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Ota Filip ist der geborene Geschichtenerzähler. Seine Romane sind vollgestopft mit Erzählabenteuern, die jeweils für sich kleine Meisterwerke darstellen. Als unübertroffen darf Filip in der satirischen Zuspitzung gelten. In diesem Genre ist er der Schrecken aller Bürokraten, im Westen wie im Osten. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 208
Ota Filip
Tomatendiebe in Aserbaidschan
und andere Satiren
FISCHER E-Books
Am Totensonntag des Jahres 1944 war ein herrliches Wetter. Große Schwärme von glitzernden Störchen zogen am blauen Himmel über den mährischen Beskiden von Süden nach Norden. Die Kondensstreifen, die sie in ihren Flugbahnen hinterließen, bewegten sich nicht.
Der Großvater, der im Ersten Weltkrieg bei der k.u.k. Artillerie gedient hatte, sagte: »Im schlesischen Kohlenrevier ist bald die Hölle los.«
Nach einer halben Stunde hörten wir von Norden ein dumpfes Dröhnen, und bald darauf zogen die Störche zurück. Nur ein Vogel hinterließ in seiner Flugbahn eine schwarze Rauchfahne. Über den südlichen Bergrücken flog er mitten in eine Explosion, die rot und gelb aufleuchtete. Er kam aus ihr nie heraus.
Wir standen mit dem Großvater an unseren Zaun gelehnt. Bevor die Störche von Süden gegen Norden zogen, kamen deutsche Soldaten anmarschiert, und der Offizier ließ vor dem Zaun eine große gelb-schwarze Tafel anbringen, auf der zu lesen war: Achtung, Bandengefahr! Dann marschierten die Soldaten weiter die Straße in die Berge und Wälder hoch.
Erst später, die Kirchenglocken hatten gerade zu Mittag geläutet, zuerst, wie sich’s gehört, die Glocke am Turm der katholischen Kirche und dann erst die evangelische, kam ein einsamer deutscher Soldat die Straße vom Dorf hergehinkt. Vor der Tafel an unserem Zaun, der ein weißes Haus umrahmte, blieb der Soldat stehen und sagte zu meinem Großvater: »Ein schönes Haus!«
»Gehört auch mir!« antwortete der Großvater stolz.
Ich aber sah, daß der Soldat nicht unser Haus, sondern die gelb-schwarze Tafel mit der Aufschrift: Achtung, Bandengefahr! mit ängstlichem Blick musterte.
»Sind Soldaten vorbeigezogen?« fragte er nach einer Weile.
»Ja, vor einer halben Stunde sind sie die Straße hochmarschiert«, sagte mein Großvater.
»Dann mache ich mich auch auf den Weg«, seufzte der Soldat und hinkte die Landstraße hoch in die Berge und Wälder.
Nach einer Viertelstunde, mehr Zeit war ganz bestimmt nicht verflossen, als wir mit Großvater gerade bei den Bienenstöcken standen, hörten wir oben vom Waldrand Schüsse. Ich sah meinen Onkel aus unserem Haus quer über die nassen Wiesen zum Wald laufen. Ich rannte ihm nach, und hinter mir keuchte auch der Großvater.
Am Waldrand, dort wo die Straße in einer leichten Kurve in den Schatten eintauchte, sah ich den deutschen Soldaten mit dem Gesicht im Staub liegen.
Mein Großvater beugte sich über ihn, drehte ihn mit dem Gesicht zum Himmel und sagte: »Er ist tot!« Dann hob er das Gewehr des Soldaten auf, öffnete den Verschluß, schaute ein wenig ratlos herum und flüsterte: »Der hat drei Schüsse abgegeben …«
Ich hatte gar nicht bemerkt, daß inzwischen mehrere Nachbarn angerannt kamen. Herr Mikula, der unter Großvater in Italien als Kanonier gedient hatte, sagte: »Herr Oberleutnant, den haben die Partisanen erschossen!«
Böse und schlechte Nachrichten verbreiten sich auf eine geheimnisvolle Art und Weise blitzschnell. Ich erinnere mich, daß im Augenblick, als der Großvater das Gewehr wieder in den Staub der Landstraße fallen ließ, schon die zwei Pfarrer aus dem Dorf angeradelt kamen. Zuerst der katholische mit den heiligen Sakramenten im Koffer auf dem Gepäckträger und hinter ihm der evangelische Pastor mit der Bibel in der Hand.
Der katholische Pfarrer, der, wenn es nötig war, auch im Dorf den Arzt vertrat, knöpfte dem Soldaten die Bluse auf, nahm ihm vom Hals ein Stück rundes Metall ab, brach es entzwei, es ging sehr leicht, und sagte: »Gott erbarme sich seiner Seele!«
Er nahm auch die Dokumente des Soldaten an sich.
»Nach dem Krieg werde ich seine Verwandten benachrichtigen«, seufzte er schwer.
»Leute«, erhob der evangelische Pastor seine Stimme, »wir müssen den Soldaten sofort begraben, sonst gibt es Ärger mit den Deutschen.«
Und es waren auch schon einige Nachbarn mit Hacken und Schaufeln da, und ohne ein Wort zu sagen, machten sie sich an die Arbeit und gruben links von der Landstraße, gleich am Waldrand, ein Grab. Man legte den deutschen Soldaten mit seinem Tornister und Gewehr ins Grab, der katholische Pfarrer sprach ein Gebet, der Pastor las aus der Bibel, und Herr Mikula sagte zuletzt: »So ist es richtig! Man weiß ja nicht, in welchen Himmel oder in welches Fegefeuer er jetzt aufsteigt!«
Der deutsche Soldat war noch nicht ganz zugeschüttet, als aus dem Gebüsch am Waldrand ein Aufstöhnen zu hören war. Ein blutüberströmter Mann kroch auf allen Vieren aus dem Wald auf die Stimmen zu, und als ihn die Männer aufgehoben hatten, starb er.
»O Gott«, sagte der Pastor, »ein Partisan!«
Ohne ein Wort zu sagen, gruben die Männer noch ein Grab. Es war nicht so tief wie das Grab des deutschen Soldaten, in dem der schon, von Licht und Leben durch die feuchte Erde getrennt, lag.
Ganz eilig sprachen die Geistlichen einige Gebete, die Männer warteten nicht einmal das Amen ab und schütteten auch das zweite Grab zu.
Also hier lagen sie nun: der deutsche Soldat und der Partisan friedlich nebeneinander in Gräbern, die man mit trockenem Laub getarnt hat, damit keiner erkennen konnte, daß unter einer hohen Tanne zwei Tote lagen.
Es dämmerte schon, als wir mit dem Großvater nach Hause kamen.
Wochen und Monate vergingen. Keiner fragte nach den Toten, nicht die Deutschen und nicht die Partisanen.
Dann war der Krieg vorbei, und wir zogen mit dem Vater und der Mutter in die Stadt zurück, nahmen aus Großvaters weißem Haus unsere kostbaren Möbel und das Porzellan mit. Alles haben wir gerettet: Unser Leben und auch unsere kostbaren Sachen.
Als ich wieder meine ersten Sommerferien nach dem Krieg bei Großvater verbrachte, fand ich am Waldrand unter der großen Tanne einen aus Granit gemeißelten Grabstein mit einem roten Stern aus Metall obendrauf.
Hier liegt ein unbekannter sowjetischer Held und Partisan, stand auf dem Stein mit goldener Schrift geschrieben.
Ich erkannte sofort: Man hatte aus Versehen das Grabmal für den sowjetischen Partisan über dem Grab des deutschen Soldaten aufgestellt, denn der richtige Partisan lag zwei Meter weiter links.
Es bleibt noch die Frage nach der Gerechtigkeit zu stellen; sie scheint mir aber überflüssig und ist außerdem nicht zu beantworten. Ein Versehen, ein kluger Streich der gerechten Ironie, hat die verrückte Geschichte, die sich am Totensonntag des Jahres 1944 oberhalb unseres weißen Hauses abspielte, mit einem bitteren Witz auf Ewigkeit geregelt …
Junge sozialistische Pioniere kommen einmal im Jahr zum Grabmal mit dem roten Stern und schwören dem deutschen Soldaten, der unter der Erde liegt, Treue zur Sowjetunion und dem Kommunismus.
Ich wollte mit 20 Jahren Sportredakteur werden. Die Dame, besser gesagt die Genossin, die meine Karriere vernichtete und mich so zwang, Schriftsteller zu werden, hieß Nina Dumbadze und war 1952 Weltrekordlerin in Diskuswerfen. Ich wäre Nina nie begegnet, wenn nicht einige Umstände und Zufälle mit ins Spiel gekommen wären. Heute, nach so vielen Jahren, kann ich mir die Schuld für mein Malheur mit Nina Dumbadze selbst in die Schuhe schieben. Damals bemühte ich mich für eine Prager Jugendzeitung über das »internationale freundschaftliche Treffen der tschechoslowakischen und sowjetischen Leichtathleten« zu berichten, um damit mein armseliges Studentengeld ein wenig aufzubessern. Man hätte mir diese Berichterstattung nie anvertraut, wenn der für die Freundschaft mit der UdSSR zuständige Redakteur nicht kurz nach seiner Rückkehr aus Moskau an Maul- und Klauenseuche erkrankt wäre.
Da die Zeitung keinen anderen Redakteur zur Verfügung hatte, der russisch sprechen konnte, fand man sich mit mir ab und schickte mich in das Prager Nobelhotel »ALCRON« zum »freundschaftlichen Treffen« mit unseren sowjetischen Mustermenschen und Superathleten. In dem Augenblick, als ich den mit roten Fahnen reichlich geschmückten Saal des Hotels betrat, war mein Schicksal eigentlich schon besiegelt. Zu meinem Unglück traf ich dort meinen guten Freund Jiří Nezbeda, den damaligen Rekordinhaber im 400-Meter-Lauf. »Es ist hier nicht viel los«, sagte Jiří, »es wurde ein wenig über die ewige Freundschaft gequatscht. Jetzt warte ich nur ab, bis der Kaviar auf die Tische kommt, dann stopfe ich mir den Bauch voll und verschwinde.«
»Hilf mir, Jiří«, flehte ich meinen Freund an, »ich muß übers Treffen berichten! Es muß doch hier etwas Interessantes geben!«
»Interessant ist nur die Nina Dumbadze«, sagte Jiří, damals auch ein Medizinstudent, »man munkelt, daß Nina keine Frau sei, sondern … Um es kurz zu fassen: Die Mädchen sagten mir, daß sie aufgepumpte Gummibusen trägt. Wär’s interessant festzustellen …«
»Ich geh’ ran, Jirka!« flüsterte ich in Nezbedas Ohr.
»Da, nimm eine Nadel. Wenn du mit ihr tanzt, steche sie in den Busen. Tja, dann wissen wir’s eben genau.«
Ich nahm die Nadel aus Jiřís Hand, ging zum Tisch, an dem die Weltrekordlerin im Diskuswerfen (57,04 m) thronte. Ich verbeugte mich vor ihr und bat sie um einen Tanz. Als Nina Dumbadze aufstand, erschrak ich. Mit meinen 180 Zentimetern Körperhöhe mußte ich neben ihr wie ein unterernährter Zwerg wirken. Man spielte gerade einen Walzer. Nina preßte mich an ihren muskulösen Körper, und ich hörte es aus ihrer Brust dröhnen: »Ich sollte gar nicht tanzen, denn wir bereiten uns für die Olympiade in Helsinki vor. Und da zeigen wir der ganzen Welt die Überlegenheit der sowjetischen Sportler. Sind Sie auch der Meinung, daß nur unser gesellschaftspolitisches System es dem Menschen ermöglicht, alle seine Talente und Fähigkeiten zu entwickeln?«
Ich hatte keine Meinung. Auch wenn ich sie hätte, wäre es mir unmöglich gewesen, sie auszusprechen, denn Nina preßte mich noch enger an ihren Körper. Sie schleppte mich übers Parkett. Nach einer gewaltigen Drehung sah ich plötzlich Jiří Nezbeda an einer Säule angelehnt stehen. Mit der linken Hand deutete mir mein Freund an: Ota, stich zu, stich schon zu!
Mit aller Kraft schob ich meine linke Hand, in der ich die Nadel hielt, von Ninas Schulter in die Höhe ihrer Brust herunter und stach zu …
Nina Dumbadze schrie wie eine Löwin auf.
Im letzten Augenblick konnte ich gerade noch ihrem weit ausgeholten Schlag ausweichen. Hätte er mich damals getroffen, wäre meine Chance, einmal ein Schriftsteller zu werden, minimal gewesen.
Was weiter geschah, weiß ich nicht zu berichten. Jedenfalls war meine Karriere als Sportredakteur zu Ende. Da ich keinen Bericht über das »freundschaftliche internationale Treffen« der verbrüderten Leichtathleten schreiben konnte, las ich am nächsten Tag in der Jugendzeitung nur eine Notiz: Das Treffen verlief in einer freundschaftlichen Atmosphäre und festigte die Bande der tschechoslowakischen Sportler mit ihren sowjetischen Vorbildern.
Wenn ich heute in der sogenannten sozialistischen Presse so eine Floskel lese, muß ich an Nina Dumbadze denken; ich höre wieder ihren fürchterlichen Aufschrei und das Sausen ihrer Faust über meinen Kopf.
BAYERISCHER RUNDFUNK, FRÜHJAHR1980
Dies wird eine ziemlich sentimentale Weihnachtsgeschichte. Eine richtige Schnulze mit allem, was dazugehört: Liebe, Verrat und Tod, und das alles im Gefängnis. Die Geschichte hat viele Fehler, nur eben den einen nicht: Sie wurde von mir nicht ausgedacht, denn sie ist, leider, wahr.
Ich habe zahlreiche Berufe ausgeübt; eine Zeitlang war ich auch in der Branche des Drogenhandels tätig, handelte jedoch nicht mit Heroin, Kokain oder Marihuana, sondern mit der Droge aller Häftlinge, die in ein sozialistisches Gefängnis der Tschechoslowakei eingeliefert werden. Yastyl heißt das Zeug.
Zu meinem erträglichen Job eines Drogenhändlers im sozialistischen Gefängnis, wo ich wegen Unterwühlung der sozialistischen Gesellschaftsordnung saß, kam ich erstens durch Zufall, zweitens ganz unschuldig und drittens durch eine gewisse Jarmila, Arbeiterin in einem Keramikwerk bei Pilsen.
Die ganze Geschichte ist etwas kompliziert, doch ich werde versuchen, mich kurz, bündig, und soweit es mir angebracht erscheint, auch wahrheitsgetreu auszudrücken.
Alles begann mit Karel, dem Dieb aus Karlsbad. Mit Karel klebte ich kleine Keramikwürfel auf rechteckige Papiere. Man sagte uns, daß diese Erzeugnisse für Außenfassaden bestimmt sind. Eines Tages sagte Karel: »Ich habe eine Idee! Wenn ich wieder draußen bin, spezialisiere ich mich auf Kirchen. Ich klaue Weihnachtskrippen und du verkaufst die Ware weiter. In unserer Branche bist du ein unbeschriebenes Blatt, hast Kontakte zum Westen …«
»Laß sein«, sagte ich.
Karel aber grübelte weiter.
Nach einigen Tagen sagte er wieder: »Ich habe eine Idee! Die keramischen Würfel, die wir hier kleben, kommen aus einer Fabrik; dorthin liefern wir wieder unsere fertigen Erzeugnisse. Ich hab’ mit dem Fahrer des LKW’s, der uns das Material bringt und die fertigen Platten in die Fabrik fährt, geredet. Stell dir mal vor, unsere Platten kontrollieren in der Fabrik bildhübsche Mädchen!«
»Na und?«
»Ich habe eben wieder eine Idee«, ließ mich Karel nicht aussprechen, »du bist doch ein Schriftsteller, also schreibe an eine Unbekannte einen schönen Brief, ich leg ihn in die Kiste mit den fertigen Platten, und wir warten ab. Bald haben wir Weihnachten, und da sind die Weiber ganz weich und sentimental!«
Ich schrieb also einen Brief: Liebe Unbekannte! Ich bin 22 Jahre alt, schon das zweite Jahr sitze ich im Gefängnis, noch einige Monate bleiben mir übrig. Jetzt vor Weihnachten geht der Mensch in sich. Ich habe mir heilig versprochen: Wenn ich herauskomme, will ich mich sofort bessern, keine Selbstbedienungsgeschäfte mehr ausrauben, sondern einen viel einträglicheren Job suchen. Und natürlich ein nettes Mädchen dazu, welches mich in das neue Leben einführt. Schreibe mir bitte! Die Antwort lege in die Kiste mit den Keramikwürfeln und mach’ auf den Deckel ein Kreuz! Dein unglücklicher Unbekannter.
Zwei Wochen vor Weihnachten 1969, als wieder der LKW-Fahrer die Kisten mit den Keramikwürfeln ins Gefängnis brachte, paßten wir beim Abladen gut auf und fanden eine Kiste mit einem großen Kreuz. Der Brief war da!
Lieber Unbekannter!, stand da geschrieben, ich habe Deinen Brief gefunden. Auch ich fühle mich jetzt vor Weihnachten ganz alleine und unglücklich. Ich möchte Dir helfen! Ich heiße Jarmila, bin 19 Jahre alt, ich habe ein Bein, und zwar das linke, kürzer, sonst sehe ich aber gut aus. Antworte mir bitte wieder! Ich warte. Deine Jarmila. PS: Mal’ auf die Kiste ein Kreuz!
»Also, jetzt schreibst du einen heißen Liebesbrief«, sagte mir Karel höchst erregt.
»Karel«, erwiderte ich, »laß sein! Es ist ganz bestimmt ein unglückliches Mädchen, damit macht man keinen Spaß …«
»Quatsch! Es geht ja nicht um Liebe«, lachte Karel, »sondern um Yastyl! Vor Weihnachten wird das Zeug im Knast sehr begehrt!«
Also schrieb ich: Liebste Jarmila! Du weißt nicht, wie glücklich ich bin, Deine Antwort bekommen zu haben. Ich war schon ganz verzweifelt und wußte nicht, wie ich diese Weihnachten im Knast überlebe. Jetzt habe ich wenigstens die Hoffnung. Ich muß Dir aber eingestehen, daß ich ein wenig kränklich bin und Yastyl brauche, das ist ein Medikament gegen Asthma. Kauf’ eine Schachtel in der Apotheke und leg’ sie in die Kiste mit den Würfeln. Schreib mir wieder einen netten Brief. Ich liebe Dich, Dein Charlie.
Mit der folgenden Lieferung, eine Woche vor Weihnachten, bekamen wir wieder einen Brief und zwei Schachteln Yastyl. Karel strahlte. Wir hatten alle Gründe zu hoffen, daß die Weihnachtszeit für uns tatsächlich froh und heiter sein würde. Yastyl, ein ziemlich harmloses Medikament, welches das Atmen erleichtert, galt im Gefängnis Pilsen-Bory als die beliebteste Droge. Nun, man mußte Yastyl aber auch richtig »zubereiten«: In zwei Liter Wasser ließ man 50 Gramm Tee und 50 Gramm Pfeifentabak auskochen, dann schmiß man fünf Pillen Yastyl rein. Ein Glas genügte dann, um 24 Stunden ganz »high« zu sein. Für eine Pille Yastyl stand der Kurs im Herbst 1969 auf zehn Zigaretten, kurz vor Weihnachten stieg er auf zwanzig. In homosexuellen Zellen war der Kurs noch besser, und die tuberkulösen Häftlinge, die Sonderrationen erhielten, waren bereit, für 15 Pillen Yastyl einen ganzen Monat lang ihre »guten Eßkarten und Bons« abzugeben.
Ich schrieb also Jarmila einen schönen Brief und wünschte ihr fröhliche Weihnachten. Unsere Weihnachten mit Karel waren gesichert. Der Yastyl-Kurs erhöhte sich kurz vor dem Heiligen Abend auf 25 Zigaretten. Karel warf die Ware erst am Nachmittag des 23. Dezembers 1969 auf den Markt, und wir konnten »goldene Zeiten« erwarten. Ich muß gestehen: Karel war ein ehrlicher Geschäftsmann. Den Gewinn teilte er mit mir halbe-halbe; wir hatten genügend Zigaretten, Butter, Salami und sogar Kakao. Die Gefahr, daß uns jemand verpfiff, war gering. Hätte es ein Zuträger gewagt, hätte ich um meinen Kopf gewettet, daß so ein Schuft die nächsten 24 Stunden nicht überleben würde.
Mir gefiel aber diese Entwicklung überhaupt nicht. Jarmila hat sich nämlich in Karel tatsächlich verliebt. Nur einmal, es müßte im Sommer 1970 gewesen sein, habe ich es gewagt und Karels Liebesbrief, natürlich von mir verfaßt, nicht abgeschickt. In der nächsten Kiste kam die Antwort: Jarmila drohte, daß sie sich umbringt; sie schrieb, daß ihr Leben ohne Karel keinen Sinn hat, und wenn er nicht schreibt, bekommt er in der nächsten Lieferung ihre Todesanzeige zugeschickt; das wird schon eine ihrer Freundinnen besorgen.
Ich schrieb also die Liebesbriefe weiter. Nie in meinem Leben, nicht einmal damals, als ich in meine Frau verliebt war, schaffte ich es, so eindrucksvolle Liebeserklärungen zu schreiben.
Und dann kam der 1. November 1970, und Karel wurde entlassen.
»Karel«, sagte ich ihm zum Abschied, »gleich wenn du draußen bist, setz’ dich in einen Zug und fahr’ zu Jarmila. Wenn du kein Schuft bist, dann bring’ die Sache in Ordnung. Erkläre ihr alles wahrheitsgetreu und ehrlich. Und grüße sie von mir. Und sie soll um Gottes Willen kein Yastyl mehr schicken. Ich will damit nichts mehr zu tun haben!«
»Ehrenwort«, sagte Karel, und ich glaubte ihm. Ja, aber: in der nächsten Sendung waren vier Schachteln Yastyl dabei und Jarmilas Brief. Es wurde mir klar: Karel hielt sein Versprechen und Ehrenwort nicht!
Ich gestehe es: Ich hatte nicht den Mut, Jarmila die volle Wahrheit zu schreiben und habe ihr weiter die schönsten und zartesten Liebesbriefe geschrieben, die ich je verfaßte. Und sie schickte mir nicht nur naive Liebeserklärungen, sondern immer wieder dieses verdammte Yastyl. Was sollte ich mit dem Zeug anfangen? Verkaufen, nein, das konnte ich nicht. Ich habe es also verschenkt, auf Spaziergängen im Hof weggeschmissen, im Gedränge bei der Essensausgabe den Häftlingen in die Taschen geschoben. Mein Ansehen im Gefängnis stieg, meine »Kollegen« erfüllten für mich das Arbeitssoll. Ein »Diener« wurde mir von den Homosexuellen zur Verfügung gestellt, der machte mein Bett, holte am Samstag und Sonntag mein Essen aus der Küche, ich durfte den Putzlappen nicht einmal in die Hand nehmen, und schon war jemand da, der die schmutzige Arbeit für mich erledigte.
Jarmila ließ jedoch mein Gewissen nicht zur Ruhe kommen. Ich war ganz ratlos und wußte nicht, wie ich der ganzen traurigen Komödie ein Ende machen sollte. Ich selbst hatte bis Januar 1971 zu sitzen gehabt und begann zum ersten Mal den Tag zu fürchten, an dem man mich entläßt. Wer sollte dann der Jarmila Briefe schreiben, wer sollte sie weiter anlügen, daß »Karel« noch sitzen müsse?
Eine Woche vor Weihnachten 1970 fiel der erste Schnee. Der Schneefall erinnerte mich an die Kindheit, als ich mit Vater und Mutter von Prag aus einige Tage vor dem großen Fest immer in die Berge in unsere Hütte fuhr. Die Luft war dort rein, sie roch nach Erde, Feuchtigkeit und nach Schnee. Kurz vor sechs Uhr in der Früh stand ich also vor dem vergitterten Fenster und schaute hinaus. Schneeflocken wirbelten in der kühlen Luft. Meine Zelle befand sich gegenüber jenen der Untersuchungshäftlinge. Die Scheinwerfer beleuchteten die Fenster der Zellen im Untersuchungshaftflügel. Plötzlich, ich wollte meinen Augen nicht trauen, sah ich in einem Fenster Karels weißes Gesicht.
Als er mich anschrie: »Grüß dich, Ota!« dachte ich, daß mir meine Phantasie nach zwei Jahren im Gefängnis einen bösen Streich spiele und daß ich schon an Halluzinationen zu leiden begänne.
»Wie geht es Jarmila?« schrie Karel im Fenster gegenüber.
»Ach, du Scheißkerl«, schrie ich zurück, »warum bist du nicht zu ihr gegangen?«
»Es hat sich eben nicht ergeben! Hör mal, Ota, grüß sie von mir!«
»Fällt mir gar nicht ein!« schrie ich wütend zurück.
»Schade«, schrie Karel, wie ich heute meine, ein wenig verzweifelt, »ich werde es nicht mehr tun können. Hab’ den Galgen bekommen …«
»Wofür?«
»Hab’ einige Bilder aus der Kirche in Blatno klauen wollen, und der Pfarrer hat mich dabei erwischt. Ja und dann, es hat sich so ergeben, ich hab’ dem Pfarrer eins auf den Kopf gehauen, er fiel um und war tot …«
Die Wächter verjagten uns vom Fenster.
Am Abend, als wir Zeitungen lesen konnten, stand es dort schwarz auf weiß: Karel H. wurde vom Kreisgericht in Pilsen wegen Raubmord zum Tode verurteilt.
Einen Tag später las ich die Nachricht: Das Urteil wurde vollstreckt.
Vor dem Heiligen Abend brachte der LKW-Fahrer wieder Keramikwürfel ins Gefängnis. Mit Erleichterung stellte ich fest, daß diesmal keine Kiste mit einem Kreuz bezeichnet war. Als wir, also die Häftlinge, mit dem Abladen fertig waren – der Aufseher stand gerade hinter dem Laster – kam der Fahrer vorbei und schob mir einen Brief in die Hand. Ich versteckte das Schreiben blitzschnell im Ärmel, drückte mich dann in der Arbeitszelle in die Ecke und öffnete den Brief. Es war eine Todesanzeige. Jarmila Pecháčková … 20 Jahre alt … und darunter einige von diesen fürchterlichen Phrasen, mit denen man die Todesursache Selbstmord umschreibt. Erst nach einer Stunde konnte ich die zwei Zeilen, die jemand auf die Todesanzeige mit der Hand geschrieben hatte, lesen: Jarmila erfuhr alles aus den Zeitungen. Sie konnte nicht mehr weiter. Sie sind schuld daran!
Meine letzten Weihnachten im sozialistischen Gefängnis verbrachte ich auf dem Bett liegend. Sie sind schuld daran, Sie sind schuld daran … las ich immer wieder die letzte Zeile, mit der Hand auf die Todesanzeige geschrieben.
Wer ist an Jarmilas Selbstmord schuld? Ich oder Karel? Diese Frage habe ich in der Weihnachtszeit des Jahres 1970 im Gefängnis Pilsen-Bory nicht beantworten können und fand bis heute keine Antwort, die mein Gewissen beruhigen könnte.
HESSISCHER RUNDFUNK, 24. 12. 1980
Wenn man den verzweifelten Kampf verfolgt, den unsere »sozialistischen« Nachbarn mit dem winterlichen Wetter führen, drängen sich einige Bemerkungen zur einzig wahren und richtigen Ideologie sowie zur Praxis des Marxismus-Leninismus auf.
Diese Wissenschaft scheint noch nicht ihr revolutionäres Verhältnis zum Wetter formuliert zu haben und läßt die gesamte ideologische Front im Kampf gegen das Wetter in einen abscheulichen bourgeoisen Praktizismus verfallen. Ja, sogar die Klassiker des Marxismus-Leninismus sowie die Praktiker des »realen Sozialismus« gehen in ihrer Theorie vom Aufbau einer glücklichen kommunistischen Gesellschaft von der unwissenschaftlichen Voraussetzung aus, der Aufbau der herrlichen Zukunft finde nur bei schönem, mildem Wetter statt.
Wenn man Marx, Engels, Lenin, Stalin oder die gesammelten Schriften der Genossen Honecker, Dr. Husák oder Vasil Bilak liest, kommt man zum Eindruck, daß diese Genossen den Sozialismus und Kommunismus nur bei mildem Wetter verwirklichen wollen, also in Wetterzonen, in denen eine konstante Lufttemperatur von ungefähr 20 Grad Celsius herrscht, die Sonne täglich 10 Stunden lang scheint und es nur ab und zu in der Nacht sanft und warm regnet.
Ich erlaube mir, darauf aufmerksam zu machen, daß alle Mißstände und Rückschläge, unter denen die sozialistische Wirtschaft leidet, auf das Fehlen einer marxistisch-leninistischen, fortschrittlichen und revolutionären Wettertheorie zurückzuführen sind. Lenin, zum Beispiel, hat sich in seinen Schriften zu allem möglichen geäußert, nur zum Wetter nicht. Wenn es in Moskau fror, trank er Tee mit Wodka und sagte kein Wort. So kam es dazu, daß die Marxisten-Leninisten den Sozialismus ausgerechnet in Ländern zu verwirklichen begannen, in denen das Wetter ab und zu verrückt spielt, wo es mal zuviel regnet, ein andermal wieder zu wenig, wo es mal schneit und mal friert.