... und keiner sah den Engel - Elisabeth Dreisbach - E-Book

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Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Da saß ein kleiner Junge auf der Türschwelle und schnitzte mit seinem Messer an einem Stück Holz herum. "Was machst du da?" fragte die Mutter. Der Junge antwortete: "Ich schnitze ein Schüsselchen für den Vater, wenn er so alt ist wie der Großvater. Dann muss er ja auch auf der Ofenbank sitzen, weil seine Hände zittern und er die Suppe verschüttet und deshalb nicht mehr mit uns am Tisch essen kann." Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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… und keiner sah den Engel

Band 17

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-138-1

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

… und keiner sah den Engel

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… und keiner sah den Engel

Und keiner sah den Engel. – Welch seltsamer Titel. Wie kann man dann über ihn schreiben, wenn niemand ihn gesehen hat? Gibt es überhaupt Engel? Was hat ein Buch für Erwachsene mit solchen längst überholten Begriffen zu tun? Engel? Die gehören doch in den Bereich der Märchengestalten, Kindern kann man von ihnen erzählen. –

Eben dies ist ein großer Irrtum, denn es gibt wirklich Engel. Woher man das weiß? Die Bibel berichtet von ihnen. Sie sind ehrfurchtgebietende Boten Gottes – unabhängig davon, ob wir an sie glauben oder nicht. Sie existieren und haben Aufträge Gottes zu erfüllen. Mehr darüber sagt die Bibel.

Wie es dazu kam, dass ich meinem neuen Buch diesen Titel gab „Und keiner sah den Engel“, will ich jetzt berichten:

Ich habe ihn gesehen – wirklich gesehen. Es war kein Engel, wie er vielfach auf Bildern dargestellt ist: mit lieblichem Lächeln und einem Goldreifen um die Stirn, dazu ein wallendes weißes Gewand und flaumfederartige Flügel. Vor Jahren gab es solche Bilder von Schutzengeln. Heute würde man sie kitschig nennen. Auf den Bildern beschützen diese Wesen gewöhnlich ein kleines Kind, das in Gefahr steht, einen Felsen hinabzustürzen, oder das über eine schmale Brücke geht, unter der wildwogendes Wasser schäumt.

Was ich sah, war auch kein Engelchen, wie man es zur Weihnachtszeit vielfach in den Schaufenstern sieht, im Rauschgoldkleid und mit dauergewelltem Flachshaar über rosigen Pausbäckchen.

Nein, der Engel war ganz anders, keineswegs lieblich, eher erschreckend, Ehrfurcht gebietend, majestätisch. Ich sah seine überdimensionale Erscheinung plötzlich aus den Wolken treten. Dabei erschrak ich bis tief ins Herz hinein und wusste, als ich in seiner rechten Hand ein Schwert und in der linken eine Waage sah, dass er zum Gericht kam. Unwillkürlich drückte ich beide Hände auf mein Herz und rief aus: „Mein Gott!“ Das war wahrlich kein Missbrauch des heiligen Namens, sondern ein Hilfeschrei.

Unbeweglich, in erschütterndem Ernst stand der Engel da. Mir aber war es, als müsste ich vor ihm zu Boden sinken.

Neben mir standen eine Anzahl Männer und Frauen. Sie nahmen keinerlei Notiz von dieser überirdischen Erscheinung. Sie sprachen aufeinander ein, sie lachten und blickten dabei überall hin, nur nicht auf den Engel. Angst und Sorge überfielen mich. In großer Erregung, jedoch in Ehrfurcht verharrend, bemühte ich mich, sie auf dieses außergewöhnliche und überirdische Ereignis hinzuweisen. Eindringlich sprach ich auf sie ein. Ich versuchte sogar, einige zurückzuhalten, die teilnahmslos und uninteressiert weitergingen. Vor Kummer fast weinend, deutete ich schließlich zum Himmel hinauf, weil sie nicht auf mich hörten.

Aber keiner sah den Engel. Oder wollten sie ihn nicht sehen? All mein Bemühen schien umsonst. Mir war klar, dass diese großartige Engelserscheinung mit der Waage und dem Schwert etwas Besonderes zu bedeuten habe. Doch plötzlich verschwand sie in den Wolken, unbeachtet von denen, die bei mir standen.

Ich aber erwachte. Alles war nur ein Traum gewesen.

Nur ein Traum? Mir wurde sofort klar, dass es mehr zu bedeuten habe. Von dem Geschauten noch ganz erfüllt, erzählte ich meiner langjährigen Mitarbeiterin, was ich erlebt hatte. Ich schloss meinen Bericht mit den Worten: „Und keiner sah den Engel“.

Da sagte sie, die seit zwanzig Jahren das Entstehen meiner Bücher miterlebt: „Das ist der Titel deines nächsten Buches: Und keiner sah den Engel.“

Über diesen Traum sind inzwischen drei bis vier Monate vergangen. Ich konnte mich nicht sogleich entschließen, darüber zu schreiben. Sonderbarer Weise ließ mich der Traum nicht mehr los, und gedanklich formte sich in mir die neue Aufgabe. Ich glaube, ich darf ihr nicht ausweichen. Mir ist's, als werde es – zwar in anderer Art – eine Fortsetzung meines Buches „Als flögen wir davon“, in dem ich aus meinem Leben erzählt habe.

„Schreiben Sie aber kein erbauliches Buch“, hat man mir gesagt. „Davon gibt es so viele. Ihre Gabe ist das Erzählen, das plastisch Schildernde.“ Ich habe nicht vor, ein erbauliches Buch zu schreiben. Vielmehr soll es wachrufen, zum Nachdenken anregen und helfen, will's Gott, Entscheidungen herbeizuführen.

Steht nicht in der Tat über unserer Zeit der Engel mit dem Schwert und der Waage in seinen Händen? Mit großer Besorgnis erkennen manche, wie die deutlichen Zeichen unserer Zeit von der Menge der Menschen, ja auch von vielen Christen, übersehen werden. Eine ganze Reihe von Büchern sind darüber in letzter Zeit von verantwortungsbewussten Christen geschrieben worden, die sich aufgerufen fühlten, zu warnen, hinzuweisen auf den Engel mit dem Schwert und der Waage. Jeder tut es in seiner Art und nach seinem Auftrag. Ich denke da an Billy Graham und an andere. Sie dürfen nicht überhört werden, zumal es bei ihnen nicht um schwärmerische Meinungen geht, sondern um eine sachliche Beurteilung der Begebenheiten unserer Tage.

Mein Auftrag ist ein anderer als der ihre, aber auch ich hoffe gehört zu werden. Und wenn es mir gelänge, nur den einen oder andern zum Nachdenken zu bringen, dann wäre mein Tun nicht umsonst.

Vor einigen Jahren habe ich Erinnerungen aus meinem Leben niedergeschrieben. Von verschiedenen Seiten war ich darum gebeten worden. Das Buch erschien unter dem Titel: „Als flögen wir davon“. Ich habe nie erwartet, dass darauf ein solch starkes Echo folgen würde. Seit dem Erscheinen des Buches vergeht wohl kaum eine Woche, in der nicht einige Zuschriften aus dem Leserkreis zu mir gelangen. Immer wieder bittet man mich: „Schreiben Sie doch eine Fortsetzung.“ Ich hatte das nicht vor. „Als flögen wir davon“ betrachtete ich als einen gewissen Abschluss.

Damit hatte ich den größten Teil der Erfahrungen meines damals sechzig-jährigen Lebens niedergeschrieben. Was könnte ich dem noch hinzufügen? Doch jetzt sehe ich plötzlich noch eine ganze Reihe von Erlebnissen und Einsichten vor mir, die nicht nur die Seiten eines Buches füllen, sondern meine Leser gewiss auch interessieren und ihnen etwas zu sagen haben. Dabei wird es zum großen Teil um Menschen gehen, die in den Jahren der Arbeit in unserem christlichen Erholungsheim unsern Weg kreuzten. Aber auch von anderen will ich berichten, denen ich früher begegnete. Es sind Menschen, die entweder den Engel sahen und durch ihn zum Nachdenken oder gar zu Entscheidungen geführt wurden oder solche, die ihn nicht sahen, vielleicht auch nicht sehen wollten.

Eines Tages überschritt eine Dame die Schwelle unseres Hauses mit den Worten: „Ich weiß gar nicht, wie ich mich in einem christlichen Erholungsheim benehmen muss. In meinem ganzen Leben bin ich noch nie in einem solchen Haus gewesen.“ Sie tat, als sei es ihr fast peinlich, sich zu den Frommen zu gesellen. Und doch war sie freiwillig zu uns gekommen. Irgendwie hatte sie von unserem Haus auf der Schwäbischen Alb gehört. Sie war eine kluge Frau, hatte die ganze Welt bereist, ihren Doktor in Volkswirtschaft gemacht, gab eine Zeitschrift heraus und war äußerst redebegabt. Es gab wohl kaum ein Lebensgebiet, auf dem sie nicht bewandert war. Sie schrieb während ihres Aufenthaltes bei uns an einem Buch, in dem sie nachweisen wollte, dass der Mensch an und für sich gut, ja sündlos ist. Natürlich nannte sie sich auch eine Christin.

Es dauerte nicht lange, und wir kamen mit ihr ins Gespräch. „Der Gott, an den ich glaube“, sagte sie, „hat es nicht nötig, ein so blutrünstiges Opfer zu fordern, um der Menschheit, die ja seine Schöpfung ist, wieder zurechtzuhelfen. Der Mensch braucht keinen Erlöser. Er ist in sich selbst gut.“

„Dann glauben Sie also nicht, Frau Doktor, dass Jesus Christus auch für Ihre Sünden gestorben ist?“ fragte meine Mitarbeiterin.

Daraufhin sprang sie empört auf und schrie sie an: „Wer gibt Ihnen ein Recht, mir solche Fragen zu stellen?“

„Aber Sie nennen sich doch eine Christin?“ wagte ich einzuwenden. „Gleichzeitig lehnen Sie das Kreuz ab, das ja das Fundament unseres Glaubens ist. Und ebenso weisen Sie die Auferstehung Jesu von den Toten und seine Himmelfahrt zurück. Ist es dann nicht sinnlos, sich noch Christ zu nennen, Frau Doktor?“

Sie überflutete mich darauf mit einem Redeschwall eigener Ansichten und Argumente. Merkwürdig war jedoch, dass sie trotzdem jeden Morgen zur Hausandacht kam. Ich hätte keine aufmerksamere Zuhörerin haben können. Am Anfang schöpfte ich Hoffnung, sie wäre vielleicht zugänglicher, als ich vermutete. Aber dann geschah es, dass sie jedes Mal nach der Andacht um sich eine Gruppe von Gästen unseres Hauses sammelte und versuchte, denen alles von mir Gesagte zu widerlegen und es als unglaubwürdig hinzustellen. Diejenigen, die einen klaren biblischen Standpunkt vertraten, ließen sich durch diese Frau nicht beirren. Doch waren unter unseren Gästen auch einige, die nicht zu den überzeugten Christen zählten und denen die redegewandte Frau einfach imponierte. Mit Besorgnis beobachtete ich die Entwicklung der Dinge.

Schließlich sehen wir in der Wortverkündung die wichtigste Aufgabe unseres Hauses. Durfte ich zulassen, dass gerade diejenigen, die innerlich noch unsicher waren, in größere Zweifel gestürzt wurden? Durfte ich dazu schweigen?

Längere Zeit sagte ich nichts. Ich wollte die Frau nicht vor den Kopf stoßen. Aber als sich ihr Verhalten in unserem Hause bereits atmosphärisch auszuwirken begann, sprach ich sie nach reiflicher Überlegung daraufhin an.

„Frau Doktor, die Teilnahme an der Andacht ist freiwillig. Niemand wird dazu gezwungen. Ist es nicht besser, Sie bleiben fern, wenn Sie das, was Sie hören, doch nicht bejahen wollen und davor nicht zurückschrecken, anderen das zu zerstören, was sich in deren Innern an Glaubensgut regt.“

Daraufhin gab sie mir eine Antwort, die mir doppelsinnig schien. „Meinen Sie, ich will draußen sein, wenn alle andern drinnen sind?“

Draußen oder drinnen, darum geht es. Ich weiß, viele wollen das nicht wahrhaben. Dieses entweder – oder der persönlichen Entscheidung wollen sie nicht gelten lassen. Als ob die Bibel nicht klar und eindeutig davon redet: „Wer nicht für mich ist, der ist wider mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ Man ist entweder im Reiche des Lichts oder aber im Reiche der Finsternis.

Dass ich mich in der Frau nicht getäuscht hatte, wurde mir an jenem Abend klar, als ich sie in ihrem Zimmer weinen hörte. Ich klopfte an, trat bei ihr ein und fragte, ob sie sich nicht wohlfühle, ob ich etwas für sie tun könne. Da saß nun diese kluge, weitgereiste Frau an ihrem Tisch, auf dem die Blätter ihres Manuskriptes lagen. Das Gesicht hatte sie in die Hände gelegt, und Tränen rannen zwischen ihren Fingern hindurch.

„Was kann ich für Sie tun, Frau Doktor?“ wiederholte ich meine Frage.

Ohne den Kopf zu heben, antwortete sie: „Ich bin der unglücklichste Mensch in Ihrem Hause!“

Wie tat sie mir leid. Was nützen Reichtum, viele Kenntnisse, scharfes, logisches Denken in einem solchen Augenblick? Sie hörte zu, ohne mir wie sonst ins Wort zu fallen, als ich versuchte, von der Sicht der Bibel ihr die Ursache ihres Unglücklichseins zu zeigen.

Aber weder in jener späten Abendstunde noch während der anderen Zeit, die sie in unserem Hause zubrachte, hätte ich mit Sicherheit sagen können, dass sie gläubig geworden war. Vielleicht ist ihr gerade das viele Wissen im Wege gewesen.

„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“

Eines Tages erhielten wir einen Brief von einem Lehrerehepaar aus Norddeutschland. „Wir möchten gerne die Schwäbische Alb kennenlernen“, schrieben sie. „Ihr Haus ist uns empfohlen worden. Da Sie sich christliches Erholungsheim nennen, möchten wir Sie jedoch nicht im Unklaren darüber lassen, dass wir aus der Kirche ausgetreten sind. Sollte dies für Sie ein Hinderungsgrund sein, uns aufzunehmen, müssen wir uns damit abfinden und nach einem anderen Haus Ausschau halten. Jedenfalls wollten wir Ihnen das nicht verheimlichen.“

Wir schrieben zurück: „Kommen Sie getrost. Sie sind uns herzlich willkommen. Wir halten es nicht für das Wichtigste, einer Kirche anzugehören. Zu Gott müssen wir gehören, wobei wir uns natürlich über die Notwendigkeit der Gemeinschaft der Gläubigen klar sind.“

Die Leute kamen. Ein liebenswertes, gebildetes Ehepaar mit guten Umgangsformen. Besonders der Lehrer hatte sofort mit allen Kontakt. Er war sehr musikalisch, musizierte und sang mit den Gästen. Mit seiner reizenden jungen Frau fügte er sich völlig in die Art unseres Hauses ein. Einmal besuchte er unsere Hausandacht. Es schien eine Höflichkeitsform zu sein. Danach blieb er wieder fern.

Eines Tages ergab sich folgendes Gespräch zwischen uns: „Denken Sie bitte nicht, wir seien gottlos, weil wir Ihre Andachten nicht besuchen.“

„Die Teilnahme daran ist jedem freigestellt“, sagte ich. „Jedoch wird jeder Gast dazu herzlich eingeladen, und wir freuen uns über alle, die dieser Einladung folgen. Aber drängen tun wir nicht.“

„Wir sind auch Christen“, antwortete der Mann. „In unserem Bücherschrank befinden sich neben vielen anderen Büchern auch solche religiösen Inhalts. Außer der Bibel haben wir Bücher über andere Glaubenslehren, wie den Buddhismus oder den Hinduismus. Wir verehren Christus, aber wir anerkennen ihn nicht als notwendig zu unserer Seligkeit. Uns genügt der Glaube an Gott.“

„Dann müssen Sie aber eine andere Bibel haben als wir.“

„Wieso? Nein, es ist die Lutherbibel, die ja auch hier in jedem Gästezimmer auf liegt.“

„Aber gerade in dieser Bibel ist doch klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass in keinem andern Heil und kein anderer Name den Menschen zur Seligkeit gegeben ist, als allein der Name Jesus Christus.“

„Wir sind davon nicht überzeugt!“ antwortete der Lehrer.

„Glauben Sie, sich dann noch Christen nennen zu dürfen?“ fragte ich.

„Wir nennen uns gottgläubig“, gab die Frau zur Antwort.

„Selbst dann haben Sie einen anderen Gott als den der Bibel. Denn diese lehrt, dass Gott die Welt so geliebt hat, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“, sagte ich ihnen.

Nachdenklich verabschiedete sich das junge Ehepaar nach diesem Gespräch. Zwei junge Menschen, die nicht gottlos sein wollten und doch mit Blindheit geschlagen waren. Auch sie sahen nicht den Engel.

Noch mehr bewegte uns, als ein Inder mehrere Tage der Erholung bei uns zubrachte. Jemand hatte ihn eingeladen, Weihnachten im Berghaus zu verbringen. Er hatte so viel von der deutschen Weihnacht gehört und war nun voller Erwartung zu uns gekommen. Sein Benehmen konnte man als vorbildlich bezeichnen. Bescheiden und wohlerzogen bewegte er sich unter unseren Gästen. Er war Volkswirt und aus zweierlei Gründen nach Deutschland gekommen: Einmal wollte er die deutsche Arbeitsweise kennenlernen, von der man in Indien – wie er sagte – viel hält. Ein ebenso wichtiges Anliegen war es ihm, das Christentum zu studieren; nicht, weil er selbst Christ werden wollte – er gehörte einer hohen Kaste an –, sondern um zu erfahren, was die Missionare bewegt, die Inder zum christlichen Glauben zu bekehren.

„Ich lebe aus der ,Gitta‘, der klassischen Heiligen Schrift der Inder“, sagte er. „Sie ist meine Bibel, mein Koran. Was auch an Schwerem über mich kommt, in ihr suche ich Trost, Kraft und Hilfe. Ich weiß, dass die Heilige Schrift der Christen die Bibel ist. Um gerecht urteilen zu können, habe ich mir vorgenommen, sie wie auch die Christen kennenzulernen, die aus der Bibel ihre Lebensweisheit schöpfen.

Ich arbeite in Stuttgart in einem Laboratorium, um mein berufliches Wissen zu erweitern. Außer mir sind dort vier junge Leute tätig. Ich fragte sie: ,Sind Sie Christen?‘

Sie bejahten es. Zwei von ihnen nennen sich evangelisch, die beiden anderen gehören der katholischen Kirche an.

Hier würde ich bestimmt mehr vom Christentum erfahren können, dachte ich. So fragte ich sie: ,Was halten Sie von der Bibel?‘

Sie blickten erst mich und dann sich gegenseitig verlegen an. Schließlich antwortete einer von ihnen: ,Ich kann Ihnen darüber nichts sagen; ich habe auf gehört in der Bibel zu lesen.‘

,Und Sie?‘ fragte ich den andern.

,Seit Jahren besitze ich keine Bibel mehr.'

,Ich habe noch eine Bibel, verspüre aber kein Verlangen nach ihr', sagte der dritte.

,Moderne Menschen wissen mit der Bibel nichts anzufangen', fügte der letzte hinzu.

,Und doch nennen Sie sich Christen?‘ fragte ich erstaunt.

,Nun ja‘, war die verlegene Antwort des ersten. ,So ohne weiteres kann man ja nicht mit der Tradition brechen und alles über den Haufen werfen. Deswegen muss man ja nicht gleich gottlos sein. Die Bibel ist nicht mehr zeitgemäß.‘

Es war keiner unter ihnen, der mir hätte helfen können, dem Christentum näher zu kommen“, fuhr unser indischer Gast fort. „Ich machte mich selbst ans Lesen der Bibel, in der Mittagspause täglich eine Viertelstunde, und ich lud dazu die vier Christen ein: die beiden Evangelischen und die zwei Katholiken. Wenn ich zurück nach Stuttgart komme, machen wir weiter. Ich glaube nicht, dass sie mir nur aus Höflichkeit zuhören, meine vier Arbeitskollegen. Manches in der Bibel scheint ihnen völlig fremd zu sein, und der eine oder andere hat schon geäußert: ,Das habe ich nicht gewusst!‘ Wir werden noch öfter miteinander ins Gespräch kommen über das Gelesene, und ich werde ihnen Aussprüche aus der Bhagavagitta vorlesen, dem Gesang des Erhabenen, unserem bedeutendsten Schriftwerk. Ich bin überzeugt, dass sie Ehrfurcht haben werden vor Krischna, dem Erhabenen. Dieses Buch ist übrigens auch in Deutsch veröffentlicht worden.“

Ich war über die Ausführungen des Inders tief betroffen. Mit welcher Ehrfurcht und Überzeugung sprach er zu mir von seiner religiösen Auffassung. Seine Religion verbot ihm zum Beispiel jeden Genuss von Alkohol und Fleisch und noch anderer Nahrungsmittel. Er hätte lieber gehungert, als etwas zu sich zu nehmen, was gegen seine Überzeugung ging. Was aber tun wir Christen?

In einer Stadt Süddeutschlands kommt bereits regelmäßig ein Kreis deutscher Menschen zusammen, um „sich von einem Inder, der die deutsche Sprache beherrscht und mit der abendländischen Mentalität vertraut ist, in die klassische heilige Schrift seines Volkes, die Bhagavagitta, einführen zu lassen. Es sind keineswegs gleichgültige oder oberflächliche Menschen, die sich dort treffen. Warum aber wenden sie sich vom Christentum ab? Sind sie nicht alle getauft und bisher auch Glieder einer christlichen Kirche gewesen? Wer hat hier versagt? Die Kirche? Unsere Gesellschaft? Wir selbst, die wir uns Christen nennen?

Vor mir liegt jenes besagte Buch. Kein Zweifel, edle und erhabene Gedanken kommen dem Leser daraus entgegen. Vom Weg der unterscheidenden Erkenntnis ist die Rede. Vom Weg des selbstlosen Dienstes. Der Weg der Selbstkontrolle wird beschrieben und ebenso der Weg der allumfassenden Liebe und Hingabe. Großen Wert legt das Buch auf innere Versenkung, auf Meditation. Aber benötigen wir derartige Hinweise von den Heiden? Spricht die Bibel nicht ganz eindeutig darüber? Sagt sie nicht von selbstlosem Dienen, von allumfassender Liebe und Hingabe? Gibt es ein Buch, das klarer darauf hinweist? Ich behaupte, dass die Heilige Schrift Antwort gibt auf alle Fragen und Probleme unseres Lebens.

Es liegt mir fern, solche Menschen zu schelten oder gar zu verurteilen, die sich mit dem Studium der Bhagavagitta befassen. Gut, ich kann von ihr Kenntnis nehmen, so wie ich mich auch studienhalber mit den verschiedenen anderen Religionslehren befasse, mit dem Buddhismus oder dem Hinduismus. Aber solche Lehren annehmen, nachdem ich mich vorher Christ nannte, wie kann das möglich sein?

Hier liegt wahrscheinlich die Ursache eines fehlgeleiteten Glaubens. Sich Christ nennen heißt noch längst nicht Christ sein. Und weil ein formales Christentum nie befriedigen kann, sucht der Mensch etwas anderes. Sein Herz bleibt unruhig, bis es Ruhe findet in Gott. Es könnte sein, dass mir jemand entgegnet: „Wir suchen Gott in den anderen Religionen, weil wir ihn weder in unserer Kirche noch bei den Christen gefunden haben.“ Zugegeben, die Kirche hat versagt. Die Christen haben versagt. Ich selbst habe versagt. Aber Christus?

Ich möchte solche Menschen fragen, aber auch solche, die behaupten, nicht glauben zu können: Habt ihr eigentlich ernstlich gesucht und die Bedingungen erfüllt, die notwendig sind, um glauben zu können? Wenn man Arzt werden will, muss man Medizin studieren. Will man auf dem Boden der Rechtswissenschaft tätig sein, muss man Jura studieren. Ist es einem wirklich damit ernst, ein Christ zu werden, muss man den Weg einschlagen, der zu Gott führt. Dieser Weg heißt Jesus Christus.

Warum weigern sich so viele Menschen, an Jesus Christus zu glauben? Gott, ja! Aber Christus, nein! Man will sich nicht als erlösungsbedürftig bekennen. In den anderen Religionen ist der Mensch bemüht, durch seine Frömmigkeit, durch Bußübungen, Verzicht und Opferbereitschaft, Gott ähnlich zu werden, zu ihm zu gelangen. Nur in der christlichen Lehre wird uns gesagt, dass Gott in Jesus Christus selbst zu uns Menschen kam, um uns zu sich zu ziehen. Gott wird Mensch, damit wir ihm ähnlich werden können. Es stimmt, was Le Seur sagt: „Alle anderen Weltreligionen sind bange Fragen der Menschheit an Gott. Jesus Christus ist die befreiende Antwort.“

Bevor man jedoch seine Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit nicht erkennt, kann man überhaupt keine Verbindung mit Jesus Christus haben. Gegen diese Erkenntnis sträubt sich der Mensch.

Es stimmt allerdings, dass es heute nicht mehr ohne weiteres der Erfahrung eines jeden Menschen entspricht, was Paulus zu Timotheus sagt: „Weil du von Kind auf die Heilige Schrift weißt, kann dich diese unterweisen zur Seligkeit durch den Glauben an Jesus Christus.“ Tausende von Kindern wachsen in unseren Tagen heran, ohne dass ein Mensch mit ihnen betet, ohne dass sie je einen Gottesdienst besuchen oder dass ihnen irgendjemand Ehrfurcht vor Gott nahebringt.

Ich denke an jenen kleinen Jungen aus Berlin, der durch die Kinderlandverschickung in eines der christlichen Erholungsheime Süddeutschlands kam, das von Diakonissen geleitet wird. Eine Schwester erzählte den Kindern biblische Geschichten, in denen auch von Jesus die Rede war.

„Jesus“, fragte der kleine Berliner, „wer is det schon wieder? Von dem hab ik noch ja nich jehört.“ Er wusste, wer Chrustschow, wer Kennedy war. Er kannte fast sämtliche Autotypen. Er sprach über Düsenjäger und

Hubschrauber. Aber Jesus war ihm ein unbekannter Begriff.

Ein ähnliches Erleben hatten wir, als wir während der großen Ferien ebenfalls Berliner Kinder aufnahmen. Ich bat eine Mitarbeiterin, vor dem Schlafengehen mit ihnen zu beten, weil ich selbst um diese Zeit den Gästen unseres Erholungsheimes verpflichtet bin. Sie berichtete später, dass auf ihre Frage, ob sie gewöhnt seien, am Abend zu beten, beide antworteten: „Nee“. Nachdem sie mit ihnen ein schlichtes Kindergebet gesprochen hatte, fragte einer der Jungen: „War det nun en katholisches oder en evanjelisches Jebet?“

Welch ein Versäumnis der Eltern! Aber vielleicht war auch in deren Kindheit niemand, der über ihren Betten die Hände gefaltet hat.

„Mit wem hast du denn jetzt gesprochen?“ fragte ein kleiner Junge, der kürzlich in unser Kinderheim gebracht worden war, nachdem die Erzieherin am Abend mit den Kindern gebetet hatte. Suchend sah er sich im Zimmer um, als müsse er den entdecken, der soeben angeredet worden war.

Haben wir wirklich noch ein Recht, uns ein christliches Volk zu nennen? Dürfen wir uns überhaupt wundern über Entgleisungen unserer Jugendlichen bis hin zu einem erschütternden und unfasslichen Verbrechertum? Wo ein Mensch ohne Ehrfurcht vor Gott aufwächst, wo er nie gelehrt wird, auf die Stimme seines Gewissens zu achten, wo es ihm nicht klargemacht wird, dass man das Böse meiden muss und in der Kraft Gottes überwinden kann, da braucht man sich nicht zu wundern, wenn solch ein Mensch der Dämonie verfällt. Gäbe es mehr bewusste, frohe Christen, erlöste, in Ordnung gebrachte Menschen, unsere Welt sähe anders aus.

Was die Kinder betrifft, so heißt es in der Heiligen Schrift, Matthäus 18, 10: „Sehet zu, dass ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel.“

Also doch Schutzengel? Ja, die Rede von den Schutzengeln ist kein Kindermärchen. Sie beruht auf Wahrheit. Glauben wir daran? Wehe denen, die sich zwischen diese Wahrheit und die Kinder stellen!

Mein Leben lang verspürte ich einen starken Zug zu Kindern. Selbst noch ein kleines Kind sprach ich oft davon, dass ich nichts anderes als Mutter werden will. Gott hat diesen kindlichen Wunsch erfüllt, wenn auch in anderer Weise, als ich es mir damals dachte, und in späteren Jahren, als ich die Zusammenhänge begriff, vorstellen konnte.

Genesen von schwerer Krankheit, die fünf Jahre dauerte, besuchte ich das Kindergärtnerinnenseminar in Königsberg/Preußen und freute mich, zu der natürlichen Gabe, mit Kindern umzugehen, nun auch Kenntnisse auf pädagogischem und psychologischem Gebiet zu gewinnen. Sie sollten mir in späteren Jahren helfen, für die vielen Kinder, die mir anvertraut wurden, Verständnis zu haben. Wie beglückend und segensreich Seelsorge an Kindern sein kann, erlebte ich in den Jahren, als ich Erwachsenen und Kindern dienen durfte.

Ganz persönlichen Kontakt fand ich zu drei Buben und drei Mädchen, die ich in mein Haus aufnahm, und denen ich Mutter wurde. Das war die notwendige Vorschule für die große Aufgabe, die nach dem Zweiten Weltkrieg an mich heran trat. Damals gründete und leitete ich ein Heim für Flüchtlingskinder, durch das während meiner Zeit eintausendfünfhundert Kinder hindurchgingen. Sie alle nannten mich Mutter.

Bereits als Zwölfjährige hatte ich in einem Aufsatz unter dem Thema „Wie ich mir meine Zukunft vorstelle“ geschrieben: „Ich möchte einmal Schriftstellerin und Mutter vieler heimatloser Kinder werden.“

Nun war es tatsächlich so geworden. Über diese Erlebnisse in meinem Kinderheim „Lindenhof“ in Geislingen habe ich ausführlich in meinem Buch „Als flögen wir davon“ berichtet. Dabei erwähnte ich auch die neue Aufgabe, die mir Gott gab, als er meine langjährige Mitarbeiterin und Freundin und mich in die Müttererholungsarbeit und ebenso auch in die Vortragstätigkeit unserer evangelischen Kirche rief. Über mehrere Erlebnisse in dieser Arbeit werde ich an anderer Stelle dieses Buches erzählen.

Hier will ich nur von der wunderbaren Führung berichten, die uns den Weg in die jetzige Arbeit bahnte: Ich hatte mir in der Nähe Stuttgarts auf der Obereichner Höhe ein Häuschen bauen lassen, in dem ich mit meiner Mutter, meiner jüngsten Pflegetochter und meiner Mitarbeiterin lebte. Wir beide wurden immer wieder von der evangelischen Frauenhilfe gerufen, Freizeiten zu leiten oder auch Vorträge zu halten. In jener Zeit fand ich wieder mehr Gelegenheit Bücher zu schreiben, was ich sehr begrüßte. Mein großes Kinderheim und auch der Dienst im Müttererholungsheim hatten mich sehr beansprucht. Deshalb genossen wir unser schönes Einfamilienhaus am Waldesrand, und ich fand keineswegs gleich ein Ja, als von verschiedenen Seiten die Frage an mich herangetragen wurde, ob wir nicht gewillt seien, ein kleines Erholungsheim zu eröffnen. Schließlich hatte ich mir mein Häuschen mühevoll erspart, und ich meinte auch, dass es jetzt etwas ruhiger um mich werden könnte. Weil ich aber doch irgendwie empfand, hinter diesen Fragen könne ein Auftrag Gottes stehen, dem ich mich nicht bewusst widersetzen wollte, sagte ich: „Gut, wenn Gott uns ein Haus an den Weg stellt, dann will ich dazu bereit sein.“

Und nun muss ich etwas gestehen, was ich in meinem Buch „Als flögen wir davon“ verschwiegen habe. Ich dachte nämlich: Das tut Gott ja doch nicht. Einen solchen Gedanken bewegte ich, weil ich nicht unbedingt bereit war, diesen Auftrag anzunehmen. Die Vorstellung, mein kleines hübsches Haus verlassen zu müssen, fiel mir sehr schwer. Heute schäme ich mich dieses Ausspruches. Wie konnte ich es nur wagen, mich so zu äußern, obwohl ich von Eva von Tiele-Winckler wusste, dass Gott ihr nicht nur eins sondern eine ganze Anzahl Häuser an den Weg gestellt hatte, die sie für ihre heimatlosen Kinder benötigte. Und hatte ich nicht selbst in überwältigender Weise unzählige Male erlebt, wie Gott meine Gebete über Bitten und Verstehen erhörte? War mir nicht auch der Lindenhof von Gott an den Weg gestellt worden? Hatte ich damals nicht buchstäblich von Wundern gelebt?

Gott nahm mich beim Wort! Ein Landwirt und Kunstmaler, den ich mit seiner Familie vom Lindenhof aus kennengelernt hatte, fragte meine Mitarbeiterin, ob sie seine Frau und die Mutter seiner Kinder werden will. Die erste Frau war bei der Geburt des vierten Kindes gestorben. Als meine Mitarbeiterin sich dazu entschloss, stand buchstäblich das Haus am Wege. Das Erholungsheim wurde Wirklichkeit. Inzwischen sind dreizehneinhalb Jahre vergangen, seit wir unser christliches Erholungsheim auf der Schwäbischen Alb eröffnet haben. Über 4000 Gäste verlebten hier bisher Tage und Wochen der Erholung und Besinnung, und immer wieder hat Gott uns einen neuen Arbeitsauftrag zugewiesen.

So konnten wir jeden Sommer viele Frauenkreise zu Tagesausflügen bei uns aufnehmen, sie bewirten und mit ihnen Gemeinschaft unter dem Wort haben. Jugendkreise kommen zu Wochenendfreizeiten. In den Wintermonaten führen wir sechstägige Bibelfreizeiten für Frauen, Männer oder Jugendliche durch. Eine große und segensreiche Aufgabe hat Gott uns damit gegeben. Wehe uns, wenn wir uns um meines Hauses willen geweigert hätten, diesen Auftrag zu übernehmen. Ich glaube, keine Stunde mehr wäre darin glücklich gewesen. Auftrag ist mehr als Besitz. Manchmal verschließt Gott eine Tür, um dafür ein Tor zu öffnen. So war es in der Tat bei uns.

Übrigens: mein kleines Haus am Waldrand habe ich verkauft und hier in einer weitaus schöneren Landschaft ein neues erstellen können. Familie Lang und ich, die wir in gemeinsamer Arbeit stehen, wohnen darin.

Somit haben wir neben der vielen Arbeit, die unsere ganze Kraft in Anspruch nimmt, doch auch hin und wieder Raum und Zeit für etwas Familienleben. Die beiden Kinder meiner Mitarbeiterin sind darin geboren. Ich durfte an ihrem Wachstum und an ihrer Entwicklung teilnehmen und sie zu meiner großen Freude oft betreuen. Auch meine liebe Mutter, meinen Lesern aus dem Buch „Als flögen wir davon“ als mein „goldener Anhänger“ bekannt, hat noch fünf Jahre hier oben auf der Alb leben dürfen, ehe sie uns verließ, um in die andere Welt zu gehen.

Die Kinder meiner Mitarbeiterin wuchsen fröhlich heran. Wenn wir beobachteten, wie sie auf den weiten Wiesen, die zu unserem Haus gehören, froh herumtollten oder auf ihrem kleinen Pony die ersten, unbeholfenen Reitversuche machten, wie sie in unserem Schwimmbecken, an dem sich auch die erwachsenen Gäste unseres Hauses erfreuen, schwimmen lernten, stieg in uns der Gedanke auf: Ist es eigentlich nicht schade, dass nicht noch anderen Kindern, die in der Enge und Unruhe unserer übervölkerten Städte wohnen, dieses Kindheitsparadies erschlossen wird?

Dieser Gedanke ließ uns nicht mehr los. Wenn man daran glaubt, dass der Mensch nicht einem blinden Schicksal unterworfen ist, sondern von Gott geführt wird, kann man sich solchen inneren Hinweisen gegenüber einfach nicht verschließen. Oft ist es in der Tat eine Mitteilung aus der anderen Welt. Auch da heißt es, den Engel nicht einfach zu übersehen. Der Gedanke an ein kleines Kinderheim ließ uns ebenso wenig los wie damals der Auftrag, ein Erholungsheim zu eröffnen.

Doch konnten und wollten wir nichts überstürzen. Schließlich war es auch eine Geldfrage; denn für ein Kinderheim besaßen wir nicht die nötige Einrichtung. Eins aber war mir klar: Wenn die Verwirklichung dieses Planes im Willen Gottes lag, war es ihm ein Kleines, uns zu geben, was wir brauchten. Und dann erlebten wir eines Tages, was uns wie eine Bestätigung unseres Vorhabens schien.

Unter unseren Gästen war eine Schwester, die einem Diakonieverband angehört. Es ergab sich, dass ich ihr aus den Erfahrungen unserer Arbeit erzählte und dabei auch unser Vorhaben erwähnte, ein kleines Kinderheim zu eröffnen.

„Haben Sie denn schon Kinderbetten und alles andere, was man in einem Kinderheim benötigt?“ fragte sie.

„Nein“, konnte ich nur antworten. „Aber ich bin fest davon überzeugt, dass Gott zur rechten Zeit das nötige bereitstellen wird, wenn die Eröffnung eines Kinderheimes in seinem Plan liegt.“

Ist es nun törichte Schwärmerei, so zu glauben? Ich bin je länger desto mehr der Auffassung, dass Gott unsere Interessen zu den seinen macht, wenn wir die seinen zu den unseren machen.

Die Schwester erzählte mir nun, dass sie seit Jahren in einem Krankenhaus tätig ist, zu dem bis vor kurzem noch ein Kinderheim gehört hat. Da man diese Räume aber auch für das Krankenhaus benötigte, war man gezwungen, das Kinderheim aufzulösen.

„Das Mobiliar steht noch immer unbenutzt herum. Hätten Sie Interesse daran?“ fuhr die Schwester fort.

„Interesse schon. Es wird darauf ankommen, was die Sachen kosten“, antwortete ich.

Kurzum, es wurden zwei, drei Briefe gewechselt, eine Sitzung anberaumt, und dann kam die überraschende Nachricht, dass uns fünfzehn Kinderbetten mit Matratzen, Wolldecken, Kopfkissen, dreifacher vollständiger Wäschegarnitur für jedes der Betten, Tische und Bänke geschenkt wurden zur Eröffnung unseres kleinen Kinderheimes. Konnten wir eine deutlichere Bestätigung erwarten?

So entstand neben unserem christlichen Erholungsheim das kleine Kinderheim. Zwanzig Mädchen und Jungen werden hier von zwei ausgebildeten Kräften betreut. Oft fragen die Gäste unseres Hauses erstaunt: „Was sagen Sie? Die Kinder sind nicht zur Erholung hier? Haben sie denn kein Elternhaus mehr? Sind es Waisenkinder?“

Ja, zum größten Teil sind es Scheidungswaisen, Kinder aus geschiedenen Ehen. Als ich das Flüchtlingskinderheim, den Lindenhof, gründete, handelte es sich dabei um Kinder, die durch die Kriegs- und Nach- kriegs-Erscheinungen ohne Elternhaus aufwachsen mussten. Entweder hatten sie die Eltern auf der Flucht verloren oder sie waren bei Bombenangriffen ums Leben gekommen. Bei einigen lebten die Väter noch in Gefangenenlagern, und die Mütter waren krank oder konnten ihre Kinder nicht versorgen, weil sie selbst arbeiten mussten.

Wenn heute Kinder durch die Jugendämter in ein Heim gebracht werden, dann ist meistens irgendein Versagen oder Schuld der Eltern die Ursache dafür.

Immer aber sind die Kinder die Leidtragenden. Sehen solche Eltern nicht den Engel mit dem Schwert und der Waage? Oder liegt es an uns, den Christen, dass wir nicht deutlich genug auf die Verantwortung hinweisen und an das Gewissen unserer Mitmenschen appellieren?

Viele ahnen nicht, welche Not es oft bei Kindern gibt. Darum möchte ich von einigen unserer Kinder erzählen. Ihre Namen ändere ich bewusst, damit keiner sie wiedererkennt.