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»Die Untergänge vor sich her schleifen« Nichts ist aggressiver in Ilse Aichingers Werk als die Sammlung ›Schlechte Wörter‹. Der Band versammelt Texte, die mit einer unbeirrbaren Genauigkeit, in zwingenden Assoziationen die menschliche Existenz bedenken, bis an ihre äußersten Grenzen und Stationen. Sie wenden sich skeptisch und ohne Illusion gegen Gebote, Maximen und Devisen. »Diese Prosa hebt alles aus den Angeln, was sie anspricht und meint« (Jürgen Becker).
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Seitenzahl: 104
Ilse Aichinger
Schlechte Wörter
FISCHER E-Books
Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr. Der Regen, der gegen die Fenster stürzt. Früher wäre mir da etwas ganz anderes eingefallen. Damit ist es jetzt genug. Der Regen, der gegen die Fenster stürzt. Das reicht. Ich hatte übrigens gerade noch einen anderen Ausdruck auf der Zunge, er war nicht nur besser, er war genauer, aber ich habe ihn vergessen, während der Regen gegen die Fenster stürzte oder das tat, was ich im Begriff war, zu vergessen. Ich bin nicht sehr neugierig, was mir beim nächsten Regen einfallen wird, beim nächstsanfteren, nächstheftigeren, aber ich vermute, daß mir eine Wendung für alle Regensorten reichen wird. Ich werde mich nicht darum kümmern, ob man stürzen sagen kann, wenn er nur schwach die Scheiben berührt, ob es dann nicht zuviel gesagt ist. Oder zu wenig, wenn er im Begriff ist, die Scheiben einzudrücken. Ich lasse es jetzt dabei, ich bleibe bei stürzen, um den Rest sollen sich andere kümmern.
Den Untergang vor sich her schleifen, das fiel mir auch ein, es ist sicher noch viel angreifbarer als der stürzende Regen, denn man schleift nichts vor sich her, man schiebt es oder man stößt es, Karren zum Beispiel oder Rollstühle, während man andere Dinge wie Kartoffelsäcke nachschleift, andere Dinge, keinesfalls Untergänge, die werden anders befördert. Ich weiß das und die bessere Wendung lag mir auch schon wieder auf der Zunge, aber nur um zu fliehen. Ich trauere ihr nicht nach. Den Untergang vor sich her schleifen oder besser die Untergänge, ich versteife mich nicht darauf, aber ich bleibe dabei. Ob man sagen kann ich entscheide mich dafür ist fraglich. Die bisherigen Sprachgebräuche lassen eine Entscheidung da, wo es sich nur mehr um eine Möglichkeit handelt, nicht zu. Man könnte sich darüber unterhalten, aber ich habe diese Unterhaltungen satt – sie werden meistens in Taxis auf den Wegen stadtauswärts geführt – und nehme meine angreifbaren Wendungen in Kauf.
Ich werde sie natürlich nicht anbringen können, aber sie tun mir leid wie Souffleure und Opernglasfabrikanten, ich beginne eine Schwäche für das Zweit- und Drittbessere zu bekommen, vor dem sich das Gute ganz geschickt verbirgt, wenn auch nur im Hinblick auf das Viertbessere, dem Publikum zeigt es sich häufig. Das kann man nicht übelnehmen, das Publikum wartet ja auch darauf, das Gute hat keine Wahl. Oder doch? Könnte es sich nicht im Hinblick auf das Publikum verbergen und den schwächeren Möglichkeiten sein Gesicht zeigen? Das muß man abwarten. Ausreichende Devisen gibt es genug – das komplizierte Erlernbare – und wenn ich mich auf die nicht ausreichenden stütze, so ist das meine Sache.
Ich bin auch bei der Bildung von Zusammenhängen vorsichtig geworden. Ich sage nicht während der Regen gegen die Fenster stürzt, schleifen wir die Untergänge vor uns her, sondern ich sage der Regen, der gegen die Fenster stürzt und die Untergänge vor sich her schleifen und so fort. Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind. Ich bin nicht wahllos wie das Leben, für das mir auch die bessere Bezeichnung eben entflohen ist. Lassen wir es Leben heißen, vielleicht verdient es nichts besseres. Leben ist kein besonderes Wort und sterben auch nicht. Beide sind angreifbar, überdecken statt zu definieren. Vielleicht weiß ich, warum. Definieren grenzt an Unterhöhlen und setzt dem Zugriff der Träume aus. Aber das muß ich nicht wissen. Ich kann mich heraushalten, ich kann mich sogar leicht heraushalten. Ich kann daneben bleiben. Sicher könnte ich leben so oft vor mir hersagen, bis mir davon übel würde und ich mich gezwungen sähe, zu einer anderen Bezeichnung überzugehen. Und sterben noch öfter. Aber ich tue es nicht. Ich schränke ein und schaue zu, damit bin ich genügend beschäftigt. Ich höre auch zu, aber das hat gewisse Gefahren. Dabei können einem leicht Einfälle unterlaufen. Sammle den Untergang hieß es unlängst, es klang wie ein Gebot. Das möchte ich nicht. Wenn es eine Bitte wäre, so wäre sie zu überlegen, aber Gebote jagen mir Angst ein. Deshalb bin ich auch zum Zweitbesseren übergegangen. Das Beste ist geboten. Deshalb. Ich lasse mir nicht mehr Angst machen, ich habe genug davon. Und noch mehr von meinen Einfällen, die gar nicht die meinen sind, weil sie sonst anders hießen. Meine Ausfälle kann es heißen, aber nicht meine Einfälle. Ach was, es kann alles heißen. Das haben wir zur Genüge erfahren. Die wenigsten können sich wehren. Sie kommen zur Welt und werden sofort von alledem umgeben, was sie zu umgeben nicht ausreicht. Ehe sie den Kopf wenden können, werden ihnen, begonnen bei ihrem eigenen Namen, Bezeichnungen zugemutet, die nicht zutreffen. Sie sind schon in den Schlafliedern leicht nachzuweisen. Später wird das massiver. Und ich? Ich könnte mich wehren. Ich könnte statt dem Erstbesten leicht dem Besten auf der Spur bleiben, aber ich tue es nicht. Ich will nicht auffallen, ich mische mich lieber unauffällig hinein. Ich schaue zu. Ich schaue zu, wie alles und jedes seine rasche, unzutreffende Bezeichnung bekommt, ich tue sogar seit kurzem mit. Der Unterschied ist nur: ich weiß, was ich tue. Ich weiß, daß die Welt schlechter ist als ihr Name und daß deshalb auch ihr Name schlecht ist.
Sammle den Untergang – das klingt mir zu gut. Zu scharf, zu genau, den späten Vogelschreien zu ähnlich, eine bessere Bezeichnung für die reine Wahrheit als die reine Wahrheit es ist. Damit könnte ich auffallen, aus meiner lange und schwer eroberten bescheidenen Stellung in der Phalanx der Benenner herausgehoben werden, meinen Zuschauerposten verlieren. Nein, das lasse ich. Ich bleibe bei meinem Regen, der gegen die Fenster stürzt, in der Nähe der zweckgebundenen Ammenmärchen – und wenn schon Untergänge, dann solche, die man vor sich her schleift. Das Letzte ist fast schon zu genau, vielleicht sollte man Untergänge überhaupt aus dem Spiel lassen. Sie sind dem, wofür sie stehen, zu nahe, stille Lockvögel, die die Norm umkreisen. Norm ist gut, Norm ist in jedem Fall ungenau genug, Norm und der Regen, der stürzt, alle Vor-, alle Nachnamen, das geht endlos und man bleibt der stille Zuschauer, der man sein möchte, aus der einen oder der anderen Richtung beifällig betrachtet, während man die Fäuste in den Taschen und die Untergänge bei sich selbst läßt, fortläßt, sein läßt, das ist gut. Sein lassen ist schon wieder zu gut, zum Lachen gut, nein, weg mit den Untergängen, sie ziehen unerwünschte Genauigkeiten an und kommen in keinem Schlaflied vor.
Der Regen, der gegen die Fenster stürzt, da haben wir ihn wieder, den lassen wir, der läßt alles in seinem unzutreffenden Umkreis, bei ihm bleiben wir, damit wir wir bleibt, damit alles bleibt, was es nicht ist, vom Wetter bis zu den Engeln.
So läßt es sich leben und so läßt es sich sterben und wem das nicht ungenau genug ist, der kann es in dieser Richtung ruhig weiter versuchen. Ihm sind keine Grenzen gesetzt.
Wir haben jetzt Flecken auf unseren Sesseln. Es sieht aus, als hätte jemand gezuckerte Milch darüber geschüttet. Diese Flecken sind zu bedenken. Wer hat die Milch darüber geschüttet und wann? War es ein Gast und lief er fort, ein Kind vielleicht? Es könnte leicht ein Kind gewesen sein, wenn es auch Erwachsene gibt, die ganz gern gezuckerte Milch trinken. Und wann? Am späten Vormittag oder gegen Abend? Und wäre die Welt anders ohne diese Flecken? Das ist eine müßige Frage. Sie wäre anders. Sie wäre ohne diese Flecken. Natürlich gäbe es trotzdem die Rocky Mountains und die Catskillberge, Krankenhäuser mit Diphtheriekindern und Hoffnungslosigkeiten aller Art, das hübsche Haus, in dem Longfellow seine hübschen Töchter heranwachsen sah. Aber auch all diese in den Bestand unserer verzweifelten oder fröhlichen Gemüter längst aufgenommenen Dinge wären anders. Sie wären ohne die Flecken auf unseren Sesseln. Nicht daß sie ihre verschneiten Häupter oder was immer sie haben, anders trügen, aber sie hätten zum Beispiel eine andere Reihenfolge, die Flecken auf unseren Sesseln müßten nicht in die Hierarchie der Bestände aufgenommen werden, und das müssen sie jetzt. Und da sich diese Hierarchie ändert, ändern sich auch die Blickpunkte, von denen aus in Betracht gezogen wird, was in Betracht gezogen gehört.
Aber wo ist der Weltveränderer, das rasche Kind oder der absonderliche Erwachsene, der die Flecken verursacht? Weggelaufen oder weggeschlichen? Aus Schrecken mit dem Kopf gegen die Türbalken gerannt oder würdevoll davongegangen? Überrascht worden oder nicht? Vielleicht war es ein letzter oder vorletzter Versuch, Trost zu suchen, eher ein vorletzter. Gezuckerte Milch. Und dann kam der letzte. Der könnte Dover heißen, diese Reisen sind ja üblich. Aber die Flecken, die gezuckerten Milchflecken? Die nicht. Die betreffen uns. Man kann sie nicht einreihen und damit der Hierarchie einen der gewissen leichten Stöße geben, die ihr nichts antun, weil sie vorgesehen sind. Die zu den einbezogenen Veränderungen gehören wie der Tod. Zu den listigen Winkelzügen des Daseins, für die der Raum von Anbeginn an freigehalten wird, wenn auch manchmal zu gering bemessen. Das hat so zu sein. Wußten Sie das nicht? Hören Sie endlich zu zittern auf. So ist das mit Reisen oder mit dem Tod. Aber nicht mit den Flecken auf unseren Sesseln. Reisen oder der Tod verändern die Horizontale. Wieder einer, sagt man leichtfertig und schiebt die Reihen zusammen. Aber diese Flecken verändern die Vertikale. Die Hierarchie beginnt zu schwanken, wenn auch nicht aus Angst. Sie gehört nicht zu den Leidenden, die man anfunkeln kann. Sie kann leiden machen. Sie ist blind, taub und da einsturzgefährdet, wo man es am wenigsten erwartet. Es dämmert, aber die Flecken gehen nicht weg.
Vielleicht hilft es, sie zu betrachten. Sie als das Zentrum der Erklärungen anzusehen, die nicht kommen, als ein Spiel, das sich aufgab. Das gegen alle Erwartungen, die man ihm entgegenbrachte, begriff, daß es als Spiel nicht gemeint war und dem es deshalb nur mehr dringlich war, sich aufzugeben. Milchflecken und dazu noch gezuckert, da beginnt sich die Selbstaufgabe zu lohnen. Da spart man ein. Besser: da wird eingespart. Alles was zwischen Himmel und Höllen ist und Himmel und Höllen auch, diese ausschließenden Bereiche, die den Mund heiß oder wässerig machen. Da bleibt nicht nichts. Nichts weckt Aufmerksamkeit. Nur keine Aufmerksamkeit wecken. Aber die Vertikale der Erscheinungen schwankt. Es ist eingetreten, was nicht vorgesehen war, was das Minimum unterbietet. Die Polizisten helfen sich gegenseitig auf, die Götter, die Selbstzerstörer. Aber Milch, zu der noch kam, was nicht dazugehört, und das in einem geringfügigen Maß? Auf keinen Tisch geschüttet, da gäbe es Zugehörigkeiten, sondern auf Sessel, lederartige Bezüge, eher eine Ledernachahmung. Kaum Übelkeiten erzeugend. Nicht zu bedenken. In nichts den wilden, jungen Flüssen vergleichbar. Keiner Gefahr. Wenn man sie Herumtreiber nennen könnte, aber das kann man auch nicht. Die Mehrzahl eines entfernbaren Zwischendaseins. In Worten nicht bildbar. Schon gut, schon sehr gut. Mit niemandem zu erörtern, nicht aufzuschließen. Es gibt eine Form von Bescheidenheit, die mit Bescheidenheit unverwandt ist, auch mit Unbescheidenheit. Es gibt eben unerträgliche Formen, da haben wir sie, da machen sie sich breit. Aber nicht sehr breit. Keine Lücken, die man weiterreißen könnte. Flecken, Flecken. Durch den Zustand der Trockenheit begrenzt. Einmal waren sie naß, vielleicht eben noch. Diese gewesene Nässe gibt sie der Lächerlichkeit preis. Und in dem Bereich der Lächerlichkeit wiederum nicht der Mitte, eher dem Rand. Nein, auch nicht dem Rand. Einer dem Rande nahen mittleren Zone. Immerhin. Vielleicht zählt doch nur, was der Lächerlichkeit preisgegeben ist, vielleicht beginnt erst bei ihr der geheime Herzschlag? War es nicht doch ein Kind?