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Ilse Aichinger definiert die Reise und das Reisejournal neu: In einem Wiener Kaffeehaus schreibt sie sich an nahe und ferne, altvertraute und nie gesehene Orte. Und findet über diese Wege – Sesam öffne dich! – Zugang zur unglaubwürdigsten aller Reisen: der eigenen Biographie.
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Seitenzahl: 136
Ilse Aichinger
Unglaubwürdige Reisen
Herausgegeben von Simone Fässler und Franz Hammerbacher
FISCHER E-Books
»Immer dieselben Wege gehen«: Jeden Vormittag geht Ilse Aichinger von ihrer Wohnung im Hochhaus in der Herrengasse im ersten Wiener Bezirk über den Michaelerplatz ins »Demel«. Im Café des k.u.k.-Hofzukkerbäckers pflegt sie die Zeit zu verbringen bis zum ersehnten Kino am späten Nachmittag. Keine einfache Zeit. Die Stunden ziehen sich oft lange hin, und das »Haben schon gewählt?« der Bedienung verdeutlicht nur, wie beschränkt die Wahlmöglichkeiten sind. Doch ebendiese konturlosen Vor- und Nachmittage ermöglichen »unglaubwürdige Reisen«. Einmal die Woche, jeweils am Donnerstag, verfaßte Ilse Aichinger während drei Jahren am Kaffeehaustisch für die Wiener Tageszeitung Der Standard ein Reisefeuilleton.
Das erste beginnt mit einer Provokation: »Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon ziemlich früh auf. Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts- oder auch Einzelreisender: Sie reicht nicht zur Stille, um so mehr zur Stummheit. Das gibt dann Lichtbildervorträge.« Reisende, die unter Anleitung von Reiseführern exotische Orte aufsuchen, finden in der Fremde nichts anderes als das Erwartete. Darum definiert Aichinger die Reise um: »Deshalb ist es mir lieber, immer dieselben Wege zu gehen oder dieselben Strecken zu fahren. Die Qualität der Entdeckungen wächst, bringt Ruhe und neue Aufbruchsmöglichkeiten.« Reisen heißt für die Autorin im alltäglich Gewohnten bleiben. Hier legt sie so oft die altbekannten Wege zurück, bis sich einstellt, was kein Lichtbild sichtbar macht und so »unglaubwürdig« ist, daß es eines Beweises nicht bedarf: Reisen in die Geschichte, Begegnungen durch die Zeiten hindurch. Erinnerung also.
Gemächliche Spaziergänge sind die »unglaubwürdigen Reisen« nicht. Schon ihre Grundlage ist prekär: fliegende, fliehende Blätter, im Vorbeigehen aufgelesen, ein Glück, wenn sie bis zum Abend noch beisammen sind. Auf Schulblöcke schreibt Ilse Aichinger, auf Briefumschläge, Rätselhefte, Speisekarten, Einkaufstüten oder das Tagungsprogramm der »Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung«. Von oben reiht sie darauf in regelmäßigen Zeilen und fast ohne Korrekturen Satz an Satz, füllt die Seiten, wo immer sie unbedruckt sind, bis zum Rand. Während sich von unten und auf der Rückseite, ohne Ordnung und Richtung, Notizen ausbreiten, die im aktuellen Tag Verankerung suchen: »2 kl. Schwarze, 2 Eier im Glas, 1 Schinkenbrot« – »Ricc ruft später an, holt mich.« – »Ricc bringt Rätsel« – »21.00 Film-Museum«.
Zu welchem Ziel die »unglaubwürdigen Reisen« führen, ist bei ihrem Antritt nie gewiß. Wichtig ist vorerst der Aufbruch durch die Beschäftigung mit Vorgefundenem: Reiseführern, Lieblingslektüren, Prospekten, Zeitungsartikeln, Sätzen von Kaffeehausgästen. Ilse Aichinger liest und betrachtet, dann zitiert sie, beschreibt, erzählt nach und mit – bis irgendwann, bei einem nebensächlichen Detail vielleicht, der Funke springt vom Fremden zum Eigenen. Erinnerung stellt sich nicht auf Befehl ein, nicht chronologisch und nicht flächendeckend. Sie gerät oft an denselben Ort, doch immer aus einer anderen Richtung. Mit dem schizophrenen Kindermädchen Emma Schrack beispielsweise muß an jeder Kreuzung gerechnet werden. Und jedesmal erscheint ihre Gestalt, ihre Geschichte in einem anderen Licht.
Da die »unglaubwürdigen Reisen« stets im Hier-und-Jetzt beginnen, zeichnet sich im Journal auch die dreijährige Zeitspanne seiner Entstehung ab. Zwei öffentliche Ereignisse, das Attentat auf die New Yorker Zwillingstürme am 11. September 2001 und die Verleihung des Literaturnobelpreises an Elfriede Jelinek im Dezember 2004, geben den Rahmen. Zwei Unfälle zwingen zu einschneidenden Routenänderungen: Nach Aichingers Oberschenkelhalsbruch im Herbst 2002 wird für einige Wochen das Lorenz-Böhler-Unfallkrankenhaus Ausgangspunkt der Reisen. Im Frühjahr 2004 datieren der Sturz, die 20 Tage im künstlichen Tiefschlaf, der Tod von Aichingers Lebensmenschen, dem Literaturwissenschaftler und Kritiker Richard Reichensperger. »Ricc« war ihr täglicher Begleiter, wesensverwandt im angriffslustigen, radikal unkonventionellen Denken. Seiner Anregung und seinem Kontakt zum Standard ist zu verdanken, daß sie in den 90er Jahren, nach Jahrzehnten fast völligen Schweigens, wieder zu schreiben begann.
In alle Himmelsrichtungen und Distanzen können die »unglaubwürdigen Reisen« führen. Um zwei Ecken in den nächsten Wiener Bezirk oder bis Shanghai. Einige Gegenden aber haben in Aichingers Topographie besonderes Gewicht. England, seeumspült und nebelverhangen, ist das nördliche Sehnsuchtsziel der Binnenländerin. In England, im Zweiten Weltkrieg rettendes Exil für viele Wiener Juden, lebt die Zwillingsschwester Helga, seit sie 1939 mit einem der letzten Kindertransporte aus Österreich ausreisen konnte – mit einer jüdischen Mutter und einem nichtjüdischen Vater galten die Kinder nach den Nürnberger Gesetzen als »Mischlinge ersten Grades«. Ilse Aichinger fuhr 1948, nach zweijährigem Kampf um ein Visum, erstmals hin. Zuletzt besuchte sie die Schwester, die heute in London im Seniorenheim Santa Teresa lebt, anläßlich des 80. Geburtstages am 1. November 2001 und noch einmal im November 2004.
Aus der entgegengesetzten Richtung, dem Gebiet der ehemaligen k.u.k.-Monarchie, stammen die mütterlichen Vorfahren. Jeder war in seiner Art ein Reisender: Der eine Urgroßvater soll als nomadischer Pferdehändler aus dem Kaukasus nach Mähren gekommen sein. Der andere war, unter anderem in Auschwitz und Sarajewo, Eisenbahningenieur. Von Wien nach Osten führte jene unmenschliche Reise, die zum Urlaub »mit Erlebnisgarantie« im größtmöglichen Kontrast steht: Im Mai 1942 wurden Aichingers Großmutter und die jüngeren Geschwister der Mutter nach Minsk deportiert.
Im engeren Radius liegen die Orte der eigenen Biographie. Linz steht für die ersten Jahre und den Vater, einen Bürgerschullehrer, der die Familie durch den Erwerb »der fünften identischen Jean-Paul-Ausgabe« in finanzielle Schwierigkeiten brachte, stets zu Fuß unterwegs war, hier und dort Gläubiger zurücklassend, bevor er »vorsichtshalber, wegen seiner Bücherschulden, in die Nervenklinik gebracht« wurde. Nach der Scheidung der Eltern 1927 verbrachte Ilse Aichinger ihre Jugend in Wien. Bei der geliebten Großmutter in der Hohlweggasse im Fasanviertel. Mit der Mutter, die als eine der ersten Frauen in Wien Medizin studiert hatte, in der Gumpendorfer Straße, später, nachdem sie Mietrecht und Wohnung verloren hatten, in Zimmern in unmittelbarer Nähe der Gestapo am Morzinplatz. Nach Kriegsende wurden Mutter und Tochter von einer Bekannten in die kleine Wohnung in Hernals aufgenommen, an deren weißem Küchentisch der Roman Die größere Hoffnung entstand. Das große alte Haus in Großgmain bei Salzburg, aus dem sie winters durch die vergitterten Küchenfenster ins Schneelicht hinausschaute, bewohnte Ilse Aichinger während Jahrzehnten mit ihrem Mann Günter Eich und den Kindern Clemens und Mirjam.
Im November 2003 wechselt der Titel des Journals. Die »Schattenspiele« verschieben den Fokus von den Wegen und Landschaften zu den Menschen und Begegnungen. Als kräftige Schattenrisse haben sich die Toten in die Erinnerung eingezeichnet mit ihren »Sterbensarten«. Für immer abwesend, behaupten sie in Aichingers Texten stets von neuem machtvoll ihre Präsenz. Verwandte und Freundinnen, die im Krieg umgekommen sind. Der 1972 verstorbene Günter Eich. Sohn Clemens und Richard Reichensperger, die jüngst, im Abstand von sechs Jahren, im selben Alter und auf ähnliche Weise bei einem Unfall ihr Leben verloren. Stifter, Freud, Hofmannsthal und Thomas Bernhard, die immerwährenden Bewohner von Aichingers Wien-Kosmos. Die spielfreudigsten Schatten aber werfen die Gäste: Pippi Langstrumpf, die im 71er, Wiens längster Straßenbahnlinie, zum Zentralfriedhof fährt. Oskar Matzerath, wenn er Ellen, die Protagonistin aus der Größeren Hoffnung, besucht. Und Churchill, mit dem Ilse Aichinger bei Madame Tussaud’s eine wächserne Zigarre raucht.
Simone Fässler
Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon ziemlich früh auf. Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts- oder auch Einzelreisender: Sie reicht nicht zur Stille, um so mehr zur Stummheit. Das gibt dann Lichtbildervorträge. »Hier siehst du mich« – aber wen sieht man, zwischen Eisbergen oder an Dattelpalmen gelehnt? Wieder nur sich selbst. Deshalb ist es mir lieber, immer dieselben Wege zu gehen oder dieselben Strecken zu fahren. Die Qualität der Entdeckungen wächst, bringt Ruhe und neue Aufbruchsmöglichkeiten. So war ich vor kurzem einmal nicht in Wien, sondern in einem echten Wachsfigurenkabinett, bei Madame Tussaud’s.
Es gibt Reisen, die in die Ferne, und solche, die in die Geschichte führen – zum Beispiel zu Madame Tussaud, einst wohnhaft nahe der Baker Street, wo Sherlock Holmes ein Museum für seine Nichtexistenz bekam. Bevor sie, weil das Geschäft ihres ersten Wachsfigurenunternehmens in Paris nachgelassen hatte, 1802 nach London kam, hatte die 1761 in Straßburg getaufte Marie Grossholtz (die spätere Madame Tussaud) schon eine Ausbildung in Anatomie genossen: Ihre Mutter nahm eine Stellung im Haus des Arztes Philipp Curtius an, der anatomische Figuren in Wachs nachbildete und mit deren Ausstellung reich wurde. Marie bildete früh Benjamin Franklin nach, Dr. Curtius zwang sie aber auch, während der Französischen Revolution Leichenhaufen nach gut modellierbaren oder prominenten Köpfen zu durchsuchen.
»Nichts ist im Augenblick glaubwürdiger, als zu verreisen«: Das Schreibheft mit der ersten Notiz zum Journal
So blieb sie immerhin in einer Gesellschaft, die besser war als die hohe, und geschickt nahm sie auch Robespierre die Totenmaske ab. Gegen Ende der Revolution starb Dr. Curtius, Marie erbte die Ausstellung. Es war, wenn man sich die Eintrittskarte leisten konnte, eine Vorform des Kinos, noch vor den Panoramen, aber die Pariser hatten schon zu oft denselben Wachs-Film gesehen, so daß Madame Tussaud, wie sie sich nannte, nach England aufbrach und 33 Jahre durch England tourte, Hauptattraktion: die Totenmaske Napoleon Bonapartes. Als bei einer Überfahrt nach Irland die stürmische irische See einmal das Schiff zum Kentern brachte, überlebten wenige, aber Madame Tussaud und einige ihrer Figuren stiegen, nicht ganz trocken zwar, aber doch, an Land. Mit 74 beschloß sie, sich in London niederzulassen, nicht weit von der heutigen Filiale. 1850 starb sie mit 89 Jahren, ihre Söhne und Enkelsöhne führten die Ausstellung weiter und verlegten sie 1884 an den jetzigen Ort.
Die »Chamber of Horrors« hieß noch nicht so, aber der Scharfrichter Marwood kam oft hierher, um Figuren zu besuchen, die er hingerichtet hatte. Jetzt steht, seit dem Zweiten Weltkrieg, am Eingang der »Chamber of Horrors« die Figur Adolf Hitlers. Ihn zu besuchen lohnt sich: Er sieht in Wachs genauso unbedeutend aus wie in Wirklichkeit, ein Nobody, bei dem ich schon 1938 nicht verstand, warum ihm so viele nachliefen. Er ist ein Grund, bei jeder Englandreise dem Kabinett einen Besuch abzustatten. Ein anderer Grund ist der sehr gut modellierte Winston Churchill. Gerne würde man ihn auf eine Zigarre einladen, an Hitler vorbeispazieren und Zigarrenasche fallen lassen.
(30.11.2001)
Die erste Reise, die Geburt, hat nicht nur mit den meisten letzten gemeinsam, daß sie ohne Alternative auskommen muß: Keiner holt freiwillig Luft oder wählt den Ort für die erste Chance, nicht gleich zu ersticken. Ob im Jet über Seattle, in Ambulanzwagen mit Blaulicht oder in einer sterilen Entbindungsstation oder einer Abstellkammer: der erste Schrei setzt der ersten Reise ein Ende und läßt sich fast ohne weiteres als Existenzbeweis definieren. Aber für wessen Existenz? Verwandt oder unverwandt, auswechselbar oder nicht?
Schon im Bruchteil einer Sekunde danach sind neue Instanzen zuständig: staatliche und kirchliche Behörden, Paßämter, Pfarrämter, Standesämter, Tauf- und Geburtsurkunden und früher noch ein »Heimatschein«, der unglaubwürdigste Beweis für die erste unglaubwürdige Reise: Geboren in Wien, dagegen ist nichts zu machen, aber danach? Ob Graz, Hütteldorf oder der Jemen – die nach Freud entscheidende frühe Kindheit zeichnet sich sofort ziemlich endgültig ab. Auch die kann keiner wählen. Für mich hieß sie teilweise Linz an der Donau, der Pfennigberg, der Pöstlingberg, der Freinberg.
Vor allem aber ein immerhin sozialdemokratischer Bürgermeister, Ernst Koref, der gern Musik hörte und uns besuchte. Das glich die oft beunruhigenden finanziellen Schwierigkeiten aus, die durch die fünfte identische Jean-Paul-Ausgabe, die unser Vater ins Regal gestellt hatte, entstanden waren. Da reichte das Geld nur noch für ein schizophrenes Kindermädchen, Frau Emma Schrack, kurz zuvor irrtümlich aus der Psychiatrie entlassen. Sie verlangte wenig und hielt uns mit den kräftigen Griffen fest, die sie von Wärtern kannte. »Wenn ihr nicht brav seid, hole ich den Wachmann«, sagte sie gerne. Sie blieb drei oder vier Jahre.
Die Spazierwege: über die Landstraße zum Hauptplatz, doch noch nicht zum letzten Wohnhaus Adalbert Stifters, in dem er unter seine langen Betrachtungen über die Restaurierung von Lindenholzaltären mit einem Rasiermesserschnitt in die Kehle einen unvermuteten, aber nicht unvermutbaren Schlußstrich gezogen hatte.
Aber schon damals, immer häufiger, führten die Wege in Richtung Landesirrenanstalt, über Wiesen mit den ersten Frühlingsblumen und Lücken in der Anstaltsmauer. Durch sie konnten wir die freundlichen und stillen oder stillgehaltenen Irren sehen. Dieser Spaziergang hatte nicht nur für Emma Schrack, sondern auch für uns Vorrang. Dort gab es keinen Streit über zu viele Jean-Paul-Ausgaben oder verpfändete Gehälter, die Strecke zwischen der von unbezahlten Büchern überbordenden Wohnung und der Landesirrenanstalt ergab die ersten unglaubwürdigen Reisen. Auch die Regelmäßigkeit, die Kindern notwendig ist: einmal Irrenanstalt und zurück. So verliefen die Tage, bis der Himmel über Linz und der Donau den Linzer Schläfern recht gab und den Grat zwischen Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit kurz besänftigte.
(7.12.2001)
Täglich wurden die Zwillingstürme an der Südspitze Manhattans von bis zu 150000 Personen besucht (so die NZZ). Am Dienstag gingen sie um 8.46 und um 9.04 Ortszeit (Abstand also 18 Minuten, wie manchmal Zwillinge bei der Geburt) in Flammen auf und begruben wahllos jeden, der nicht in Panik in den Tod sprang. In der Zeitung heute die Liste von Konzernen, die Mieter waren. Einige von ihnen: »Amusement Recreation Services, WTC #5280«; »Gary’s Candy Shop, 6WTC, 3rd Floor«; »Florists, Flowers of the World, 350WTC«; »Religion Organization Christian Science, Reading Room«; »Russia House II«.
Aus den verschwundenen Räumen wird man nie mehr die Freiheitsstatue sehen, auch nicht senkrecht nach unten, wie diejenigen, die sprangen. Von hier weg wird man nie mehr New York sehen. Auch kein Blick mehr nach Osten, über Downtown zur Brooklyn Bridge. Kein Bummelzug mehr (langsamer Aufzug) in die höhergelegenen Stockwerke. Man kann das Ende der »unschönen Schachtel«, wie einige New Yorker das World Trade Center nannten, allerdings kaum als das Ende der Gemütlichkeit bezeichnen.
Es heißt, das Herz der Vereinigten Staaten wurde getroffen. Aber es waren immerhin mindestens zwei Herzen. Und wo bleibt das Herz zwei Tage danach? Glassplitter sind bis über den Hudson River geflogen, drüben in Brooklyn hat es, fünf Kilometer entfernt, Papierfetzen geregnet, die kurz davor noch sorgfältig geordnet auf den Schreibtischen des WTC gelegen waren
Die Flucht vor den Grenzen der Faßbarkeit führte erst einmal vor die Fernsehgeräte, die einmal, zum ersten Mal, ein langsames Medium sind: Sie zeigen die immergleichen Bilder, die auf die Türme zusteuernden Flugzeuge, in vielen Wiederholungen, als sei die Stadt angehalten worden, wie nach einem Filmriß.
Fernsehen ist nicht in sich schlecht. Es kommt auf den Betrachter an. Wer hält sich für bedroht, wenn die Flammen im Kino auf ihn zustürzen, und wer nicht, wer nimmt teil und wer ist nur Voyeur: sehr unterschiedlich, keine Pauschalitäten. Und die Bilder jetzt, die Terroraktion, die allgemein als Kriegserklärung aufgefaßt wird, obwohl gar nichts »erklärt« wurde, von keinem greifbaren Völkerrechtssubjekt, sondern: der Krieg, unerklärt, wird einfach geführt. Und er ist konträr und ganz anders brutal als die Brutalitäten des Zweiten Weltkriegs: automatischer.