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»Es gibt Augenblicke ohne Zukunft, die sehr verheißungsvoll sind. Die die verheißungsvollsten sind. Die ihrem Wesen nach schon eher Orte sind. Aus ihnen leben wir.« Die hier versammelte Kurzprosa spannt ihren Bogen von den autobiographischen Erzählstücken, in denen Ilse Aichinger von Kindheit und Jugend in minutiösen, intensiven Bildern spricht, über ihre Aufzeichnungen aus den Jahren 1950 bis 1985, knappe Parabeln, in denen immer wieder von Trauer, Liebe und der Versöhnung im Schreiben die Rede ist, bis hin zu den poetologischen Annäherungen an Franz Kafka, Georg Trakl, Thomas Bernhard und andere.
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Seitenzahl: 94
Ilse Aichinger
Kleist, Moos, Fasane
FISCHER E-Books
Ich erinnere mich der Küche meiner Großmutter. Sie war schmal und hell und lief quer auf die Bahnlinie zu. An ihren guten Tagen setzte sie sich auch darüber hinaus fort, in den stillen, östlichen Himmel hinein. An ihren schlechten Tagen zog sie sich in sich selbst zurück. Sie war überhaupt eine unverheiratete Küche, etwas wie eine wunderbare Jungfer, der die Seligpreisungen der Bibel galten. Abgeblättert und still, aber nicht zu schlagen.
Wenn Besuch kam, vier oder fünf alte Damen mit langen Jacken und merkwürdigen Hüten, so blieb die Freude in der Küche. Da offenbar nicht genug Freude da war, um mehr Räume zu füllen, so sammelte sie sich in der Küche und erfüllte sie ganz. Meine Großmutter kam dann auch oft heraus und machte sich draußen zu schaffen. »Geht nur hinein«, sagte sie zu den andern, »ich komme gleich nach!« Sie holte Milch und Kuchen und Zucker, sie suchte in der Kredenz nach einer größeren Schüssel. Heute glaube ich, sie kam, um die Freude zu suchen, die doch bei einem Besuch von vier oder fünf alten Freundinnen irgendwo geblieben sein mußte. Und da war sie dann auch. Leicht zu finden, wenn man es wußte.
Es ließ sich gut planen in der Küche, ob es Kinobesuche, Konzertreisen oder ein Weg hinaufzu war gegen das Waffenarsenal, das am Ende der Gärten stand. Die Küche kam allen Plänen entgegen, ihr Licht schmeichelte ihnen und ließ sie wachsen. Fuhr dann unten ein Güterzug vorbei und der Rauch drang plötzlich herein und füllte die Augen, so war es, als wäre man heimgekehrt aus vielen Erdteilen, als kennte man die Freuden der Welt und brauchte sie nicht mehr. Es war dann schon am besten, gegen das Arsenal hinaufzugehen wie einer, der heimkehrt; oder gegen die Kleistgasse zu, die vielleicht deshalb so hieß, weil nichts darin an Kleist erinnerte oder weil niemand, der dort wohnte, etwas von ihm wußte. Und das wäre ja Grund genug. Daß Kleist mit Fasanen zusammenhing, mit Moos und mit der Bahn, wer hätte es sich träumen lassen, wenn nicht er selber und die Kinder dieser Gegend, die in der Moosgasse wohnten, in der Fasangasse, in der rechten und linken Bahngasse. Auch eine kleine Bahngasse gab es, die Bahn bewegte alles. Sie rührte die staubigen Muscheln in der Lade meines Großvaters, als wäre sie die See, und sie brachte die ziegelroten, nie benützten Mokkatassen zum Klirren, als wären sie eine größere Gesellschaft. Sie rüttelte an Betten und Flaschen, an den Spiegeln und den Marmorplatten auf den Nachtkästen. Sie rührte die Trauer auf und ließ sie glänzen. Auf ähnliche Weise wie die Küche war sie mächtig und armselig, und wenn man an manchen Tagen die Teller und Gläser in den Schränken schüttern und klirren hörte, so hätte man meinen können, ein altes Liebespaar unterhielte sich gelassen miteinander. Die Bahn tat der Küche die Ehre an, die sie verdiente.
Beugte man sich aus dem Fenster, wenn kein Zug vorbeifuhr, so konnte man links hinter dem Marienkloster, einem Heim für Dienstmädchen, das oft frisch gestrichen wurde, die Dächer der Botschaften herüberdämmern sehen, den Westen. Dort war alles grün und rund, die Rätsel hell dazwischen, erleuchtete Fenster am frühen Abend. Nach rechts zu führte schwarz der Kleiststeg über die Bahnlinie, eckig und kaum betreten, aber nicht weniger verheißungsvoll als die grünen Dächer. Und die Frau, die langsam seine Treppen hinaufstieg, wenn die Besuchsstunde im Krankenhaus zu Ende war, kam aus den Geheimnissen und ging in sie zurück wie die Kinderschwester mit dem kleinen weißen Wagen, die jenseits der Kreuzung auftauchte, sich umsah und wieder im Westen verschwand. Es war eine kleine Kreuzung zwischen den Himmelsrichtungen, und manchmal stand ein Polizist darauf, der bald wieder ging, denn hier war nicht viel zu tun. Kein Land war hier zu Ende, keine Stadt, und nicht einmal ein Bezirk. Aber die Hügel fielen nieder und die Steppe begann, ein Atemzug lief aus und ein anderer erhob sich. Wie verlassen wäre der Osten ohne den Westen gewesen, wie leer der Westen ohne den Osten. Die Kräfte der Kindheit hielten die Welt zusammen. Und die Küche meiner Großmutter lag mitten darinnen. Wie man sich des Lichts der Träume auch am Tage noch erinnert, erinnere ich mich ihres Lichtes heute, wenn es mir als ein Streifen Sonne auf einem fremden Meer erscheint.
Ich erinnere mich des Nachmittagsunterrichts. Einmal jede Woche Turnen, Handarbeit oder Gesang, drei Dinge, die nur, solange die Schule dauerte, zusammenhingen wie noch viel früher Kleist mit Moos und Fasanen. Vier Uhr nachmittags. Auf dem Weg die steinernen Tiere an den Portalen der alten Häuser schon in leichten Nebel gehüllt, das Schulhaus selbst, das man zu Mittag erst verlassen hatte, als wären dreißig Jahre vergangen, gesprungen, verloren, liebebedürftig, die Lehrer ziviler, hilfloser, und selbst, wenn sie die Stimmen erhoben, ihrer Konturen nicht mehr so sicher, die Klosterfrauen verlassener, kühner, den Vögeln ähnlicher als am Vormittag. Kein Wunder, wenn man – starb eine von ihnen – am Nachmittag von ihrem Tode hörte. Die gläserne Kabine der Pförtnerin schon leer und spiegelnd, die Türen der Klassenzimmer lockerer in den Angeln, die Dienstmädchen mit Eimer und Besen gehen rasch vorbei. Die Türen zur Klausur verschlossen wie immer. Aber war nicht das Schulhaus selbst am Nachmittag Klausur geworden, die man betrat, die Welt zu Welten zerfallen, die Klausur der Erwachsenen? Am Vormittag war es leicht gewesen, ein Kind zu bleiben. Aber ein Kind zu werden, wie die Bibel es wollte, das war Sache des Nachmittags.
Beim Verlesen der Namen ergab es sich auch meistens, daß einige fehlten, und die übrigen schienen, obwohl es Pflicht war, freiwillig gekommen. Sie brachten mit den Bällen, die sie noch in Netzen über den Schultern trugen, die Parkluft mit, die Nachmittagsluft, die Luft der Elternhäuser, sie bewegten sich freier: Ruth und Ellen Seitz mit den karierten Röcken, ich erinnere mich ihrer.
Zuweilen begegnete man dann auf den Gängen einer Gruppe von Halbinternen, man stieß sich an und flüsterte miteinander, aber die andern hatten den Übergang sachter vollzogen, sie hatten die letzte Schulglocke um zwei oder drei noch gehört, sie waren unter Aufsicht gestanden den Mittag über, es war kein Sprung in ihrem Tag. Sie hatten das Vormittagslicht noch in den Augen, von dem wir jetzt wußten, wie zerbrechlich es war. Und wenn auch von dem Unsinn, den sie trieben, und von ihrem Gelächter ein leichter Widerschein auf unsern Gesichtern blieb, so störten wir unsere eignen Stunden dann doch kaum. Es war uns wohl, als müßten wir selbst zusammenhalten, was sonst zerfiel, die zarten Grenzen unserer Welt: Turnen, Handarbeit und Gesang.
War der Unterricht zu Ende, so verschwanden die Lehrer leicht und schattengleich, fast enttäuschend rasch, Dämmerung füllte von unten herauf die kleinen und großen Höfe, und durch das geöffnete Schultor drang der Geruch von Rauch mit Maroni herein. Drüben, in der Auslage des Bäckerladens schienen die Mohnbeugel um ein weniges mehr als Mohnbeugel, um eine entscheidende Spur sich selbst voraus.
Am nächsten Morgen war alles wie sonst, das Feuer knisterte im Kanonenofen und verband sich mit den aufgeschlagenen Texten, mit Cäsar und Tacitus zu einer Macht, der nicht zu widersprechen und in die nicht einzudringen war. Nur daneben blieb schwerer zu entziffern, zweifeis- und geheimnisvoller, ein Folgestern und dennoch nicht wegzudenken, der Nachmittag bestehen. Vielleicht hat er zuletzt die Sprünge im Bild der Erinnerung geschaffen, die es uns süß machen.
Ich erinnere mich des Beerensuchens auf dem Lande, irgendwo im Oberösterreichischen, wo wir den Sommer verbrachten. Der Schlag ist heute längst zugewachsen, aber damals schien es uns, als bliebe er immer. So wie es uns im Grunde schien, daß wir immer Kinder sein würden.
Um Mittag gingen wir weg, unsere Blechkannen schlugen aneinander oder flogen ein Stück voraus, unsere Stimmen drangen noch eine Weile über die heißen Wiesen gegen die Waldränder vor, ehe sie still wurden. Hinter uns blieben die grünen, kühlen Flure der Bauernhäuser, die nach alten Kalendern rochen, nach Geschichten von Schneegestöbern, von Herbsten und Räubern, nach säuerlichem Brot und den Milchtöpfen in den Kellern, vor uns zogen die runden, bewaldeten Hügel, einer immer kleiner und ferner als der andere, den Tälern zu; wahrscheinlich waren es sieben. Die jungen Tiere im Pferch bewegten die Stäbe, weit unten im Westen fuhr der Mittagszug von Linz nach Salzburg, und manchmal pfiff er herauf. Es war uns aber eher, als pfiffe die Sonne oder ein Igel im Gras. Und wenn wir auch manchmal darüber nachdachten, wer da unten fuhr, Herren in blauen Röcken mit Silberknöpfen und Damen in Gott weiß welchen Kleidern, so hörten wir doch bald wieder damit auf. Die Hitze umfing uns, der Mittag, der lange, unzerbrechliche Sommer. Daß wir selber dort gefahren waren und wieder dort fahren würden, dachten wir nicht mehr. Ja, wir gedachten nicht einmal mehr des Sees, der auf der andern Seite des Berges in der Ferne flimmerte und auf dem die Segel still standen wie die Wälder und Villen an seinen Ufern, aber vielleicht gedachte der See unser und diente uns. So wie der Zug uns diente mit seinem Rollen und Pfeifen, und der Flieger, der kurz vor drei eine Schleife über den Berg zog und hinter den Spitzen der Tannen verschwand. Wäre er nicht erschienen, so hätte er nicht verschwinden können, und damit, daß er verschwand, diente er uns.