Tod im Schatten der Tower Bridge - Emma Goodwyn - E-Book

Tod im Schatten der Tower Bridge E-Book

Emma Goodwyn

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Beschreibung

Lahmgelegt durch einen Kreuzbandriss versinkt Beefeater John Mackenzie in Langeweile. Aus dieser wird er jedoch jäh herausgerissen, als eine junge Frau in Sichtweite des Towers auf einem Themseschiff stirbt. War es ein Unfall oder Mord? Die Ermittlungen führen John und seine Nichte Renie tief in die Welt von Shakespeare und zu den Geheimnissen der Lebensader Londons – der Themse.

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Tod

im Schatten der Tower Bridge

 

 

 

John Mackenzies vierter Fall

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Emma Goodwyn

 

 

Im Gegensatz zu den Schauplätzen

sind alle Personen und Ereignisse der Handlung rein fiktiv, mögliche Ähnlichkeiten zu echten Personen und Geschehnissen keinesfalls beabsichtigt.

 

 

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Besuchen Sie die Autorin unter

www.emma-goodwyn.com!

 

 

Copyright Text und graphische Gestaltung

Emma Goodwyn

c/o Hartmut Albert Fahrner

Am Tannenburganger 36

84028 Landshut

 

Kontakt: [email protected]

 

Veröffentlichungsdatum: 28. Juni 2014

 

Alle Rechte vorbehalten

(V4.1)

 

 

 

 

 

All the world’s a stage

and all the men and women merely players

 

 

 

 

Die ganze Welt ist eine Bühne

und alle Männer und Frauen nur Spieler

 

 

 

William Shakespeare,

1564-1616

„Wie es euch gefällt“, 1623

 

 

Prolog

 

Anne Boleyn saß aufrecht unter dem Baldachin ihrer prunkvoll geschmückten Barke und strich sich mit einem Lächeln über den runder werdenden Bauch, in dem die künftige Königin Elizabeth I. heranwuchs. Ihr goldgewirktes Kleid leuchtete in der Sonne. An diesem Frühsommertag des Jahres 1533 wurde die Themse zur Bühne eines wahrhaft royalen Spektakels.

 

Jahrelang hatte der Tudorkönig Henry VIII hartnäckig um Anne geworben. Schließlich hatte er um ihretwillen nicht nur seine Ehe mit Katharina von Aragon annullieren lassen, sondern auch mit der römischen Kirche gebrochen und sich selbst als Oberhaupt der neu gegründeten anglikanischen Kirche installiert. Nun sollten Gott und die Welt bei diesem Triumphzug sehen, wen der Herrscher erwählt hatte, Englands neue Königin zu sein.

Hunderte von Schiffen geleiteten Anne auf dem Weg zu ihrer Krönung vom Palast in Greenwich in das Herz der Stadt. Die einflussreichen Gilden der Stadt, allen voran die Händler von Tuchen und Pelzen, die Goldschmiede, Fisch- und Gewürzhändler hatten sich einen Wettstreit geliefert, wer sein Boot am prachtvollsten ausstaffierte. Kunstvoll bestickte Banner und Fahnen flatterten im Wind und gaben ein farbenprächtiges Bild. Die eigens kreierte Figur eines feuerspeienden roten Drachen – dem königlichen Emblem der Tudors – führte den Festzug an, dahinter folgte der Lord Mayor der Stadt, der sein Boot mit den Wappen der Familien Tudor und Boleyn geschmückt hatte. Trommelwirbel und Trompetenklänge erfüllten die Luft. Tausend Kanonen schossen ihr Salut.

 

Als die Barke auf das Ziel, den Tower von London zuglitt, wo Henry VIII sie bereits erwartete, hätte Anne Boleyn sich nicht träumen lassen, dass sie nicht einmal drei Jahre später abermals die Flussreise hierher antreten würde. Dann jedoch als Gefangene der Krone, unter dem Verdacht des Hochverrats.

Während auf sie, die dem König keinen Sohn gebären konnte, 1536 das Schafott wartete, rüstete die Stadt sich bereits für die nächste feierliche Flussprozession. Wiederum wählte Henry die Themse zur grandiosen Bühne, auf der er dem Volk die nächste Frau an seiner Seite präsentierte. Für Jane Seymour, genauso wie für seine späteren Ehefrauen, sollte es eine schicksalhafte Fahrt werden.

 

Fast ein halbes Jahrtausend später bestieg eine andere junge Frau ein Themseschiff, das sie von Greenwich zum Tower von London brachte. Eine Fahrt, die auch für sie voller Erwartungen begann, aber mit dem Tod endete.

Kapitel 1

 

Eine winzige Luftblase durchbrach die Oberfläche und zerplatzte. Dann verharrte die hellgrau-bräunliche Masse wieder regungslos. Langsamer als eine Schnecke kroch, wuchs sie um wenige Millimeter pro Stunde empor.

Trübsinnig starrte John durch den Glasdeckel in die Schüssel, in der der Sauerteig, einem Schlammtümpel nicht unähnlich, leise vor sich hin blubberte. Dann sah er aus dem Küchenfenster. Draußen im Innenhof des Towers konnte er um diese Zeit normalerweise seine Kollegen von den Yeoman Warders, gemeinhin Beefeater genannt, beobachten, wie sie Touristengruppen durch den Tower von London führten. Auch die neun Raben, um die John sich als Assistent des Ravenmasters George Campbell kümmerte, ließen sich immer wieder auf dem Tower Green blicken. Heute jedoch waberte wie schon seit Tagen vor der Fensterscheibe undurchdringlicher Nebel, der alles in seinem einförmigen Grau verschluckte.

Ein tiefer Seufzer entrang sich Johns Brust. Wie gern wäre er trotz der Nässe und Kälte jetzt draußen gewesen und seiner gewohnten Arbeit nachgegangen. Stattdessen saß er wie ein Gefangener in seinen vier Wänden. Zugegebenermaßen komfortabler, als die Heerscharen namenloser wie auch bekannter Inhaftierter, die in den letzten Jahrhunderten im Tower ihr Dasein gefristet hatten. Einige von ihnen hatten die Zeit hinter diesen Mauern sogar sinnvoll nutzen können, wie Sir Walter Raleigh, der in den dreizehn Jahren, die er Anfang des siebzehnten Jahrhunderts im Bloody Tower verbracht hatte, sein Werk History of the World verfasst hatte. John dagegen hatte bisher noch nichts gefunden, was ihn in diesen langen Tagen wirklich ausfüllte.

 

Dieser elende Kreuzbandriss. Drei Wochen war das nun her. Er konnte das Schnalzen immer noch spüren, mit dem die Bänder in seinem linken Knie nachgegeben hatten. Es war ein Dienstagmorgen gewesen. George hatte frei gehabt und John hatte den soeben gekauften Sack mit Trockenfutter für die Raben allein aus der Tiefgarage zur Voliere schleppen wollen. Auf der von einem der vielen Sturzregen in diesem elend nasskalten Spätwinter glitschigen Treppe aus der Garage war es dann passiert: Er war ausgerutscht und mit Wucht hingeschlagen, ein Bein unter sich verdreht.

„Totalschaden“, hatte der Arzt lakonisch festgestellt und eine schnelle Operation empfohlen. Danach war er eine Woche lang bei seinen Eltern in Kew gewesen, da er erst einmal lernen musste, ohne Hilfe mit seinen Krücken im Alltag zurechtzukommen. Er schaffte es nicht einmal, sich die Thrombosestrümpfe alleine anzuziehen und musste sich wohl oder übel von seiner Mutter dabei helfen lassen, die vermaledeit engen Dinger über seine langen Beine zu streifen. Eine recht würdelose Prozedur für einen Mittvierziger, wie er fand.

Abgesehen davon waren die ersten Tage bei James und Emmeline Mackenzie recht angenehm gewesen. Seine Mutter hatte sich über die Gelegenheit gefreut, ihn nach Strich und Faden zu verwöhnen. Beständig hatte sie ihn mit frischen Eisbeuteln für sein Knie versorgt und ihm alles gekocht, was er gern mochte. Mit seinem Vater gemeinsam hatte er sich die ersten Staffeln von Downton Abbey noch einmal auf DVD angesehen. Familienkater King Edward, der die zusätzlichen Streicheleinheiten genoss, war ihm kaum von der Seite gewichen. Am Wochenende waren seine beiden Geschwister mit ihren Familien zu Besuch gekommen.

 

„Na, Bruderherz, wie geht’s dir?“ Maggie drückte John einen Kuss auf die Stirn und setzte sich zu ihm auf das Wohnzimmersofa.

„Es geht schon. Die Schmerzen halten sich in Grenzen.“

„Wann startet die Krankengymnastik?“

„Ich hatte schon zweimal Lymphdrainage und am Mittwoch geht es nun richtig los mit den Übungen, vorerst dreimal die Woche. Es war gar nicht so einfach, eine Praxis aufzutun, die kurzfristig freie Termine hatte, sage ich dir. Ich habe wohl ein halbes Dutzend Praxen durchtelefoniert, bis ich endlich eine fand.“

„Ist sie in der Nähe des Towers?“, erkundigte sich Maggies Ehemann Alan.

„Nein, sie liegt in der Guilford Street. Das ist in dem Klinikviertel östlich vom Russell Square. Diese Woche hat Dad mich von hier aus hinkutschiert, aber das geht auf Dauer natürlich nicht –“

„Unsinn, Junge. Das macht er doch gern. Ich weiß wirklich nicht, warum du schon übermorgen zurück in die Stadt willst. Hier hättest du es doch viel bequemer. Warum bleibst du nicht hier, so lange du krankgeschrieben bist?“ Emmeline war mit einer Tortenplatte ins Wohnzimmer gekommen.

Bei der Vorstellung, weitere sechs Wochen in seinem alten Kinderzimmer zu verbringen, während seine Mutter wie eine besorgte Glucke um ihn herumflatterte, wurde John ein wenig flau.

„Mum, sieh mal, ich bin euch beiden sehr dankbar, dass ihr euch so großartig um mich kümmert. Aber ich muss wirklich wieder zurück in die Stadt. Bonnie versorgt meine Pflanzen zwar gut, aber ich möchte doch gerne selbst zuhause nach dem Rechten sehen. Du weißt ja, dass ich ein paar Exemplare habe, die viel Pflege brauchen.“

Bonnie Sedgwick, die rechte Hand des Kommandanten der königlichen Wachtruppe Chief Mullins, war eine gute Freundin von John. Ihr hatte er schon in der Vergangenheit die Versorgung seiner zahlreichen Zimmerpflanzen anvertraut, wenn er einige Tage weggewesen war.

Maggie zwinkerte ihrem Bruder zu. Beide wussten, dass ihre Mutter, die ein großes Herz für alles Grünzeug hatte, dieses Argument verstehen musste.

„Du hast recht“, räumte Emmeline ein. „Es wäre sehr schade, wenn dir eine von deinen Raritäten eingehen würde. Aber wie willst du zur Krankengymnastik kommen? Jemand wird dich fahren müssen.“

„So lange ich das Bein noch nicht belasten darf, werde ich mir einfach ein Taxi nehmen. Oder einer meiner Kollegen fährt mich“, entgegnete John gleichmütig. „Und später kann ich dann selbst mit der U-Bahn hinfahren. Die Haltestelle ist gleich in der Nähe.“

„Genau. Du musst nur mit der Circle nach King’s Cross und dann mit der Piccadilly Line noch eine Station zum Russell Square und schwupps bist du schon da“, mischte Renie sich nun ein.

Johns älteste Nichte war bisher erstaunlich still gewesen. Nun erhob sie sich vom Boden, wo sie mit ihrem kleinen Cousin Christopher gespielt hatte und holte tief Luft. Mit einem Blick auf ihre Eltern sprudelte sie dann heraus, „Vielleicht kann auch ich John öfters dort hinfahren. Ganz in der Nähe am Torrington Square ist nämlich mein Schauspiellehrer. Da werde ich in den nächsten Wochen viel Zeit verbringen.“

Die Wirkung ihrer Worte war durchschlagend. Bis auf ihre Eltern, die offenbar in Renies Pläne eingeweiht waren, starrten alle im Raum die junge Frau an.

Bella, Renies zehnjährige Schwester, erholte sich als erste. „Du wirst Schauspielerin? Das ist ja cool. Kannst du mir dann ein Autogramm von Miley Cyrus besorgen?“

Ihr Bruder Tommy, bekennender Technik- und Medienfreak, fiel ein, „Echt abgefahren. Pass auf, dann werde ich dein Kameramann. Oder noch besser gleich Regisseur.“

Renie wehrte lachend ab. „Immer langsam. Bis jetzt wissen wir ja noch gar nicht, ob ich es überhaupt schaffe, an der Schauspielschule genommen zu werden. Momentan bereite ich mich erstmal auf die Aufnahmeprüfung Ende April vor. Dann sehen wir weiter.“

„Auf welche Schule möchtest du? Auf die Royal Academy of Dramatic Art? Die ist ja dort gleich um die Ecke, soviel ich weiß“, erkundigte sich Johns jüngerer Bruder David, der mit seiner Frau Annie und dem kleinen Christopher aus Cambridge gekommen war.

Renie schüttelte den Kopf. „Dahin würde ich es niemals schaffen. Chris – also Chris Fuller, mein Lehrer – hat einen Lehrauftrag an der Academy. Er hat uns klipp und klar gesagt, dass wir dort keine Chance haben werden. Die meisten von uns wollen es erstmal am Drama Centre versuchen. Das ist auch eine sehr renommierte Schule, aber nicht ganz so elitär wie die Academy.“

„Es sind also mehrere junge Leute, die bei diesem Mr. Fuller unterrichtet werden?“, fragte David.

„Chris hat massenhaft Schüler, die ganz bunt gemischt sind. Dabei sind fertige Schauspieler, die er bei der Vorbereitung auf eine bestimmte Rolle coacht, genauso wie Akademiestudenten, die sich von ihm den letzten Schliff holen wollen. In unserem Vorbereitungskurs sind wir zu sechst. Die anderen haben schon Anfang des Jahres damit angefangen, ich bin jetzt als letzte noch mit eingestiegen. Chris hat uns von Anfang an gesagt, dass wir uns nicht zu große Hoffnungen machen sollen, es im ersten Anlauf auf die Schule zu schaffen. Wenn es ihm gelingt, dass einer oder zwei von uns aufgenommen werden, wäre das schon ein riesiger Erfolg, sagt er.“

Emmeline Mackenzie hatte ihre Sprache wiedergefunden. „Und was machst du, wenn es nicht klappt?“

Renie zuckte die Achseln. „Das überlege ich mir dann, wenn es soweit ist. Wenn ich in den kommenden Monaten merke, dass die Schauspielerei wirklich etwas ist, was mir liegt, dann kämpfe ich solange, bis mich irgendwo im Land eine Schule annimmt. Und falls sich herausstellt, dass das für mich doch nichts ist, studiere ich eben etwas anderes.“

Emmeline sah ihre Tochter an. „Maggie, was sagst du dazu?“

Maggie und Alan tauschten einen Blick. „Wir haben unser Einverständnis dazu gegeben und werden Renie auch finanziell unterstützen. Bedingung dafür war aber, dass sie nebenher arbeitet, um zumindest einen Teil zu den Gebühren beitragen zu können.“

„Genau. Und deshalb jobbe ich weiterhin im Natural History Museum, zwanzig Stunden die Woche. Wer weiß, vielleicht gefällt es mir ja auf Dauer so gut, dass ich dann doch auf Biologie oder so etwas umschwenke“, fuhr Renie fort.

„Oder du gehst vielleicht doch wieder zurück zur Anthropologie? Da könntest du auf den Grundstock aufbauen, den du dir in den ersten beiden Semestern erarbeitet hast“, ließ sich ihr Großvater hoffnungsvoll vernehmen. Er selbst hatte jahrzehntelang als Kurator in der Saurierabteilung des Naturhistorischen Museums gearbeitet.

„Vielleicht auch das, Granddad. Ich habe wirklich keinen Schimmer. Ich weiß nur, dass ich das mit der Schauspielerei gerne ausprobieren möchte. Wann, wenn nicht jetzt, solange ich jung bin.“ Sie schielte zu ihrem Onkel hinüber, der bis jetzt geschwiegen hatte. Auf seine Meinung legte sie viel Wert.

„Was denkst du, John? Wenn ich sehe, dass andere in meinem Alter schon ihren Bachelor in der Tasche haben und ich habe noch gar nichts und nicht einmal eine richtige Ahnung, was ich mit meinem Leben anstellen will …“

„Du hast viele unterschiedliche Talente, Renie. Da verstehe ich, dass es dir schwerfällt, dich zu entscheiden“, sagte er bedächtig. „Du wirst dich irgendwann auf einen Weg festlegen müssen. Aber anders als viele andere hast du – auch dank deiner Eltern – die Möglichkeit, Verschiedenes auszutesten. Also nutze die Chance.“

„Das gleiche hat Geoff auch gesagt“, strahlte Renie. „Er unterstützt mich voll, meint aber, dass ich mich im Lauf des Jahres für etwas entschließen und das dann auch durchziehen muss.“

„Ein Hoch auf Geoff“, murmelte Maggie. Während Renie den anderen in epischer Breite erklärte, wie die ersten Stunden ihres Schauspielunterrichts abgelaufen waren, beugte Maggie sich zu ihrem Bruder.

„Ich finde Geoff wirklich toll. Er ist in jeder Hinsicht das Gegenteil von Renies Exfreund. Höflich, bodenständig, verlässlich. Obwohl sie erst ein paar Monate zusammen sind, habe ich das Gefühl, dass er schon einen positiven Einfluss auf sie hat.“

Dr. Geoffrey Tomlinson war Insektenkundler am Natural History Museum und einige Jahre älter als Renie.

John grinste. „Umgekehrt gilt dasselbe. Renie hat ihn ganz schön aus seinem Schneckenhaus geholt. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, hätte ich ihn kaum wiedererkannt. Er hat ein ganz anderes Auftreten jetzt.“

Maggie nickte. „Ich hoffe, die beiden bleiben länger zusammen. Renie hat zwischendurch schon fallen lassen, dass sie vielleicht sogar zu ihm ziehen will. Aber warten wir’s ab.“

„Wie findest du ihre Idee mit der Schauspielerei? Ich muss sagen, ich war überrascht vorhin. Sie hat zwar schon manchmal anklingen lassen, dass es ihr gefallen würde, auf der Bühne zu stehen, aber ich hätte nicht gedacht, dass es ihr damit wirklich ernst ist.“

„Ach, John, du kennst doch unser Mädchen. Man weiß bei ihr nie, wie lange ihre Begeisterung für etwas anhält. Aber wir wollen ihr keine Steine in den Weg legen. Wer weiß, vielleicht ist so ein Beruf mit seinen ständigen Herausforderungen und der Möglichkeit, in immer neue Rollen schlüpfen zu können, ja wirklich etwas für sie. Das wird sich in den nächsten Monaten schon zeigen.“

 

Als John nun, einsam mit seiner Sauerteigschüssel in der Küche sitzend an dieses Gespräch zurückdachte, musste er lächeln. In den vergangenen Wochen hatte Renie sich mit ihrem üblichen überschäumenden Ausmaß an Energie in das Schauspielprojekt gestürzt. Sobald sie einen neuen Text zu lernen hatte, kam sie zu ihrem Onkel, um sich von ihm abhören zu lassen oder auch einen Dialog zu üben.

„Du hast momentan ja sowieso Zeit ohne Ende. Bestimmt langweilst du dich. Also kannst du mir ebenso gut helfen“, hatte sie festgestellt und ihm eine Kopie ihres Textes in die Hand gedrückt.

John musste eingestehen, dass er froh um die Abwechslung war. Momentan erlaubten die Ärzte ihm nicht mehr als dreimal die Woche je eine Stunde Krankengymnastik. Jedes der neuen Bücher, die Maggie und David ihm mitgebracht hatten, war ausgelesen. Aus der kleinen Bibliothek der Beefeater hatte er bereits zwei Abhandlungen über die Geschichte des Towers im Mittelalter durchgeackert. Seine Pflanzen waren bestens gepflegt, selbst das letzte Körnchen Staub, das es gewagt hatte, sich auf einem Blatt niederzulassen, war beseitigt. Er hatte seine CDs und die alten Schallplatten sortiert und alle seine Fotoalben durchgesehen. Zu kochen brauchte er sich auch nichts, da seine Mutter bereits zweimal vorbeigekommen war, um sauberzumachen und ihn mit einer Unmenge fertig gekochten Essens in Gefrierboxen zu versorgen, das er sich nur aufzuwärmen brauchte.

Einmal hatte er versucht, George bei der Arbeit im Rabenhaus ein wenig zur Hand zu gehen, hatte aber einsehen müssen, dass er für den Ravenmaster keine Hilfe war, solange er auf die Krücken angewiesen war. Außerdem hatte Chief Mullins John gleich nach dem Unfall, als er ihn im Krankenhaus besucht hatte, eindeutig zu verstehen gegeben, dass er ihn nicht bei der Arbeit sehen wollte, so lange er krankgeschrieben war.

Er hatte einzig und allein – und nur mit Bauchgrimmen – zugestimmt, dass John den schon lange geplanten Testlauf seiner speziellen Rabenführungen für Schulklassen durchführen durfte. Dabei durfte er jedoch nur den Part im Schulungsraum des Towers übernehmen, wo er mit hochgelegtem Bein vor der Klasse sitzen konnte, während George dafür zuständig war, den Kindern das Rabenhaus zu zeigen und sie draußen herumzuführen.

Bei diesem ersten Probelauf, der kommende Woche stattfinden sollte, würde John zu seiner Erleichterung eine überaus nette und tatkräftige Frau an seiner Seite haben: Sophie Nichols, Lehrerin an der Primarschule im Stadtteil Tottenham, die ihre Klasse mit Freuden als Versuchskaninchen für das neue Konzept angeboten hatte, das John im Sommer entwickelt hatte.

John hatte Sophies Mann Mike, Vogelforscher am Naturhistorischen Museum, einige Monate zuvor kennengelernt, als beide bei den Nachforschungen zu dem spektakulären Mordfall im Museum geholfen hatten. Die Männer hatten sich schnell angefreundet. John freute sich schon darauf, dass Mike morgen zu Besuch kam. Er hoffte, ihm dann sein erstes selbstgebackenes Sauerteigbrot vorsetzen zu können.

 

Den Teigansatz wie auch das Rezept hatte er von einer Nachbarin seiner Mutter bekommen, als er in Kew gewesen war.

„Nicht vergessen: Jede Woche muss er mit einem Löffel Roggenmehl und einem Esslöffel Wasser gefüttert werden, damit er sich hält“, hatte sie ihm eingeschärft und ihm feierlich ein Marmeladengläschen mit einer unansehnlichen schlammfarbenen Masse darin übergeben. „Dann werden Sie dauerhaft Freude an ihm haben.“

Johns Mutter hatte ihm zugezwinkert und nachdem die Nachbarin gegangen war, hatte sie gemeint, „Du wirst es nicht glauben, John, aber Elsie behandelt dieses Zeug hier wie ein Haustier. Ich habe sogar schon einmal gehört, wie sie mit ihm gesprochen hat. Sie nennt ihn Georgie.“ Sie kicherte. „Aber ich muss zugeben, das Brot, das sie damit bäckt, schmeckt ausgezeichnet.“

 

Also hatte John sich die restlichen Zutaten – Roggen- und Dinkelmehl sowie Brotgewürz – von Renie besorgen lassen und beschlossen, sein erstes Brotexperiment zu wagen. Heute Morgen hatte er den Teigansatz in die Rührschüssel umgefüllt und ein erstes Mal Mehl und Wasser zugesetzt, sechs Stunden später ein zweites Mal. In der Zwischenzeit hatte er nicht viel mehr gemacht, als wechselweise in den Topf und aus dem Fenster zu schauen, dazwischen ein wenig Zeitung zu lesen und Musik zu hören.

Gott, dieses Nichtstun hing ihm wirklich zum Hals heraus. Als das Telefon klingelte, stürzte er sich geradezu begierig darauf.

„Hallo Jungchen, wie geht es dir? Ich höre, du hattest einen kleinen Unfall?“

„Tante Isabel! Wie schön, von dir zu hören“, rief er, ehrlich erfreut, als die Stimme der betagten Patriarchin des Mackenzie-Clans, die in den schottischen Highlands lebte, an sein Ohr drang. Wenn er aber erwartet hatte, sie hätte ihn angerufen, um ihm Trost zu spenden, hatte er sich getäuscht.

„Jungchen, nun hab dich nicht so“, beschied sie ihm, nachdem er ein wenig lamentiert hatte. „Ich bin schon mit vierzig Grad Fieber und Lungenentzündung draußen in der Scheune gestanden und habe bei der Schafschur geholfen. Erst einen stärkenden Schluck – Mit Whisky trotzen wir dem Satan, wie unser großer Robert Burns schon wusste, und los ging’s. Geschadet hat es mir offenbar nichts, sonst wäre ich nicht so alt geworden, oder?“

John stimmte seiner Großtante, die mit ihren über neunzig Jahren immer noch voller Tatkraft steckte, kleinlaut zu.

„Außerdem hast du in deinen Jahren bei der Armee wohl gravierendere Verletzungen gesehen. Dagegen ist so ein dickes Knie ja wohl lächerlich“, fuhr sie schonungslos fort.

John schluckte und kam sich nun endgültig wie ein jämmerliches Weichei vor. In seinen zwanzig Jahren beim psychologischen Dienst der britischen Armee hatte er bei seinen Auslandseinsätzen wahrlich Schlimmeres gesehen.

„Du hast vollkommen recht, Tante Isabel. Lass uns nicht weiter darüber reden. Nun erzähl, wie geht es dir?“

Darauf hob Isabel an, ihn in aller Ausführlichkeit über die Arthrosebeschwerden in Sir Walter Scotts Hüfte zu informieren. Walter gehörte mittlerweile wohl zu den ältesten Scotch Terriern des Vereinigten Königreichs. In jüngeren Jahren hatte er ebenso wie seine Vorgänger aus Tante Isabels Terrierzucht etliche Championatstitel errungen.

„Aber wenn Dr. Flynn Walter mit diesem horrend teuren neuen Medikament wieder einigermaßen fit bekommt, werde ich mit ihm dieses Frühjahr noch ein letztes Mal zu einem Wettbewerb gehen“, schloss sie.

„Du willst den alten Burschen wirklich noch einmal aus seinem Ruhestand reißen? Ihn wieder aufputzen wie eine Laufstegschönheit und zu einer Hundeschau schleppen, wo er stundenlang in seiner Transportbox sitzen muss?“, rutschte es John heraus.

„Erstens, mein lieber John, lass dir gesagt sein, dass ein Champion vom Rang eines Sir Walter Scott kein „Aufputzen“ benötigt, wie du es zu nennen beliebst“, erwiderte Isabel kühl. „Seine Klasse, sein edler Körperbau und seine Ausstrahlung sprechen für sich. Zweitens liebt er es, in den Ring zu gehen. Du solltest ihn sehen, wie er vor dem Richter auf- und abparadiert. Da ist er wie ein altes Zirkuspferd, das wieder zum Leben erwacht, wenn es die Musik spielen hört. Und drittens wird er in der Superveteranenklasse antreten, wo die Konkurrenz sehr klein ist und es daher keine langen Wartezeiten gibt. Genauer gesagt, sind außer ihm nur zwei andere Hunde gemeldet.“

John musste grinsen, bemühte sich aber um einen ernsthaften Ton. „Dann hat er ja schon einen Pokal sicher.“

„Genau. Und mit diesem letzten Auftritt für uns beide könnte seine glänzende Karriere einen würdigen Abschluss finden. Aber nun genug davon. Der Grund, warum ich dich anrufe, ist folgender: Ein alter Freund von mir, Dr. Michael Arbroath, einer unserer Abgeordneten im Parlament in Edinburgh und Historiker an der Universität in St. Andrews, ist kommende Woche in London und würde sich über die Gelegenheit freuen, sich im Tower ein wenig genauer umzusehen, als man dies als Tourist kann. So eine Hinter-den-Kulissen-Führung wäre schön, verstehst du?“

„Was meinst du genau, Tante Isabel? Wenn er sich die Kronjuwelen in Ruhe betrachten möchte, muss ich dich enttäuschen. Um dort gesonderten Zutritt zu erhalten, müsste er schon ein Staatsgast sein.“

„Pah! Die Insignien eurer imperialistischen Bestrebungen – von wegen, Rule, Britannia und so weiter – sind für Michael mit Sicherheit kein Grund, den Tower zu besuchen. Darauf kannst du Gift nehmen.“

John seufzte unhörbar. Isabel Mackenzie war eine glühende schottische Patriotin, die auch eine der großen Vorkämpferinnen für das Regionalparlament in Edinburgh gewesen war. Es hatte Jahrzehnte gedauert, bis sie Johns Vater verziehen hatte, dass er aus Inverness fort „in den Süden“ gegangen war und zu allem Überfluss auch noch eine Engländerin geheiratet hatte.

„Was möchte er denn dann sehen?“, fragte er geduldig.

„Die Räume, in denen König John Balliol drei Jahre lang gefangengehalten wurde, bevor er ins Exil gehen musste.“

John kramte in seinem Gedächtnis.

„Warte mal. Er war im Salt Tower untergebracht. Das ist kein Problem, dort kann ich oder einer meiner Kollegen durchaus eine Besichtigungstour mit deinem Bekannten machen. Warum interessiert er sich speziell dafür?“

„Er ist Historiker und schreibt an einem neuen Buch über die schottischen Unabhängigkeitskriege, die euer schrecklicher Edward über uns gebracht hat. Es reichte diesem … ruchlosen Schuft ja nicht, dass er Wales unter das Joch der englischen Krone gezwungen hatte, nein, er musste seine gierigen Finger auch zu uns herauf in den Norden ausstrecken, unzählige Männer, Frauen und Kinder abschlachten und unseren Krönungsstein stehlen.“

Isabel geriet immer mehr in Fahrt.

„Der Hammer der Schotten – diesen Beinamen hat er sich redlich verdient. Aber wenigstens haben wir ihm in Bannockburn ordentlich den Hintern versohlt“, schloss sie befriedigt. „Also kann ich Michael sagen, dass er dich anrufen kann? Und vielleicht könntest du ihm ja noch weitere Orte im Tower zeigen, wo unglückselige Landsleute von mir eingekerkert waren?“

„Ich muss natürlich erst mit Chief Mullins darüber sprechen, wenn es um Räumlichkeiten geht, die normalerweise nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Aber ich werde sehen, was ich tun kann“, versprach er.

Nachdem er aufgelegt hatte, rief er auch sogleich in Mullins’ Büro an. Der Kommandant zeigte sich wie so oft entgegenkommend.

„Nun, wir wollen einen angesehenen Wissenschaftler selbstverständlich in seiner Arbeit unterstützen“, versicherte er. „Ich habe tatsächlich schon zwei von Dr. Arbroaths Büchern gelesen. Sie stehen hier irgendwo bei mir herum, falls Sie sie ausleihen möchten.“

„Sehr gern, Sir.“

„Und dann könnten Sie einmal mit dem Kollegen Armstrong reden. Es gibt wohl keinen unter uns Beefeatern, der mehr über die Geschichte des Towers weiß. Er wäre sicher der geeignete Mann, unseren Gast herumzuführen, vor allem, da Sie ja durch Ihr Bein immer noch gehandicapt sind.“

„Das ist eine gute Idee, Sir.“

„Und geben Sie mir Bescheid, wann Dr. Arbroath hier sein wird. Wenn ich es einrichten kann, würde ich ihn gern persönlich begrüßen. Nun sagen Sie mir noch, wie geht es bei Ihnen voran?“

„Ich hoffe, dass ich die Krücken bald los bin. Momentan darf ich das Bein nur mit bis zu vierzig Pfund Gewicht belasten. Übermorgen habe ich wieder einen Termin beim Arzt, dann wird entschieden, ab wann ich es wieder voll belasten darf. Dann bekomme ich eine Schiene, die das Knie vorerst noch stützen soll.“

„Wenn alles gutgeht, wann können wir damit rechnen, Sie wieder auf den Dienstplan zu setzen?“

„Ursprünglich sprach der Doktor von sechs Wochen, dann verblieben jetzt noch drei, aber vielleicht geht es ja doch ein wenig schneller –“

„Papperlapapp, Mackenzie. Ich werde einen Teufel tun und Sie täglich stundenlang mit Touristengruppen kreuz und quer und treppauf, treppab durch den Tower jagen, falls Sie nicht vollkommen genesen sind. Also seien Sie ein braver Patient, tun Sie das Ihrige, damit Sie wieder fit werden und üben Sie sich ansonsten in Geduld.“

„Ja, Sir“, antwortete John seufzend.

Kapitel 2

 

Wenig später klingelte das Telefon abermals.

„John, ich stehe in einer halben Stunde bei dir auf der Matte. Wir müssen einen neuen Text üben, es ist brandeilig. Und ich würde mich freuen, wenn du etwas zu essen für mich hättest, ich muss mir dringend was hinter die Kiemen schieben. Also bis gleich.“

John legte kopfschüttelnd den Hörer hin. Seine Nichte hatte ihn nicht einmal zu Wort kommen lassen. Er machte sich daran, seine Vorräte zu sichten.

Bereits nach fünfundzwanzig Minuten stand Renie vor der Tür. Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss, warf ihren Rucksack auf einen Stuhl und ließ sich häuslich am Küchentisch nieder.

„Puh, ich bin fix und fertig. Seit sieben heute früh bin ich nur am Rumfetzen. Im Museum bereiten wir gerade das Abschiedsfest für unseren Direktor vor. Das macht zwar total Spaß, aber ist auch unglaublich viel Arbeit. Also: Was hast du uns Feines gekocht?“

John ließ sich vorsichtig auf einen Stuhl sinken, legte die Krücken weg und grinste seine Nichte an.

„Ich dachte, du bekochst deinen armen invaliden Onkel wenigstens, wenn du schon hier bist. Ich hätte sehr gern zur Abwechslung etwas Frisches statt immer die eingefrorenen Sachen von Mum. Die Zutaten für Spaghetti Marinara habe ich schon hergerichtet, das geht ganz schnell.“

Er wies auf die Arbeitsplatte, wo ein Paket aufgetaute Meeresfrüchte, Zwiebeln und Tomaten bereitlagen. „Du kennst ja das Rezept.“

Renie warf ihm einen gespielt entsetzten Blick zu, stand aber mit einem Grunzen auf und machte sich daran, einen Topf mit Wasser für die Nudeln aufzusetzen.

„Was ist das denn für ein Zeug?“ Sie zog die Nase kraus, als sie die Schüssel mit dem Sauerteig erspähte.

„Daraus backe ich morgen früh ein Brot. Und jetzt erzähl, warum musst du so dringend einen Text lernen?“

„Stell dir vor, ich soll für Natalie einspringen. Sie hatte gestern einen Fahrradunfall und muss jetzt einen Riesengips tragen, die Arme. Ich soll am Freitag eine Hofdame in Henry VIII spielen, ist das nicht toll?“

John räusperte sich. „Ähem, nicht, dass ich dein Talent schmälern möchte, Renie, aber ist eine Rolle in einem Shakespeare-Drama nicht eine Nummer zu groß für dich? Und wie willst du dir das Stück in so kurzer Zeit aneignen?“

„Keine Sorge, John. Wir führen ja nicht alle fünf Akte auf, sondern nur ein paar ausgewählte Szenen, wobei ich selbst nur in einer einzigen vorkomme. Und auch nicht in einem Theater, sondern auf einem Ausflugsschiff.“

„Wie bitte? Wer möchte sich denn auf einem Bootsausflug ein Theater ansehen? Ich würde mir da lieber in Ruhe die Gegend betrachten.“

„Was wir machen, ist ein sogenannter Theater-Dinnercruise. Eine ganz neue Idee des Tourismusverbands speziell für die dunkleren Monate, um mehr Besucher auf die Themseschiffe zu locken. Dabei wird auch nicht besonders weit gefahren, nur von Greenwich bis hierher. Während wir das Stück aufführen, liegen wir direkt vor dem Tower vor Anker.“

Sie begann, die Zwiebeln in der Pfanne anzubraten. „Natürlich muss sich erst zeigen, ob das Angebot angenommen wird oder nicht. Vorerst sind nach der Premiere am Freitag vier weitere Fahrten geplant.“

John wog nachdenklich den Kopf.

„Ich könnte mir schon vorstellen, dass so etwas Interesse weckt. Jetzt, wo die Tage immer noch kurz sind und es um vier, fünf Uhr oft schon stockdunkel ist, dümpeln die Touristenschiffe am Nachmittag oft halbleer vor sich hin. Da könnte eine zusätzliche Attraktion durchaus für mehr Zulauf sorgen.“

Renie kippte die gewürfelten Tomaten in die Pfanne.

„Natürlich wollten die Veranstalter für die ganze Sache möglichst wenig Geld ausgeben und haben deshalb keine Profis engagiert.“ Sie grinste. „Preislich sind wir unschlagbar: Wir bekommen nämlich überhaupt keine Gage bis auf ein Essen an Bord.“

„Überhaupt keine Gage? Da opfern eine Menge junge Leute ihre Freizeit, um ein Stück einzustudieren und aufzuführen und bekommen gerade mal ein Essen dafür? Und das, obwohl der Veranstalter wahrscheinlich gesalzene Eintrittsgelder von den Leuten kassiert?“

Renie zuckte gleichmütig die Schultern.

„So ist das nun mal in diesem Business. Chris sagt, die Bühnenerfahrung ist ungeheuer wertvoll für uns. Außerdem muss jeder Bewerber am Drama Centre einen kurzen Film vorlegen, der einen Einblick in seine bisherige Schauspielpraxis gibt. Also wird ein Teil der Auftritte aufgezeichnet, damit wir Material dafür haben. Und was meinst du, wer das für uns macht?“

„Tommy?“, riet John.

„Genau. Echt cool, dass mein Bruderherz jetzt diesen Medienkurs an der Schule belegt. Eigentlich ist der Kurs nur für die höheren Jahrgangsstufen offen, aber als er dem Lehrer den Rabenfilm gezeigt hat, den er letzten Sommer für dich gemacht hat, war der so begeistert, dass er ihn trotzdem aufgenommen hat. Und nachdem Dad ihm jetzt diese Superausrüstung gekauft hat, ist er der perfekte Mann für den Job. Er kommt mit Mum und Dad zur Premiere und zeichnet alles auf. Sag mal, hast du Tomatenmark da?“

„Im Kühlschrank ist noch eine offene Tube.“

Renie rührte das Mark ein. „Für uns ist das echt praktisch, dass Tommy das übernehmen kann. Chris hätte zwar einen Kameramann an der Hand gehabt, aber es wäre uns natürlich teurer gekommen, einen Profi mit den Aufnahmen zu beauftragen. Tommy bekommt zwar schon etwas Geld dafür, aber natürlich nicht sehr viel. Und er selbst hat auch etwas davon, weil er das Material für seinen Kurs an der Schule verwenden kann.“

„Das hast du wieder mal gut eingefädelt, Renie. Wie kommt deine Truppe zu diesem Auftrag auf dem Schiff?“

„Chris kennt die Leute vom Tourismusbüro. Er und ein Teil seiner Schüler haben auch beim Thames Festival im September mitgewirkt. Sie haben einige Walking Acts gemacht und das kam wohl sehr gut an.“

John sah seine Nichte verständnislos an. „Was ist ein Walking Act?“

„Da stehen die Schauspieler nicht auf einer Bühne, sondern mitten unter den Leuten und es wird viel improvisiert, oft in Richtung Comedy oder Pantomime. Ein weiterer Grund, dass die Tourismus-Leute sich für Chris entschieden haben ist, dass er einen guten Namen als Shakespeare-Darsteller hat. Gut, er ist nicht Kenneth Brannagh, aber in der Szene ist er sehr bekannt. Und ich sage dir, er ist auch wirklich ein Shakespeare-Aficionado, unglaublich. Er bewirft uns ständig mit Zitaten und erwartet dann, dass wir sie sofort zuordnen können. Nicht nur zu dem Stück, aus dem es stammt, nein, auch noch zu der Szene und der entsprechenden Person. Und nicht nur so einfache Sprüche, die jeder kennt, wie Sein oder Nichtsein oder Ein Königreich für ein Pferd, nein, ganz vertrackte Dinger müssen es sein. Heute zum Beispiel: Weinen kann ich nicht, aber mein Herz blutet.“

Erwartungsvoll sah sie ihn an.

John zuckte ratlos mit den Schultern.

„Wintermärchen, 3. Aufzug, 6. Szene, es spricht Antigonus“, dozierte sie in oberlehrerhaftem Ton und kicherte dann. „Ich hatte auch keinen blassen Schimmer. Okay, neuer Versuch. Das kennst du bestimmt: Das erste, was wir tun, lasst uns alle Anwälte töten.“

John grinste.

„Auf jeden Fall weiß ich, dass Simon und auch deine Mutter sofort dafür wären. Und dass der Ausspruch ursprünglich von Shakespeare stammt, war mir auch bewusst, aber ich habe keine Ahnung, aus welchem Stück.“

Renie seufzte. „Heinrich VI, 2. Teil, 4. Akt, 2. Szene. So, jetzt kriegst du noch eine letzte Chance: Auch du, Brutus?“

John musste lachen. „Jetzt hast du es mir aber einfach gemacht. Das muss ja wohl aus Julius Cäsar sein.“

Renie klatschte spöttisch Beifall.

„Na, wenigstens ein bisschen was weißt du. Damit ich nicht genauso blank bin wie du, bin ich gerade dabei, mir jede Woche mindestens zwei Stücke von unserem Großmeister reinzuziehen.“

„Respekt, Renie. Ich habe eine Gesamtausgabe seiner Werke im Wohnzimmer stehen, die kannst du dir gerne ausleihen“, bot John seiner Nichte an.

Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu.

„Ich habe mir längst alles auf meinen E-Reader geladen. Die Klassiker werden einem oft für 99 Pence bei den Online-Shops nachgeworfen. Einen Teil höre ich mir auch an oder schaue mir Aufzeichnungen von Theateraufführungen an. Gerade dieses Jahr kommt man an Shakespeare ja sowieso nicht vorbei und es war auch der ausdrückliche Wunsch der Veranstalter, etwas von dem alten Will aufzuführen. Na, auf jeden Fall hat Chris angeboten, ein passendes Stück für die Aufführung auf dem Schiff auszusuchen und mit ein paar von seinen Schülern von der Academy und uns einzustudieren. Nachdem ich viel später als die anderen in den Kurs eingestiegen bin, waren da schon alle Rollen besetzt und ich habe bisher lediglich bei den Proben zugesehen und ein wenig souffliert.“

Sie schüttete als letztes noch die Meeresfrüchte in die Pfanne.

„Ich finde, es wirkt schon ganz professionell, was Chris da auf die Beine gestellt hat. Das liegt sicher auch an den phantastischen Kostümen. Chris kann als Mitglied des Lehrerkollegiums auf den Fundus der Royal Academy zurückgreifen. Das ist eine wahre Schatzgrube, sage ich dir. Ich durfte mit seiner Assistentin Julie dort hingehen und die Kostüme, die wir für Henry VIII brauchen, abholen. Es ist der Wahnsinn, was dort alles lagert. Für jede einzelne Epoche nicht nur die Kleider, sondern auch das passende Schuhwerk und Perücken und Schmuck und Fächer und was weiß ich noch alles.“

Sie schmeckte die Soße ab und gab noch ein paar Kräuter dazu.

„Fast alle anderen bei mir im Kurs können schon auf Erfahrung auf der Bühne oder vor der Kamera verweisen. Veronica Fitch – wir nennen sie Bitch, weil sie echt ein Biest ist – arbeitet als Model und hat schon in einigen Musikvideos mitgemacht. Natalie Sinclair – das ist die, die jetzt diesen Unfall hatte – spielt seit ihrer Kindheit Theater in einer Laientruppe. Sie hat bei Chris schon einen Riesen-Stein im Brett, weil sie genauso ein Shakespeare-Freak ist wie er. Beim Zitate-Quiz hat sie meistens sofort die Antwort parat. Dann Harry Morland, der in unserem Stück Henry VIII spielt. Er moderiert seit zwei Jahren bei einem Radiosender. Frankie Byrd –“ Sie kicherte.

„Frankie ist die letzten Jahre mit einer Truppe so ähnlich wie die Chippendales durch Europa gezogen. Er ist es also gewöhnt, auf einer Bühne zu agieren, aber dabei hatte er bis jetzt keinen Text zu sagen. Und dann ist da noch Lily Carruthers. Soweit ich weiß, ist sie ausgebildete Krankenschwester. Sie ist eigentlich ziemlich schüchtern, hat aber Balletterfahrung und eine phantastische Stimme. Chris sagt, sie wäre wie geschaffen fürs Musical.“ Sie verstummte kurz.

„Dagegen habe ich nicht viel zu bieten. Weder kann ich tanzen noch besonders gut singen oder sehe aus wie ein Model. Ich habe gerade mal im Schultheater mitgespielt, sonst nichts“, fuhr sie dann ein wenig bedrückt fort.

„Als Schaf in der Weihnachtsgeschichte warst du aber großartig“, meinte John ernsthaft. „Ich weiß es noch genau. Du musst etwa in der dritten Klasse gewesen sein. Ich hatte in dem Jahr Heimaturlaub über den Jahreswechsel und die ganze Familie war gemeinsam bei der Aufführung in deiner Schule. Alle waren nachhaltig beeindruckt von deiner Darstellung. Das tiefgründigste, beste und schlicht … schafsartigste Schaf, das London je gesehen hat.“

Renie brach in Gelächter aus.

„Danke, John. Du kannst meine empfindliche Künstlerseele wirklich immer wieder aufbauen. Und jetzt lies dir doch schon mal den Text durch. Zweiter Akt, dritte Szene. Du bist Anne Boleyn. Nach dem Essen üben wir.“

 

 

„Trotz eurer süßgewürzten Heuchelei: Ihr, die Ihr alle Reize habt des Weibs, … äh …“ Renie stockte.

„Habt auch ein Weiberherz“, half John.

„Okay, nochmal. Trotz eurer süßgewürzten Heuchelei: Ihr, die Ihr alle Reize habt des Weibs, habt auch ein Weiberherz, das immer noch nach Hoheit geizte, … verdammt.“

„Reichtum, Herrschermacht.“

„Okay. Nochmal von vorn.“

Diesmal schaffte Renie es, den Satz fehlerfrei zu Ende zu sprechen.

„Nein, auf Treu“, las John seinen nächsten Part vor. Dann sah er Renie erwartungsvoll an.

„Äh, bin ich schon wieder dran?“

„Mhm. Jetzt käme: Treu’hin, Treu’her, Ihr wärt nicht gerne Fürstin?“

Renie schlug sich an die Stirn.

„Mist, Mist, Mist. Allmählich kriege ich echt Zweifel, ob ich das hinbekomme. Chris sagte, ich müsste den Text morgen schon beherrschen, damit wir eine Durchlaufprobe machen können. Es ist zwar nur diese eine lange Szene mit Anne Boleyn, in der ich vorkomme, aber was, wenn ich das vergeige?“

Sie sprang auf und schritt erregt in der Küche hin und her.

„Chris will mir diese Chance geben, obwohl ich ganz neu dabei bin und er die Rolle genauso gut mit einer anderen hätte besetzen können.“

Sie fuhr sich frustriert durch ihre kurzen roten Haare.

„Und Bitch, also Veronica, die macht mich platt, wenn der Dialog nicht klappt. Sie spielt die Anne und ich sage dir, sie genießt es in vollen Zügen, die Frau darzustellen, die den König so weit gebracht hat, dass er sich sogar gegen den Papst gestellt hat und seine eigene Kirche gründen musste, um sie zu heiraten. Echt eine Glanzrolle für sie. Wenn ich ihr diesen Auftritt vermassle, dann gute Nacht. Und was, wenn ich es zwar in der Probe kann, aber dann vor den ganzen Leuten einen Blackout habe? Ich schwöre dir, ich versinke auf der Stelle in den Erdboden.“

„Wenn, dann höchstens in die Themse“, gab John trocken zurück. „Komm, wir versuchen es noch einmal ganz von vorn.“

Aber diesmal verlor Renie schon beim ersten Satz den Faden.

„Oh Mann, ich bin total konfus, John. Das wird nichts mehr“, klagte sie und ließ den Kopf auf den Küchentisch sinken.

John sah seine Nichte einen Augenblick nachdenklich an. Dann sagte er entschieden, „Pass auf, du musst jetzt erstmal ein bisschen zur Ruhe kommen. Ich weiß, dass du es schaffst, diesen Text zu lernen, aber dafür brauchst du volle Konzentration. Deshalb legen wir jetzt eine kleine Pause ein –“

„Nein, wir haben keine Zeit für eine Pause. Sonst werden wir ja nie fertig“, fuhr sie auf.

John nahm wortlos seine Krücken und stand auf.

„Du kommst jetzt mit ins Wohnzimmer. Dort legst du dich auf den Boden und ich leite dich bei einer kleinen Achtsamkeitsübung an. Das wird dir helfen, wieder voll bei der Sache zu sein, glaub mir.“

„Achtsamkeitsübung? So was Ähnliches haben wir an der Uni schon mal gemacht. In so einem Seminar, das hieß Antistresstraining für Studenten oder so. Na gut, wenn du meinst.“

John setzte sich auf das Sofa. Renie streckte sich auf dem Teppich aus und schloss die Augen. Während er sie instruierte, in Gedanken durch ihren Körper zu wandern und wahrzunehmen, wo Spannungen zu spüren waren und diese bewusst zu lösen, merkte er, wie die Worte, die er in seinem früheren Leben als Psychologe bei den Streitkräften der britischen Armee unzählige Male gesprochen hatte, wie selbstverständlich zu ihm zurückkamen.

„Richte deine Aufmerksamkeit nun auf deinen Atem. Versuche nichts zu verändern oder zu kontrollieren. Dein Atem hat seinen eigenen Rhythmus. So wie dein Atem kommt und geht, ist es gut. Nur spüren und wahrnehmen …“

Nach einigen Minuten beendete er die Übung mit einem „Und nun strecke und dehne dich kräftig und kehre mit deiner Aufmerksamkeit wieder in diesen Raum zurück.“

Renie tat wie ihr geheißen, räkelte sich wohlig, öffnete die Augen und lächelte ihren Onkel an.

„Du könntest dich echt für einen Nebenjob als Sprecher für Entspannungs-CDs oder Einschlafgeschichten für Kinder bewerben. Ich hätte es ja nicht für möglich gehalten, aber jetzt glaube ich, bin ich wieder fit im Kopf.“

Tatsächlich dauerte es nicht einmal eine halbe Stunde und Renie beherrschte den gesamten Text fehlerlos.

„Gut. Und nun holst du eine Orange von der Anrichte“, wies John sie an.

Renie stand auf. „Soll ich dir auch ein Messer bringen?“

„Nein, ich will sie nicht essen. Du stellst dich jetzt da vorn neben die Tür und wir werfen uns die Orange zu, während du den Text sprichst.“

„Häh? Was soll das?“

„Wart’s ab. Also nochmal. Stichwort: Oh, ’s ist zum Erbarmen und rührt wohl Ungeheu’r.“

Nach kurzem Zögern warf Renie ihm die Frucht zu, so dass er sie im Sitzen fangen und zurückwerfen konnte und begann, „Die härt’sten Seelen zerschmelzen in Wehklage.“ Fangen, zurückwerfen. „Arme Fürstin!“ Fangen, zurückwerfen. „Zur Fremden ward sie wieder.“ Sie kicherte, als die Orange unter den Tisch rollte, fing sich aber gleich wieder. „Ja, Zufriedenheit ist unser bestes Gut.“

Sie erreichten das Ende des Dialogs, ohne dass in der Küche etwas zu Bruch ging oder Renie einen Hänger hatte. Triumphierend streckte sie die Faust in die Luft. „Yihaa, das ging super.“

Auch John nickte zufrieden. „Dass du den Text auch konntest, während du dich zusätzlich auf die Orange konzentrieren musstest, zeigt, dass du ihn schon gut verinnerlicht hast.“

„Du bist echt der beste Coach, den man sich wünschen kann, John. Hey, doch ganz praktisch, wenn man einen Onkel hat, der mal Seelenklempner war. Und jetzt ziehen wir uns diese Orange rein.“

Renie holte ein Messer und einen kleinen Teller und machte sich daran, die Frucht von der Schale zu befreien, während John müßig das Textbuch durchblätterte.

„Ich finde, das Stück ist gut gewählt für den Anlass und den Ort der Aufführung. Gerade bei Anne Boleyn wird der enge Bezug zum Tower und auch zur Themse deutlich.“

„Du meinst, weil Anne hier im Tower hingerichtet wurde?“

„Nicht nur das. Henry hat hier einen Palast extra für sie bauen lassen, der heute nicht mehr erhalten ist. Er befand sich neben dem White Tower, in etwa dort, wo heute die Wiese hinter dem Rabenhaus ist. Von hier aus trat sie, wie es die Tradition war, ihre Prozession nach Westminster an, wo sie 1533 gekrönt wurde. Nachdem sie bei Henry in Ungnade gefallen war, ließ er sie mit einem Boot von Greenwich hierherbringen, auf derselben Strecke, die sie auf dem Weg zu ihrer Krönung zurückgelegt hatte. Hier in diesen Mauern verbrachte sie die letzten Tage ihres Lebens. Und sie fand ihre letzte Ruhestätte keine zwanzig Schritte von meinem Küchentisch entfernt in unserer Kapelle.“

Renie sah überrascht auf. „Sie ist in St. Peter ad Vincula begraben? Das wusste ich gar nicht. “

„Genauso wie ihre Cousine Katherine Howard, die Henrys fünfte Ehefrau war und dasselbe Schicksal erlitt wie Anne.

---ENDE DER LESEPROBE---