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Ota Filips Roman »Zweikämpfe« ist eine farbige »Schweykiade«, die uns die gründlich umgekrempelte Welt im tschechischen Ostrau der Jahre 1945 bis 1968 schildert: Die gealterten Fußballer vom Club »Roter Stern« bedienen sich nicht gerade der feinsten Mittel, um im täglichen Leben zu Parteiposten und ergiebigen Pfründen zu gelangen. Lojzek, die erzählende Hauptfigur, findet sich in dieser Welt neuer Spielregeln, die das System verlangt, nur schwer zurecht. Er schätzt eigene Unabhängigkeit und Freiheit und gerät darum selbst mit seiner Frau Anka in Konflikt, die ihm die Ideale der Partei schmackhaft machen möchte. Sie verschafft ihm schließlich beim örtlichen Rundfunk eine Stellung, in der es Lojzek rasch dazu bringt, gefeuert zu werden. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 424
Ota Filip
Zweikämpfe
Roman
Aus dem Tschechischen von Josefine Spitzer
FISCHER E-Books
aus »Die Himmelfahrt des Lojzek Lapáček aus Schlesisch Ostrau« und »Zweikämpfe«
Ludva Kocifaj: Torwart! Schauspieler in der religiösen Gruppe seines Vaters; später Plakatkleber und Schauspieler
Emerich Cach: Verteidiger; Metzger, später unglücklicher Mensch
Václav Jurzena: 2. Verteidiger; Plakatkleber; Jurastudent; später Ankläger
Karel Pastrňák: Läufer; Sodawasser-Erzeugung; später Speditionsunternehmen; Dispatcher des Staatlichen Transportunternehmens und Parteifunktionär
Herbert Gozco: Mittelläufer; Hauer auf der Dreifaltigkeit; später erfolgreicher Geschäftsführer des Clubrestaurants
David Wiesenthal: Läufer; Inhaber der Branntweinschenke »Zur Eiche«
Jan Krajiczek: Stürmer; gilt als Intellektueller
Vlasta Plevka: Stürmer; Hauer; später Gewerkschaftsfunktionär, kommt ins Irrenhaus
Karel Hyneš: Mittelstürmer; Langstreckenläufer; Geldfälscher; Funktionär des Städtischen Nationalausschusses; Gründer der Gesellschaft »Obroda«; Spielervermittler und treues Mitglied der KPČ
Hubert Mušial: Innenstürmer; Erfinder; Leiter des Spiritistenzirkels »Die Jünger«; kommt in Barcelona 1949 um; Tod ungeklärt
Ada Lakubec: Stürmer; Linksaußen; »der blonde Blitz«; später Funktionär der KPČ mit Glatze
Gerd Kunze: Torwart; aus deutscher Familie; Superstar des Roten Stern
Pudelko: Verteidiger; glanzvoll nur zusammen mit Gerd Kunze
Jaroslav Lapáček: Bäcker; Geschäftsführer des F. C. Schlesisch Ostrau; Soldat; ungesichert, ob Vater von Lojzek
Lojzek Lapáček: »Leichtsinniges Individuum«; zugleich Erzähler
Anna von Zabalski: Großmutter von Lojzek; Witwe des Rittmeisters Georg von Zabalski
Anna Lapáček, geb. Zabalski: Mutter von Lojzek, die einmal bessere Zeiten gekannt hatte
Řehoř Kocifaj: Schneider; Ludvas Vater; Gründer der Sekte vom »Heiligen Kreuz«, später Patriot
Hermína Nosálová: Spiritistin und Kartenlegerin aus Radvanice
Emil Votoček: Magister; Apotheker; Schwarzhandel mit Alkohol; April 1945 erschossen
Frau Rosa Preis: Witwe des Nathan Preis
Erich Preis: ihr Sohn; Mitschüler und Nachbar von Lojzek
Heinz Hupka: Mitschüler von Lojzek; der mit dem wunden Fuß
Adalbert Kudlatschek, genannt Vojta: Freund und Mitschüler von Lojzek
Anka Kocifaj: Schwester von Ludva; spielt ebenfalls Theater; später Schauspielerin und Frau von Lojzek
Karel Motl: späterer Verteidiger beim F.C.; einarmig; später auch einäugig
Kurt Wagner: Gruppenführer bei der HJ
Wenzel (Václav) Deutscher: Lehrer; früher beim S. C. Mährisch Ostrau
Eva Schubert: Mitschülerin von Lojzek; wird vom Ludva Kocifaj vergewaltigt
Josef Tenkler: Lehrer; Klavierspieler; Leiter der Schrammelkapelle; später Rundfunkredakteur
Graf Arpád Medessy: wahrscheinlich Vater von Lojzek; Mittelstürmer der Eishockey-Mannschaft H. C. Budapest
Dr. Henryk Staniolowský: Vorsitzender des F. C. Schlesisch Ostrau; später beim Roten Stern
Jakob Hiršl: Lebensmittelerzeugung und Versandfirma
Richard Ryšánek: später Läufer beim F.C.; Profiboxer »Rick Ricky«; Europameister im Halbschwergewicht; beraubt 1945 im April den toten Tietze
Joža Chryzcke: Torwart beim F. C. 1940; Schwarzhändler
Hebrle: Polizeiinspektor; später Oberwachtmeister des Korps der Nationalen Sicherheit
Friedrich Tietze: Juwelier; von Hyneš ermordet und beraubt
Josef Burian: Tietzes Gehilfe
Dr. Málek: Steuerberater; Kassierer beim F. C. Schlesisch Ostrau; später Rundfunkredakteur
Alle, die den F. C. Schlesisch Ostrau noch zu seiner ruhmreichen Zeit spielen sahen, werden bestätigen, daß es heutzutage keinen richtigen Fußball mehr gibt, sondern alles nur auf ein rohes Holzen hinausläuft. Mit dem echten Reiz beim Kampf um den Ball ist es längst vorbei.
Der einst berühmte F. C. Schlesisch Ostrau hatte seine große Zeit hinter sich. Zum letzten Mal spielte die alte Garde im Juni 1945, als sie gegen die vom S. C. Mährisch Ostrau antrat. Fünftausend Fans beider Klubs versammelten sich auf der alten Tribüne und den Stehplätzen. Alle, denen die Weiterentwicklung und das Schicksal des Fußballs an beiden Ufern der Ostravice am Herzen lag, waren gekommen. Mein Vater, der Bäcker und Geschäftsführer des F. C., Jaroslav Lapáček, war allerdings nicht anwesend; er saß bereits im Zuchthaus und hatte einen Prozeß wegen Verstoß gegen mehrere Paragraphen auf dem Hals, unter anderem auch wegen Hochverrat.
Auch die Mannschaft war nicht mehr komplett.
Im Tor stand Ludva Kocifaj, bekleidet wie in alten Zeiten mit einem violetten Trikot, aber das war nicht mehr derselbe Ludva wie der vor fünfzehn Jahren. Ludva gab im Tor mächtig an und täuschte ein verblüffendes Selbstvertrauen vor. Als sich die alte Garde vor dem Anpfiff ein wenig einspielte, führte er den Rängen effektvolle Robinsonaden vor, aber die Experten erkannten gleich, daß die Torschüsse der alten Fußballstars die einstige Rasanz vermissen ließen, Ludva mit ihnen deshalb nicht allzu viel Arbeit hatte und sich nur zu Boden warf, um sich aufzuspielen.
Manches Auge eines Zeitgenossen der ruhmreichen Tage des F. C. wurde feucht, und manche Träne floß über Männerwangen, als die »Gelben« wieder den Rasen betraten, auf dem sie einst unzählige Siege errungen und etliche Debakel erlebt hatten. Im Zuschauerraum herrschte zunächst feierliche Stille. Aber jedes Eingreifen von seiten Ludvas wurde mit frenetischem Applaus belohnt. Wie gerührt und weichgestimmt die Zuschauer jetzt beim Anblick des alternden Torhüters waren!
Der Applaus verstummte mit einem Schlag, als sich Hubert Musial das Leder auf der 16-Meter-Linie zurechtlegte und wie in seinen besten Zeiten einen scharfen Flachschuß gegen Ludva in die unterste linke Torecke abzog. Bekanntlich war die linke Ecke seit jeher Ludvas schwache Seite gewesen.
Der von Hubert Musial abgefeuerte Ball tänzelte noch in Ludvas Tor, die Fans grölten, als er sich, bebend vor Zorn, aufrappelte, sich bückte, mit seiner Torwartmütze auf den Boden drosch, mit wenigen Schritten den 16-Meter-Raum überquerte und Hubert Musial an der Gurgel packte und schrie: »Du Miststück! Du Schuft! Was fällt dir ein, mir so zuzuspielen. Ich muß doch den Ball erst einmal richtig in den Griff bekommen!«
In der Verteidigung trat wieder Emerich Cach an, der Metzger aus unserem Hof, ein Spieler von langsamer Denkart, dem man von der Außenlinie her Ratschläge erteilen mußte. Herr Cach war füllig geworden. Das gelbe Trikot rutschte ihm unablässig aus der Hose und entblößte seinen hervortretenden Bauch, der wie frisch geselchter Schinken aussah. Mit nervösen Bewegungen schob Herr Cach sein Trikot immer wieder in die Hose, aber sobald er nur einen Schritt machte, war es schon wieder herausgerutscht; nach wenigen Minuten resignierte er und präsentierte seinen Nabel den warmen Strahlen der Sommersonne. Zu einem Schuß bequemte er sich nur, wenn ihm der Ball zufällig vor die Füße rollte. Herr Cach blickte sich während des ganzen Spiels nach dem Tor um, ob er dort nicht vielleicht meinen Vater erspähte, den Korb mit den Brezeln zwischen den Beinen. Weil aber mein Vater nicht hinter dem Tor stand, rührte sich Herr Cach nicht vom Fleck, stumpfsinnig stand er da und erwachte aus seiner Lethargie erst fünf Minuten vor Spielende, als er einen Fußballer des S. C. Mährisch Ostrau auf seine gewohnte, bedächtige Art so gemein foulte, daß er ihm das Bein brach. Die Ränge brüllten vor Begeisterung.
»Gegen den alten Cach kommt keiner auf«, schrien die Augenzeugen der ruhmreichen Tage.
Neben Cach spielte Dr. Václav Jurzena. Vor siebzehn Jahren war Jurzena der Typ eines hinterhältigen Spielers gewesen, jetzt aber reichte seine physische Kondition für Gemeinheiten nicht mehr aus, und so hatte er sich das ganze Match über darauf verlegt, den Schiedsrichter mit Diskussionen herauszufordern, dem er als Jurist beweisen wollte, alles, was dieser gegen die Einheimischen pfiff, geschehe zu Unrecht. Als ihn einmal die Stürmer des S. C. umgingen, schrie er dem Schiedsrichter laut zu: »Um Himmels willen, du Salatkopf, pfeif doch ein Abseits!« Weil aber der Herr Schiedsrichter nichts dergleichen tat, ging Jurzena in die Knie und hämmerte seinen Kopf gegen den Rasen. Herr Dr. Jurzena war gerade bei Gericht zum Prokurator ernannt worden, so wagte der Herr Schiedsrichter es nicht, ihn zu verwarnen. Nach der Halbzeit war dann der Schiedsrichter schon so durcheinander, daß er das Match seinem Schicksal überließ, er pfiff überhaupt nichts mehr; mit gesenktem Kopf trabte er das Spielfeld entlang und nahm von nichts mehr Notiz.
Nach Cachs Entgleisung raffte er sich endlich zur Tat auf: Er pfiff das Spiel fünf Minuten früher ab.
Als Läufer spielte Karel Pastrňák, der frühere Sodawasser-Erzeuger aus unserem Hof, der aber in seiner Branche pleite gegangen und dann Spediteur geworden war; in diesem Beruf ging es ihm jetzt recht gut. Das ganze Spiel über gab Herr Pastrňák durch jede Bewegung, jede Geste und durch seine dem Publikum zugewandten Blicke zu verstehen, daß er diesen Kampf als eine Art Komödie betrachte, an der er, der erfolgreiche Geschäftsmann, sich nur unter dem Druck seiner sentimentalen Gefühle beteilige, und daß es ihm überhaupt nicht um das Resultat auf dem Spielfeld ging, da es ihm ja bereits im Leben gelungen sei, seinen großen Existenzkampf mit Erfolg zu bestehen.
Der Mittelläufer, Herbert Gozco, Hauer auf der Dreifaltigkeit, bewegte sich neben Herrn Pastrňák wie ein Schlafwandler. Während Herr Pastrňák mit seinem neuerwachten Fußballer-Instinkt abwog, was er sich noch erlauben könne und ab und zu einige technische Finten vorführte, behandelte Herr Gozco den Ball so stümperhaft und interesselos, daß die Zuschauer zu pfeifen begannen. Die Protestrufe des Publikums schreckten ihn von Zeit zu Zeit aus seinem schlafmützigen Halbbewußtsein, betreten blieb er mitten auf dem Spielfeld stehen, senkte den Kopf wie ein Schaf und verharrte so eine Weile, aber dann setzte er sich in Bewegung. Kopflos begann Herr Gozco übers ganze Spielfeld zu rennen, »dem Leder nachzujagen«, kam aber nie an den Ball heran. Und wenn sich dieser dann doch einmal zwischen seine Füße verirrte, stieß Herr Gozco so miserabel hinein, daß er vor lauter Verlegenheit in die Knie ging, ein klägliches Entschuldigungslächeln aufsetzte und für weitere Minuten in einem Zustand verharrte, den ich nur als totale Lähmung seiner Bewegungsmaschinerie bezeichnen könnte.
David Wiesenthal, der beste Läufer, der je in den Farben des hiesigen F. C. gespielt hatte, der frühere Inhaber der Branntweinschenke »Zur Eiche«, fehlte in dieser Aufstellung. Er war in einem Vernichtungslager in Polen definitiv aus der Mannschaft eliminiert worden. An Herrn Wiesenthals Stelle trat der einarmige Karel Motl an, den mein Vater einst in Friedek eingekauft hatte. Im Jahre 1945 fehlte Herrn Motl zusätzlich noch ein Auge, er mußte ständig den Kopf wenden, um zu sehen, woher der Ball geflogen kam. Herr Motl war bereits dem Alkohol verfallen, sogar zum Spiel kam er angeheitert; er verausgabte sich daher schon in den ersten zehn Minuten und stolperte bis zum Ende der Begegnung auf der gleichen Stelle herum, auf der einst der Fixstern erster Größe gestrahlt hatte: der Jude David Wiesenthal.
Am Flügel fehlte Jan Krajiczek, der wankelmütige Intellektuelle der früheren Mannschaft des F. C., ein Mann von ungeklärter nationaler Herkunft und überaus sensiblen Gemüts, auf dessen Grund er selbst ungewöhnliche Fähigkeiten entdeckte, die ihn aber im Verlauf des Krieges ins Verderben geführt hatten. An Herrn Krajiczeks Stelle trat Herr Dr. Málek an, der zwar niemals Fußball gespielt, aber sich als Kassierer des Klubs um den Aufstieg und Ruhm des F. C. verdient gemacht hatte. Die Zeitungen hatten nach der Begegnung geschrieben, Herr Dr. Málek habe eine ambitionierte Leistung gezeigt.
Herrn Dr. Máleks Aktivitäten als ambitioniert zu bezeichnen, bedeutete so viel, wie sich ihn auf ewig zum Feind zu machen.
Er haßte dieses Adjektiv von dem Zeitpunkt, als Herr Tenkler Máleks erste literarische Versuche damit abqualifiziert hatte. Lange Jahre hatte Dr. Málek seinen Bürosessel im Finanzamt gedrückt, die Vereinskasse des F. C. geführt und alle Anstrengungen unternommen, um sich als Literat durchzusetzen. Er überschwemmte sämtliche Zeitungsredaktionen der Stadt mit seinen Geistesprodukten, in denen er sich zu Fragen äußerte und Stellung nahm, deren Gebiete sich etwa mit Prostitution und Korruptionsaffären von Stadt- und Rathaus-Gewaltigen umreißen ließen. Obgleich ein Mann mit akademischem Titel und in pensionsberechtigter Position, galt Dr. Málek nicht als Heiratskandidat, nach dem die Mütter herangereifter Töchter ihre Netze auswarfen. In der guten Gesellschaft sprach man von ihm als von einem Mann, der sich mit Straßenmädchen abgebe. Ungeniert bekannte sich Dr. Málek in der Öffentlichkeit zu seinen Beziehungen zu leichten Mädchen und vertrat die Ansicht, das sei eben seine Art des Protestes gegen die durch und durch verrottete Gesellschaft. Gerade solche Leute lassen sich über die gute Gesellschaft kritisch aus, weil sie nur zu gern zur Prominenz gehören möchten, es aber nicht schaffen. Zwischen den äußersten, die Thematik seiner Artikel, Betrachtungen und Kommentare abgrenzenden Randpunkten fand der ambitionierte Doktor der Rechtswissenschaften ein weites Feld für die Darlegung zusätzlicher kritischer Bemerkungen, in denen er sich nicht nur mit lokalen literarischen Erzeugnissen befaßte, sondern auch mit den Problemen des Fußballsports, der Stadtverschönerung und nicht zuletzt der Verkehrsentwicklung mit der speziellen Tendenz der Errichtung einer neuen Straßenbahnlinie mit der Endstation beim Platz des F.C.; außerdem fand Dr. Málek noch Zeit, einige rührselige Geschichten über die Schicksale von Straßenmädchen zu produzieren, und jedesmal vor den Weihnachtsfeiertagen schrieb er über die darbenden Arbeiterkinder, die in der Kälte vor dem überfüllten Schaufenster der Firma Meinl & Co. stünden und mit verlangenden Blicken die gutgekleideten Damen anstarrten, die beladen mit exotischen Delikatessen aus dem Geschäft herauskamen. Ich will nicht behaupten, daß es in unserer Stadt keine hungernden Arbeiterkinder gab, es waren genug vorhanden, und es war eine Schande, daß sie nicht satt zu essen hatten, während die herrschaftlichen Rattler, Hündinnen und Foxterriers Schinken zu fressen bekamen. Das Kuriose an Dr. Máleks Geschichten war nur, daß seine Beschreibung der aufgeblasenen Damen stets mit dem Aussehen der einen oder der anderen Mama aus der guten Gesellschaft übereinstimmte, die die Annäherungsversuche des ambitionierten Juristen ihrer Tochter gegenüber energisch abgewehrt hatte. Die Delikatessen im Schaufenster der Firma Meinl & Co. beschrieb Herr Dr. Málek stets so suggestiv, daß den Lesern seiner Artikel das Wasser im Mund zusammenlief und auf diese Weise bei den anderen Kolonialwarenhändlern der Stadt der Verdacht aufkam, die Konkurrenz habe bei der Abfassung seiner Geschichten nachgeholfen.
Im Laufe der Jahre gelangte Herr Dr. Málek in den Ruf eines Kämpfers für die Gerechtigkeit; die korrumpierten Stadtgewaltigen kamen deshalb zu der Ansicht, es sei an der Zeit, den Herrn Dr. Málek ihrerseits zu korrumpieren. Sie boten ihm eine Position in der Redaktion des Rundfunks an, in der Dr. Málek mehrere Regimes überlebte und gewiß noch weitere überlebt hätte, wenn ihn nicht im August 1968 der Blitz getroffen hätte.
Als Stürmer glänzte wie in alten Zeiten Vlasta Plevka. Er rackerte sich auf dem Spielfeld ab und überbot sich geradezu in öffentlichen Bekundungen seiner Spielerfairneß. In der zweiten Halbzeit, als der Schiedsrichter bereits resigniert hatte, riß Plevka die Führung des Spiels an sich; nicht einmal seinen eigenen Mannschaftskameraden sah er Fouls nach. Aber da war nichts zu machen, Herr Gozco war außer Form, niemand drängte Plevka nach vorn, er wurde vom Mittelfeld total abgeschnitten.
Auch wenn von Vlasta Plevkas altem Ruhm nur noch ein matter Abglanz übriggeblieben war, so überragte er dennoch alle anderen zumindest um eine ganze Klasse.
Karel Hyneš, die einstige Hoffnung des tschechischen Fußballsports, der Langstreckenläufer, Geldfälscher und Gründer der Gesellschaft »Obroda«, gab als Spieler sein Bestes. Im Gegensatz zu Vlasta Plevka, der keineswegs selbstsüchtig spielte, sondern die Bälle uneigennützig weitergab, verfiel Herr Karel Hyneš dem eitlen Gefühl eigener Vollkommenheit, und sobald er an den Ball herankam, produzierte er sich mit Kunststückchen.
Freilich hatte Herr Hyneš sein rasches Tempo bereits eingebüßt, nicht aber seine Technik. Er ließ den Ball von seinem Kopf auf die Ferse rollen, kickte ihn wieder zurück, spielte mit ihm auf der Schuhspitze, führte klassische Mätzchen wie die »Schere« vor und beherrschte den Ball in jeder Situation. Es kam einige Male vor, daß sowohl die eigenen wie auch die gegnerischen Spieler um Herrn Hyneš einen Kreis bildeten und diese Wunder, die man heutzutage nicht mehr zu sehen bekommt, mit aufgesperrten Mäulern begafften. Herr Hyneš erntete auf offener Szene Applaus. Und darum ging es ihm sichtlich.
Hubert Musials Spielkunst verblaßte neben der Herrn Hyneš’. Seine Minderwertigkeitsgefühle, die ihm wohl während des Spiels zu schaffen machten, suchte er damit zu kompensieren, daß er alle drei Tore schoß. Musials scharfe Schüsse gegen den Tormann der Gäste forderten jedoch das Mißfallen der Zuschauer heraus. Das ganze Publikum verurteilte sie als unfaires und unsportliches Vorgehen.
Der »blonde Blitz« Áda Lakubec hatte bereits viele Haare verloren, er bekam langsam eine Glatze. Auch sein Spiel stellte sich als sehr dürftig heraus; auf dem Spielfeld bewegte sich nur mehr der Schatten des einstigen Lakubec, des Schreckens aller Torhüter und Verteidiger. In den ersten zwanzig Minuten versuchte Áda zwar am Flügel einige rasche Alleingänge, erkannte aber wohl bald, daß seine Kräfte dazu nicht mehr ausreichten. Er gab sein Vorhaben, mit dem er angetreten war, auf und unternahm keine Anstrengungen mehr, am Flügel vorzudringen, sondern verlegte sich nur noch auf die taktische Führung des Kampfes. Lakubec begann am Flügel hin- und herzuspazieren und seinen Mannschaftskameraden höchst weise und nützliche Ratschläge zuzuschreien, wie sie spielen und wem sie einen Paß geben sollten. Als er nach wenigen Minuten feststellte, daß seine Mitspieler auf seine Ratschläge nicht reagierten und jeder auf seine Weise spielte, war er darüber sehr verärgert. Eine solche offene Auflehnung konnte der frühere Mannschaftskapitän des F. C. nicht verkraften, und so begann er, am Flügel die Rolle des Beleidigten zu spielen. Áda wünschte der alten Garde des F. C. bei diesem Kampf eine Niederlage. Weil aber die Mannschaft der alten Garde des gegnerischen S. C. Mährisch Ostrau aus ausgesprochenen Außenseitern bestand, denn zu den glorreichen Zeiten dieses Klubs hatten ihm durchwegs Sportler deutscher Nationalität angehört, die jetzt in Lagern inhaftiert oder tot waren, endete also der Kampf mit einem klaren Sieg der Gelben. Hätte der F. C. das Match verloren, so hätte sich Áda nach der Begegnung des langen und breiten darüber auslassen können, man habe nur deshalb verloren, weil die Mannschaft seine Ratschläge mißachtet und jeder auf eigene Faust gespielt habe, was, wie Lakubec bestimmt ganz richtig bemerkt hätte, immer nur zur Katastrophe führen müsse. Der Sieg der Einheimischen aber nahm Áda alle Argumente, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die Rolle des Beleidigten zu spielen, in die er sich schon auf dem Platz hineingesteigert hatte; er gab sie auch nach dem Spiel in der Garderobe nicht auf und lange bis in die Nacht hinein im Klubrestaurant, wo der Erfolg gebührend begossen wurde.
Alle hatte ich hinter mir zurückgelassen.
Mit meinem Glöckcheninstrument hatte ich der letzten Aprilnacht des Jahres 1945 das Abschiedsgeläute gegeben, und da war ich bereits allein gewesen. Kurt Wagner war auf dem anderen Ufer der Oder zurückgeblieben, ebenso Herr Votoček, ich hatte Herrn Tietze und den buckligen Herrn Burian hinter mir zurückgelassen, Herrn Ryšánek, Frau Preis und alle die anderen. Im Hof lehnte ich das Glöckcheninstrument an den Kaninchenstall, stieg leise die Treppen zu unserer Wohnung hinauf und legte mich in der Küche aufs Sofa. Noch immer drang hier aus den Wänden die Ausdünstung von den schmutzigen, verschwitzten Fußballer-Trikots unseres F. C., die meine Mutter im Trog beim Küchenherd zu waschen pflegte.
Ich holte tief Atem und redete mir ein, ich müsse gründlich darüber nachdenken, über was ich alles hinweggeschritten war. Aber beim Grübeln kam nichts heraus. Obwohl ich mich dagegen wehrte, tauchte immer wieder Anka Kocifajs Bild vor mir auf, ihr Mund war weit geöffnet, und bisweilen durchlief ihre Schultern ein leichtes Beben; doch ich verstand alles. Die Botschaft aber, die mir Ankas Bild übermittelte, könnte ich nicht mehr in Worte fassen. Ich kann mir nur vorphantasieren, Anka sei in mein Spiel eingetreten und habe sich für mich in den Brennpunkt verwandelt, in den festen Punkt meines weiteren Lebenswegs, von dem aus ich meinen persönlichen Krieg ausfechten wollte.
Unser F. C. hieß jetzt »Roter Stern«, und um den Fußballplatz herum hatte sich alles verändert. Sogar künstliche Beleuchtung gab es jetzt. In diesem grellen Licht sahen die Spieler ganz bleichsüchtig aus wie Menschen, die an Blutarmut leiden. Und Fußball spielte man auch nicht mehr wie einst. Jetzt wurde nur noch für Geld gekickt, aber das durfte man nicht laut sagen, denn das war ein Verstoß gegen die Parolen, die der Ausschuß rings um das Spielfeld hatte anbringen lassen. Mit der Zeit hatten wir uns aber schon daran gewöhnt, daß uns die Parolen stets irgend etwas anderes, ja sogar das Gegenteil dessen verkündeten, was wir in unserer unmittelbaren Umgebung erlebten. In früheren Zeiten, als noch der alte Fußballplatz existierte, hätte es sich zum Beispiel Herr Jakob Hiršl, Inhaber einer Lebensmittelerzeugung- und Versandfirma, nie erlaubt, an der Tribüne Reklameschilder anbringen zu lassen, mit denen er in alle Welt hinausposaunte, seine Limonade sei die beste. Zwar war Herr Jakob Hiršl Jude und Geschäftsmann gewesen, aber er hatte seine Grenzen gekannt. Oder etwa Herr Humpálek, einer der Aktionäre der Firma ASO. Es stimmt zwar, daß er zugleich mit dem unrühmlichen Langstreckenlauf Ostrau-Wien und retour auch eine große Werbekampagne unter dem Slogan: »ASO-Waren helfen sparen« gestartet und die mit großen Lettern beschriftete Reklametafel direkt gegenüber der Haupttribüne hatte befestigen lassen. Dadurch war aber die Bevölkerung nicht hinters Licht geführt worden, denn jedermann hatte genau gewußt, daß es im Kaufhaus ASO zwar die billigste Ware zu kaufen gab, aber zugleich auch den größten Ramsch. Herr Humpálek hatte niemandem versprochen, bei ASO bekäme man für wenig Geld die beste Qualität. Herr Isaak Nesselroth, Seidenhaus, hatte nur erstklassige Ware geführt und seine Reklametafel mit dem Text beschriften lassen: »Seidenhaus Nesselroth«. Und jedermann hatte sofort Bescheid gewußt. Bei Nesselroth war die Ware teuer gewesen, doch konnten die Käufer sicher sein, für ihr Geld nur beste Seide zu bekommen, die Herr Nesselroth direkt aus Paris und Lyon bezog. Herr Freddy Bogner, Inhaber eines Warenhauses, hatte zwar dazu geneigt, in der Reklame etwas zu übertreiben und seine Ware über den grünen Klee zu loben, aber als dann im Klubausschuß die Anbringung der Reklametafeln zur Sprache gekommen war, hatte Herr Bogner seine ursprünglichen Vorschläge beschämt zurückgezogen, und damit es nicht nach einem totalen Rückzug aussah, erklärt, er wolle das Spielfeld, auf dem doch um die Ehre gekämpft werde, nicht zu unlauterer Werbung mißbrauchen.
Nicht nur auf und um den Platz hatte sich manches verändert. Auch wir selbst hatten uns verändert.
Wir waren gezwungen, uns anzupassen. Ich kann daher nur von den Verhältnissen sprechen, die uns zu der Form zurechtgebogen haben, in der wir uns zu unserer eigenen Verwunderung – in die sich noch alle möglichen anderen Empfindungen, angefangen von Peinlichkeit bis zum Pathos, hineinmischen – nun vorfinden, wir, die wir jetzt erst das ganze Ausmaß unserer Feigheit und den ganzen Umfang der Katastrophe erfassen. Die Feigsten unter uns machen für alle ihre Fehlschläge die historische Epoche verantwortlich, in der zu leben, uns bestimmt war. Aber ich für meine Person möchte mich nicht zu dieser törichten Ansicht bekennen.
Vielleicht hätten wir uns einen größeren Freiraum für den Bereich menschlicher Würde bewahren sollen. Der aber stand uns nicht zur Verfügung. Auch das soll nicht als Lamentation verstanden werden. Die Zeit war eben so geartet, daß jedermann sich in sich selbst verkriechen und ganz bewußt in die Maske eines Duckmäusers hineinschlüpfen mußte. Irgendwo war ein Unglück passiert. Wenn ich nur herausfinden könnte, wo eigentlich. Irgend etwas in uns war zu Bruch gegangen. Ich gebe zu, der Fehler liegt vielleicht nur in mir selbst. Aber wenn ich das zu laut und öfter sage, könnte man aus meinem reuevollen Selbstbekenntnis noch eine Anklage gegen mich zusammenbasteln.
Sprechen wir lieber vom Fußball.
Solange noch meine kleine Welt rings um den Platz des F. C. existierte, hatte ich ihre Dimensionen überhaupt nicht wahrgenommen. Ich war der Meinung, daß in dieser Welt genügend Raum für die gesamte Mannschaft des F. C. Schlesisch Ostrau vorhanden war, ebenso für Frau Preis, für deren Erich, Adalbert Kudlatschek und für Heinz Hupka, den mit dem wunden Fuß. Ohne Herrn Votoček wäre mir diese kleine Welt nicht komplett vorgekommen und ohne Herrn Kocifaj wäre sie schon gar nicht sie selbst gewesen. Und natürlich war auch für Anka Kocifaj genug Platz dagewesen. Wenn sie ihre Arme ausstreckte, schien mir, als umgrenze sie mit dieser Bewegung den ganzen Platz. Und auch mein Vater, der Geschäftsführer des F. C. und Bäckermeister, gehörte hierher. Als er wegging, war das der Anfang vom Ende. Den Moment, in dem er zum letzten Mal seinen Korb mit den Brezeln aufnahm und den Platz verließ, könnte ich jetzt mit dem schicksalshaften Augenblick vergleichen, da ein Schiff seinen Anker lichtet, um weiß Gott wohin in See zu stechen.
Und so komme ich immer wieder hierher zurück, lausche den Echos, rufe mir die längst verblaßten Konturen in Erinnerung – und verschönere sie mir ein wenig. Am Morgen gehe ich manchmal zu den Hügeln von Bazaly hinauf, schaue auf den tiefen Kessel des Spielfeldes hinab und erblicke drei Kamele mit Namen Kalif, Saud und Afat. Ich bilde mir ein, als zitterten die Tiere vor Angst. Und das ist dann der Moment, da mir Staub in die Augen fällt (nun ist er schon wieder da!), leise beginne ich eine kirgisische Melodie vor mich hinzusummen und begebe mich langsam zur neuen Tribüne hinunter, wo Herr Emerich Cach an der Betonmauer lehnt.
Ich beuge mich über die Betonfläche des Parkplatzes, da war einmal unser Haus gestanden, ich beiße mir in die Lippen, breite die Arme aus und bewege die Hände, kann mich aber nur schwer vom Boden lösen.
Deine Sündenlast beschwert dich, sage ich mir und diese Anwandlung von süßem Pathos tut mir wohl, du hast viel auf dem Gewissen, Lojzek, jetzt kommst du hierher, um zu beichten.
»Frau Preis«, sage ich dann leise, »verzeihen Sie mir!«
Kaum habe ich ihren Namen ausgesprochen, da erscheint auch schon die kleine Jüdin vor mir, sie hat wunderschöne dunkle Augen, einen Teint wie Mandeln und duftet auch danach. Ich beichte ihr, daß ich ihr Silber verscherbelt habe. Frau Preis hört mich geduldig an und meint dann, das habe doch nichts zu sagen, was liege denn heute noch daran, ich aber weiß, es macht sehr viel aus.
Kurz darauf verschwindet Frau Preis und zerrinnt im Morgennebel.
»Erich«, sage ich dann leise, wenn ich zu mir selbst spreche, bringe ich es nicht fertig zu lügen.
»Versuch’s doch«, sagt Erich; ich höre seine Stimme und habe sie sofort erkannt.
Also auch Erich ist schon da, sage ich mir und beiße mir in die Lippen, um ihn hier festzuhalten.
»Ich habe euer Silber gestohlen«, sage ich laut.
»Gib doch Ruhe damit«, höre ich Erich lachend darauf sagen, »ich habe alles vergessen, ich weiß von nichts …«
»Jetzt lügst du aber, Erich!«
»So ein bißchen«, erwidert Erich und dämpft seine Stimme, »wirklich ich lüge ein bißchen! Als ich mir dessen bewußt wurde, daß ich eine Chance hatte, Oświęcim zu überleben, habe ich mir vorgenommen, danach neu anzufangen und alles, was vor dem Lager gewesen war, hinter mir zu lassen. Ich habe nur an meine Wiedergeburt gedacht … und habe sie auch erlebt, verstehst du?«
»Nein, Erich«, erwiderte ich leise, »das verstehe ich nicht!«
»Ich habe mir gesagt, dann werde ich niemandem mehr die Pflichtsteuer dafür bezahlen müssen, daß er mich in die Welt gesetzt hat. Meine zweite Geburt habe ich mir selbst ertrotzt! Meine Mutter ist kurz nach unserer Ankunft im Lager gestorben, nicht einmal weinen konnte ich, noch wollte ich das … mich schauderte, wenn ich daran dachte, ich müßte nach meiner zweiten Geburt an das Vergangene anknüpfen, alte Rechnungen begleichen, und so … bin ich eigentlich froh, daß sich jetzt an der Stelle unseres Hauses ein Parkplatz befindet …«
»Das glaube ich dir nicht, Erich! Und warum bist du dann hierher zurückgekommen?«
»Das weiß ich nicht einmal«, lachte Erich, »ich war in Wien, habe einen Bus mit der Aufschrift Ostrau-Wien und retour gesehen, und am nächsten Tag saß ich schon drin …«
»Komm mir nicht mit so was, Erich, das ist doch allzu simpel, du weißt ja, ich brauche nur meine Zähne von den Lippen zu lösen, und schon wirst du mit dem Morgennebel davonsegeln, ein Lüftchen wird dich wegblasen, und aus ist’s mit dir!«
»Ich habe sie alle wieder von neuem gehört«, werde ich zur Mutter sagen, »den Vater, Herrn Votoček, Herrn Wiesenthal und Frau Preis.« Und die drei Kamele Kalif, Saud und Afat waren auch dort, ihr gelbes Fell hat in der Sonne geschimmert und die Berührung ihrer Lefzen war so schön warm gewesen. Noch jetzt spüre ich sie im Gesicht.
»Servus Lojzek«, vernahm ich jetzt Erichs Stimme.
»Und dann war Erich zurückgekommen, Mutter, er hat mir die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: ›Servus, Lojzek.‹ Da staunst du, nicht wahr?«
»Erkennst du mich denn nicht, Lojzek«, hörte ich die Stimme über mir sagen.
»Das hat Erich gesagt, Mutter, ich kenne doch seine Stimme! Mir schien, als sei es wirklich Erich, so lebendig war alles! Jetzt schwindle ich ein wenig, doch das schadet nichts, sag selbst, Mutter, ist das nicht eine wunderschöne Lüge: Erich ist zurückgekommen! Und hat die Hand auf meine Schulter gelegt … ›Schön, daß du zurückgekommen bist, Erich‹, habe ich gesagt, aber ich vermochte nicht laut zu sprechen; ständig blickte ich auf den Nebel, wie er mir über die Arme bis zu den Fingernägeln hinablief. ›Ich komme oft hierher, Erich‹, habe ich dann gesagt, ›ich beiße mir in die Lippen … und manchmal erscheint auch deine Mutter, wir plaudern miteinander, aber warum bist du erst jetzt zurückgekommen? Ich habe mehr als zwanzig Jahre auf dich gewartet, das ist eine lange Zeit, Erich, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr sich hier alles verändert hat.‹ Und weißt du, Mutter, was Erich mir darauf geantwortet hat?«
»Ich konnte nicht früher kommen, Lojzek, ich konnte wirklich nicht und wollte auch nicht.«
»Schade«, sage ich, »denn wenn wir beide hier gemeinsam hätten lauschen können, hätten wir uns wahrscheinlich wohler gefühlt. Ich horche und horche hier immer wieder, Erich, aber ich kann fast nichts mehr vernehmen, und wenn ich etwas höre, dann weiß ich, daß ich mir das selber ausgedacht habe. Jetzt habe ich mir zum Beispiel dich ausgedacht, denk dir nur, Mutter, ich habe mir den Erich erfunden, allmählich beginnt es mit mir ein böses Ende zu nehmen, ich rede schon mit Schatten und atme die Dünste der Stadt ein, ich möchte sagen: Ich nehme ihren Atem in mich auf, aber das wäre zu pathetisch! Erich, diese Stadt ist ein fürchterliches Aas, sie umklammert einen mit ihren Schenkeln, preßt einen zusammen und aus ist’s mit einem. Und beinahe hätte ich dich zu fragen vergessen, Erich: besitzt du noch die Hälfte jenes Steinchens von den Bazaly Hügeln?«
»Ja«, erwiderte Erich.
»Und denk dir nur, Mutter, ich habe Erichs Handfläche vor mir gesehen und darauf die Hälfte dieses Steinchens mit der wunderschönen Zeichnung im Innern. Erichs Zeichnung hat noch mehr geleuchtet als die meine … Wenn ich jetzt heimkomme, Mutter, werde ich dein Zimmer betreten, und wir werden dieses Gespräch miteinander führen. Ich werde mir wunderbare Lügen ausdenken, und du wirst sie glauben oder wenigstens so tun, als glaubtest du sie … schlimmstenfalls wirst du dich im Bett auf die andere Seite drehen, und ich werde reden und reden, als wollte ich dir jetzt, da du vom Krebs schon fast verzehrt bist, alles erzählen, was wir uns die langen Jahre hindurch nicht gesagt haben …«
»Ich bin mit dem Bus aus Wien gekommen«, sagte Erich und legte mir die Hand auf die Schulter. So, er ist also mit dem Bus aus Wien gekommen, dachte ich, hatte aber ganz vergessen, meine Zähne auf den Lippen zu behalten. Das ist dir aber doch noch nie passiert, Lojzek, durchzuckte es mich, daß jemand gerade in dem Augenblick erscheint, in dem du den Druck der Zähne gelockert hast, das ist neu!
»Hau mir sofort eine herunter, Erich«, stotterte ich, »gib mir eine übers Maul, damit ich zu mir komme!«
»Auch dafür wird noch genügend Zeit sein«, lachte Erich.
So gern hätte ich mit meiner Mutter über Erich gesprochen, aber kaum öffnete ich meinen Mund, schon hüllte sie sich in eine Wolke des Schweigens und entzog sich mir. Auf Zehenspitzen schlich ich davon.
Ich könnte mir das Schweigen meiner Mutter auf verschiedenerlei Weise erklären, aber ich bin mir bis heute nicht sicher, welche der Erklärungen wohl die richtige ist. Daher will ich mich ausnahmsweise lieber an die rauhe Tatsache halten, die zwar nichts erklärt, wohl aber das vom Tode gezeichnete Aussehen meiner Mutter rechtfertigt. Zwischen Frühlingsende und Sommerbeginn 1968 siechte meine Mutter an ihrem fortgeschrittenen Krebsleiden langsam dahin. Mit geschlossenen Augen lag sie in ihrem Bett und bewachte den durch lange Jahre hindurch zwischen uns beiden errichteten Schutzdamm. Er war bereits so hoch, daß ich wußte: Den wirst du nicht mehr überwinden können, Lojzek! Doch ich versuchte es immer wieder. Täglich ging ich zur Mutter hinüber und erzählte ihr, wie unser Haus der Stahlkugel trotze, was für festes Mauerwerk und solide Zimmerdecken es doch aufweise, und wären nicht die Soldaten mit einer Dynamitsprengladung gekommen, so stünde es wohl noch bis heute.
»Hast du um die Mittagszeit herum diesen fürchterlichen Knall gehört?« fragte ich meine Mutter, »das war, als sie die Tragmauer gesprengt haben.«
»Ja, ich habe ihn gehört«, erwiderte die Mutter.
Aber sie konnte unmöglich etwas vernommen haben, denn diese Soldaten mit dem Dynamit hatte ich frei erfunden. Unser Haus war nach wenigen Schlägen der Stahlkugel eingestürzt, das restliche Mauerwerk hatten die Arbeiter dann mit Spitzhacken zerschlagen, dann war eine kleine Planierraupe angerollt und hatte alles eingeebnet.
Einen ganzen Monat lang erzählte ich meiner Mutter die verschiedensten Begebenheiten, zum Beispiel welche Mühe die Soldaten und Arbeiter mit der Abtragung des Fundaments gehabt hatten. Doch das Fundament wurde gar nicht zerstört, sondern nur zugeschüttet und damit war auch alles erledigt gewesen. Die aus dem Boden herausragenden Rohre wurden mit Hilfe eines autogenen Schweißapparates abgetrennt, dann fuhren die Betonarbeiter flüssigen Beton in ihren Lastern an, verteilten ihn über das Fundament, und eine Woche später parkten dort bereits die ersten Autos.
»Na ja, mit den Mauern ging es noch«, erzählte ich meiner Mutter, »die ließen sich noch leicht einreißen, aber du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Plage das mit Vaters Backstube war. Zuerst wollten sie dem Backofen mit den Spitzhacken zu Leibe rücken. Sie hackten eine Stunde, zwei Stunden, schlugen mit den Stahlspitzen munter darauf los, aber seine Wände gaben nicht nach. Und so gingen sie zum Meister. ›Meister‹, sagte einer der Arbeiter, ›dieser Backofen ist verdammt fest, durch die Glut ist dort alles ganz verschlackt, die Sache muß man mit Dynamit angehen!‹«
»Freilich«, lächelte die Mutter (und in diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, daß jetzt ein Stück der Mauer zwischen mir und der Mutter abbröckelte), »so ein Backofen muß etwas aushalten!«
»Am nächsten Tag haben sie es dann mit pneumatischen Hämmern versucht, aber keine Spur, der Backofen hat nicht nachgegeben! Morgen gegen zehn Uhr mußt du gut aufpassen, dann werden wieder die Soldaten kommen, um ihn zu sprengen.«
»Ja, ich werde aufpassen!«
Vaters Backofen aber hatte sich schon beim ersten Aufprall der Planierraupe empfohlen. Eine schwarze Rußwolke hatte sich herausgewälzt, die vom Feuer ausgeglühten Ziegel waren herausgefallen, und das war auch alles gewesen. Der Staub hatte sich gelegt – und der Backofen war verschwunden.
Am nächsten Tag fragte ich meine Mutter, ob sie den Knall gehört habe.
»Nein, Lojzek«, erwiderte sie lächelnd, »wahrscheinlich höre ich schlecht … oder ich habe verschlafen … aber ich habe dir auch so gerne zugehört …«
Meine Mutter drehte sich auf die andere Seite und stieß dabei einen schweren Seufzer aus. Ich glaube, ich habe mich ein wenig geschämt, daß ich sie wochenlang beschwindelt hatte. Solange unser altes Haus existierte, hatten wir alle zusammen in einer Wohnung gelebt, Anka und ich im Wohnzimmer, die Mutter mit Kocifaj in der Küche und die Großmutter Zabalski in der kleinen Kammer in der hinteren Ecke der Diele. Wir hatten einander wenigstens noch guten Tag gesagt. Aber als wir ausziehen mußten und man uns Wohnungen auf derselben Etage zuteilte, eine für mich und Anka, die andere für meine Mutter, Kocifaj und die Großmutter Zabalski, waren wir durch eine Querwand aus Beton voneinander getrennt.
Es ist kaum zu glauben, wie dürftig so eine Zwischenwand aus Beton in einem modernen hellhörigen Mietshaus ist! Wenn ich mich mit dem Rücken gegen sie lehnte, konnte ich sogar spüren, wie mir diese Querwand jede Schwingung der Stimme signalisierte. Ich sprach mit meiner Mutter auch durch die Wand hindurch. Heute möchte ich mir gern einreden, daß sie mich gehört hatte, denn jedes meiner Worte war dazu bestimmt gewesen, sie zu erreichen. Aber sie hüllte sich in hartnäckiges Schweigen, auch wenn ich meine Stimme verstärkte und manchmal sogar zu ihr hinüberschrie. Ich hatte oftmals die größte Lust, Bohrer und Hammer herbeizuholen, um wenigstens ein Loch in diese Wand zu schlagen.
Ich hörte ganz deutlich, wie meine Mutter hinter der Wand stöhnte, jammerte und gegen die Schmerzen ankämpfte.
»Ich werde den Arzt holen«, rief ich einmal in die Wand hinein, »der wird dir eine Injektion geben!«
»Nein«, sagte meine Mutter hinter der Wand, »ich will keine Injektion, ich will überhaupt nichts mehr!«
Sie straft sich selbst, dachte ich. Wenn ich mich jetzt über sie beugte, könnte ich bestimmt sehen, daß sie die Lippen bewegt, wahrscheinlich spricht sie zu sich selbst und legt ein Schuldbekenntnis ab. Wenn sie mich in dieses einbezogen hat, dann sollte und müßte ich auch ein Wörtlein mitreden, aber was? Noch rechtzeitig wurde mir bewußt, daß es am besten war, hinter der Wand zu verbleiben; was auch immer ich jetzt der Mutter sagte, es würde ihr alles nur noch schwerer machen. Ich stellte mir vor, daß sie mit jedem Atemhauch einen Dunstschwaden ihrer Schuld, die sie bedrängte, aus sich herausstieß.
Meine stärkste Erinnerung, die ich an meine Mutter habe, ist, wie sie sich, in eine silberne Wolke gehüllt, über den Waschtrog mit den Trikots des F. C. beugt, der Dampf kreist um ihren Kopf und seine winzigen Tröpfchen setzen sich in ihrem Haar und an ihren Augenbrauen fest.
»Sei mir nicht böse, Mutter«, sagte ich in die Wand hinein, »ich habe dich ganze zwei Monate lang angelogen … unser Haus ist ziemlich leicht in die Knie gegangen … aber ich wollte wenigstens ein Weilchen bei dir sein und wenn ich mir nicht diese Lügen ausgedacht hätte, so hätten wir keinen Gesprächsstoff mehr gehabt! Ich möchte jetzt gerne zu dir hinüberkommen, aber ich weiß nicht, was ich dir an deinem Bett erzählen könnte … Und so bleibe ich lieber hinter der Wand …«
»Ich habe dir gerne zugehört«, vernahm ich ihre Stimme, doch ich wußte, daß sie sich gerade jetzt fest in sich verschloß.
»Brauchst du etwas?« fragte ich.
»Nein, jetzt nichts mehr, überhaupt nichts …«
»Ich könnte dir vielleicht von Erich erzählen, er ist zurückgekommen!«
»Dein Erich interessiert mich nicht!«
»Anka erwartet ein Kind«, schrie ich hinüber.
»Das wird euer Kind sein«, erwiderte die Mutter, holte Atem und wollte wohl noch etwas sagen, aber schon das erste Wort eines weiteren Satzes erstickte in ihrer Kehle. Einen restlichen unverständlichen Laut, der sich ihr dennoch entrang, hielt sie zwischen den fest aufeinandergepreßten Zähnen zurück.
Der scharfe Nordwind hat im Tal der Ostravice und Oder ein leichtes Spiel. Er kommt von der Ostsee her, gewinnt in den polnischen Ebenen an Stärke, und wenn er bei Oderberg über die Grenze hinwegfegt, hält er sich auf dem Wasserspiegel der Oder, lehnt sich mit seiner Flanke im Norden an die Landecker Hügel, prallt ab, aber im Süden ist auch nicht viel Platz; die Halden bei Hruschau und das dort ansteigende wellige Gelände der Hügel von Bazaly drücken ihn wieder auf die Oder hinunter. An den Stellen, wo die Ostravice in die Oder mündet, teilt sich der Wind in zwei große Strömungen. Die rechte setzt ihren Weg der Oder entlang fort, erwärmt sich aber über dem fruchtbaren Boden der Ebenen westlich unserer Stadt, so daß diese Strömung in die Mährische Pforte nur als erfrischendes Lüftchen eintritt, das an sommerlichen Hitzetagen Kühle heranweht, im Winter aber den Himmel reinigt. Die linke Windströmung fällt entlang des Flußbettes der Ostravice in unsere Stadt ein, wirbelt den Staub hoch, zerreißt die Wolke der Flugasche über der Stadt, jagt durch die Straßen, nimmt noch an Geschwindigkeit zu und prallt schließlich wie ein in Rage gekommener Widder gegen den Gebirgswall der Beskiden. Aber die hohen Berge halten diesen Ansturm aus, der Wind hebt sich empor und klettert über die Steilhänge bis zu den Gipfeln hinauf. Auf den nackten Flachfeldern gerät er ganz außer Rand und Band, er tobt und wirbelt dort herum, aber das ist nur ein Ausbruch seiner wütenden Ohnmacht. Weil er die Berge nicht bezwingen kann, läßt er giftige Asche, die er aus der Stadt mitgebracht hat, auf sie herabfallen, und die Wälder sterben ab.
Besonders auf die Bäume hat es der polnische Nordwind abgesehen. Doch diese sind für den Wind keine würdigen Gegner. Er kann sie leicht aus dem Erdreich herausreißen, denn ihre Wurzeln sind verdorrt oder aber in den über den ausgeplünderten Kohlenflözen absinkenden Sümpfen verfault. Auf diesem unsicheren Boden haben sich die Häuser zur Seite geneigt, sie krachen in ihren Fugen, in einer einzigen Nacht senkt sich das Schlafzimmer um etwa einen Meter, auch die Küche neigt sich, und durch die Risse in der Mauer stiehlt sich der Wind in die Wohnung.
Und aus den Tiefen der Erde steigt Salzwasser auf, setzt sich in den Mulden fest, und da ist der Wind in seinem Element. Er jagt über die Wasserfläche, in der sich kein Leben befindet, hinweg, er hat freie Bahn zum Fuß der brennenden Kohlenhalden, von wo aus er auf seinem weiteren Weg die schlimmsten Giftstoffe zu den Bergen und Wäldern hinträgt.
Die Menschen sind dem Wind ausgewichen.
Abseits der Hauptströmung des polnischen Nordwinds hat man eine Siedlung für hunderttausend Menschen errichtet, doch da sie nicht ausreichte, hat man zusätzlich noch ein oder zwei Satellitenstädte gebaut. Der Wind ist schuld daran, daß die Baumeister der neuen Städte und Wohnsiedlungen nicht die alten Straßen unserer Stadt verlängern konnten, sondern neue Boulevards trassieren mußten, die bei einem Kornfeld beginnen und bei dem ersten Kartoffelacker enden. Die prunkvollen Häuser mit Türmchen zieren pseudogriechische Säulen und gigantische Skulpturen, aber das hilft alles nichts, denn keinerlei noch so große Prachtentfaltung kann diesen neuen Straßen ein wenig Wärme verleihen. Die Statuen muskulöser Männer mit geballter Faust, die Frauen aus Stein mit ihren entblößten Riesenbrüsten, die Babys aus Granit mit den ausgeprägten Merkmalen einer fortgeschrittenen Elefantiasis – sie alle blicken in halbleere Straßen hinab, in ihren starren Gesichtern ein optimistisches Lächeln, doch ich glaube, sie sollten lieber weinen.
Der Wind hat unsere Stadt aus ihren Wurzeln gerissen.
Nicht einmal der Fußball ist in den neuen Wohnsiedlungen und Städten heimisch geworden. Hier gedeiht eigentlich nichts. Hier kann man kein Glockengeläute hören, denn es fehlt die Kirche, noch gibt es ein Rathaus, dessen winzige Glocke mit ganz leisem Gebimmel die Menschen vergewissern könnte, daß sie in dieser Betonwüste voll Nordwinden nicht gänzlich allein sind.
Die wohlgenährten, fleißigen und arbeitsamen Menschen träumen in den windigen Nächten ihren großen Traum von der Rückkehr nach Hause, zu den Wegscheiden vor den hannakischen Dörfern, zu den durchwärmten Hängen und Weinbergen der Mährischen Slowakei, zu den Bächlein unterhalb der walachischen Berge. Doch wer von ihnen wird wohl zurückkehren?
Männer gibt es hier immer mehr als genug.
Aus den hannakischen Ebenen kommen trotzige Bauernsöhne hergefahren, die Züge aus Breclav bringen überfüllte Waggons mit von Wein und Schwermut trunkenen Dorfburschen, die Walachen aus den Beskiden haben noch zwei bis drei Tage ihren Harz- und Stallgeruch an sich, der aber bald von den giftigen Dünsten unserer Stadt überdeckt wird.
Von Osten kommen die Slowaken herein, muskulöse Raufbrüder. Die können in unserer Stadt keinen festen Fuß fassen. Sie schuften einige Jahre unter Tag oder in den Eisenwerken, ersparen sich ein paar Groschen, errichten davon in ihrem Heimatdorf die Fundamente ihres neuen Häuschens, ziehen die Mauern hoch und wenn sie es überdacht haben, kehren sie mit Staub in der Lunge in ihre eigenen vier Wände heim, herzen und küssen einander beim Anblick ihres eigenen Werks und sagen sich, sie hätten nicht vergeblich gelebt, sie zeugen Nachkommen weiterer muskulöser Raufbrüder, und nach zwei Jahrzehnten oder sogar noch früher geben die abgehärmten Mütter ihren Söhnen den Segen auf den Weg nach Ostrau. Und so läuft alles im Kreis herum.
Vom linken Ufer der Oder kommen die Preußischen zur Arbeit her. Sie halten sich am liebsten in ihrer Sippe auf. Der Vater hält den guten Posten für seinen Sohn bereit, der Bruder für seinen Bruder, der Schwager für seinen Schwager. Die Preußischen arbeiten mit Sorgfalt, rechnen ihre Lohnauszahlung genau nach, und auf sie ist Verlaß. Zur Arbeit fahren sie mit Omnibussen am Morgen in die Stadt, am Abend wieder zurück. Jeder Preußische hat in den überfüllten Wagen seinen Platz, den er sich im Laufe mehrerer Jahre erkämpft hat. Wehe, wenn es irgendeinem Fremden einfiele, seinen Platz zu besetzen! Der Platz im Bus ist nicht nur Ausdruck gesellschaftlicher Stellung, sondern zusätzlich noch eine höchst nützliche Sache. Im Bus wird nämlich geschlafen, ein Stündlein zur Arbeit, ein Stündlein zurück.
Ostrau zieht alle verkrachten Existenzen aus unserer ganzen Republik an, Lehrer mit Sittlichkeitsdelikten, strafentlassene Kriminelle und Fanatiker, die sich anderswo in vergeblichen Zusammenstößen die Köpfe eingerannt haben; Straßenmädchen finden hier ihre letzte und einträglichste Station, Pfuscher aus den verschiedensten Fachgebieten können sich hier als erstklassige Spezialisten ausgeben, auch wenn man sich ihrer anderswo gern entledigt hat. Unsere Stadt schluckt alles. Sie trifft keine Auswahl.
Mir kommt zum Bewußtsein, wie gleichgültig ich der Masse gegenüberstehe. Als noch guter Fußball gespielt wurde, hatte mich jeder Zuschauer gekannt, wenn vielleicht auch nur vom Sehen. Sobald ich mich an die Außenlinie stellte, sagten die Leute zueinander: »Schaut nur, da ist der kleine Lapáček, er steht wieder an der Linie, er bringt den Spielern Glück, keiner würde den Platz betreten, ohne ihn zuvor betätschelt zu haben!«
Heute beobachte ich diese Riesenmassen, die jeden Sonntag den neuen Fußballplatz bevölkern, ich höre ihr Gebrüll, und ihre Besessenheit erschreckt mich; sie kommt in Formen zum Ausbruch, die mich ratlos machen. Der Platz unter unseren Fenstern ist ein Hexenkessel, in dem jeden Sonntag die gemeine Wut kocht, siedet und überquillt. Wahrscheinlich kommen die Leute nur hierher, um sich ausbrüllen zu können. Wenn ich das, was ich aussprechen muß, vor ihnen ausspräche, würde ich nur indolenten von Gleichgültigkeit ausgehöhlten Gesichtern um mich herum begegnen, und einer von ihnen würde mir für alle anderen darauf erwidern: »Was für Scheiße du daherredest! Hol dich der Teufel, Lapáček!«
Der Nordwind prallt jetzt gegen die hohen Mauern der Betontribüne, kann aber auf das Spielfeld nicht vordringen. In diesem tiefen, unruhigen Kessel herrscht Windstille, und das ist vielleicht ein Fehler. Als einst noch die alte Holztribüne dagestanden war, hatte hier ein leichter Wind geweht, der zwar die Kontrolle der Bälle erschwerte, aber die erhitzten Köpfe abgekühlt hatte. Jetzt hängt über dem Fußballplatz nur eine schwüle und schwere Wolke, und wenn die Lichter eingeschaltet werden, sehe ich, wie der Staub auf die Spielfläche fällt.
Und was der Nordwind alles mit Anka anzustellen vermochte. Als sie noch vor den alten Weibern aus der Siedlung Theater gespielt hatte, habe ich dieses kleine Wunder zum ersten Mal an ihr bemerkt. Sobald sie ihre Arme hob – was sie dabei sagte, war gar nicht wichtig – begann im selben Augenblick der Nordwind zu wehen, lehnte sich gegen ihre mageren Arme und mir schien, als würde dieser Wind Anka umwerfen. Nur ich bemerkte, wie sich Ankas Muskeln anspannten, welche Kraft sie aufbieten mußte, um nicht umzufallen. Bei einem nur oberflächlichen Hinblicken mochte es einem Zuschauer scheinen, daß auf der Bühne nichts geschah, doch ich sah in Ankas Gesicht deutliche Zeichen ihrer Entschlossenheit, sich fest auf den Füßen zu halten; dieses magere Mädchen hatte nur leicht den Mund geöffnet, und das war der Augenblick, da ich zum ersten Mal von ihren Lippen lesen konnte. Jetzt kenne ich in ihrem Gesicht schon jedes Fältchen, jede kleine Schrumpfung und Runzel (ach, wieviele sind doch im Laufe der Jahre hinzugekommen!), ich kann mich in ihnen nicht mehr verirren, ich unterscheide auch die feinen Schattierungen auf ihrer Gesichtshaut und weiß, daß sie mit ihnen ihre Worte und Sätze unterstreicht und nuanciert.
Alles, was Anka erlebt hat, hat sich ihrem Gesicht eingeprägt, als dauerhafteste und deutlichste Spur ein Ausdruck ungeduldiger Begierde, der mich bis heute noch bezaubert, zum ersten Mal bemerkte ich ihn im Jahre 1945. Anka war angelehnt an den Türpfosten der früheren Backstube meines Vaters gestanden, in der ich unter der Firma »Labor Falco« Schmierseife Marke »Blitz« herstellte. Ein leichter Nordwind wehte gerade auf unsere Stadt herab, doch der Zaun rings um unseren Hof hob ihn ein wenig empor, so konnte er nur Ankas Haar streifen.
»Lojzek«, sagte sie zu mir, »ich bin glücklich, daß ich lebe … jetzt lebe …«
Ich lebe ja auch, dachte ich, und das ist für mich die Hauptsache, über das Glück werde ich ein andermal nachdenken.
»Ich habe meinen Platz gefunden, begreifst du das?«
»In Ordnung, Anka«, sagte ich, »jeder von uns hat irgendwo seinen Platz, ob wir ihn uns nun schon selbst gefunden haben oder ob er sich uns von alleine angeboten hat, so von ungefähr …«
»Ich habe bereits ein Engagement am Theater, Lojzek«, sagte Anka, und der Wind wehte ihr eine Haarsträhne hoch, »ich bin jetzt Schauspielerin!«
»Das ist ja prima für dich«, erwiderte ich, »ich bin auch nicht gerade schlecht daran, es könnte mir schlimmer gehen.«
»Und denk dir nur, irgend so ein Narr schickt mir täglich Blumen auf die Bühne … und dabei spiele ich überhaupt keine Hauptrollen, lauter solchen Quatsch …«
Na also, da haben wir’s, dachte ich und bückte mich sogleich zum Feuerrost hinunter, um nachzulegen, obwohl das gar nicht notwendig war. Ich sollte dir, Anka, jetzt sagen, daß ich dieser Narr bin, der dir die Blumen auf die Bühne schickt. Ich werde es dir sagen, aber zuvor muß ich mir noch überlegen, wie. Wäre es gut, daß mir die Stimme dabei zitterte oder sollte ich das nur so mit einem nüchternen Indikativsatz hinwerfen? Aber bevor ich noch alles überlegt hatte, sagte Anka lachend, die Blumen kämen bestimmt von irgend so einem Tattergreis, der es auf junge Mädchen abgesehen habe, aber das mache ihr nichts aus, im Gegenteil, die anderen Kolleginnen beneideten sie darum.
»Bestimmt wird das irgend so ein Tattergreis sein«, erwiderte ich und schlug das Ofentürchen zu, »natürlich werden jetzt die Männer hinter dir her sein … das wundert mich gar nicht.«
»Und was ist mit dir?« fragte Anka; im selben Augenblick hatte sich der Wind gelegt. Anka war still geworden.
Jetzt sollte ich von den Blumen anfangen, dachte ich, vielleicht auch nur mit einem Indikativsatz. Aber Anka kam mir wieder zuvor, sie trat zu mir und legte mir ihre Hand auf die Schulter; ich mußte mich fest zusammennehmen, daß mir die Knie nicht einknickten.
»Lojzek, um Himmels willen, was wird nur aus dir werden«, hörte ich sie leise sagen. Sie hatte ihre Stimme hervorragend in der Gewalt, auch als sie sich dann zu mir herabbeugte, und ich empfand ihre Worte wie einen kühlenden Lufthauch voll heilkräftigem, würzigem Duft.
»Du wirst doch nicht hier versauern wollen … bei deinem Kessel mit der Schmierseife!«
Das Wort Schmierseife hatte Anka so heftig aus sich hervorgestoßen, daß ich glaubte, die leibhaftige Windsbraut habe mich mit ihrem kalten Atem angeweht.
Nein, das will ich nicht, sagte ich mir, ich könnte diese ganze Kocherei hinschmeißen, aber was dann, Anka? Ich könnte zu Herrn Chryzcke gehen und ihm sagen, ich möchte aus dem Geschäft aussteigen, Herr Chryzcke würde mich auszahlen, und ich wäre frei, aber für wen? Und wo sollte ich dann das Geld hernehmen, um dir jedesmal, wenn du auf der Bühne stehst, einen Blumenstrauß zu schicken?
»Lojzek«, sagte Anka und wieder streifte mich ihr Atem wie ein Lüftchen, »denk doch an die Zukunft!«
Zukunft, dachte ich, was soll ich damit? Das ist etwas, was ich nicht kenne, ich wachse aus den Wurzeln der Vergangenheit, das ist zwar dumm, aber es ist nun mal so.
»Vergiß doch mich nicht«, sagte Anka, und ihr Atemwind verstärkte sich.