche nachzuahmen und begrüßte ihn mal mit dem Quietschen einer rostigen Tür, mal mit einer Trompetenfanfare.

 

Jetzt im Winter zogen sich die Vögel gewöhnlich bereits mit Einbruch der Dunkelheit an ihre Lieblingsplätze in der Voliere zurück. Als John ins Rabenhaus hineinsah, konnte er Gworran jedoch nicht auf seinem gewohnten Ast finden. Er entdeckte ihn schließlich in einer dunklen Ecke der Voliere, wo er mit stumpfem Blick auf dem Boden hockte. John ging in die Knie und versuchte, den Raben anzulocken. Gworran aber regte sich nicht. Da stimmt doch was nicht, ging es John durch den Kopf. Ich sollte George benachrichtigen.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es schon fünf nach zehn war und er hastete los. Vom Diensttelefon in der Wachstube aus konnte er George erreichen. Er trabte durch den Durchgang des Bloody Tower aus dem Innenhof hinaus. Als er mit wehenden Rockschößen in die Water Lane einbog, bemerkte er zu seiner Linken einen Beefeater in der blau-roten Uniform, der es ebenfalls sehr eilig hatte. Obwohl er die Gestalt nur von hinten auf dem kaum erleuchteten Weg sah, war John fast sicher, dass dies der Ravenmaster war. Auf sein Rufen erhielt er jedoch keine Antwort. Die Person hastete unbeirrt weiter in Richtung des Cradle Tower, wo sich der private Club der Beefeater befand.

John kam zum Schluss, dass er sich getäuscht hatte und setzte seinen Weg nach rechts zur Wachstube fort. Dort empfing ihn David Adams genervt.

„Mackenzie, es wäre dein Job gewesen, die Besuchergruppe rauszulassen. Zu allem Überfluss hab ich mich jetzt auch noch verzählt. Von den 43 Leuten, die ich zur Schlüsselzeremonie eingelassen habe, sind sechs noch auf Einladung von Campbell im Club, also müssten 37 hier sein. Aber es sind nur 36 da. Conners ist jetzt mit den Leuten im Vorraum und kontrolliert noch mal.“

„Verdammt, es sind wirklich nur 36, Adams“, platzte Conners herein. „Das gibt’s doch gar nicht, es muss noch einer drin sein.“ Adams funkelte John an. „Wenn du pünktlich gekommen wärst, hätte ich jetzt nicht diesen Mist an der Backe.“ Er riss den Hörer vom Diensttelefon.

„Sir, wir haben hier ein Problem. Einer der Zuschauer der Schlüsselzeremonie muss sich noch auf dem Gelände befinden –“ Weiter kam er nicht. Was aus dem Hörer drang, klang für seine Kollegen wie wütendes Gebell.

Michael Conners machte ein unglückliches Gesicht. „Ich kann mir das nicht erklären. Ich war doch die ganze Zeit bei ihnen, wie kann sich da einer abgesetzt haben?“, murmelte er John zu. Dieser versuchte gerade, sich zu erinnern, wie der Vorgehensplan in einem solchen Fall aussah.

In der zweimonatigen Ausbildung zum Beefeater wurde jedem Neuling für eine Vielzahl von Ausnahmesituationen beigebracht, wie zu reagieren war.

„Wir müssen die Gruppe hier behalten. Mit den Daten auf den Einlassscheinen können wir feststellen, wer fehlt“, fiel es ihm schließlich ein.

„Gut aufgepasst, Mackenzie“, unterbrach ihn Adams, der den Hörer aufgelegt hatte, spöttisch. „Wir beide kümmern uns darum und Conners stößt zum Suchtrupp, den Dunders gerade zusammenstellt.“ Er schüttelte den Kopf. „Seit wir während der Schlüsselzeremonie immer alle Toiletten verschlossen halten, hatten wir keinen solchen Vorfall mehr. Conners, du wirst dafür Rede und Antwort stehen müssen.“

Der unglückselige Beefeater zog den Kopf ein und verschwand nach draußen.

„Also los, Mackenzie, an die Arbeit. Hier ist die heutige Einlassliste. Ich besorge die Einlassscheine und du hakst ab, wer anwesend ist.“ Sie traten in den Vorraum, wo die Besuchergruppe mit zunehmendem Unmut wartete. Adams klatschte in die Hände und baute sich vor der Tür auf.

„Meine Herrschaften, bitte zeigen Sie nochmals die Einlassscheine vor. Wir müssen feststellen, wer aus der Gruppe fehlt. Wir bedauern die Umstände, müssen Sie aber noch zum Bleiben auffordern.“

„Bedauern?! Sehr wohl werden Sie das noch bedauern. Ich habe eine wichtige Verabredung und bestehe darauf, dass Sie mich und meine Mitarbeiter auf der Stelle hinauslassen. Wenn Sie so nachlässig sind, dass mitten in dieser Festung Menschen verloren gehen können – und das bei einer Veranstaltung von einer Viertelstunde – haben Sie ein echtes Sicherheitsproblem. Aber dafür können wir schließlich nichts. Also aus dem Weg.“

John sah, dass Adams während dieser in einwandfreiem Englisch, aber mit hörbarem deutschen Akzent vorgetragenen Rede die Röte in das Gesicht stieg und er sich ein wenig aufplusterte. Er befürchtete, dass die Erwiderung seines Kollegen nicht geeignet sein würde, die Situation zu beruhigen. Also legte er eine Hand warnend auf Adams’ Arm und schlug halblaut vor, „Vielleicht möchtest du die Liste kontrollieren, ich übernehme das Einsammeln der Scheine.“

„Na viel Glück dabei.“ Adams nahm die Liste und verzog sich hinter den Tisch der Wachen.

John wandte sich dem renitenten Besucher zu und sprach ihn freundlich an – auf Deutsch. „Sir, ich höre, Sie haben einen wichtigen Termin?“

Der Mann stutzte und antwortete dann schon deutlich friedfertiger.

„So ist es. Als Finanzchef eines führenden deutschen Automobilherstellers“ – er wies auf das Emblem eine Nobelmarke, das er am Revers seines Jacketts trug – „gehöre ich zu einer Wirtschaftsdelegation, die sich heute Abend noch mit Ihrem Handelsminister treffen wird. Genauer gesagt, sollten wir in diesem Moment bereits im Ritz sein.“ John gab sich Mühe, beeindruckt zu wirken.

„In diesem Fall kann ich Ihre Eile gut verstehen. Umso mehr sind wir Ihnen zu Dank verpflichtet, dass Sie unsere Sicherheitskräfte in dieser Situation unterstützen. Der Minister wird dies zu schätzen wissen.“

Sein Gegenüber warf ihm einen prüfenden Blick zu. Dann verzog er den Mund zu einem halben Lächeln und wandte sich ab, um seinen Mitarbeitern Anweisungen zu erteilen. Einer seiner Untergebenen zog eilfertig den Einlassschein für die fünfköpfige Gruppe heraus und überreichte ihn John, der sich feierlich bedankte.

Die Umstehenden, die die Szene verfolgt hatten, kramten nun ebenfalls in ihren Taschen nach den Scheinen und drückten sie John in die Hand. Adams nickte ihm zu, als er den Packen entgegennahm und begann, die Liste zu kontrollieren.

In der Zwischenzeit wandte sich John erneut an die Besucher. War irgendjemandem etwas aufgefallen? Hatte einer von ihnen beobachtet, wie sich eine Person von der Gruppe entfernte? Er sah in ratlose Gesichter.Kein Wunder, dachte John bei sich, die Schlüsselzeremonie war ein fesselndes Ereignis und so war die Aufmerksamkeit der Zuschauer ganz auf das Geschehen fixiert.

Schnell hatte Adams den Namen der Vermissten herausgefunden: Julia Feldmann, 178 High Holborn, London WC1.

„Dort sind Wohnheime der Universität, vielleicht ist sie eine Austauschstudentin“, spekulierte er gerade, als im Nebenraum die Tür aufgerissen wurde.

„Adams, Mackenzie! Wir haben sie gefunden.“ Conners sah grün um die Nase aus, als er seine Kollegen hektisch herauswinkte.

„Können wir die Leute dann gehen lassen?“ wollte John wissen. „Ich fürchte nicht. Das Mädchen ist tot. Offensichtlich –“ Conners rang nach Luft, „– ist sie ermordet worden.“

 

Kapitel 2

 

Während der nächsten Stunden kam John sich vor, als führe er Karussell. Er war zur Betreuung der Touristengruppe abkommandiert worden, bis die Metropolitan Police sie vernehmen konnte. Durch die Fenster drang das Flackern des Blaulichts, Stimmen und Geräusche ließen hektische Betriebsamkeit spüren.

Die Stimmung in der Gruppe schwankte zwischen Sensationslust – schließlich waren sie bei dem Ereignis, das die Schlagzeilen der nächsten Tage beherrschen würde, sozusagen live dabei gewesen – und dem Unwillen, in diesem beengten Raum so lange eingesperrt zu sein. John organisierte Tee und Gebäck, beschwichtigte hier und tröstete dort.

Der Deutsche – Mr. Wichtig nannte ihn John bei sich – hatte sich offensichtlich mit der Situation abgefunden und freute sich wohl schon auf die Geschichten, die er zu Hause zum Besten geben würde. Auf seine Nachfrage erklärte ihm John, dass er für einige Jahre in Deutschland stationiert gewesen sei.

„Wie kommt man von der Armee zu diesem Beefeater-Job?“

Diese Frage hatte John bei den Touristen-Führungen durch den Tower, die zu seinen Aufgaben zählten, schon unzählige Male beantwortet.

„Nach mindestens 22 Jahren beim Militär und nach Erreichen eines bestimmten Dienstgrades gibt es die Möglichkeit, sich hier zu bewerben. Allerdings haben nur wenige das Glück, genommen zu werden, da dies ein Job auf Lebenszeit ist und daher nur selten eine der 36 Stellen frei wird –“ Weiter kam er nicht, da mehrere Uniformierte der Londoner Polizei eintraten.

„Wir übernehmen jetzt. Sie werden draußen erwartet.“ Erleichtert verabschiedete sich John mit einem Winken von der Besuchergruppe und trat in die kalte Nachtluft hinaus. Er atmete erst einmal tief durch. Nach dem überhitzten Raum tat die beißend kalte Winterluft gut. Doch die Verschnaufpause sollte nur von kurzer Dauer sein. Ein weiterer Uniformierter trat an ihn heran.

„Sind Sie Mackenzie? Der Superintendent möchte Sie sprechen.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und ging voran. John blieb nur, ihm zu folgen. Die Szene um ihn herum kam ihm vollkommen irreal vor. Alle verfügbaren Scheinwerfer waren eingeschaltet, um die Water Lane, den nach Sonnenuntergang sonst eher düsteren Weg entlang des Festungswalles, taghell auszuleuchten. Anstatt der sonst üblichen Touristenhorden aus aller Herren Länder hatte heute Nacht die Polizei diesen Teil des Towers schier überschwemmt.

Die größte Menschentraube befand sich in der mit einem niedrigen Geländer abgesperrten Nische unter dem St. Thomas Tower, die zum Verrätertor führte. Von der Außenseite war das Tor nur per Boot erreichbar. Auf diesem Weg waren in früheren Jahrhunderten Gefangene direkt von der Themse aus in die Festung gebracht worden.

Nur bei niedrigem Gezeitenstand der Themse war die tief liegende Nische, die von der Festungsseite aus über eine Steintreppe erreichbar war, trockenen Fußes begehbar. Ein flüchtiger Blick sagte John, dass der gegenwärtige Niedrigwasserstand bald beendet sein würde. Durch das Torgitter schwappten bereits erste kleine Wellen herein.

Vor der Wachstube des Cradle Tower stoppte der Uniformierte und öffnete ihm die Tür.

„Bitte warten Sie hier. Der Superintendent wird gleich bei Ihnen sein.“ John setzte sich auf eine Fensterbank in der Wachstube und genoss für einen Augenblick die Stille.

Unvermittelt fiel ihm der Rabe Gworran wieder ein. Ein Diensttelefon war in Griffweite – sollte er dem Ravenmaster doch noch Bescheid geben? Unentschlossen nahm er den Hörer zur Hand. Da öffnete sich die Tür zum Nebenraum.

Der Mann, der eintrat, erschien wie aus dem Ei gepellt. Schuhe, Anzug, Mantel – alles schrie einem geradezu Savile Row entgegen. Mit wenigen Schritten war er bei John, nahm ihm den Hörer aus der Hand und legte ihn mit Nachdruck auf die Gabel.

„Keine Telefonate. Ich brauche deine Zeugenaussage. Jetzt.“

„Ich freue mich auch sehr über unser Wiedersehen, Simon. Wie ich sehe, bist du deinem Schneider treu geblieben. Auch dein Charme ist ganz der alte.“

Sein eisig-höflicher Tonfall gab keinen Hinweis darauf, was in diesem Moment in John Mackenzie vorging. Tatsächlich hätte er Superintendent Simon Whittington – in einem Anfall regressiv-infantiler Tendenzen, wie er sich selbst innerlich tadelte – am liebsten den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt.

 

„Oh, was für ein hübscher Junge!“ Das begeisterte Gurren seiner Verwandten, wenn sie seinen jüngeren Cousin Simon umflatterten, hatte John immer noch im Ohr.

Simon hatte von Beginn an ein bemerkenswertes Talent gehabt, die Menschen in seiner Umgebung, vor allem die weiblichen Geschlechts, um den Finger zu wickeln. Gleichzeitig schaffte er es immer wieder, seine Missetaten anderen in die Schuhe zu schieben.

„Buhuhu, John hat meinem Lieblingsteddy den Kopf abgerissen.“ Mit solchen und ähnlichen Klagen war er theatralisch weinend zu Johns Mutter gelaufen, nachdem er in einem seiner Anfälle von Jähzorn wieder etwas zerstört hatte.

Platzte John oder einem seiner Geschwister einmal der Kragen, hieß es stets, sie müssten doch vernünftig sein, ihr Cousin mache das doch nicht mit Absicht. Zudem habe es der Junge doch schwer mit seiner kranken Mutter und dem Vater, der kaum einmal zu Hause sei. Da sollte man doch etwas großzügiger mit ihm sein.

Tante Vivian, die Schwester von Johns Mutter, war immer von zarter Gesundheit gewesen und hatte viel Zeit in Krankenhäusern verbringen müssen. Dort hatte sie Charles Richard Whittington kennengelernt, der nicht nur ein engagierter Arzt war, sondern dazu noch aus derselben Familie stammte wie der legendäre Bürgermeister der Stadt London im 15. Jahrhundert – wie er auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit einfließen ließ. Vivian hatte wenige Jahre nach ihrer Heirat feststellen müssen, dass sich der vielversprechende junge Mann zunehmend in einen vom Ehrgeiz zerfressenen Workaholic verwandelte, der immer weniger in ihrem Heim in Kew vor den Toren Londons anwesend war.

Zu ihrer angegriffenen Gesundheit kamen Depressionen. So hatte sie das Angebot ihrer Schwester, sich um ihren Sprössling zu kümmern, dankbar angenommen. Johns Vater, Kurator im Londoner Naturhistorischen Museum mit einer Leidenschaft für Dinosaurierknochen, hatte nichts dagegen gehabt, wenn sein Neffe die Wochenenden und Schulferien bei ihnen verbrachte. So hatten John und seine beiden Geschwister zähneknirschend mit dem kleinen Tyrannen leben müssen.

Was John am meisten an seinem Cousin hasste, war dessen Vorliebe dafür, anderen nachzuspionieren. Es war schon für den Eton-Schüler Simon Whittington ein Hauptspaß gewesen, unangenehme Dinge über seine Mitschüler herauszufinden und sie damit unter Druck zu setzen. So hatte er es bereits damals geschafft, sich ein recht angenehmes Leben zu machen, in dem viele seiner Pflichten von seinen geplagten Mitschülern übernommen wurden. Mehr noch als das genoss Simon jedoch das Gefühl der Macht über andere und er kostete es weidlich aus.

 

In den Jahren seit John zum Militär gegangen war, waren sie sich nur noch wenige Male bei Familienfeiern begegnet. Hier war Simon immer noch der Star, der nach zahllosen Affären durch seine Heirat mit Patricia Armsworth, einer entfernten Cousine der Herzogin von York und seine steile Karriere bei der Kriminalpolizei für Gesprächsstoff sorgte.

„Er hat ein echtes Gespür dafür, wenn jemand versucht, etwas zu verbergen und er schafft es auch, Geständnisse zu bekommen“, gestand ihm Johns ältere Schwester Maggie widerwillig zu. Als Staatsanwältin kreuzten sich ihre Wege gelegentlich mit denen des Superintendenten. „Dennoch: Aus dem kleinen Monster von damals hat sich ein intriganter und machthungriger Widerling entwickelt. Ein echtes Rabenaas eben.“

 

Und nun dieses Wiedersehen. Die beiden Männer starrten sich einen Moment wortlos an. Dann erwiderte der Superintendent mit einem ironischen Lächeln, „Wer hätte soviel modischen Verstand von jemandem erwartet, der sein gesamtes berufliches Leben in einer zweckmäßigen Uniform verbracht hat, die ihm der britische Steuerzahler zur Verfügung gestellt hat?“

Er musterte John betont von oben bis unten.

„Ein Job, der das Tragen dieses lächerlichen Gewandes erfordert, wäre für mich unvorstellbar. Aber für dich war es sicher ein Aufstieg – vom Seelenklempner zum Bewacher der Kronjuwelen.“ Damit drehte er sich um und winkte John, ihm ins Nebenzimmer zu folgen.

John unterdrückte erfolgreich den Impuls, seinem Cousin den nächstbesten harten Gegenstand an den Kopf zu werfen und stampfte hinterher.

 

Der Superintendent setzte sich an einen Tisch und bedeutete John, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Ein Constable, der an der Wand saß, einen Block in der Hand, nickte John zu.

„Du kannst dir sicher vorstellen, dass es ein beträchtliches öffentliches Interesse an einer schnellen Aufklärung dieses Falles gibt. Ein gewaltsamer Tod mitten in einem unserer nationalen Wahrzeichen – diese Geschichte wird über unsere Landesgrenzen hinaus für Aufsehen sorgen. Ich bin auf ausdrücklichen Wunsch von höchster Ebene mit den Ermittlungen betraut.“ Selbstgefällig strich Whittington seine Seidenkrawatte glatt. Dann beugte er sich über den Tisch und fixierte John mit einem eindringlichen Blick.

„Also, was weißt du darüber?“

John fühlte sich unversehens wie der Hauptverdächtige eines Kapitalverbrechens.

„Ich weiß fast nichts. Adams und ich haben anhand der Einlassliste den Namen und die Adresse der Toten herausgefunden –“ Ungeduldig winkte Whittington ab.

„Das wissen wir längst. Sie ist eine Austauschstudentin aus Deutschland, wir haben ihre Papiere bei ihr gefunden. Aber du musst doch etwas beobachtet haben. Nach meinen Informationen war dein Dienstbeginn um 22.00 Uhr. Der diensthabende Offizier hat mich darüber unterrichtet, dass du dich eine Minute nach zehn vom Wachhäuschen am White Tower auf den Weg zu deinem Dienst im Byward Tower gemacht hast. Damit musst du die Besuchergruppe passiert haben, die nach dem Ende der Schlüsselzeremonie durch die Water Lane hinausging.“

„Äh …“ John spürte, wie er errötete. „Tatsächlich habe ich kurz nach den Raben gesehen. Während ich beim Gehege war, muss die Gruppe vorbeigekommen sein. Ich … habe nicht aufgepasst.“

„Was hattest du bei den Raben verloren? Das fällt doch gar nicht in deinen Aufgabenbereich, oder doch?“

„Nein“, gestand John. „Aber ich habe mich mit dem Ravenmaster angefreundet und die Tiere interessieren mich. Ich schaue oft bei ihnen vorbei, wenn ich frei habe.“

Messerscharf kam der Einwand, „Du hattest aber nicht frei, sondern hattest deinen Wachdienst anzutreten.“

John versuchte, sich zu verteidigen.

„Das Gehege liegt genau auf dem Weg und zudem hätte es nicht mal eine Minute gedauert. Aber einer der Raben, Gworran, er kann Geräusche wirklich fantastisch nachahmen und ist ein sehr gelehriges Tier –“ John bemerkte den mörderischen Blick seines Cousins. „Also, Gworran wirkte sehr seltsam, er sah krank aus. Deshalb war ich ein wenig länger dort und habe überlegt, ob ich George Campbell, den Ravenmaster, benachrichtigen soll. Als ich bemerkte, dass es schon fünf nach zehn war, habe ich entschieden, ihn von der Wachstube anzurufen und bin losgelaufen. Als ich dort ankam, hatte Adams schon festgestellt, dass eine Person aus der Gruppe fehlte. Ab dem Zeitpunkt bin ich aus der Wachstube im Byward Tower nicht herausgekommen, weil ich Befehl hatte, bei der Gruppe zu bleiben.“ John atmete tief aus.

Whittington runzelte unzufrieden die Stirn.

„Dann erzähl mir etwas über die Touristengruppe. Gab es da jemanden, der dir aufgefallen ist?“

John überlegte fieberhaft. Dann schilderte er seinem Cousin die wenigen Eindrücke, die er in dem Durcheinander gewonnen hatte. Als er von Mr. Wichtig und der Handelsdelegation erzählte, erhellte sich Whittingtons Gesicht.

„Deutsche, soso. Vielleicht gibt es da eine Verbindung. Na, das finden wir schon heraus.“ Abrupt stand er auf. „Du wirst dir jetzt die Leiche ansehen. Ich will wissen, ob du das Mädchen schon einmal gesehen hast.“

 

Schweigend gingen sie den Weg zurück bis zum Verrätertor. Die Menge der Uniformierten teilte sich bei der Ankunft des Superintendenten respektvoll.

„Sir, wir mussten die Leiche vom Tatort entfernen. Der Wasserspiegel in der Nische stieg zu schnell. Wir bringen sie dann ins Labor der Spurensicherung, wenn Sie einverstanden sind.“

„Einen Moment noch. Ich möchte, dass Mr. Mackenzie hier noch einen Blick auf die Tote wirft.“

Als John im grellen Scheinwerferlicht wenige Schritte von der Toten entfernt stand, nahm er ein allzu vertrautes Brausen, Klingeln, Kreischen wahr. Diesen entsetzlichen Lärm in seinem Kopf, der ihm über Monate das Leben zur Hölle gemacht hatte. Nein!, schrie es in ihm. Alles, nur das nicht.

Durch den Lärm drang die Stimme seines Cousins an sein Ohr, der ihn scharf beobachtete.

„Ist dir die Tote bekannt, John?“

John schüttelte stumm den Kopf. Nein, er war sich sicher, diese junge Frau mit den glatten blonden Haaren, deren Finger sich im Todeskampf in den braunen Schal verkrallt hatten, der unbarmherzig eng und immer enger gezogen worden war, noch nie gesehen zu haben.

Er atmete bewusst ein und wieder aus und zwang sich, sich auf Einzelheiten zu konzentrieren. Braune Winterstiefel, Jeans und eine wattierte Jacke. Soweit sich das noch beurteilen ließ, ebenmäßige Gesichtszüge und sorgfältig gezupfte Augenbrauen. Als sein Blick weiterwanderte, bemerkte er, dass die Schnalle des kleinen Rucksacks, der neben ihr lag, offen stand. Ob sie ihn wohl gerade geöffnet hatte, als sie angegriffen worden war? Oder hatte der Mörder etwas darin gesucht und dann vergessen, ihn zu schließen? Vielleicht hatte die Polizei ihn auch auf der Suche nach den Papieren der Toten geöffnet.

John wurde bewusst, dass die meisten Umstehenden ihn anstarrten. Er räusperte sich.

„Tut mir leid, Simon, mir ist diese Frau völlig unbekannt.“ Whittington sah ihn noch einen Moment lang misstrauisch an, dann wandte er sich zu einem Mann in Zivil um. Nach einem kurzen Wortwechsel kam er auf John zu, nahm ihn beim Arm und führte ihn ein paar Schritte zur Seite.

„Wir werden jetzt versuchen, durch die Befragung der Besucher und die Aufzeichnungen der Überwachungskameras den Todeszeitpunkt genauer zu bestimmen. Persönlich halte ich es für wahrscheinlich, dass die Tat beim Verlassen des Towers begangen wurde. Ob sie auf dem Weg erwürgt wurde und dann über das Geländer in die Nische hinunterbefördert wurde oder sich Opfer und Täter unten in der Nische befanden, wird sich herausstellen. Tatsache ist, dass der Täter ein hohes Risiko einging. Von der Water Lane aus hätte er leicht beobachtet werden können.“ Er trat einen Schritt näher an John heran.

„Ist es nicht höchst … seltsam, dass die Wachablösung, deren Weg exakt am Verrätertor vorbeiführt, genau an diesem Abend einige Minuten später erfolgte als sonst, weil der Wachhabende angeblich nach einem“ – er spie das Wort geradezu aus – „Vogel sehen musste.“ Nun kam er ganz nahe heran und feuerte eine letzte Breitseite ab.

„Ist dir schon in den Sinn gekommen, dass das Mädchen noch am Leben sein könnte, wenn du deinen Dienstpflichten nachgekommen wärst?“

Trotz seines grimmigen Tons war ein triumphierendes Funkeln in seinen Augen, als er John mit den Worten „Du wirst dich zu unserer Verfügung halten“ stehen ließ.

Kapitel 3

 

Als John am nächsten Morgen vom Wecker aus einem rastlosen Schlaf gerissen wurde, erinnerte ihn das Klingeln in seinen Ohren blitzartig an die Geschehnisse der Nacht.

Der Gedanke, dass er das Mädchen vielleicht vor ihrem Angreifer hätte retten können, hätte er nur rechtzeitig seinen Weg am Verrätertor vorbei zum Byward Tower angetreten, war ihm unerträglich. Er schleppte sich in die Küche und warf einen Blick auf seinen Dienstplan. Die nächsten beiden Tage war er ganztägig für die Touristenführungen durch den Tower eingeteilt. Von morgens bis abends im Stundenrhythmus Gruppen durch die Festung zu führen, war ohnehin anstrengend, aber wie er das in seinem Zustand schaffen sollte, war ihm ein Rätsel.

Vielleicht wusste Doc Hunter Rat. Die Gemeinschaft der Beefeater, die mit ihren Familien im Tower lebte, verfügte neben einem eigenen Priester auch über einen hauseigenen Arzt, der gleich neben seiner Wohnung kleine Praxisräume hatte. John hatte den alten Herrn außer zur Einstellungsuntersuchung noch nicht konsultiert, hatte ihn dort aber als ruhigen und gründlichen Mann kennen gelernt.

 

Als John läutete, öffnete ihm Dr. Hunter persönlich. Mit einem Blick auf die Frühstückskrümel auf dem Pullover des Arztes entschuldigte sich John für sein frühes Erscheinen.

„Keine Sorge, Mackenzie. Ich bin sicher, Sie haben einen triftigen Grund für Ihr Kommen.“ Der Doktor winkte ihn herein. „Setzen Sie sich und erzählen Sie, was los ist.“

Verkehrte Welt, dachte John, während er in den Besuchersessel sank. Wie oft hatte er während seiner Dienstjahre mit ähnlichen Worten Ratsuchende begrüßt.

„Doc, mein Tinnitus ist wieder da. Sie wissen doch, dass ich in meinem letzten Jahr bei der Armee einen Hörsturz hatte und danach sehr lange unter diesen Ohrgeräuschen litt?“

Hunter sah ihn aufmerksam an.

„Natürlich, Mackenzie. Sie sagten mir bei der Einstellungsuntersuchung, dass der Stress Ihrer Tätigkeit der Auslöser dafür war und Sie deshalb entschieden, Ihren Posten aufzugeben.“ John nickte und lehnte sich im Sessel zurück.

„In den letzten Jahren engte sich mein Aufgabengebiet immer mehr ein. Während ich früher Ansprechpartner bei allen möglichen Problemen der Armeeangehörigen war, von Mobbing über Schlafstörungen und Drogenmissbrauch bis zu Beziehungsproblemen, wurde ich in den letzten paar Jahren fast ausschließlich in der Arbeit mit traumatisierten Soldaten eingesetzt. Als die Anti-Terror-Einsätze unserer Streitkräfte zunahmen, gab es immer mehr Männer und Frauen, die bei den Einsätzen Unvorstellbares erlebten. Trotz aller Therapieverfahren, in denen wir ausgebildet wurden, trotz unseres Einsatzes rund um die Uhr, war alles, was wir tun konnten nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“

John holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.

„Ich spürte, wie die Schicksale der meist jungen Leute mich immer mehr belasteten. Dazu kam die Hilflosigkeit, weil ich nicht mehr für sie tun konnte. Als ich schließlich zu zweifeln begann, ob unsere militärischen Einsätze wirklich immer sinnvoll sind, wusste ich, ich kann meine Arbeit so nicht weitermachen. Der Hörsturz hat mir klargemacht, dass ich den Dienst schnellstmöglich quittieren muss, um einen Neuanfang zu machen.“

Der Arzt öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber John winkte ab.

„Ich hatte ja auch großes Glück. Diese Stelle zu bekommen, wieder in England sein zu können, meine Familie wieder öfter als zweimal im Jahr zu sehen … Mir ging es gut, die ersten Monate hier. Aber dieser Todesfall gestern Nacht –“

„Mackenzie, hören Sie mir zu“, unterbrach der Arzt ihn sanft, aber nachdrücklich.

„Ich habe Ihre Personalakte gesehen und weiß, dass Sie einen guten und wichtigen Job gemacht haben. Ihre Vorgesetzten hielten große Stücke auf Sie. Aber Sie sind nun mal ein Mensch – und wie bei jedem Menschen sind Ihre Möglichkeiten einfach begrenzt. Ich verstehe, dass das Leiden der anderen irgendwann einfach zu viel wurde. Und nun glaubten Sie, im Tower einen sicheren Hafen gefunden zu haben, wo es endlich nicht mehr um Leben und Tod geht. Da ist es doch nur menschlich, wenn dieser gewaltsame Tod in unserer Mitte Sie aus der Fassung bringt.“

John schüttelte den Kopf.

„Das allein ist es nicht. Aber, so wie es aussieht, habe ich vielleicht Mitschuld am Tod der jungen Frau.“

 

Bass erstaunt sah der Arzt ihn an. John schilderte ihm die Geschehnisse des Vorabends. Dabei fiel ihm ein, dass er dem Superintendenten gar nichts von der Gestalt erzählt hatte, die er durch die Water Lane davoneilen gesehen hatte. Schließlich langte er bei der Vermutung Whittingtons an, die Studentin wäre auf dem Weg zum Ausgang getötet worden.

„Verstehen Sie, Doc, es muss kurz nach 22.00 Uhr passiert sein, als die Gruppe nach dem Zapfenstreich hinausging. Wäre ich schnurstracks zu meinem Posten gegangen, hätte ich den Tatort nur kurz nach ihnen passiert und hätte den Angriff vielleicht verhindern können.“

„Warten Sie mal. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es so hätte ablaufen können“, wandte der Arzt kopfschüttelnd ein.

„Wieso nicht? Wenn das Mädchen sich am Ende der Gruppe befand, während alle dem Ausgang zustrebten, wäre dies doch für den Mörder der geeignete Moment gewesen, zuzuschlagen.“

„Unsinn. Denken Sie doch nach: Der Wachhabende, der die Gruppe während der Schlüsselzeremonie begleitet, hat strengste Order, beim Verlassen des Towers stets am Ende der Gruppe zu gehen, damit keiner zurückbleibt.“

Aufgeregt sprang John aus dem Sessel.

„Aber natürlich, Sie haben recht! Dass ich daran nicht gleich gedacht habe. Wenn Conners vorschriftsmäßig beim Hinausgehen die Nachhut gebildet hat, kann der Mord gar nicht zu diesem Zeitpunkt passiert sein! Ich muss sofort mit ihm reden. Tausend Dank, Doc.“ Schon wollte er zur Tür hinaus. Doch der Doktor rief ihn energisch zurück.

„Stopp! Junger Mann, Sie wissen, dass wir etwas gegen den Tinnitus unternehmen müssen. Ansonsten laufen Sie Gefahr, dass das Ohrklingeln Sie wieder über Monate begleitet. Also bekommen Sie jetzt erstmal eine Infusion und dann schreibe ich Sie für die nächsten Tage krank.“

John wusste, dass der Arzt recht hatte und gab sich geschlagen.

 

Eine Stunde später lauschte er ungeduldig, wie Michael Conners am Tower Green, dem Hinrichtungsplatz innerhalb der Festungsmauern, einer dick vermummten Besucherschar die Geschichte von Lady Jane Grey, der ‚Neuntagekönigin‘ Englands erzählte. Trotz seiner auffällig fahlen Gesichtsfarbe und den tiefen Augenringen schien der Beefeater ganz in seinem Element. Gefesselt lauschte die Besucherschar seinem Vortrag.

„Ebenso wie vor ihr zwei der Frauen von Heinrich dem Achten, Anne Boleyn und Catherine Howard, fand auch die erst 17-jährige Jane Grey an dieser Stelle den Tod. Jane war eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Schon in jungen Jahren war sie vielseitig interessiert und gebildet und sprach unter anderem Latein und Griechisch. Als Urenkelin Heinrichs des Siebten stand sie in der Thronfolge nur an vierter Stelle, dennoch wollte ihr machthungriger Vater, der Herzog von Suffolk, seine jugendliche Tochter unbedingt auf dem englischen Thron sehen. Dazu wurde sie, gerade 15-jährig, gegen ihren Willen mit Guilford Dudley, dem Spross einer anderen einflussreichen Familie vermählt.

Just zwei Wochen später starb König Edward mit nur 15 Jahren. Janes Vater und ihr Schwiegervater, der Edwards engster Berater gewesen war, wollten die Thronfolge durch die älteste Tochter Heinrichs des Achten, die fanatisch katholische Mary Tudor, die als Bloody Mary in die Geschichte einging, um jeden Preis verhindern. Sie ließen Jane wenige Tage nach Edwards Tod hastig und ohne großes Zeremoniell hier im Tower zur Königin krönen. Von Jane wissen wir, dass sie diese Ehre nur auf immensen Druck ihrer Familie annahm. Sie selbst wünschte nicht, die englische Krone zu tragen.

In jenem turbulenten Juli 1553 kam es zwischen Janes protestantischen Anhängern und Marys Gefolgsleuten zu erbitterten Kämpfen. Mary Tudor gewann den Machtkampf sehr schnell und ließ Jane Grey und ihren Ehemann Guilford Dudley nach ihrer Krönung wegen Hochverrats verhaften und als Gefangene in den Tower bringen. Mary stellte Jane in Aussicht, sie könne der Todesstrafe entgehen, wenn sie sich zum katholischen Glauben bekenne. Als Jane jedoch auch nach mehreren Monaten der Haft standhaft blieb und Mary sie zunehmend als machtpolitisches Risiko ansah, befahl sie die Enthauptung von Jane Grey und ihrem Ehemann.

Was für Jane sehr bitter gewesen sein muss: Ihre Familie, die sie noch kurz zuvor unbedingt auf den Thron setzen wollte, unternahm nichts, um das Mädchen zu retten. Am 12. Februar 1554 wurde das Urteil vollstreckt: Auf ihrem Weg hierher zum Schafott musste Lady Jane noch den Anblick des enthaupteten Leichnams ihres Gatten ertragen, der auf einem Karren an ihr vorbeirumpelte. Nach Augenzeugenberichten war die junge Frau, die für ganze neun Tage die Königin von England gewesen war, trotz allem sehr gefasst, als sie das Schafott betrat. Nachdem sie einen Psalm gebetet hatte, vollzog der Henker seine Aufgabe. Ihre letzte Ruhestätte fanden Jane und Guilford hier vereint in unserer Kapelle St. Peter ad Vincula.“

 

Während Michael Conners am Ende der Führung noch für ein paar Fotos posierte, musste John sich beherrschen, seinen Kollegen nicht einfach wegzuzerren. Endlich gingen die letzten Touristen zufrieden schnatternd davon.

„Michael, können wir kurz reden? Es ist wichtig.“

Conners schien vor seinen Augen ein wenig zusammenzusacken, als wäre seine Energie mit dem Ende der Führung aufgebraucht.

„Natürlich, John. Ich habe jetzt eine halbe Stunde frei und könnte eine Tasse Tee zum Aufwärmen gebrauchen.“

John lud ihn in seine Wohnung ein, die nur ein paar Schritte entfernt war. Als beide über dampfenden Tassen in Johns kleiner Küche saßen, wandte sich John eindringlich an seinen Kollegen.

„Michael, als ihr gestern nach dem Zapfenstreich den Innenhof des Towers verlassen habt und durch die Water Lane hinausgegangen seid – hast du dich da am Ende der Gruppe befunden?“

Gequält sah Conners ihn an.

„John, ich schwör’s dir, als wir hinausgegangen sind, war ich ständig als Nachhut hinter der Gruppe. Es war exakt so, wie es an jedem Abend war. Naja, nicht ganz, weil George Campbell mit einer kleinen Besuchergruppe ebenfalls da war. Nachdem George mir erklärt hatte, dass das irgendwelche VIPs waren, haben wir die Herren vorgelassen, als sich das Geschehen der Schlüsselzeremonie von der Water Lane in den Innenhof verlagert hat. Nach dem Zapfenstreich hat George die Herren direkt in den Club gebracht, ist also nicht mit mir und meiner Truppe zum Ausgang gegangen. Ich sage dir, ich habe keine Ahnung, wann der Mord passiert sein kann, aber auf jeden Fall war es nicht während des Hinausgehens.“

Conners rieb sich müde das Gesicht. „Das habe ich auch diesem geschniegelten Polizisten gesagt, aber der hat mir sowieso kein Wort geglaubt. Der Kerl hat mich behandelt wie einen Schwerverbrecher.“

Ein freudloses Lachen von John ließ ihn stutzen.

„Das war sicher Superintendent Whittington, nicht wahr?“

Conners nickte erstaunt.

„Kennst du den Widerling etwa?“

„Das kann man leider sagen. Er ist mein Cousin.“

 

Nachdem John sich von seinem Kollegen verabschiedet hatte, schenkte er sich eine zweite Tasse Tee ein und ging zum Fenster. Während er seinen Blick über den Innenhof des Towers schweifen ließ, merkte er, wie der Druck auf seiner Brust nachließ. Er glaubte Michael Conners und damit war es unmöglich, dass der Mord nach dem Zapfenstreich passiert war. Whittington lag mit seiner Vermutung falsch und er selbst hätte die Tat auf keinen Fall verhindern können. Als er Punkt 22.00 Uhr das Wachhäuschen am White Tower betreten hatte, musste die junge Frau bereits tot gewesen sein.

 

„Mr. Mackenzie? Superintendent Whittington erwartet Sie um elf Uhr im Büro des Kommandanten zu einer zweiten Vernehmung.“

Mit einem grimmigen Lächeln legte John den Telefonhörer auf. Simon würde sich wundern. Diesmal würde er ihm anders entgegentreten. Aber erst einmal wollte er nach Gworran sehen.

Im Hof waren die üblichen Touristenscharen unterwegs. Die Spurensicherer mussten die ganze Nacht durchgearbeitet haben, um ihre Arbeit soweit abzuschließen, dass der Tower heute bereits wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnte.

 

Der Rabe hockte allein in der Voliere, seine Gefährten verbrachten wie immer den Tag draußen auf dem Gelände des Towers. Gestutzte Flügel verhinderten, dass sie wegflogen. Aus dem Schuppen, der an die Voliere angebaut war, drangen Geräusche. John klopfte an die Holztür und ging hinein. George Campbell war dabei, die Futternäpfe der Raben zu reinigen.

„Morgen, John. Ich warte gerade auf den Tierarzt. Gworran ist krank.“

Sogleich überfiel John wieder ein schlechtes Gewissen.

„Das ist mir gestern Abend schon aufgefallen. Ich wollte dir Bescheid geben –“

„Wann war das? Hast du versucht, mich telefonisch zu erreichen?“, fiel ihm Campbell in ungewohnt scharfem Ton ins Wort.

„Nein, ich war gerade auf dem Weg zum Wachdienst. Ich wollte dich aus dem Byward Tower anrufen, aber bei dem ganzen Wirbel gestern Nacht bekam ich keine Gelegenheit mehr dazu. Es tut mir leid.“

Der Ravenmaster nickte, nun wieder freundlicher.

„Mach dir keine Sorgen, John. Der Tierarzt wird schon herausfinden, was ihm fehlt. Wahrscheinlich hat er wieder mal etwas Unverdauliches gefressen.“ Er wandte sich wieder den Fressnäpfen zu.

„Willst du mir helfen? Ich muss noch die Voliere säubern und das Futter herrichten.“

Bereitwillig streifte sich John eine der Schürzen über, die an einem Nagel hingen und begann, Näpfe zu schrubben.

„Eigentlich war es gut, dass du gestern nicht bei mir angerufen hast. Ich war ohnehin mit Richard im Club und so hättest du nur Marcia aus dem Schlaf gerissen“, meinte Campbell.

„Ah ja, Adams hat gestern erwähnt, dass dein Sohn ein paar Leute in den Club eingeladen hatte“, fiel es John ein.

Der Ravenmaster lächelte stolz.

„Richard wollte seinen Parteifreunden seinen alten Vater, den Beefeater, vorführen. Sein Wahlkampfmanager sagt, bei den Wahlen wird Richard der Bezug zur britischen Tradition gut zu Gesicht stehen. Und ich unterstütze ihn natürlich, so gut ich kann. Marcia hätte auch dabei sein sollen, aber sie hatte wieder eine ihrer Migräneattacken.“

 

Während der letzten Monate hatten ihre Gespräche sich häufig um Georges und Marcias ambitionierten Sohn gedreht, der hoffte, bei der nächsten Unterhauswahl einen Sitz für die konservative Tory-Partei zu erringen. John hatte den jungen Anwalt ein paar Mal getroffen und hielt ihn insgeheim für einen arroganten Popanz. Dennoch hörte er geduldig den Lobliedern zu, die dessen Vater auf Richard sang.

„Dann warst du den ganzen Abend im Club?“, fragte er beiläufig nach. Die Gestalt, die er in der Water Lane beobachtet hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf.

„Nicht ganz. Richard, sein Wahlkampfmanager und die Gäste bekamen zuerst eine kleine Privatführung. Dann haben wir im Club zu Abend gegessen und ich habe die Gäste zur Schlüsselzeremonie begleitet, während Richard und sein Manager irgendwelche wichtigen Telefonate führten. Als es zu Ende war, bin ich mit den Leuten wieder zurück in den Club gegangen und wir haben noch etwas getrunken. Nach kurzer Zeit kam die Order, dass jemand vermisst wird und wir bis auf weiteres im Club bleiben sollten, um die Suchaktion nicht zu stören. Dank Richards Einfluss hat die Polizei uns als Erste vernommen, so dass wir dann gehen konnten. Der Gedanke, einer dieser werten Herren hätte etwas mit so einer abscheulichen Sache zu tun, ist ohnehin abwegig. Das sah auch dieser feine Superintendent so.“

Das Eintreffen des Tierarztes unterbrach ihre Unterhaltung. Feiner Superintendent! John schnaubte abschätzig, als er über den Hof zum Büro des Kommandanten ging.

Das passt so richtig zu Simon, dass er vor den honorigen Politikern katzbuckelt. Wahrscheinlich hat er befürchtet, dass sie Verbindungen zum Haushaltsausschuss haben, der über das Budget der Metropolitan Police bestimmt, dachte er ungnädig.

 

Wenn der Ravenmaster die Wahrheit gesagt hatte und er nach der Schlüsselzeremonie den Club nicht mehr verlassen hatte, musste John sich gestern Abend getäuscht haben. John wollte dem Mann, den er inzwischen als Freund betrachtete, nur zu gern uneingeschränkt Glauben schenken. Aber er musste sich eingestehen, dass Zweifel an ihm nagten. Hin- und hergerissen, ob er Whittington nun von seiner Beobachtung erzählen sollte oder nicht, betrat er den Verwaltungstrakt des Towers.

---ENDE DER LESEPROBE---