Tod auf dem Poetenfest - Frankenkrimi (eBook) - Johannes Wilkes - E-Book

Tod auf dem Poetenfest - Frankenkrimi (eBook) E-Book

Johannes Wilkes

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Beschreibung

Erlangen, Poetenfest. Alles wartet auf Bernd Bockelbrink, den gefeierten Großschriftsteller, doch der Romancier liegt tot in seinem Hotelzimmer – von unbekannter Hand erstochen. Die Literaturwelt ist entsetzt. Kommissar Mütze stößt in seinen Ermittlungen schon bald auf ein dunkles Familiengeheimnis und erfährt von einem Rosenkrieg, der mit blutiger Feder geführt worden ist. Was hat Bockelbrinks Ex mit dem Mord zu tun? Was ihr Neuer, was die Familie? Doch auch die Literaturszene scheint nicht unschuldig zu sein: Weiß Bockelbrinks Verleger mehr, als er zugibt? Mütze gerät von allen Seiten unter Druck, da schaltet sich zu allem Überfluss auch noch sein wie immer wissbegieriger Freund Karl-Dieter ein ... - Nach dem großen Erfolg von Der Fall Rückert der neue Erlanger Literaturkrimi von Bestsellerautor Johannes Wilkes - Ein augenzwinkernder Kriminalroman mit dem beliebten Ermittlerduo Mütze und Karl-Dieter rund um das Bücherfestival im Schlossgarten

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Seitenzahl: 215

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Johannes Wilkes

 

Tod auf dem Poetenfest

 

Frankenkrimi

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage August 2019)

 

© 2019 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Umschlagfoto: © Patrick Fore/unsplash

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0103-9

 

Inhalt

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Der Autor

 

Freitag

Verdammt, wie war das noch gleich? Sollte man das Messer stecken lassen oder besser nicht? Bernd Bockelbrink spürte, wie ihm die Schweißtropfen auf die Stirn traten, während sich sein eleganter Morgenrock unschön zu verfärben begann, dort, wo der Knauf des Messers steckte. Torkelnd sank Bernd Bockelbrink auf sein Bett nieder und entschied, sich das Messer aus dem Bauch zu ziehen. Das jedoch erwies sich als Fehler. Wie aus einer munteren Bergquelle sprudelte es nun aus der Wunde, und auch der hektische Versuch des Großschriftstellers, den Blutfluss zu stoppen, indem er sich das Manuskript seines jüngsten Werkes gegen den Bauch drückte, misslang auf klägliche Weise. Ohne, dass die Nachwelt davon Notiz nehmen konnte, verklangen seine seit Langem, wenngleich natürlich nicht für einen solch dramatischen Moment vorbereiteten Worte ungehört in seinem Hotelzimmer. Was für ein Verlust!

 

Die Spannung im Markgrafentheater war mit den Händen zu greifen. Das Autorenporträt am Freitagabend war der erste Höhepunkt beim Erlanger Poetenfest, dem literarischen Spätsommerereignis, das Wochen vor der Frankfurter Buchmesse angesagte Autoren in lockerer Atmosphäre zusammenkommen ließ. Liebevoll bespöttelt von den einen, die von Freiluftpoesie und Graswurzellyrik sprachen, gelobt und geschätzt von den anderen, die sich in den speziellen Charme des Festivals verliebt hatten, war das Erlanger Poetenfest über die Jahrzehnte zu einem anerkannten Ereignis im deutschen Literaturbetrieb herangewachsen. Scharen von Lesern zog es am letzten Augustwochenende nach Big-Brain-City, wie die fränkische Universitätsstadt halb ironisch, halb anerkennend genannt wurde. Flirrte während der Lesungen das Sonnenlicht durch die alten Bäume des Schlossgartens und summten die letzten Bienen um die gepflegten Blumenrabatten am verwitterten Rokokobrunnen, dann stellte sich jene zauberhafte Melange aus meditativem Kunstgenuss und süßem Nichtstun ein, die selbst bei sperrigen oder gar aufwühlenden Texten stets den Eindruck vermittelte, wie schön und heil diese Welt in ihrem Kern doch war. So stimmungsvoll die fränkische Sommernacht aber auch immer sein mochte, das Autorenporträt verlegte man stets nach innen in das markgräfliche Theater, erstens, weil die Akustik und Konzentration an diesem Ort doch bedeutend besser waren, und zweitens, weil man die Bedeutung des Geehrten durch das festliche Haus unterstreichen wollte. Ein Nebenaspekt war, dass man für den Besuch des Theaters Karten verkaufen konnte. Literaten lebten schließlich nicht allein von Luft und Liebe und verlangten zu Recht ein angemessenes Honorar, das in Zeiten knapper kommunaler Kassen wieder eingetrieben werden musste.

 

Karl-Dieter war selbstverständlich in den Genuss von Freikarten gekommen, hatte er als leitender Kulissenbauer doch die Bühne des Markgrafentheaters (gerne sprach er von »seinem Theater«) für das Autorenporträt gestaltet. Gespannt saß er neben seinem Freund Mütze, der nur widerwillig und weil kein Fußballspiel im Fernsehen lief, mitgekommen war. Karl-Dieter blickte sich um, und als er die vielen erwartungsfrohen Gesichter sah, spürte er eine ungewohnte Nervosität in sich wachsen. Wie würde das ­Publikum reagieren, wenn sich der Vorhang hob? Mit Türmen aus alten Büchern hatte Karl-Dieter die Skyline von New York nachgebaut; geschickt platzierte LED-Lampen, welche die Fenster der Wolkenkratzer darstellen sollten, machten die Illusion perfekt. Das New York-Motiv hatte Karl-Dieter bewusst gewählt, war doch Bernd Bockelbrink, der ein Dutzend erfolgreiche Romane geschrieben hatte, mit dem Buch Das Mädchen und der Angler bekannt geworden, eine Liebesgeschichte, die in Manhattan spielte. In der letzten Szene hatte Lisa, die Protagonistin, die Angel ihres toten Freundes in die Fluten geworfen und war hinterhergesprungen. Karl-Dieter musste jetzt noch zum Taschentuch greifen, wenn er an den ergreifenden Schluss dachte. Und nun sollte das Publikum Zeuge werden, wie der Großschriftsteller zum ersten Mal über sein Meisterwerk sprach, und das vor seinem Bühnenbild!

Ein Pressefotograf stieg auf die Bühne und schoss Bilder vom Publikum. Ansonsten tat sich noch nichts. Acht Uhr verstrich, und der rote Vorhang machte keinerlei Anstalten, die Bühne freizugeben. Der Großteil der Wartenden jedoch dachte sich nichts dabei, und diejenigen, welche sich an der Verspätung stießen, gaben ihren Unmut nicht kund, gut erzogen, wie der Literaturfreund im Allgemeinen und der Erlanger im Speziellen nun mal ist. Erst als Cora Swebisch, die Grande Dame der deutschen Literaturkritik und Moderatorin des Abends, durch einen Schlitz des Vorhangs trat und mit nervösem Augenzwinkern um Aufmerksamkeit bat, merkte man, dass etwas nicht stimmte.

»Sehr verehrte Damen und Herren«, begann die ganz in Schwarz gewandete Dame und lächelte etwas gezwungen ins Publikum, »wir dürfen Sie noch um etwas Geduld bitten, wir warten noch auf Bernd Bockelbrink.«

Das Hauptmerkmal eines Großschriftstellers ist, dass er nie als Herr XY vorgestellt wird (oder im Fall einer Großschriftstellerin als Frau XY), sondern immer in Verbindung mit seinem Vornamen, so wie es verdienten Politikern geschieht, vielen Schlagersternchen oder auch manchem bedeutenden Sportler, Uwe Seeler zum Beispiel. In Ermangelung von Ehrentiteln wie dem englischen »Sir« tritt im Deutschen ersatzweise der Vorname prominent in Erscheinung und verschmilzt mit dem Familiennamen zu einer unzertrennlichen Einheit. Auch bei Schauspielern ist dieses Phänomen zu beobachten, man denke nur an Bruno Ganz, während man sich bei prominenten Schauspielerinnen gerne des bestimmten Artikels bedient und von der Knef spricht oder der Deneuve.

Mit oder ohne Vornamen, Bernd Bockelbrink kam einfach nicht, und wer ihn deswegen still verfluchte, würde seine Ungeduld schon bald bereuen, denn wie soll man seinen Verpflichtungen nachkommen, wenn gerade das Leben aus einem hinausfließt?

 

Max Rathgeber eilte aus dem Theater in die Passage, die das Theater vom Redoutensaal trennte, und weiter auf die Theaterstraße. Zunächst hatte er es telefonisch versucht; im Hotel jedoch war die Leitung belegt, also hatte er beschlossen, sich selbst auf den Weg zu machen. Es war ja nicht weit, nichts war wirklich weit in Erlangen: vom Markgrafentheater zum Kleinen Markgrafen war es nur ein Katzensprung.

Der jungen Frau an der Rezeption, die immer noch ­telefonierte, hastig zunickend, stürmte Rathgeber hinauf zu Zimmer 4 und klopfte an die Tür. Max Rathgeber war der langjährige Leiter des Erlanger Poetenfestes. Als solcher hatte er manches schon erlebt, auch viele Extravaganzen, waren Poeten doch nicht immer frei von Eitelkeiten. Es bedurfte einer gestandenen Persönlichkeit, um sich von all den Sonderwünschen nicht verrückt machen zu lassen, und Max Rathgeber war im Besitz einer solchen Persönlichkeit. Selbst als vor Jahren ein Poet, schon auf der Bühne sitzend, verlangte, mit dem Rücken zum Publikum zu lesen, weil ihn die vielen fremden Gesichter irritierten, hatte er ihm diesen Wunsch mit absoluter Souveränität erfüllt. Und wuchs ihm wirklich mal etwas über den Kopf, harmonisierte er sein Seelenleben mit zwei, drei Bierchen schnell wieder. Erneut klopfte er an die Tür, resoluter als zuvor. Als sich immer noch nichts rührte, drückte Rathgeber entschlossen die Klinke hinunter und öffnete. Den Anblick, der sich ihm bot, sollte er nie wieder vergessen.

 

Sein Handy schaltete Mütze auch im Theater nicht aus. Deswegen war er eine Minute später im Hotel.

»Wer hatte Herrn Bockelbrink zuletzt besucht?«

Franzi Korona, die junge Rezeptionistin, sah den Kommissar hilflos an und zuckte mit den Schultern. Ihr Make-up war verschmiert, die Augen gerötet.

»Ist Ihnen irgendetwas anderes aufgefallen? Lärm, Schreie, Hilferufe?«

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

»Gibt es einen Aufzug oder einen Nebeneingang, der zum ersten Stock führt?«

In diesem Moment läutete das Handy von Max Rathgeber, der neben Mütze stand. Rasch fingerte es der Festivalleiter aus der Innentasche seiner Cordjacke.

»Wirklich? … Aber meint ihr nicht? … Okay, okay … nein, nein … wenn Sunder-Plassmann meint … okay, einverstanden. Ich komme dann nach.«

»Was gibt’s?«, fragte Mütze.

»Das Autorenporträt«, stotterte Max Rathgeber, »es wird nun doch stattfinden.«

 

Man sollte noch lange darüber streiten. Die einen fanden es einfach geschmacklos, andere wiederum, zu denen auch Karl-Dieter gehörte, lobten die Entscheidung der Festivalleitung als mutig und angemessen. Wie auch immer, als sich mit einer halbstündigen Verspätung der Vorhang des Markgrafentheaters endlich hob, trat Cora Swebisch an den Bühnenrand und erklärte zum Entsetzen des Publikums, dass Bernd Bockelbrink überraschend verstorben sei. Nach einer kleinen Kunstpause, mit der die erfahrene Moderatorin den Zuhörern Gelegenheit gab, die schreckliche Botschaft zu verarbeiten, setzte sie ihre Ansprache fort. Um das Ansehen des Verstorbenen zu würdigen, sei in dieser schweren Stunde der deutschen Literaturgeschichte sein Freund und Verleger Ludwig Sunder-Plassmann, wenngleich »wie wir alle« tief betroffen von der Todesnachricht, spontan bereit, den Platz von Bernd Bockelbrink einzunehmen und an seinen Freund zu erinnern.

»Eine Art Requiem, verehrte Damen und Herren, der Versuch eines Freundes, Bernd Bockelbrink, der uns alle hier zusammengeführt hat, eine letzte Ehre zu erweisen. Wenn jemand dennoch den Wunsch verspüren sollte, das Theater zu verlassen, ist das selbstverständlich nur zu gut zu verstehen. Der Eintrittspreis wird in diesem Fall natürlich erstattet.«

Nie war eine Stille ergreifender. Niemand stand auf, alle blieben wie versteinert auf ihren Stühlen sitzen. In die Stille hinein trat ein großer, schlaksiger Mann mit weißer Löwenmähne aufs Podium, Sunder-Plassmann. Nachdem er Cora Swebisch die Hand geschüttelt hatte, nahm er auf dem Sofa Platz, dem einzigen Möbelstück der Bühne, in deren Hintergrund sich eindrucksvoll Karl-Dieters Bücher-Manhattan erhob. Mit bedeutender Geste strich sich der Verleger noch einmal durchs Haar, dann nahm er seine blaue Hornbrille ab und schnäuzte sich kräftig. Als sich Cora Swebisch zu ihm setzte, griff Sunder-Plassmann, von einer spontanen Rührung überwältigt, erneut nach ihren Händen und drückte sie fest zusammen. Die Moderatorin reagierte mit einem pikierten Lächeln, zog jedoch ihre Hände nicht zurück, sondern ertrug die Situation, auch in diesem Moment die kühle Professionalität beweisend, für die sie berüchtigt war. Nach einigen Momenten schien sich Sunder-Plassmann wieder gefangen zu haben, das Gespräch konnte beginnen.

 

»Und? Was hat er über den Toten gesagt?«

Mütze griff sich einen Gemüsespieß und begann ihn hungrig abzunagen. Die Freunde saßen am Küchentisch ihrer gemütlichen Wohnung in Kosbach, Erlangens fischreichem Vorort, in dem die Karpfen fröhlich gründelten. Karl-Dieter hatte auf die Schnelle noch ein Nachtessen gezaubert, lauter gesunde Snacks mit Zutaten aus biologisch-dynamischem Anbau. An der Wand über der Sitzbank hing fantasievoll gestickt und mit Blümchen verziert der Spruch »Mein guter Geist, mein bessres Ich«, ein Rückert-Zitat, das Karl-Dieter besonders gut gefiel. In der Nische neben der Tür steckten orangegelbe Ringelblumen in kleinen Reagenzgläsern.

»Es war zum Heulen schön«, sagte Karl-Dieter, »Sunder-Plassmann hat zunächst kaum einen Satz herausgebracht, ohne dass es ihn geschüttelt hätte, schließlich aber hat er die Fassung zurückgewonnen und seiner Freundschaft zu Bockelbrink in wunderbarer Weise ein Denkmal gesetzt. Wer davon nicht ergriffen worden ist, der hat kein Herz.«

»Irgendwas von Belang hat er nicht gesagt, etwas über Feinde, Neider, Drohungen?«

»Mensch, Mütze, du bist unmöglich! Da stirbt ein Mensch, und ein Freund überwindet seinen Schmerz und erinnert sich. Und du beklagst mangelnden Belang!«

»Tut mir leid, Bernd Bockelbrink ist ermordet worden.«

»Mein Gott! Das wusste ich nicht, davon hat niemand was gesagt. Ist das sicher?« Karl-Dieter fiel fast die Gabel aus der Hand.

»Allenfalls kommt noch Selbstmord infrage. Wer aber drückt sich einen Stapel Papier auf den blutenden Bauch, wenn er den Abgang machen möchte?«

 

Professor Krautwurst war in seinem Element. Mütze schätzte den Erlanger Rechtsmediziner, dessen Verstand noch schärfer war als sein Seziermesser. Kürzlich hatte er ein historisches Skelett untersucht, das man bei Bauarbeiten am Altstädter Kirchenplatz ausgebuddelt hatte. Dabei war es ihm gelungen, eine winzige Frakturlinie am Zungenbein zu finden, die dafür sprach, dass man den Mann erwürgt hatte. Mütze und Krautwurst waren aus dem gleichen Holz geschnitzt, sie liebten die berufliche Herausforderung.

»Schön, nicht wahr?«, sagte Krautwurst, während er den Darm des Großschriftstellers durch seine Finger gleiten ließ. »Dieser Glanz, diese feine Gefäßzeichnung. Die meisten Menschen wissen gar nicht, was für ein Kunstwerk sie da in sich tragen.«

»Ist der Darm verletzt?«, fragte Mütze.

»Der Darm nicht, wohl aber die Milz«, sagte Krautwurst, griff tief unter den linken Rippenbogen und fischte mit ­einer geschickten Handbewegung ein tiefrotes Organ hervor.

»Sehen Sie den Stichkanal? Mitten in die Milz hinein. Das hat er nicht überlebt.«

»Ich dachte, der Mensch kann auch ohne Milz leben.«

»Ohne Milz schon, nicht aber ohne Blut. Kaum ein menschliches Organ ist so gut durchblutet wie die Milz. Das meiste Blut ist in den Bauchraum gesuppt. Sehen Sie hier!«

Krautwurst griff sich die beiden Hälften der Bauchdecke, deren Muskeln und Fettgewebe er zuvor durch einen sauberen Schnitt getrennt hatte, und zog sie energisch ausei­nander. Mit einem schmatzenden Geräusch öffnete sich die Bauchhöhle.

»Wären Sie so freundlich, Herr Kommissar, die Stehlampe ein wenig in meine Richtung zu kippen? – Jawohl, sehr gut. Sehen Sie das rote Meer?«

Mütze nickte. Eine Unmenge Blut schwappte in der Tiefe.

»Ein Konstruktionsfehler der Natur. Hautwunden verschließen sich oft von selbst, Wunden an den inneren Organen suppen ewig weiter. Die Natur hat nicht damit gerechnet, dass jemand mit Messern in unseren Eingeweiden herumwühlt.«

»Kommt Selbstmord infrage?«

»Zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht sicher auszuschließen. Der Stichkanal könnte auch von eigener Hand herrühren. Die Milz sitzt links, und Bockelbrink war Rechtshänder.«

»Woher wissen Sie das?«

»Aber Herr Kommissar, das fällt doch selbst den Kollegen in Pusemuckel auf!«

Der Professor griff nach der rechten Hand des Toten.

»Sehen Sie die Schwielen am Mittelfinger? Bernd Bockelbrink schrieb noch mit der Hand. Seltsam, wie das Leben spielt. Seit gestern liegt der aktuelle Bockelbrink auf meinem Nachttisch, und heute schon macht es sich sein Autor auf meinem Sektionstisch bequem.«

 

Es war bereits nach Mitternacht, als Mütze die Pathologie verließ, jenen altehrwürdigen Gründerzeitbau, der noch zu königlich-bayerischen Zeiten errichtet worden war. Für ihn hatte man den halben Schlossgarten geopfert. Erlangen hielt bis heute daran fest, die Kliniken nicht aus der Innenstadt entkommen zu lassen. Auch wenn die Hugenottenstadt bereits aus allen Nähten platzte, zwängte man noch in die letzte Lücke ein Bettenhaus oder Forschungsinstitut, zugleich schüttelte man verwundert den Kopf und beklagte den zunehmenden Mangel an Parkplätzen. Warum radelten die Patienten denn nicht mit dem Fahrrad zur OP?

Mütze kannte keine Parkplatzprobleme. Sein Auto durfte er hinstellen, wo er wollte. Das waren die kleinen Annehmlichkeiten seines Berufs. Mütze schwang sich jedoch nicht in seinen Opel Manta, sondern machte stattdessen noch einen Gang zum Kleinen Markgrafen, dem Hotel, in dem Bernd Bockelbrink seinen letzten Seufzer getan hatte. Im Lokal vis-à-vis war er mit einem wichtigen Zeugen verabredet. Dank Karl-Dieter wusste Mütze in groben Zügen, was die Welt an Bernd Bockelbrink verloren hatte. Literatur war nicht Mützes Spezialgebiet. Wenn man ihn ärgern wollte, schenkte man ihm ein Buch. Bernd Bockelbrink jedenfalls, so Karl-Dieter, zähle zur poetischen Elite. Sogar für den Nobelpreis habe man ihn vorgeschlagen.

 

»Den wird er leider nicht mehr bekommen.«

Ludwig Sunder-Plassmann war der letzte Gast des Theatercafés. Durchs Fenster sah man ein Lichtermeer flackern, zahllose Grablichter, von den Leuten neben dem Eingang zum Kleinen Markgrafen abgestellt, Blumen lagen dazwischen, auch Zettel mit letzten Grüßen. Der persische Wirt kam, fragte nach Mützes Wünschen und stellte Sunder-Plassmann ein Glas Rotwein hin. Eigentlich hatte er längst schließen wollen, in diesem Fall aber, wo es sich um den Star unter den deutschen Verlegern handelte, machte er gern eine Ausnahme.

»Und wieso nicht?«, fragte Mütze und bestellte sich ein Weißbier.

»Der Nobelpreis wird nur Lebenden verliehen«, seufzte Sunder-Plassmann und raufte sich seine weiße Mähne.

Der Verleger sah erschöpft aus. Sunder-Plassmann leitete den renommierten PescatorVerlag. Er zählte noch zur alten Schule der Verleger, zu den Herausgebern, die über Jahrzehnte eine persönliche Beziehung zu ihren Autoren aufgebaut hatten. Für viele war er ein Freund, für manche gar ein Seelsorger.

»Herr Sunder-Plassmann, wie lange kannten Sie Bernd Bockelbrink?«

»Ach, seit Ewigkeiten! In den Sechzigerjahren hatte ich seinen ersten Roman herausgegeben, Sie wissen schon: Das Mädchen und der Angler. Das Buch wurde ein Bestseller und machte Bernd mit einem Schlag berühmt. Alle glaubten, ich hätte einen Glücksgriff getan. In gewisser Weise stimmt das auch, und doch ist es vollkommen falsch.«

»Wie habe ich das zu verstehen?«

»Wissen Sie, wie viele Manuskripte man als Verleger zugeschickt bekommt? Heute geht es ja, heute kommt alles per E-Mail, ein Klick, und die Dinger lösen sich in Luft auf. Doch damals kamen die Romanentwürfe noch per Post. Säckeweise! Wenn man nicht aufpasste, wurde man unter Manuskripten begraben. Das meiste davon war Schund. Finden Sie in einem Misthaufen einmal eine Perle! Einen echten Erfolgsroman zu entdecken, dafür braucht es ein besonderes Händchen. Das hat nichts mit einem Glücksgriff zu tun.«

Beim Blick durch das Fenster sah Mütze eine Frau mit Kopftuch, die sich niederkniete, um ein weiteres Grablicht anzuzünden.

»Wann haben Sie Herrn Bockelbrink zuletzt gesehen?«

»Heute Mittag. Wir hatten einen Spaziergang den kleinen Berg hinauf gemacht, Sie wissen schon, gleich drüben auf der anderen Seite des Flüsschens.«

»Ist Ihnen etwas aufgefallen? War Herr Bockelbrink nervös, hat er sich bedroht gefühlt?«

»Bedroht gefühlt? Aber natürlich! Das ist es ja gerade, das war Bernds Problem. Er hat sich permanent bedroht gefühlt.«

»Ach ja? Interessant! Von wem denn?«

»Von allen und jedem. Von den Kritikern, aber auch von seinen Lesern. Nachdem sein erster Erfolgsroman erschienen war, schrieb ihm ein Kauz, er habe zwei Straßenzüge in Manhattan verwechselt, das Buch müsse eingestampft werden. Verstehen Sie? Das hat Bernd völlig aus der Fassung gebracht. Anstatt wie ich darüber zu lachen, haben ihn die übelsten Selbstzweifel gepackt, egal, wie sehr ihn die Kritik in den Himmel gelobt hat. Wegen zwei Straßenzügen!«

»Und heute? Von wem hat er sich heute bedroht gefühlt?«

»Heute? Von niemand besonderem. Er war aber wieder in dieser speziellen Stimmung, nervös, rastlos, getrieben. Ich dachte, ein Spaziergang täte ihm gut. Ich hatte ihm vom Platenhäuschen am Burgberg erzählt, das wollte er sich gerne anschauen. Als wir vor der Hütte standen, schwieg er. Dann sagte er, so muss man es machen, genauso wie Platen.«

»Wie hat er das gemeint?«

»Sich zurückziehen von der Welt. Dann hat er ein Rückert-­Gedicht zitiert: ›Ich bin der Welt abhandengekommen‹. Das allein müsse das Ziel sein, nur so könne man seinen Frieden finden.«

»Klingt depressiv.«

»Er hatte Angst vor dem Auftritt am Abend. Er hasste den Literaturbetrieb, den ganzen Rummel. Herr Kommissar, bitte sagen Sie mir die Wahrheit, mir als seinem einzigen Freund. Bernd hat sich umgebracht, nicht wahr?«

 

Nacht über Erlangen. Unermüdlich machten drei rote Kränze auf den hohen Schlot der Stadtwerke aufmerksam. Die Signallichter waren wichtig, damit sich kein anfliegender Hubschrauber die Nase lädierte. Hubschrauber waren in Erlangen kein ungewohnter Anblick. Sie brummten auf Erlangen zu wie verstreute Wildbienen zu ihrem Stock. Das Ziel der Hubschrauber waren die Notaufnahmen der Kliniken. Während alles schlief, wachten dort Ärzte und Pfleger, um Leben zu retten – Schwerverletzte nach Unfällen von den nahen Autobahnen oder auch internistische Notfälle aus unwegsamen Landschaften, aus dem Herzen der Fränkischen Schweiz etwa, wo die Patienten ansonsten auf dem Weg in die Notaufnahme in einem Krankenwagen verblutet wären. Jedes Ding hatte seine Bedeutung. Auch die kleinen roten Lämpchen über dem Himmel von Erlangen. Man musste die Botschaft nur richtig zu deuten wissen.

 

Samstag

Das Fest ging weiter. Dem tragischen Todesfall zum Trotz, der die Titelseite aller Tageszeitungen schmückte, wobei schmücken natürlich nicht der passende Ausdruck war, hatten die Stadtverantwortlichen beschlossen, das Poetenfest nicht abzubrechen. »Literatur ist stärker als der Tod!« Diese Devise gab die Festivalleitung aus. Alle Poeten und auch viele Zuschauer trugen eine kleine schwarze Schleife am Revers, als das Programm am Samstagmorgen fortgesetzt wurde. Natürlich überlagerte das tragische Ende Bockelbrinks alle anderen Themen. Die Sache mit dem Messer hatte sich herumgesprochen, zum nicht geringen Ärger Mützes. Wer zum Teufel hatte das ausgeplaudert? Das war Täterwissen! Die einen munkelten, Bockelbrink sei ermordet worden, andere sprachen respektvoll von Freitod. Ungeduldig warteten alle darauf, den wahren Sachverhalt zu erfahren.

Mütze war nicht unschuldig an dem Beschluss der Stadt. In einem Telefonat mit dem Oberbürgermeister hatte er dringend darum gebeten, die Literaturtage nicht zu beenden. Andernfalls nämlich glaubte er seine Ermittlungen deutlich erschwert, würden doch mögliche Zeugen verfrüht abreisen.

 

Als Mütze im »Kasten« auftauchte, wie sie die Erlanger Polizeidirektion nannten, saß Big-Chip schon an seinem Schreibtisch. Big-Chip war Mützes Sidekick, Franke durch und durch und von einer beneidenswerten Gelassenheit. Nur wenn der Club eine Partie vergeigte, drückte das auf seine Stimmung. Noch aber war die Saison jung und die Hoffnung groß. Big-Chip nannten ihn die Kollegen wegen seiner phänomenalen Computerkenntnisse. Das fränkische Technik-Gen schlug bei ihm voll durch.

»Schau her«, sagte Big-Chip und deutete auf seinen Bildschirm, »die Jungs von der Spusi haben Überstunden gemacht.«

Mütze schaute ihm über die Schulter, und in seinen Augen blitzte es auf: »Kein Selbstmord, hab ich’s nicht gesagt? Check!«

Spontan hielt er Big-Chip die Hand zum Einschlagen hin, was Big-Chip aber geflissentlich ignorierte. Mützes Sehnsucht nach Mordfällen grenzte schon ans Pathologische. Ein Selbstmord liege weiterhin im Bereich der Möglichkeiten, gab Big-Chip zu bedenken, Mütze aber wollte nichts davon wissen und deutete auf ein Foto der Spusi, das feine fluoreszierende Muster zeigte.

»Schau dir doch die Handlinienabdrücke auf der Waffe an, Big-Chip! Wenn die keine klare Sprache sprechen! Da, schau, nimm einmal dein Brotzeitmesser.«

Big-Chip war Junggeselle und hatte die Angewohnheit, auf der Wache zu frühstücken. Bei der Fahrt zur Arbeit kaufte er sich bei der Brucker Metzgerei Lang stets eine dicke Scheibe Leberkäs und eine Semmel, um dann im »Kasten« alles auf seinem Schreibtisch auszubreiten und sein Feinschmeckermenü mit einer Coke-Zero aus dem Kantinenautomaten hinunterzuspülen.

»Na, los doch!«, forderte ihn Mütze auf.

Zögerlich griff Big-Chip nach dem Messer und strich die letzten Senfspuren am Tellerrand ab. Dann dachte er kurz nach, legte das Messer wieder zurück und packte es so, dass die Klinge die Hand nicht am Daumen, sondern am kleinen Finger verließ.

»Stopp!«, rief Mütze, und über sein Gesicht huschte ein triumphierendes Lächeln. »Genauso hält ein Mensch das Messer, der sich umbringen will. Und nun tu mal so, als würdest du ein Messer herausziehen, das dir jemand in den Bauch gerammt hat.«

Big-Chip überlegte kurz und griff sich das Messer dann auf andere Weise, nämlich mit dem Daumen nahe der Klinge.

»Siehst du!«, triumphierte Mütze.

»Ne, ne«, brummte Big-Chip, »das ginge auch andersherum.«

»Gehen täte es schon«, sagte Mütze, »aber machen würde es keiner.«

Big-Chip blieb skeptisch. Ein Beweis für einen Mord war das noch lange nicht, allenfalls ein Indiz.

»Big-Chip, ungläubiger Thomas. Wann hatten wir zuletzt einen Selbstmörder, der sich erstochen hat?«

 

Karl-Dieter gab Mütze recht.

»Es ist literaturgeschichtlich gesichert, dass sich der Mensch ungern ersticht«, sagte er und gönnte seinem Salat einen Extraschuss Olivenöl, »niemand Geringeres als Goethe hat davon berichtet. Als ihn in seiner Jugend Selbstmordgedanken plagten, legte er sich einen scharfen Dolch unter das Bett. Wenn er nicht den Mumm habe, sich auf diese mannhafte Weise das Leben zu nehmen, solle er zur Strafe weiterleben, schwor er sich. Und wurde sehr, sehr alt.«

Die beiden Lebenspartner hatten sich zum Mittagessen im Biergarten der ehemaligen Kitzmann-Brauerei getroffen. Wie hatte Mütze es geliebt, wenn die frischen Braudünste die Luft schwängerten; nun jedoch war der Kamin stillgelegt, kein Tröpfchen Bier siedete mehr im Kessel. Und das nach dreihundert Jahren Brautradition! Mit Erlangen ging’s bergab. Wie mit seiner Heimatstadt Dortmund, dort hatte es sechs stolze Brauereien dahingerafft.

»Was spricht der Dichter?«, seufzte Mütze. »Wo die Brauereien sterben, da stirbt auch der Mensch.«

Lustvoll zersäbelte er sein Schäufele. Was machte man nur außerhalb Frankens mit der Schweineschulter? Jede andere Verwendung außer der Veredelung zum Schäufele war eine Sünde. Wie zart das Fleisch auf der Zunge zerging! Versonnen betrachtete er die Klinge seines Messers. Karl-Dieter lag vollkommen richtig: Bockelbrink hatte sich nicht erstochen. Auch wenn man keine fremden Fingerabdrücke an der Tatwaffe gefunden hatte, es war Mord. Das war so sicher wie die Bröggala in einem fränkischen Kloß.

»Bockelbrink hat sich noch ein Manuskript auf die Wunde gepresst«, raunte er Karl-Dieter zu, »der wollte nicht sterben, der wollte leben!«

 

»Wer um alles in der Welt hatte Bernd Bockelbrink auf dem Gewissen? Wer steckte dahinter? Wer erstach einen harmlosen Schriftsteller?«

»Das weiß ich leider nicht«, sagte Professor Krautwurst, zu dem Mütze nach dem Mittagessen geeilt war. »Mit 99,9-prozentiger Wahrscheinlichkeit aber handelt es sich tatsächlich nicht um einen Suizid, sondern um Tod durch Fremdeinwirkung.«

Die beiden Männer standen in dem gefliesten Obduktionssaal. Schutzlos lag der nackte Leichnam Bockelbrinks im gleißenden Licht der Neonröhren, fahl glänzte der Körper. Ziemlich wächsern sah der Großschriftsteller aus, fand Mütze, fast wie ein Werk von Madame Tussaud. Das Gesicht des Toten faszinierte ihn. Eine große Empörung schien darauf zu liegen, eine Art stiller Zorn. Mütze kniff ein Auge zu und ging zugleich in die Knie. Oder täuschte er sich? Was der Tod alles so mit einem Menschen anstellte. Mütze wunderte sich noch über ein kleines Tattoo, eine Rose, die auf dem rechten Knöchel des Schriftstellers blühte. Ein Mann Ende siebzig, noch dazu ein Mann von Geist, wie kam der auf die Idee, sich tätowieren zu lassen?

»Sehen Sie her, Mütze, ich demonstriere Ihnen den Stichkanal.«

Bei diesen Worten spreizte der Rechtsmediziner die Stichwunde mit seiner rechten Hand und führte sodann mit professioneller Entschlossenheit ein Instrument in die Leiche ein, eine Art Brieföffner, den er immer tiefer hineinschob, bis nach etwa zwanzig Zentimetern der Anschlag erreicht war.

»Wenn sich ein Rechtshänder ersticht, müsste der Griff des Messers nach schräg rechts zeigen, also vom Toten aus betrachtet. Hier jedoch …«

Mütze nickte. Der Griff zeigte nach links.

»Abwehrspuren haben wir keine gefunden«, fuhr Krautwurst fort und wischte den Brieföffner an seiner Schürze sauber, »Bockelbrink muss völlig überrascht worden sein. Er hat das Messer noch herausziehen können, dann ist es ihm beim Sterben aus der Hand gefallen.«

»Lässt sich der Todeszeitpunkt schon bestimmen?«

»Ziemlich genau zwischen 18 und 19 Uhr. Ergibt der Gerinnungsstatus des ausgetretenen Blutes unter Berücksichtigung der Konzentration der Acetylsalicylsäure.«

»Acetylsalicylsäure?«

»Aspirin. Sehen Sie her.«

Der Professor griff in eine Schale und zog das Herz des Toten heraus. Dann deutete er auf eine Stelle an der Vorderwand.